Die Bienen von Plurs : vier Tage vor dem verheerenden Bergsturz hatten sie die Flucht ergriffen Autor(en): Andrea Silvia Objekttyp: Article Zeitschrift: Appenzeller Kalender Band (Jahr): 253 (1974) PDF erstellt am: 24.04.2017 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-376105 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Der Volksmund erzählt, daß Üppigkeit und Genußsucht der Plurser den Zorn des Himmels herausforderten und die Strafe unausbleiblich war. Die Stadt Plurs, die damals noch schweizerisch war und durch Seidenhandel und durch Verkauf der dort gegrabenen Lavezsteine, welche zur Herstel¬ lung von Kochgeschirren dienten, reich ge¬ worden war, besaß tatsächlich Paläste, die sich mit denen von Genua vergleichen ließen, geschmückt mit prächtigen Malereien, fland¬ rischen Seidentapeten und herrlichen Schnit¬ Am 1. September des Jahres 1618 wurden die Bewohner des im unteren Teil des Bergells gelegenen Dorfes Castasegna durch eine eigen¬ tümliche Erscheinung überrascht. Die Luft war voll von Bienenschwärmen. Bienen¬ schwärme im Herbst, da es keine Schwärme mehr gibt und die Tierchen sich für den Winter vorbereiten? Die Bienenzüchter schau¬ ten in ihren Körben nach; ihre Bienen waren ruhig, und es zeigte sich keinerlei Unord¬ zereien. nung. Und immer mehr Bienenschwärme zo¬ Seit acht Tagen hatte es unaufhörlich ge¬ gen von Süden herauf, wie kleine goldene Wolken in der Sonne leuchtend, in sanften regnet; von den Bergen stürzten reißende Mandolinentönen summend und surrend, hin Bäche; unterhalb Plurs ging ein Bergbach und herschwenkend, als ob sie eine Heim¬ nieder. Solche Erscheinungen waren aber in stätte suchten. Sie flogen in die Kastanien¬ dem engen, von himmelhohen Bergen einge¬ schlossenen Tal schon oft dagewesen und er¬ bäume, klammerten sich an Hausgiebel, kro¬ chen in die vorhandenen leeren Stöcke, und regten keine Besorgnisse. Der Monte Conto überall Bienen und überall Bienen. Woher stand scheinbar felsenfest und unerschütter¬ lich; aber durch Raubbau beim Lavezengrakamen diese Schwärme? ben (einem weichen Topf stein) war er 1600 Sie kamen von Plurs. Plurs, Piuro lag wei¬ Jahre lang ausgehöhlt worden, und Hirten, ter unten im Bergell, zwei Stunden von Casta¬ auf die seiner Höhe ihre Herden hüteten, segna entfernt, zu beiden Seiten der Mera. Risse im Rasen, die sich immer bemerkten Es war, obwohl nur eine kleine Stadt, durch mehr oft glaubten sie ein Zittern erweiterten; seinen Handel und seine fabelhaften Reich¬ Füßen ihren unter zu verspüren; ihre Herden tümer im In- und Auslande berühmt. Ein und gerieten bisweilen in waren unruhig altes Bild zeigt das Städtchen, wie es kurz Der sollte den Bewohnern Flucht. wilde Berg vor seinem Untergang war. Kirchen, Schlös¬ werden. Plurs zum Verhängnis von ser, große Paläste erhoben sich teils aus weit¬ Und die Bienen, die Bienen von Plurs schie¬ läufigen Gärten, teils schauten sie von sanften toll geworden zu sein. Die Völker stürz¬ nen wech¬ Palästen den Erhöhungen herunter. Mit selten Weinberge und Maulbeeranlagen ab; ten aus ihren Körben, erhoben sich hoch über dazwischen wanden sich breite Straßen am das Städtchen, flogen kreuz und quer bis zu Monte Conto hinauf, der zu einem großen den gegenüberliegenden Bergen, kehrten wie¬ Park umgewandelt und von reichgeschmück¬ der zu den Körben zurück und flogen aber¬ mals aus. Und endlich nahmen sie den Flug ten Gartenhäusern gekrönt war. Diese kleine Insel des Glücks erhielt einen nach dem oberen Bergell und wanderten in passenden Abschluß durch ihre Umgebung. den Lüften zwei Stunden lang bis Castasegna. Sie wurde im Halbkreis von einer Kette gro߬ Die Bienen von Plurs waren klüger als die artiger Berge eingeschlossen, deren Fuß ein Menschen. Mit ihren feinen Sinnen fühlten sie Kastanienwald schmückte; weiter oben um¬ die Bewegung des Monte Conto und entzogen sich dem Lebendigbegrabenwerden durch die Juwelen getragen hatten, hatten sich buch¬ stäblich ihr eigenes Grab geschaufelt. Nicht Flucht. Die Menschen blieben sorglos. Der 4. Sep¬ weniger als 2000 Einwohner sollen den Tod tember war ein Tag der Freude; eine Hoch¬ gefunden haben. Die Bienen von Plurs jedoch zeitsfeierlichkeit verband zwei der vornehm¬ waren gerettet. Sie wurden in Castasegna ge¬ sten Geschlechter miteinander. Der Himmel faßt, gepflegt und pflanzten sich da fort. selbst schien sich zum Feste zu schmücken, die Wolken verzogen sich, und an seinem Nachdem während über 300 Jahren jede azurblauen Gewände glänzte gegen Abend die silberne Mondsichel. Das Ave rief zum Gebet. Spur der Stadt Plurs verschwunden war, Da neigte sich auf einmal der Gipfel des wurden in den sechziger Jahren unseres Jahr¬ Monte Conto; ein Krachen ließ sich hören, als hunderts unter der Leitung des jetzigen Di¬ ob des Himmels Gewölbe selbst einstürzte; rektors des Schweizerischen Landesmuseums zugleich trat tiefe Dunkelheit ein, die minu¬ in Zürich, Dr. Hugo Schneider, Sondierungs¬ tenlang von fliegenden Feuersäulen durch¬ grabungen vorgenommen. Sie waren leider leuchtet war. Plurs, das «gleich einem irdi¬ nicht sehr erfolgreich und führten zur Er¬ schen Paradies in allerhand Wollüsten sicher kenntnis, daß zur Ausgrabung des Gebietes gelebt», war mit allen Kirchen, Häusern und von Plurs, das, wie erwähnt, heute auf italie¬ Palästen unter sechs bis acht Meter tiefen nischem Boden, unweit der Stadt Chiavenna, Schuttmassen begraben worden. Seine Be¬ liegt, Investitionen in der Höhe von 20 bis 30 wohner, die gleich Krösus den Reichtum an¬ Millionen Franken benötigt würden. Nicht gesammelt und ähnlich Kleopatra kostbare minder überrascht waren die Archäologen und Forscher von der Erkenntnis, daß der Bergsturz, der nach allen Überlieferungen Plurs von Norden nach Süden verschüttet, in Butzenfenster Wirklichkeit aus entgegengesetzter Richtung erfolgt sein muß und daß sich der völlig un¬ terhöhlte Berg, der selbst nach Scheuchzers Naturgeschichte des Schweizerlandes von 1716 das furchtbare Unglück bewirkte und zur Bildung eines gewaltigen Sees, der sich durch Stauungen der Mera gebildet hat, mW**m^mmm&»mmrmmu&rA führte, weiter westlich als Plurs befunden haben muß. So fehlt trotz dieser archäologi¬ «ü schen Anstrengungen praktisch auch heute noch jede Spur der Stadt Plurs. Der Boden ist ausgeebnet und zu einem Stück blühenden Kulturlandes umgeschaffen; Weinberge wech¬ seln mit Kastanienbäumen ab, hinter welchen sich da und dort ein Hüttchen verbirgt. Vögel fliegen singend über die Stätte des Grauens hin, und die Bienen von Plurs tummeln sich summend und surrend durch das üppige Grün und saugen aus den Blumen des großen Fried¬ hofes ihre süße Nahrung. (Nach den Darstellungen von Helmut Pres¬ Kunstverglasungen Wappenscheiben ser «Vom Berge verschlungen, in Büchern be¬ wahrt», Bern 1963, und Antonio Colombo G. Mathies, 9000 St.Gallen «Piuro sepolta», Casa editrice L'Ariete, Mai¬ Telefon (071) 24 33 59 St. Jakobstraße 46 c land 1970, ergänzt von Hermann Sommer.) mk'Mj 4 Le Gros Iìoilto -V d JPx VU. s. ¦'.V.'j j* Ai .'.,'.¦-¦.-. '',j.-i- $. Pakts Ja C-Jesta ,'.- ;;¦,¦_¦.'.¦ /v.--.-v,^,.^.:-.-.:. Je J?Urre *41o r&t ¦.' -'J-¦¦.'..-,t-,1 -..Isaj-etxen Gi-uit/v, '. 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