SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Sitzenbleiben - Das Ende der
Ehrenrunde?
Von Claudia Fuchs
Sendung: Samstag, 11. Februar 2017, 08.30 Uhr
Redaktion: Christoph König
Regie: Tobias Krebs
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
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MANUSKRIPT
Take 1 – Collage:
Michael Zimmer-Müller: Das Sitzenbleiben ist gesellschaftlich genauso verankert
wie die Schule schlechthin. Jeder, der über sechs Jahre alt ist, hat sitzenbleiben
entweder selbst erfahren, beziehungsweise irgendein Schüler ist in seinem Umfeld
sitzen geblieben. Das ist Alltag.
Jannik: Das ist 'ne individuelle Sache. Wiederholen kann helfen, kann aber auch
nicht helfen. Muss jeder für sich selbst entscheiden. Das ist 'ne zweite Chance, 'ne
große zweite Chance, die man auch nutzen sollte, wenn man sie hat.
Anna Kreibohm: Kinder berichten von Sprüchen, die sie sich gefallen lassen
müssen: Wie, du wiederholst und hast 'ne Vier, das kann doch nicht sein, du hast
das doch schon mal gemacht, du musst das doch können. Das sind Erwartungen, die
von außen an die Schüler herangetragen werden, denen sie teilweise nicht gerecht
werden. Weil eben das Wiederholen als solches noch nicht zu besseren Leistungen
führt und das ist vielen nicht bewusst.
Ansage:
„Sitzenbleiben – Das Ende der Ehrenrunde?“ Eine Sendung von Claudia Fuchs.
Sprecher:
Rund 150.000 Schülerinnen und Schüler haben im vergangenen Jahr eine Klasse
wiederholt, allein an allgemeinbildenden Schulen, das sind erheblich mehr als in
allen anderen europäischen Staaten. Doch der Sinn der Klassenwiederholung ist
umstritten. Die meisten Bildungsforscher sehen das Sitzenbleiben als teuer und
sinnlos an. Lehrerverbände und Bildungspolitiker jedoch wollen daran festhalten und
auch die Mehrheit der Deutschen spricht sich in Umfragen für die „Ehrenrunde“ aus.
Dem Sitzenbleiben wird eine erzieherische Wirkung zugesprochen, ein Wachrütteln,
ein pädagogischer Schuss vor den Bug. Ist dieser Gedanke noch zeitgemäß?
Der 18jährige Jannik wirkt eher erleichtert als deprimiert, als er im Sommer zum
ersten Interviewtermin kommt. Nach dem Ende des Schuljahres spricht der
Gesamtschüler zum ersten Mal über seine bevorstehende Wiederholung der zwölften
Klasse.
Take 2 – Jannik:
Sitzen bleiben finde ich auch so 'n bisschen das böse Wort von dem Ganzen,
deswegen sage ich immer gern "wiederholen" oder "'ne Ehrenrunde drehen" oder
sonst was, weil es ist nichts Schlimmes.
Sprecher:
Kurz vor den Sommerferien erfuhr Jannik, dass ihm ein Punkt fehlt, um von der
zwölften in die dreizehnte Klasse versetzt zu werden. Seit der fünften Klasse geht er
auf eine Integrierte Gesamtschule, wo er sich sehr wohl fühlt. Auf dem ausgedehnten
Schulgelände sind die Jahrgänge und ihre Lehrer auf einzelne Gebäude verteilt. Die
pädagogische Betreuung ist eng. Doch wegen einer extremen Anhäufung von
2
Fehltagen hat Jannik so viel versäumt, dass er sich nicht mehr zutraute, den Stoff
nachzuholen. Ohne Wiederholung sah er keine Möglichkeit, sein Abitur zu bestehen.
Am Beginn der Sommerferien hoffte er auf einen Neustart.
Take 3 – Jannik:
Zum Glück hab ich ja die Vorlagen, den ganzen Stoff aufgeschrieben, da man gute
Kontakte zu den Lehrern hat und sie einen auch sehr gut unterstützt haben, da hab
ich 'nen Riesenrespekt vor meinen Lehrern und meinen Lehrerinnen, dass die
wirklich so gut für mich da waren, obwohl ich so oft gefehlt hab.
Sprecher:
Jannik ist ein sportlicher, kontaktfreudiger Jugendlicher, der in den Pausen auch
gerne für die jüngeren Schüler ansprechbar ist. Er ist beliebt bei Mitschülern und
Lehrern.
Aber die Krankheit des Vaters belastet die ganze Familie, so dass die Schule für
Jannik weit weg gerückt war. Er wäre der Erste in der Familie mit Abitur, der vielleicht
sogar studiert. Das kann beglückend und beängstigend zugleich sein. Die
Klassenwiederholung sieht der trainierte Kampfsportler vor Beginn des neuen
Schuljahres ziemlich gelassen.
Take 4 – Jannik:
Jeder muss mal an 'nem gewissen Punkt Stopp sagen, ich muss noch mal zurück,
das ist im echten Leben so, wenn man halt hinfällt, steht man halt auf und macht
noch mal von vorn das Ganze bis es klappt. Ich versuch hauptsächlich, an mir selbst
zu arbeiten, was ich jetzt falsch gemacht hab oder woran ich gescheitet bin, ich bin
da relativ optimistisch in der ganzen Hinsicht.
Sprecher:
Weniger optimistisch ist Dr. Michael Zimmer-Müller, Erziehungswissenschaftler am
Zentrum für empirisch-pädagogische Forschung der Universität Koblenz-Landau.
Das Sitzenbleiben sei so alt wie das öffentliche Schulwesen in Deutschland, sagt
Zimmer-Müller, aber besonders sinnvoll sei es nie gewesen.
Take 5 – Michael Zimmer-Müller:
Wir haben bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA 'ne erste Studie, bei der
festgestellt wurde, dass Schüler zwar zu Beginn des wiederholten Jahres leicht
höhere Leistungen erbringen, aber dann wieder schlechter abschneiden.
Sprecher:
Der Pädagoge Karl-Heinz Ingenkamp gründete 1971 das Landauer Zentrum für
empirisch-pädagogische Forschung. Schon 1969 befasste Ingenkamp sich mit der
Frage, inwieweit die Wiederholung eines Schuljahres zu einer angemessenen
Leistungssteigerung führt. In einer Testreihe widerlegte er die Annahme, dass
Sitzenbleiben geeignet sei, um den Anschluss an die durchschnittliche Leistung der
versetzten Schüler zu finden. Dr. Zimmer-Müller ergänzt, dass auch der
Bildungsforscher John Hattie in seiner Meta-Analyse nichts Positives feststellen
konnte zum Sitzenbleiben. Und was die Pisa-Studie von 2009 angeht,...
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Take 6 – Michael Zimmer-Müller:
... wir haben in Deutschland 'ne Wiederholerquote von 21 Prozent, im OECDDurchschnitt sind es nur 13 Prozent, aber wir haben keine besseren Leistungen in
Deutschland. Die Ergebnisse sind meiner Einschätzung nach sehr eindeutig.
Sprecher:
Drei Monate später. Jannik hat seine Fehlstunden um vierzig Prozent reduziert und
er arbeitet versäumten Stoff einschließlich der Hausaufgaben nach. Doch die Folgen
des Lehrerwechsels hat er unterschätzt. In Latein muss er jetzt eine wörtliche statt
eine sinngemäße Übersetzung liefern und hat sich verschlechtert. Die neue
Englischlehrerin hat eine moderne amerikanische Lektüre ausgewählt, die Jannik
aber ebenso wenig gelesen hat wie im letzten Schuljahr den "Macbeth".
Take 7 – Jannik:
Ich hab die Zusammenfassung halt mal im Internet gegoogelt, die wichtigsten Fakten
raus geschrieben, dass man damit irgendwie arbeiten kann. Ich kann mich nicht
überwinden, so 'n Buch zu lesen. Die Grundvokabeln sitzen, wenn man zu den eher
exotischen Worten kommt, da wird’s dann eher mangelhaft. Man ändert sich schon,
aber nicht um 180 Grad.
Sprecher:
In Deutsch und Englisch sind mögliche Verbesserungen wohl eher auf den
Lehrerwechsel als auf eine Veränderung der Arbeitshaltung zurückzuführen. Jannik
kannte schon viele Schüler aus seiner neuen Jahrgangsstufe. Und trotzdem:
Take 8 – Jannik:
Wie man an die Mitschüler rankommt, an die neuen, das hätt ich mir anders
vorgestellt. Am Anfang hat man sich richtig fremd gefühlt, einfach nur, wie 'n
Extrakind reingesetzt, wie 'n Zuschauer, aber hat sich alles zum Guten entwickelt
mittlerweile.
Sprecher:
In den Freistunden sitzt Jannik manchmal mit im Unterricht seiner alten
Jahrgangsstufe dreizehn. Er pendelt zwischen Ankunft und Abschied.
In Rheinland-Pfalz haben im vergangenen Schuljahr etwa sechstausend Schüler
eine Klasse wiederholt. Im laufenden Schuljahr ist mit ähnlichen Zahlen zu rechnen.
Jungen bleiben häufiger sitzen als Mädchen – besonders in der Mittelstufe, wenn sie
in der Pubertät sind.
Der zwölfjährige Leon sitzt am Schreibtisch in seinem großen Zimmer vor der offenen
Terrassentür. Weshalb er vor acht Wochen sitzen geblieben ist, weiß er nicht mehr
genau. Der dunkelblonde Gymnasiast mit dem offenen Gesicht ist ein begeisterter
Mannschaftssportler und wird seine Schule demnächst in einem Bundeswettbewerb
vertreten. Leon möchte nicht ins Mikrofon sprechen.
"Wenn die Epos nicht wären, wäre ich jetzt in der achten Klasse", sagt er bestimmt.
Die "Epos", also die Epochalnoten, die die mündliche Mitarbeit bewerten, sind aus
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seiner Sicht der Grund für sein Wiederholen der siebten Klasse. "Bis zuletzt hatte ich
Hoffnung", sagt er. Andererseits findet er schon, dass die Noten in fast allen Fächern
seinem mangelnden Einsatz entsprechen. Leons Familiensituation ist im Umbruch.
Nachdem die Eltern sich getrennt haben und der älteste Bruder ausgezogen ist,
wohnt er alleine mit seinem 16jährigen Bruder und der Mutter in dem großzügigen
Neubau. Sein Zimmer hat nur wenige Möbel, die offene Tür wirkt wie ein Fluchtweg
nach draußen. Leons Mutter Silke Weber weiß, warum ihr Sohn sitzengeblieben ist.
Take 9 – Silke Weber:
Eigentlich die Sprachen, es war Englisch, Deutsch, Latein, Erdkunde und
Geschichte. Ja, also die Lehrer waren sehr engagiert. Er hat einfach die mündliche
Mitarbeit fast vollkommen verweigert.
Sprecher (Text Leon):
Ich hab in der Schule nicht mitgearbeitet, weil ich mir bei den Antworten nicht sicher
war und keine falschen Antworten geben wollte. Meine Mitarbeit ist aber jetzt besser
geworden. Ich melde mich öfter, weil ich mich an den Stoff aus der vergangenen
Klasse erinnere.
Sprecher:
Leon war beliebt in seiner alten Klassengemeinschaft und ist auch gut in der neuen
Klasse angekommen. Leons Eltern sind Akademiker. Der Siebtklässler will ganz
sicher Abitur machen.
Sprecher (Text Leon):
Ich hab Spaß an Physik, da hab ich 'ne Zwei und ich mach gerne Mathematik,
Erdkunde, Bildende Kunst und Sport. Die würde ich dann als Leistungskurs wählen.
Also, schwierig sind Latein, Englisch und Deutsch, weil ich in den Diktaten immer 'ne
5 oder 'ne 6 schreibe. In Deutsch würde ich mich schon über 'ne 5 freuen.
Sprecher:
Eifrig erklärt er die Textaufgabe in seinem Mathematikbuch, die ihm leicht fällt. Als
zweite Fremdsprache hätte er gerne Französisch gelernt, aber der Vater bestand auf
Latein. Wenn seine Mutter ihm bei den Hausaufgaben helfen wollte, verschwand
Leon. Auch die schulische Hausaufgabenbetreuung blieb erfolglos – er kam
nachmittags ohne Hausaufgaben heim. Eine Gymnasialempfehlung hatte Leon nicht
bekommen, sondern den Rat, eine Integrierte Gesamtschule zu besuchen. In der
siebten Klasse organisierte Silke Weber Nachhilfe für ihren Sohn in verschiedenen
Fächern.
Leons Mutter möchte das Beste für ihr Kind und das Beste kann nach Meinung vieler
Eltern nur das Gymnasium sein. Wird das Sitzenbleiben Leons Schulprobleme auf
Dauer lösen?
Cornelia Schwartz unterrichtet an einem Gymnasium in Speyer Mathematik und
Englisch. Seit 2015 ist sie Vorsitzende des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz,
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der circa zehntausend Gymnasiallehrer vertritt und dreitausend Lehrkräfte an
Gesamtschulen. Sie sieht das Sitzenbleiben als unverzichtbare Chance.
Take 10 – Cornelia Schwartz:
Unsere Erfahrung ist wirklich, dass Schüler in der nächsten Klassenstufe, in die sie
zurückgehen müssen, dann wieder motiviert mitarbeiten, weil sie merken, aha, ich
kann da an verschiedene Sachen anknüpfen, die ich vorher im Unterricht gemacht
habe und ich gehöre jetzt nicht mehr zu den schlechtesten, sondern ich gehöre jetzt
möglicherweise erst mal zum Mittelfeld und ich könnte mich an die Spitze
vorkämpfen und das passiert tatsächlich auch.
Sprecher:
Wird Leon sich an die Spitze seiner neuen Klasse vorkämpfen? Als Sportler kann er
durchaus kämpfen und zeigt hohe Ausdauer. Aber es gibt Dinge, die er als sinnlos
ansieht.
Sprecher (Text Leon):
Vokabeln für Englisch und Latein zu lernen ist für mich Zeitverschwendung. Ich hab
Besseres zu tun. Ich trainiere gerne für meinen Sport und mach das mehrmals in der
Woche. Ab der 11. Klasse will ich gezielt lernen, weil es dann fürs Abitur zählt, jetzt
ist es unwichtig und es reicht eine Drei. Ich finde es sinnlos, mich jetzt für gute Noten
anzustrengen, wenn es später sowieso keinen mehr interessiert.
Sprecher:
Wird das Sitzenbleiben seine Meinung ändern? Das Verhältnis zwischen dem
Teenager und seiner Mutter ist angespannt. Als Leon nach den MatheHausaufgaben noch Vokabeln lernen soll, verlässt er verärgert das Haus. Silke
Weber findet, dass ihr Sohn keine Ordnung in seinen Schulsachen hält. Nach der
Nichtversetzung wollte sie wissen, wie er mit dieser Erfahrung umgeht.
Take 11 – Silke Weber:
Er wollte das Thema nicht ansprechen. Ich habe es versucht ja, mehrfach. Ja, er hat
geschwiegen und ist weg gegangen. Nein, es war kein Thema und es wurde hier
auch nicht kritisiert. Ist jetzt so, und wir müssen 's Beste draus machen.
Sprecher:
Sitzenbleiben heißt scheitern und manche Eltern empfinden die
Klassenwiederholung ihrer Kinder als eigenes Scheitern. Leons Mutter beteuert, im
Familienleben habe sich mit dem Sitzenbleiben nichts geändert.
Take 12 – Silke Weber:
Überhaupt gar nichts, also es hat keine positiven, aber auch keine negativen
Auswirkungen, sag ich mal. Gar kein Problem.
Sprecher:
Später räumt sie ein, dass Leons Vater gegenüber dem Sohn einen heftigen
Wutausbruch hatte. Nach dem letzten Zeugnis empfahl man dem Jungen, das
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Gymnasium zu verlassen. Aber Leon will bleiben und seine Mutter möchte ihm Zeit
geben.
Take 13 – Silke Weber:
Ich bin mir jetzt auch noch nicht hundertprozentig sicher, ob das die richtige
Entscheidung ist, ihn da einfach wiederholen zu lassen, aber ich denke, es ist seine
Entscheidung und demzufolge möchte ich mich da einfach nicht so wirklich darüber
hinwegsetzen, zumal er eigentlich ein Kind ist, das eine sehr feste eigene Meinung
hat.
Sprecher:
Cornelia Schwartz vom Philologenverband berät als Lehrerin öfter Eltern in dieser
Situation.
Take 14 – Cornelia Schwartz:
Wichtig ist, dass Eltern sich klarmachen, mein Kind wird nicht glücklich, wenn es
immer nur das Gefühl hat, ich kann mit anderen kaum mithalten. Da ist wirklich die
Frage, ob es nicht gesünder ist und glücklicher macht, wenn man dann sagt, ich will
mich nicht permanent überfordern, ich gehe auf die Schulart, wo meine Talente
tatsächlich zur Geltung kommen dürfen und wenn das mal nicht das Gymnasium ist,
geht die Welt nicht unter.
Sprecher:
Aber gerade Akademiker-Eltern sehen dies oft anders und das spüren auch die
Kinder. Da ist die Nichtversetzung manchmal die Vorstufe zur Familienkatastrophe.
Die empirische Bildungsforschung hat nachgewiesen, dass sich die Leistungen der
Klassenwiederholer höchstens vorübergehend verbessern. Dennoch befürwortet der
Philologenverband das Sitzenbleiben. Cornelia Schwartz argumentiert mit einer
umstrittenen Studie. Der Volkswirt Dr. Michael Fertig sorgte 2004 mit seiner
Untersuchung für Schlagzeilen: "Sitzenbleiber sind die besseren Schüler" titelte
damals beispielsweise das Magazin "stern", das die erstaunliche These des jungen
Wissenschaftlers so zusammenfasste: "Sitzenbleiber haben bessere Chancen auf
einen höheren Schulabschluss". Die ideologisch befrachtete Debatte wurde von
Fertig so lange befeuert, bis er zurückrudern musste. So habe er das weder gesagt
noch gemeint. Aber wie dann?
Zitator:
Bezüglich der Verortung der Studie im akademischen Spezialdiskurs ist festzustellen,
dass der Autor den erziehungswissenschaftlichen Forschungsstand zu den Effekten
von Nichtversetzung und Klassenwiederholung nicht zur Kenntnis nimmt.
Sprecher:
So bewertet die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Monika Palowski von der Universität
Bielefeld die Studie von Michael Fertig, deren Aufbau und Rezeption sie 2014
untersuchte. In ihrer Dissertation "Der Diskurs des Versagens. Nichtversetzung und
Klassenwiederholung in Wissenschaft und Medien" stellt Palowski fest:
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Zitator:
Insgesamt liefern Fertigs Ergebnisse (2004) keinerlei verlässliche Belege dafür, dass
sich eine Klassenwiederholung generell positiv auf das Niveau des später erreichten
Schulabschlusses oder auf die Leistungen der Betroffenen auswirkt.
Sprecher:
Michael Fertig räumt ein, dass es unklar sei, ob und wie sich Alternativen zur
Nichtversetzung ebenfalls positiv auf den Schulerfolg auswirken könnten. Monika
Palowski kritisiert, dass in Fertigs Studie der Notendurchschnitt beim letzten
Schulabschluss nicht erhoben wurde. Den Medien wirft Palowski vor, Fertigs Studie
unkritisch und ohne Relativierung der Resultate begleitet zu haben. Ein schlechtes
Zeugnis also für den deutschen Bildungsjournalismus.
Wer als Journalistin zum Thema "Sitzenbleiben" recherchiert, trifft bei mehreren
Interviewpartnern auf erfahrene Klassenwiederholer. Die Diplompädagogin Anna
Kreibohm leitet das private Nachhilfeinstitut "Faultier" in Mainz. Sie hat selbst die
elfte Klasse wiederholt und ihr habe es nicht viel genutzt, sagt sie. Immer wieder
begegnet Anna Kreibohm enttäuschten Eltern, deren Kind im Wiederholungsjahr
nicht in allen Fächern gute Noten hat.
Take 15 – Anna Kreibohm:
Die Effekte, die man sich erhofft, die positiven, die bleiben oftmals aus. Das sieht
man auch daran, dass viele Eltern ihre Kinder bei uns anmelden im Laufe des
wiederholten Schuljahres. Da sieht man, dass allein das Wiederholen des
Schuljahres eben noch keine Unterstützung als solche bietet. Da fehlen die
Grundlagen. Ein Wiederholen der achten Klasse nützt nichts, wenn in der 5., 6.
Klasse schon Dinge auf der Strecke geblieben sind, die unabhängig vom
Sitzenbleiben mit Unterstützung wiederholt werden müssten.
Sprecher:
Die eher mathematisch begabten Schüler scheitern häufiger im
fremdsprachenorientierten Gymnasium. Längst ist wissenschaftlich erwiesen, dass
Schüler keineswegs in Lerngruppen besser lernen, in denen alle einen ähnlichen
Leistungsstand haben. Andererseits sind Lerngruppen mit unterschiedlich
leistungsfähigen Schülern schwieriger zu unterrichten und erfordern mehr
Vorbereitungszeit. Bildungsforscher Michael Zimmer-Müller von der Universität
Koblenz-Landau wendet ein:
Take 16 – Michael Zimmer-Müller:
Ich will mich überhaupt nicht gegen Inklusion aussprechen, in keinster Weise. Aber
für mich kommt sofort der Gedanke: Warum integrieren wir nicht einfach erst mal
unsere leistungsschwachen Schüler? Mit denen es vielleicht sogar noch einfacher
wäre als mit anderen Kindern, die ebenfalls inkludiert werden sollten. Die
Anforderungen sind auf alle Fälle nicht ganz so hoch.
Sprecher:
Für ihn ist Sitzenbleiben ohnehin keine pädagogische Maßnahme...
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Take 17 – Michael Zimmer-Müller:
...weil in meinen Augen ist 'ne Maßnahme, die setzt in der Regel 'ne Diagnose
voraus und zwar 'ne sehr konkrete Diagnose. In dem Fall wäre es dann auf ein oder
zwei Fächer bezogen. Wenn man eine Diagnose hat, hat man Daten, Ergebnisse, mit
denen man Maßnahmen entwickeln kann und dann wird es eine pädagogische
Maßnahme. Aber hier setzt man einen Schüler wieder in die gleiche Klassenstufe
zurück, der in einigen Fächern möglicherweise die Ziele sehr gut erreicht hat und das
ist so 'ne Holzhammermethode meines Erachtens, aber keine pädagogische
Maßnahme.
Sprecher:
Die Analyse der individuellen Gründe für das Sitzenbleiben setzt allerdings bei den
Lehrern diagnostische Fähigkeiten voraus, über die viele nicht verfügen.
Take 18 – Michael Zimmer-Müller:
Das ist auch eigentlich unsere Aufgabe hier, die Lehrkräfte zu befähigen, Tests
einzusetzen, wenn sie den Eindruck gewinnen, es könnte notwendig und hilfreich
sein. Vergleichsarbeiten zur Diagnose für Sitzenbleiber zu nutzen, kann man
machen, aber um Leistungsdefizite in einem Fach schon früher zu diagnostizieren,
da muss man mit spezifischen Tests für das Fach rangehen. Man muss statistisches
Grundverständnis dafür haben und man muss verstehen, was 'n Mittelwert, 'ne
Standardabweichung ist, das ist was, was vielen Lehramtskandidaten nicht
unbedingt liegt.
Sprecher:
Warum ist Leon sitzen geblieben? Weil er sich in einer schwierigen Familiensituation,
am Beginn der Pubertät, nicht für die Schule motivieren kann? Weil eine SchreibLeseschwäche vorliegt? Weil das Gymnasium nicht seinem Begabungsprofil
entspricht? Weil er überhaupt anders und Anderes lernen möchte als Latein,
Geschichte und Englisch? Welche Alternativen zum Sitzenbleiben gab und gibt es für
ihn?
Die Universität Koblenz-Landau hat das pädagogische Reformprojekt "Komm Mit! –
Fördern statt sitzen bleiben" an dem seit 2008 siebenhundert Schulen der
Sekundarstufe eins in Nordrhein-Westfalen teilnahmen, wissenschaftlich begleitet.
Den Schulen stand für die Reduzierung der Sitzenbleiberquote jeweils eine Drittel
Lehrerstelle zur Verfügung, womit sie zunächst einmal analysieren konnten, warum
Schüler bisher sitzen geblieben sind, um auf dieser Grundlage ein Förderprogramm
zu erarbeiten.
Die Schulen, die eigene Konzepte entwickelten, erhielten Unterstützung durch
entsprechende Fortbildungen für die Lehrer. Michael Zimmer-Müller:
Take 19 – Michael Zimmer-Müller:
Was den Austausch der Schulen stützen sollte, waren regelmäßig stattfindende
Regionalkonferenzen, in denen die Schulen sich gegenseitig berichtet haben, was
sie gerade getan haben, wie erfolgreich das war und wo's Probleme gab. Was ich
positiv finde, ist, dass man den Schulen einen sehr großen Freiraum gegeben hat. Es
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muss 'ne Passung zwischen Maßnahme, Schule und möglicherweise auch den
Lehrkräften geben.
Sprecher:
Die Schüler erhielten außerhalb des Unterrichts beispielsweise Unterstützung durch
Lernpaten und Stadtteilmütter. In Förderstunden an der Schule verbesserten sie ihre
Lernstrategien und Lernmotivation. Ihr Selbstvertrauen und ihre Belastbarkeit
stiegen, wenn ihre Sprach-Lesekompetenz und ihre Argumentationsfähigkeit gestärkt
wurden. Die Lehrer nahmen an Fortbildungen zur Verbesserung der diagnostischen
Kompetenz und der Selbstreflektion teil. Durch kollegiale Hospitation und Feedback
lernten sie, die Qualität ihres Unterrichts zu hinterfragen. Gelingt es ihnen, ein
motivierendes und lernförderndes Klima in der Klasse zu schaffen? Drücken sie sich
klar und verständlich aus? Haben die gestellten Aufgaben etwas mit den Interessen
und dem Alltag der Schüler zu tun? Werden Verbindungen zu anderen Fächern
hergestellt?
Da jede Schule ihr spezielles Förderprogramm erarbeitete, konnten die
Wissenschaftler nicht den Erfolg jeder einzelnen Maßnahme feststellen. Aber die
Zahl der Sitzenbleiber wurde eindeutig gesenkt. Doch individuelle Förderung wie
diese kostet Geld und so hält man in vielen Bundesländern bisher am Sitzenbleiben
fest. Barbara Mathea ist Referentin im rheinland-pfälzischen Bildungsministerium und
Leiterin der Gymnasialabteilung.
Take 20 – Barbara Mathea:
Wenn ich ein Kind, das leistungsmäßig in der nächsten Klassenstufe nicht erfolgreich
mitarbeiten kann, einfach unbesehen in diese Klassenstufe aufsteigen lasse, dann
wird die Frustration noch viel größer, weil sich immer mehr Defizite anhäufen.
Sprecher:
Barbara Mathea spricht sich für das Sitzenbleiben aus. Doch auch im rheinlandpfälzischen Bildungsministerium zeigt man sich offen für Reformen. Man könne
schwachen Schülerinnen und Schülern die Versetzung nicht schenken. Aber man
könne die Ehrenrunde mit guter und vor allem früher Förderung durchaus abwenden.
Sie berichtet über ein Projekt des Bildungsministeriums für den Mathematikunterricht,
an dem verschiedene Schulen teilnahmen.
Take 21 – Barbara Mathea:
Ein wichtiger Schritt, in dem ein Umdenken bei den Lehrern erfolgt ist, ist mit dem
Stichwort Lernstandserhebungen verbunden. Dass ich einen Test schreibe, nicht um
eine Note zu geben, sondern um zu bilanzieren, wo stehen die einzelnen Schüler,
denn wenn ich eine Klasse nur übernehme, kann ich das allein im Unterricht nicht so
differenziert herausfinden. Wenn ich aber schon zu Beginn sehe, da ist ein spezielles
Defizit, entweder bei der ganzen Klasse, weil vielleicht ein Thema nicht hinreichend
behandelt wurde, oder bei bestimmten Schülern, dann kann ich frühzeitig reagieren
und ganz sicher manche Fünf und manche Nichtversetzung verhindern.
Sprecher:
Obwohl viele Lehrer das Sitzenbleiben keineswegs als ideale Lösung bei
Lernproblemen ansehen, finden sie es im Einzelfall doch oft sinnvoll.
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Oberstudiendirektorin Madeleine Dazert-Balthasar leitet seit siebzehn Jahren ein
Gymnasium, an dem in den letzten drei Jahren deutlich weniger als ein Prozent der
Schüler eine Klasse wiederholt hat.
Take 22 – Madeleine Dazert-Balthasar:
Wir beobachten seit Jahren, dass die Empfehlungen der Grundschule für das
Gymnasium in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle tragen. Insgesamt gesehen
müssen wir umgekehrt feststellen, dass die wenigen Kinder, die nach der sechsten
Klasse unsere Schule verlassen müssen, weil sie nicht versetzt wurden und in den
beiden Jahren zuvor entsprechende Schullaufbahnwechselempfehlungen
ausgesprochen wurden, überwiegend ohne Empfehlung der Grundschule zu uns
gekommen sind.
Sprecher:
Schon vor dem Aufnahmegespräch bei der Anmeldung bieten die Direktorin und ihr
Schulleitungsteam den Eltern im November eine erste Beratung an. Auch nach der
Orientierungsstufe werden die Schüler bei Bedarf unterstützt.
Take 23 – Madeleine Dazert-Balthasar:
An unserer Schule haben sich neben dem Methodentraining "Lernen lernen",
welches wir auch als Fortbildungsmodul für Eltern anbieten, dabei zwei Angebote
aus meiner Sicht besonders bewährt, nämlich die Mithilfe unserer
Schulsozialarbeiterin und unser Lerncafé, das Schülern helfen soll, sich zu sortieren,
sicher Hausaufgaben zu machen und so eben eine gute Grundlage zu schaffen,
damit sie ihre Potenziale tatsächlich entfalten können.
Sprecher:
Zusätzliche Lehrerwochenstunden für Teamteaching oder
Differenzierungsmaßnahmen – das würde beim Thema Nichtversetzung auch helfen,
sagt Madeleine Dazert-Balthasar. Ein Lehrer, der differenziert unterrichtet, kann
beispielsweise den Lernumfang durch unterschiedliche Aufgabenstellungen
reduzieren, er kann andere Methoden und Materialien wählen oder das Lerntempo
verändern. Er kann einem leistungsstarken Schüler eine Zusatzaufgabe stellen,
während er einem schwächeren Schüler ergänzende Erklärungen gibt oder einfach
mehr Zeit. Er kann spezielle Lehrmaterialien mit differenzierten Aufgaben für
Hausaufgaben oder Stillarbeitsphasen nutzen.
Bei den Wiederholern ist für Madeleine Dazert-Balthasar die
Anstrengungsbereitschaft entscheidend. Und außerdem: Die Nichtversetzung setze
ja nicht nur ein "mangelhaft" in zwei Fächern voraus, sondern auch, dass man diese
Noten nicht ausgleichen kann. Somit weise das gesamte Zeugnis nicht genügend
gute oder befriedigende Leistungen auf.
Take 24 – Madeleine Dazert-Balthasar:
Aus meiner Sicht, und ich denke, das ist auch die Meinung meiner Kollegen, ist die
Möglichkeit der Klassenwiederholung durch Nichtversetzung nicht per se als sinnlos
anzusehen. Pädagogisch im Einzelfall sinnvolle Maßnahmen sollten nicht primär
unter dem Kostenaspekt gesehen werden, das ist meine Meinung.
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Sprecher:
Nicht-Versetzungen durch eine falsche Schulwahl der Eltern entgegen
anderslautender Empfehlungen der Grundschule erlebt auch Anna Kreibohm, die
Leiterin des Nachhilfeinstituts "Faultier", recht häufig.
Take 25 – Anna Kreibohm:
Dafür bezahlen dann die Kinder letztendlich in der fünften, sechsten Klasse, weil
dann das Niveau so stark angehoben wird, dass dann die Kinder wirklich nicht mehr
mithalten können.
Sprecher:
Anna Kreibohm hat in ihrem Nachhilfeinstitut keine positiven Erfahrungen mit dem
Sitzenbleiben gemacht.
Take 26 – Anna Kreibohm:
Gerade, weil auch viele Fächer wiederholt werden, in denen die Noten gar nicht
schlecht waren und die Schüler das Gefühl haben, dass mit ihrer Zeit da nicht
sinnvoll gewirtschaftet wird. Jede Art der individuellen Förderung ist sinnvoller. Es
bedeutet definitiv Mehrarbeit und im Grunde genommen deutet es wie immer darauf
hin, dass das deutsche Schulsystem überarbeitet werden müsste beziehungsweise
Neuerungen stattfinden müssen.
Sprecher:
Der 18jährige Jannik ist in seinem Wiederholungsjahr inzwischen nicht mehr sicher,
ob er das Abitur überhaupt noch machen möchte oder nach der zwölften Klasse mit
der Fachhochschulreife abgeht. Es fällt ihm immer schwerer, sich für das Lernen zu
motivieren.
Take 27 – Jannik:
Ja, das ist zu monoton irgendwann, man hockt nur noch da und frisst in sich rein.
Viele sehen ja das Abitur, da fängt man an, selber zu denken, sagt man ja immer,
aber es ist eher weniger der Fall, würd ich sagen.
Sprecher:
Auch wenn Jannik und Leon sich kurzzeitig in einigen Fächern verbessern mögen ihre Grundprobleme löst das Wiederholungsjahr nicht. "Individuelle Förderung kostet
Kraft", sagt die rheinland-pfälzische Bildungsreferentin Barbara Mathea.
Take 28 – Barbara Mathea:
Alles im Umfeld der individuellen Förderung, da muss man Lehrkräfte unterstützen.
Es ist nicht möglich, sie von dieser Aufgabe zu entbinden. Wir haben gelernt, dass es
die homogene Lerngruppe gar nicht gibt, da ist schon die Heterogenität zwischen
Jungen und Mädchen da, damit muss man umgehen in allen Schularten.
Sprecher:
Die eine bestimmte Alternative zum Sitzenbleiben gibt es nicht. Aber klar ist: Eine
frühzeitige Diagnose bei Schulproblemen und individuelle Förderung helfen immer.
Manchmal hilft ein Schulwechsel oder auch nur der Wechsel in eine Parallelklasse
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mit anderen Lehrern und einer neuen Klassengemeinschaft. Eine
Klassenwiederholung mag manchen Spätentwicklern helfen oder in bestimmten
Einzelfällen. Aber für die meisten der 146.000 Sitzenbleiber des letzten Schuljahres
ist es wohl die schlechteste Lösung, die sie ein Jahr ihrer Lebenszeit kostet. Sie
könnten dieses Jahr vermutlich sinnvoller nutzen.
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