Leseprobe PDF - S. Fischer Verlage

Unverkäufliche Leseprobe aus:
Harriet Reuter Hapgood
Ein bisschen wie Unendlichkeit
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Teilchen
Die Unschärferelation besagt, dass man entweder
wissen kann, wo sich ein Teilchen befindet oder
wohin es sich bewegt, nie aber beides zugleich.
Dasselbe gilt, wie sich herausstellt, für Menschen.
Versucht man es dennoch und schaut ganz genau hin,
so tritt der Beobachtereffekt ein. Wer herausfinden will,
was vor sich geht, greift in sein Schicksal ein.
Ein Teilchen kann an zwei Orten gleichzeitig sein.
Ein Teilchen kann die eigene Vergangenheit beeinflussen.
Es kann mehrere Zukünfte und Vergangenheiten haben.
Das Universum ist kompliziert.
Samstag, 3.Juli
{minus dreihundertfünf}
eine Unterwäsche hängt im Apfelbaum.
Ich liege im Gras und starre in die Zweige. Es ist
später Nachmittag, der übrige Garten ist in limonadigen
Sonnenschein getaucht, doch hier unten ist es kühl und dunkel und voller Krabbeltiere. Mit einer Neigung des Kopfes
kann ich den Garten kippen lassen – und die aufgereihte
Wäsche, die traurigste Girlande der Welt.
Ein Déjà-vu haut mich fast um, und mir kommt der törichte Gedanke: Hey, Grey ist zurück.
Als vor ein paar Jahren unsere Wäscheleine riss, stand
mein Großvater Grey gerade darunter. »Potz Blitz und
Pestilenz!«, brüllte er und schleuderte die nassen Klamotten
zum Trocknen in den Baum. Weil ihm das so gut gefiel, bestand er darauf, dass wir sie von da an immer so aufhängten.
Aber Grey ist vergangenen September gestorben, und
eigentlich machen wir solche Sachen nicht mehr.
Ich schließe die Augen und murmle Pi bis in die hundertste Dezimalstelle vor mich hin. Als ich sie wieder öffne,
blüht meine Unterwäsche noch immer im Apfelbaum. Ein
Rückfall in die Vergangenheit – und ich weiß auch, wer dafür verantwortlich ist.
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Dann höre ich ihn meinen Namen sagen, seine Stimme
schwebt über die Büsche hinweg zu mir.
»Gottie? Ja, unser Superhirn ist immer noch total durch
den Wind.«
Ich drehe mich auf den Bauch und spähe zwischen den
Bäumen hindurch. Am anderen Ende des Gartens tritt mein
Bruder Ned aus der Hintertür. Ein Meter achtzig, DreiTage-Bart, Schlangenmusterleggings, an seinem T-Shirt
baumelt eine Wäscheklammer. Seit er vor ein paar Wochen
von der Kunstakademie zurückkam, inszeniert er die Sommer mit Grey: Er zerrt die Sachen unseres Großvaters aus
dem Schuppen, stellt Möbel um, spielt dessen Platten. Nun
lässt er sich, eine Bierdose in der einen Hand, im Gras nieder, mit der anderen spielt er Luftgitarre. Er ist ständig in
Bewegung.
Als ich sehe, wer ihm folgt, ducke ich mich instinktiv.
Jason. Neds bester Freund und der Bassist ihrer Band. In
aller Ruhe setzt er sich ebenfalls hin, während ich ein Loch
in den Rücken seiner Lederjacke starre.
»Ist schon nach sieben«, bemerkt Ned. »Grots wird bald
heimkommen, falls du hallo sagen willst.«
Ich rümpfe die Nase über den Spitznamen. Klane Grott –
kleine Kröte. Also bitte, ich bin siebzehn!
»So spät schon?« Jasons Stimme ist ein tiefes Raunen.
»Wir könnten die anderen anrufen, eine Bandprobe ansetzen.«
Nein, bloß nicht, denke ich. Verpisst euch. Es reicht
schon, dass Ned seit ein paar Wochen das Haus mit Musik
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und Krach und Chaos füllt. Da brauche ich nicht auch noch
die »Fingerband«: abendelanges Gitarrenquieken und endloses Gequatsche. Nicht, wo ich mich letzten September
entschlossen habe zu schweigen.
Und dann ist da Jason. Blond, blauäugig, Elvis-Haartolle.
Schön. Und zugegebenermaßen mein Ex-Freund.
Mein heimlicher Ex-Freund.
Würg.
Abgesehen von der Beerdigung ist es das erste Mal, dass
ich ihn seit Ende des letzten Sommers wiedersehe. Das erste
Mal, seit wir Sex im Sonnenschein hatten.
Ich wusste nicht mal, dass er zurück ist. Ist mir schleierhaft, wie mir das entgehen konnte – Holksea, unser Dorf,
hat ungefähr die Größe einer Briefmarke. Es hat weniger
Häuser als ein Monopoly-Spiel.
Ich könnte kotzen. Als Jason damals auf die Uni ging,
habe ich mir unser Wiedersehen anders vorgestellt. Jedenfalls nicht so, dass ich im Gebüsch lauere wie Greys riesiger
Steinbuddha. Erstarrt und wie festgefroren kann ich den
Blick nicht von Jasons Hinterkopf wenden. Es ist zu viel
für mein armes Herz. Und gleichzeitig nicht genug.
Dann taucht aus dem Nichts unser Kater Umlaut auf.
Wie ein orangefarbener Blitz schießt er durch den Garten
und landet mit einem »Miau« neben Neds Cowboystiefeln.
»He, Winzling«, sagt Jason. »Du bist neu.«
»Gehört Gottie«, sagt Ned anstelle einer Erklärung. Der
Kater war nicht meine Idee. Eines Tages im April war er
plötzlich da, mit besten Empfehlungen von Papa.
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Ned steht auf und sieht sich im Garten um. Ich versuche,
mit dem Hintergrund zu verschmelzen, mich in ein Blatt
von einem Meter fünfundsiebzig zu verwandeln, doch er
kommt bereits auf mich zu.
»Grotbag.« Er hebt cool eine Augenbraue. »Spielst du
Verstecken?«
»Hallo«, erwidere ich, drehe mich auf den Rücken und
blicke zu ihm hoch. Das Gesicht meines Bruders ist das
Spiegelbild meines eigenen: olivenfarbene Haut, dunkle
Augen, Hakennase. Doch während ihm das braune Haar
ungekämmt auf die Schultern fällt, ist meines seit fünf Jahren nicht mehr geschnitten worden, ich trage es zu einem
Dutt aufgesteckt. Und nur einer von uns trägt Eyeliner.
(Tipp: nicht ich.)
»Erwischt.« Ned zwinkert. Dann zieht er blitzschnell
sein Telefon aus der Tasche und macht einen Schnappschuss.
»Ehhh«, beschwere ich mich und verberge mein Gesicht.
Eines habe ich während seiner einjährigen Abwesenheit
nicht vermisst: Neds Paparazzo-Gehabe.
»Komm mit«, ruft er über die Schulter. »Ich mache Frikadellen.«
Die Aussicht darauf genügt, um mich wider Willen aus
meinem Versteck zu locken. Ich stehe auf und folge ihm
durchs Gebüsch. Auf dem Rasen lümmelt Jason noch immer zwischen den Gänseblümchen herum. Offenbar hat er
sich an der Uni ein neues Hobby zugelegt – in der Hand,
die er zu einem halbherzigen Winken hebt, hält er eine Zigarette, ein schwaches Grinsen spielt um seinen Mund.
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»Grots«, sagt er, ohne mich richtig anzusehen.
Das ist Neds Spitzname für mich, denke ich. Du hast immer Margot zu mir gesagt.
Ich möchte hallo sagen, möchte noch viel mehr sagen,
doch die Worte verschwinden, bevor sie meinen Mund erreichen. Vieles ist ungesagt geblieben zwischen uns. Meine
Füße schlagen Wurzeln, während ich warte, dass er sich erhebt. Um mit mir zu reden. Um mich wieder heil zu machen.
Mein Handy wiegt schwer in meiner Tasche, ohne jegliche Nachrichten. Er hat mir nicht gesagt, dass er zurück ist.
Jason schaut weg und zieht an seiner Zigarette.
Nach einer peinlichen Pause klatscht Ned in die Hände.
»Tja«, sagt er fröhlich, »dann wollen wir euch Laberbacken
mal in die Küche verfrachten. Ran an die Buletten!«
Er stapft auf das Haus zu, Jason und ich hinter ihm her.
An der Tür will ich ihnen eigentlich in die Küche folgen,
aber etwas hält mich zurück. Als riefe jemand meinen Namen. Als bliebe meine Seele an einem Nagel hängen. Ich
verharre auf der Schwelle und schaue zurück in den Garten.
Betrachte den Apfelbaum mit seinen Wäscheblüten.
Hinter uns verdichtet sich das Abendlicht, die Luft ist
angefüllt von Schnaken und dem Duft der Heckenkirsche.
Mich schaudert. Der Sommer hat gerade erst begonnen,
aber es fühlt sich an wie ein Ende, nicht wie ein Anfang.
Vielleicht, weil Grey tot ist. Es kommt mir immer noch
so vor, als wäre der Mond vom Himmel gefallen.
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Sonntag, 4.Juli
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{minus dreihundertsechs}
m nächsten Morgen bin ich schon früh in der Küche.
Während ich mir Bircher-Müesli in eine Schale löffle,
bemerke ich es. Ned hat die Fotos auf den Kühlschrank
zurückgestellt, eine von Greys Dekorationsideen, die ich
immer gehasst habe. Man kann nämlich die Lücke sehen,
wo eigentlich Mum sein sollte.
Sie war neunzehn, als Ned zur Welt kam und sie zu ihren
Eltern nach Norfolk zurückkehrte, mit Papa im Schlepptau.
Mit einundzwanzig bekam sie mich und ist dabei gestorben.
Auf dem ersten Foto, das mich zeigt, bin ich vier, und wir
sind auf einer Hochzeit. Papa, Ned und ich eng zusammengedrängt, im Hintergrund überragt von Grey. Er besteht
nur aus Haaren, Bart und Pfeife – ein gigantischer Gandalf
in Jeans und einem Rolling-Stones-T-Shirt. Ich grinse zahnlos in die Kamera mit Gefängnishaarschnitt, Hemd und
Krawatte, Schnallenschuhen, und Hosen, die in schmuddeligen Socken stecken. (Ned trägt ein rosa Häschenkostüm.)
Vor ein paar Jahren habe ich Grey gefragt, warum ich
wie ein Junge angezogen bin, und er hat kichernd gesagt:
»Mann, Grots, niemand hat dich jemals irgendwie angezogen. Das warst du selbst. Bis zu den in die Socken gestopf-
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ten Hosenbeinen. Deine Eltern wollen, dass du und Ned
euer eigenes Ding macht.« Dann wandte er sich wieder dem
zweifelhaften Eintopf zu, der auf dem Herd köchelte.
Trotz meiner kindlichen Vorliebe, mich wie Mr Darcy
zu kleiden, ist an mir kein Junge verlorengegangen. Meine
BH s mögen zwar in den Bäumen hängen, aber sie sind rosa.
Als ich gestern Abend nicht einschlafen konnte, habe ich
mir die Zehennägel kirschrot lackiert. In meinem Schrank –
wenn auch unter Hunderten von Turnschuhdoppelgängern
verborgen – versteckt sich ein Paar schwarzer Highheels.
Und ich glaube an Liebe von der Intensität des Urknalls.
So wie bei Jason und mir.
Bevor ich die Küche verlasse, drehe ich das Foto um und
befestige es mit einem Magnet.
Draußen herrscht englische Cottage-Garten-Idylle. Rittersporn bohrt sich in den wolkenlosen Himmel. Mürrisch
starre ich in den Sonnenschein und gehe in mein Zimmer,
ein quadratischer Anbau aus roten Ziegelsteinen gleich hinterm Apfelbaum. Doch mein Fuß stößt gegen etwas Hartes
und ich falle hin.
Als ich mich wieder aufrapple und zurückschaue, setzt
Ned sich gerade auf. Er reibt sich das Gesicht.
»Machst dich gut als Löwenzahn«, sage ich.
»Machst dich gut als Wecker«, erwidert er.
Vom Haus her höre ich das Klingeln des Telefons. Ned
streckt sich wie eine Katze in der Sonne. Im Gegensatz zu
seinem Samthemd ist er erstaunlich unzerknautscht.
»Bist du eben erst nach Hause gekommen?«
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»So ähnlich«, feixt er. »Jason und ich sind nach dem
Abendessen los – Bandprobe. Es gab Tequila. Ist Papa
da?«
Wie auf Anweisung eines Regisseurs kommt Papa, einen
Becher in jeder Hand, aus der Küche gesegelt. In diesem
Haus voller stampfender Riesen ist er ein Heinzelmännchen, ein elfenblasser Kobold aus Grimms Märchen entsprungen. Trüge er nicht seine roten Turnschuhe, wäre er
unsichtbar.
Er hat etwa so viel Bodenhaftung wie ein Ballon und
zuckt nicht mit der Wimper, als er uns am Boden verstreut
findet. Zwischen meiner umgekippten Müslischale und mir
geht er in die Hocke. Er reicht Ned einen Becher. »Hier,
Saft. Ich möchte euch einen Vorschlag machen.«
Stöhnend stürzt Ned den Saft hinunter und taucht etwas
weniger grün hinter dem Becher auf.
»Was für einen Vorschlag?«, frage ich. Es ist immer ein
wenig beunruhigend, wenn Papa genug Realitätsbezug
aufbringt, um Ideen zu entwickeln. Ihm fehlt dieses Vorsprung-durch-Technik-Gen – nichts von wegen deutscher
Präzision und Effizienz. Er hat den Kopf nicht nur in den
Wolken, er trudelt durchs Universum.
»Nun«, beginnt Papa. »Ihr erinnert euch doch an die
Nachbarn von nebenan, die Althorpes?«
Automatisch wandern unsere Blicke zu dem Haus jenseits der Hecke. Vor fast fünf Jahren sind unsere Nachbarn
nach Kanada gezogen. Sie haben das Haus nicht verkauft,
und daher gab es – neben dem Zu-Vermieten-Schild und
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dem ewigen Strom von Touristen, Feriengästen, Familien –
die Hoffnung auf Rückkehr. In den letzten Monaten stand
das Haus leer.
Selbst nach all den Jahren sehe ich den kleinen, schmuddeligen Jungen mit den dicken Brillengläsern vor mir, wie
er sich durch das Loch in der Hecke quetscht und mit einer
Handvoll Regenwürmern winkt.
Thomas Althorpe.
Bester Freund ist ein lahmer Ausdruck für das, was wir
einander bedeutet haben.
Wir sind in derselben Woche geboren und praktisch zusammen aufgewachsen. Thomas-und-Gottie: Wir waren
unzertrennlich, Ärger hoch zwei, ein Spinner-Verein mit
nur zwei Mitgliedern.
Bis er wegzog.
Ich starre auf die Narbe in meiner linken Handfläche.
Alles, woran ich mich erinnere, ist ein Blutsbrüderschwur
und das Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Daran sollten
auch dreitausend Meilen nichts ändern. Ich erwachte in der
Notaufnahme mit einem Verband an der Hand und einem
Schwarzen Loch im Gedächtnis. Als ich wieder nach Hause
durfte, waren Thomas und seine Eltern weg.
Ich wartete und wartete, aber er hat mir nie geschrieben
oder eine Mail geschickt, oder eine Botschaft in Morsezeichen oder sonstwie sein Versprechen gehalten.
Meine Hand heilte, meine Haare wuchsen. Mit der Zeit
wurde ich erwachsen. Mit der Zeit vergaß ich den Jungen,
der mich zuerst vergessen hatte.
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