Die Bienen von Plurs : vier Tage vor dem - E

Die Bienen von Plurs : vier Tage vor dem
verheerenden Bergsturz hatten sie die Flucht
ergriffen
Autor(en):
Andrea Silvia
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Appenzeller Kalender
Band (Jahr): 253 (1974)
PDF erstellt am:
24.04.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-376105
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Die
B lenen
von PI,
riurs
Vier Tage vor dem verheerenden Bergsturz
hatten sie die Flucht ergriffen
Von Silvia Andrea
gürtete ein breiter Streifen von Tannengrün
die Riesenleiber der Berge, die ihre gezackten
Felsenkronen in die tiefe Bläue des italieni¬
schen Himmels tauchten.
Aber im Hintergrund des Städtchens erhob,
drohend und unheilverkündend, der Monte
Conto seinen Gipfel. Der Volksmund erzählt,
daß Üppigkeit und Genußsucht der Plurser
den Zorn des Himmels herausforderten und
die Strafe unausbleiblich war. Die Stadt Plurs,
die damals noch schweizerisch war und durch
Seidenhandel und durch Verkauf der dort
gegrabenen Lavezsteine, welche zur Herstel¬
lung von Kochgeschirren dienten, reich ge¬
worden war, besaß tatsächlich Paläste, die
sich mit denen von Genua vergleichen ließen,
geschmückt mit prächtigen Malereien, fland¬
rischen Seidentapeten und herrlichen Schnit¬
Am 1. September des Jahres 1618 wurden
die Bewohner des im unteren Teil des Bergells
gelegenen Dorfes Castasegna durch eine eigen¬
tümliche Erscheinung überrascht. Die Luft
war voll von Bienenschwärmen. Bienen¬
schwärme im Herbst, da es keine Schwärme
mehr gibt und die Tierchen sich für den
Winter vorbereiten? Die Bienenzüchter schau¬
ten in ihren Körben nach; ihre Bienen waren
ruhig, und es zeigte sich keinerlei Unord¬ zereien.
nung. Und immer mehr Bienenschwärme zo¬
Seit acht Tagen hatte es unaufhörlich ge¬
gen von Süden herauf, wie kleine goldene
Wolken in der Sonne leuchtend, in sanften regnet; von den Bergen stürzten reißende
Mandolinentönen summend und surrend, hin Bäche; unterhalb Plurs ging ein Bergbach
und herschwenkend, als ob sie eine Heim¬ nieder. Solche Erscheinungen waren aber in
stätte suchten. Sie flogen in die Kastanien¬ dem engen, von himmelhohen Bergen einge¬
schlossenen Tal schon oft dagewesen und er¬
bäume, klammerten sich an Hausgiebel, kro¬
chen in die vorhandenen leeren Stöcke, und regten keine Besorgnisse. Der Monte Conto
überall Bienen und überall Bienen. Woher stand scheinbar felsenfest und unerschütter¬
lich; aber durch Raubbau beim Lavezengrakamen diese Schwärme?
ben
(einem weichen Topf stein) war er 1600
Sie kamen von Plurs. Plurs, Piuro lag wei¬
Jahre
lang ausgehöhlt worden, und Hirten,
ter unten im Bergell, zwei Stunden von Casta¬
auf
die
seiner Höhe ihre Herden hüteten,
segna entfernt, zu beiden Seiten der Mera.
Risse im Rasen, die sich immer
bemerkten
Es war, obwohl nur eine kleine Stadt, durch
mehr
oft glaubten sie ein Zittern
erweiterten;
seinen Handel und seine fabelhaften Reich¬
Füßen
ihren
unter
zu verspüren; ihre Herden
tümer im In- und Auslande berühmt. Ein
und
gerieten bisweilen in
waren
unruhig
altes Bild zeigt das Städtchen, wie es kurz
Der
sollte den Bewohnern
Flucht.
wilde
Berg
vor seinem Untergang war. Kirchen, Schlös¬
werden.
Plurs
zum
Verhängnis
von
ser, große Paläste erhoben sich teils aus weit¬
Und die Bienen, die Bienen von Plurs schie¬
läufigen Gärten, teils schauten sie von sanften
toll geworden zu sein. Die Völker stürz¬
nen
wech¬
Palästen
den
Erhöhungen herunter. Mit
selten Weinberge und Maulbeeranlagen ab; ten aus ihren Körben, erhoben sich hoch über
dazwischen wanden sich breite Straßen am das Städtchen, flogen kreuz und quer bis zu
Monte Conto hinauf, der zu einem großen den gegenüberliegenden Bergen, kehrten wie¬
Park umgewandelt und von reichgeschmück¬ der zu den Körben zurück und flogen aber¬
mals aus. Und endlich nahmen sie den Flug
ten Gartenhäusern gekrönt war.
Diese kleine Insel des Glücks erhielt einen nach dem oberen Bergell und wanderten in
passenden Abschluß durch ihre Umgebung. den Lüften zwei Stunden lang bis Castasegna.
Sie wurde im Halbkreis von einer Kette gro߬
Die Bienen von Plurs waren klüger als die
artiger Berge eingeschlossen, deren Fuß ein Menschen. Mit ihren feinen Sinnen fühlten sie
Kastanienwald schmückte; weiter oben um¬ die Bewegung des Monte Conto und entzogen
sich dem Lebendigbegrabenwerden durch die Juwelen getragen hatten, hatten sich buch¬
stäblich ihr eigenes Grab geschaufelt. Nicht
Flucht.
Die Menschen blieben sorglos. Der 4. Sep¬ weniger als 2000 Einwohner sollen den Tod
tember war ein Tag der Freude; eine Hoch¬ gefunden haben. Die Bienen von Plurs jedoch
zeitsfeierlichkeit verband zwei der vornehm¬ waren gerettet. Sie wurden in Castasegna ge¬
sten Geschlechter miteinander. Der Himmel faßt, gepflegt und pflanzten sich da fort.
selbst schien sich zum Feste zu schmücken,
die Wolken verzogen sich, und an seinem
Nachdem während über 300 Jahren jede
azurblauen Gewände glänzte gegen Abend die
silberne Mondsichel. Das Ave rief zum Gebet. Spur der Stadt Plurs verschwunden war,
Da neigte sich auf einmal der Gipfel des wurden in den sechziger Jahren unseres Jahr¬
Monte Conto; ein Krachen ließ sich hören, als hunderts unter der Leitung des jetzigen Di¬
ob des Himmels Gewölbe selbst einstürzte; rektors des Schweizerischen Landesmuseums
zugleich trat tiefe Dunkelheit ein, die minu¬ in Zürich, Dr. Hugo Schneider, Sondierungs¬
tenlang von fliegenden Feuersäulen durch¬ grabungen vorgenommen. Sie waren leider
leuchtet war. Plurs, das «gleich einem irdi¬ nicht sehr erfolgreich und führten zur Er¬
schen Paradies in allerhand Wollüsten sicher kenntnis, daß zur Ausgrabung des Gebietes
gelebt», war mit allen Kirchen, Häusern und von Plurs, das, wie erwähnt, heute auf italie¬
Palästen unter sechs bis acht Meter tiefen nischem Boden, unweit der Stadt Chiavenna,
Schuttmassen begraben worden. Seine Be¬ liegt, Investitionen in der Höhe von 20 bis 30
wohner, die gleich Krösus den Reichtum an¬ Millionen Franken benötigt würden. Nicht
gesammelt und ähnlich Kleopatra kostbare minder überrascht waren die Archäologen
und Forscher von der Erkenntnis, daß der
Bergsturz, der nach allen Überlieferungen
Plurs von Norden nach Süden verschüttet, in
Butzenfenster
Wirklichkeit aus entgegengesetzter Richtung
erfolgt sein muß und daß sich der völlig un¬
terhöhlte Berg, der selbst nach Scheuchzers
Naturgeschichte des Schweizerlandes von
1716 das furchtbare Unglück bewirkte und
zur Bildung eines gewaltigen Sees, der sich
durch Stauungen der Mera gebildet hat,
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führte, weiter westlich als Plurs befunden
haben muß. So fehlt trotz dieser archäologi¬
«ü
schen Anstrengungen praktisch auch heute
noch jede Spur der Stadt Plurs. Der Boden
ist ausgeebnet und zu einem Stück blühenden
Kulturlandes umgeschaffen; Weinberge wech¬
seln mit Kastanienbäumen ab, hinter welchen
sich da und dort ein Hüttchen verbirgt. Vögel
fliegen singend über die Stätte des Grauens
hin, und die Bienen von Plurs tummeln sich
summend und surrend durch das üppige Grün
und saugen aus den Blumen des großen Fried¬
hofes ihre süße Nahrung.
(Nach den Darstellungen von Helmut Pres¬
Kunstverglasungen
Wappenscheiben
ser «Vom Berge verschlungen, in Büchern be¬
wahrt», Bern 1963, und Antonio Colombo
G. Mathies, 9000 St.Gallen
«Piuro sepolta», Casa editrice L'Ariete, Mai¬
Telefon (071) 24 33 59
St. Jakobstraße 46 c
land 1970, ergänzt von Hermann Sommer.)
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Plurs vor und nach dem Bergsturz
Abbildung aus J. J. Scheuchzer «Itinera Alpina», Zürich 1723
Quer durch die Bildmitte (oben) fließt die Maira, die nach dem Bergsturz zu einem See aufgestaut wurde.
Rechts oben (5) Lavezgruben, rechts unten Palais de Werteman.