SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Sitzenbleiben - Das Ende der Ehrenrunde? Von Claudia Fuchs Sendung: Samstag, 11. Februar 2017, 08.30 Uhr Redaktion: Christoph König Regie: Tobias Krebs Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. 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Jeder, der über sechs Jahre alt ist, hat sitzenbleiben entweder selbst erfahren, beziehungsweise irgendein Schüler ist in seinem Umfeld sitzen geblieben. Das ist Alltag. Jannik: Das ist 'ne individuelle Sache. Wiederholen kann helfen, kann aber auch nicht helfen. Muss jeder für sich selbst entscheiden. Das ist 'ne zweite Chance, 'ne große zweite Chance, die man auch nutzen sollte, wenn man sie hat. Anna Kreibohm: Kinder berichten von Sprüchen, die sie sich gefallen lassen müssen: Wie, du wiederholst und hast 'ne Vier, das kann doch nicht sein, du hast das doch schon mal gemacht, du musst das doch können. Das sind Erwartungen, die von außen an die Schüler herangetragen werden, denen sie teilweise nicht gerecht werden. Weil eben das Wiederholen als solches noch nicht zu besseren Leistungen führt und das ist vielen nicht bewusst. Ansage: „Sitzenbleiben – Das Ende der Ehrenrunde?“ Eine Sendung von Claudia Fuchs. Sprecher: Rund 150.000 Schülerinnen und Schüler haben im vergangenen Jahr eine Klasse wiederholt, allein an allgemeinbildenden Schulen, das sind erheblich mehr als in allen anderen europäischen Staaten. Doch der Sinn der Klassenwiederholung ist umstritten. Die meisten Bildungsforscher sehen das Sitzenbleiben als teuer und sinnlos an. Lehrerverbände und Bildungspolitiker jedoch wollen daran festhalten und auch die Mehrheit der Deutschen spricht sich in Umfragen für die „Ehrenrunde“ aus. Dem Sitzenbleiben wird eine erzieherische Wirkung zugesprochen, ein Wachrütteln, ein pädagogischer Schuss vor den Bug. Ist dieser Gedanke noch zeitgemäß? Der 18jährige Jannik wirkt eher erleichtert als deprimiert, als er im Sommer zum ersten Interviewtermin kommt. Nach dem Ende des Schuljahres spricht der Gesamtschüler zum ersten Mal über seine bevorstehende Wiederholung der zwölften Klasse. Take 2 – Jannik: Sitzen bleiben finde ich auch so 'n bisschen das böse Wort von dem Ganzen, deswegen sage ich immer gern "wiederholen" oder "'ne Ehrenrunde drehen" oder sonst was, weil es ist nichts Schlimmes. Sprecher: Kurz vor den Sommerferien erfuhr Jannik, dass ihm ein Punkt fehlt, um von der zwölften in die dreizehnte Klasse versetzt zu werden. Seit der fünften Klasse geht er auf eine Integrierte Gesamtschule, wo er sich sehr wohl fühlt. Auf dem ausgedehnten Schulgelände sind die Jahrgänge und ihre Lehrer auf einzelne Gebäude verteilt. Die pädagogische Betreuung ist eng. Doch wegen einer extremen Anhäufung von 2 Fehltagen hat Jannik so viel versäumt, dass er sich nicht mehr zutraute, den Stoff nachzuholen. Ohne Wiederholung sah er keine Möglichkeit, sein Abitur zu bestehen. Am Beginn der Sommerferien hoffte er auf einen Neustart. Take 3 – Jannik: Zum Glück hab ich ja die Vorlagen, den ganzen Stoff aufgeschrieben, da man gute Kontakte zu den Lehrern hat und sie einen auch sehr gut unterstützt haben, da hab ich 'nen Riesenrespekt vor meinen Lehrern und meinen Lehrerinnen, dass die wirklich so gut für mich da waren, obwohl ich so oft gefehlt hab. Sprecher: Jannik ist ein sportlicher, kontaktfreudiger Jugendlicher, der in den Pausen auch gerne für die jüngeren Schüler ansprechbar ist. Er ist beliebt bei Mitschülern und Lehrern. Aber die Krankheit des Vaters belastet die ganze Familie, so dass die Schule für Jannik weit weg gerückt war. Er wäre der Erste in der Familie mit Abitur, der vielleicht sogar studiert. Das kann beglückend und beängstigend zugleich sein. Die Klassenwiederholung sieht der trainierte Kampfsportler vor Beginn des neuen Schuljahres ziemlich gelassen. Take 4 – Jannik: Jeder muss mal an 'nem gewissen Punkt Stopp sagen, ich muss noch mal zurück, das ist im echten Leben so, wenn man halt hinfällt, steht man halt auf und macht noch mal von vorn das Ganze bis es klappt. Ich versuch hauptsächlich, an mir selbst zu arbeiten, was ich jetzt falsch gemacht hab oder woran ich gescheitet bin, ich bin da relativ optimistisch in der ganzen Hinsicht. Sprecher: Weniger optimistisch ist Dr. Michael Zimmer-Müller, Erziehungswissenschaftler am Zentrum für empirisch-pädagogische Forschung der Universität Koblenz-Landau. Das Sitzenbleiben sei so alt wie das öffentliche Schulwesen in Deutschland, sagt Zimmer-Müller, aber besonders sinnvoll sei es nie gewesen. Take 5 – Michael Zimmer-Müller: Wir haben bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA 'ne erste Studie, bei der festgestellt wurde, dass Schüler zwar zu Beginn des wiederholten Jahres leicht höhere Leistungen erbringen, aber dann wieder schlechter abschneiden. Sprecher: Der Pädagoge Karl-Heinz Ingenkamp gründete 1971 das Landauer Zentrum für empirisch-pädagogische Forschung. Schon 1969 befasste Ingenkamp sich mit der Frage, inwieweit die Wiederholung eines Schuljahres zu einer angemessenen Leistungssteigerung führt. In einer Testreihe widerlegte er die Annahme, dass Sitzenbleiben geeignet sei, um den Anschluss an die durchschnittliche Leistung der versetzten Schüler zu finden. Dr. Zimmer-Müller ergänzt, dass auch der Bildungsforscher John Hattie in seiner Meta-Analyse nichts Positives feststellen konnte zum Sitzenbleiben. Und was die Pisa-Studie von 2009 angeht,... 3 Take 6 – Michael Zimmer-Müller: ... wir haben in Deutschland 'ne Wiederholerquote von 21 Prozent, im OECDDurchschnitt sind es nur 13 Prozent, aber wir haben keine besseren Leistungen in Deutschland. Die Ergebnisse sind meiner Einschätzung nach sehr eindeutig. Sprecher: Drei Monate später. Jannik hat seine Fehlstunden um vierzig Prozent reduziert und er arbeitet versäumten Stoff einschließlich der Hausaufgaben nach. Doch die Folgen des Lehrerwechsels hat er unterschätzt. In Latein muss er jetzt eine wörtliche statt eine sinngemäße Übersetzung liefern und hat sich verschlechtert. Die neue Englischlehrerin hat eine moderne amerikanische Lektüre ausgewählt, die Jannik aber ebenso wenig gelesen hat wie im letzten Schuljahr den "Macbeth". Take 7 – Jannik: Ich hab die Zusammenfassung halt mal im Internet gegoogelt, die wichtigsten Fakten raus geschrieben, dass man damit irgendwie arbeiten kann. Ich kann mich nicht überwinden, so 'n Buch zu lesen. Die Grundvokabeln sitzen, wenn man zu den eher exotischen Worten kommt, da wird’s dann eher mangelhaft. Man ändert sich schon, aber nicht um 180 Grad. Sprecher: In Deutsch und Englisch sind mögliche Verbesserungen wohl eher auf den Lehrerwechsel als auf eine Veränderung der Arbeitshaltung zurückzuführen. Jannik kannte schon viele Schüler aus seiner neuen Jahrgangsstufe. Und trotzdem: Take 8 – Jannik: Wie man an die Mitschüler rankommt, an die neuen, das hätt ich mir anders vorgestellt. Am Anfang hat man sich richtig fremd gefühlt, einfach nur, wie 'n Extrakind reingesetzt, wie 'n Zuschauer, aber hat sich alles zum Guten entwickelt mittlerweile. Sprecher: In den Freistunden sitzt Jannik manchmal mit im Unterricht seiner alten Jahrgangsstufe dreizehn. Er pendelt zwischen Ankunft und Abschied. In Rheinland-Pfalz haben im vergangenen Schuljahr etwa sechstausend Schüler eine Klasse wiederholt. Im laufenden Schuljahr ist mit ähnlichen Zahlen zu rechnen. Jungen bleiben häufiger sitzen als Mädchen – besonders in der Mittelstufe, wenn sie in der Pubertät sind. Der zwölfjährige Leon sitzt am Schreibtisch in seinem großen Zimmer vor der offenen Terrassentür. Weshalb er vor acht Wochen sitzen geblieben ist, weiß er nicht mehr genau. Der dunkelblonde Gymnasiast mit dem offenen Gesicht ist ein begeisterter Mannschaftssportler und wird seine Schule demnächst in einem Bundeswettbewerb vertreten. Leon möchte nicht ins Mikrofon sprechen. "Wenn die Epos nicht wären, wäre ich jetzt in der achten Klasse", sagt er bestimmt. Die "Epos", also die Epochalnoten, die die mündliche Mitarbeit bewerten, sind aus 4 seiner Sicht der Grund für sein Wiederholen der siebten Klasse. "Bis zuletzt hatte ich Hoffnung", sagt er. Andererseits findet er schon, dass die Noten in fast allen Fächern seinem mangelnden Einsatz entsprechen. Leons Familiensituation ist im Umbruch. Nachdem die Eltern sich getrennt haben und der älteste Bruder ausgezogen ist, wohnt er alleine mit seinem 16jährigen Bruder und der Mutter in dem großzügigen Neubau. Sein Zimmer hat nur wenige Möbel, die offene Tür wirkt wie ein Fluchtweg nach draußen. Leons Mutter Silke Weber weiß, warum ihr Sohn sitzengeblieben ist. Take 9 – Silke Weber: Eigentlich die Sprachen, es war Englisch, Deutsch, Latein, Erdkunde und Geschichte. Ja, also die Lehrer waren sehr engagiert. Er hat einfach die mündliche Mitarbeit fast vollkommen verweigert. Sprecher (Text Leon): Ich hab in der Schule nicht mitgearbeitet, weil ich mir bei den Antworten nicht sicher war und keine falschen Antworten geben wollte. Meine Mitarbeit ist aber jetzt besser geworden. Ich melde mich öfter, weil ich mich an den Stoff aus der vergangenen Klasse erinnere. Sprecher: Leon war beliebt in seiner alten Klassengemeinschaft und ist auch gut in der neuen Klasse angekommen. Leons Eltern sind Akademiker. Der Siebtklässler will ganz sicher Abitur machen. Sprecher (Text Leon): Ich hab Spaß an Physik, da hab ich 'ne Zwei und ich mach gerne Mathematik, Erdkunde, Bildende Kunst und Sport. Die würde ich dann als Leistungskurs wählen. Also, schwierig sind Latein, Englisch und Deutsch, weil ich in den Diktaten immer 'ne 5 oder 'ne 6 schreibe. In Deutsch würde ich mich schon über 'ne 5 freuen. Sprecher: Eifrig erklärt er die Textaufgabe in seinem Mathematikbuch, die ihm leicht fällt. Als zweite Fremdsprache hätte er gerne Französisch gelernt, aber der Vater bestand auf Latein. Wenn seine Mutter ihm bei den Hausaufgaben helfen wollte, verschwand Leon. Auch die schulische Hausaufgabenbetreuung blieb erfolglos – er kam nachmittags ohne Hausaufgaben heim. Eine Gymnasialempfehlung hatte Leon nicht bekommen, sondern den Rat, eine Integrierte Gesamtschule zu besuchen. In der siebten Klasse organisierte Silke Weber Nachhilfe für ihren Sohn in verschiedenen Fächern. Leons Mutter möchte das Beste für ihr Kind und das Beste kann nach Meinung vieler Eltern nur das Gymnasium sein. Wird das Sitzenbleiben Leons Schulprobleme auf Dauer lösen? Cornelia Schwartz unterrichtet an einem Gymnasium in Speyer Mathematik und Englisch. Seit 2015 ist sie Vorsitzende des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz, 5 der circa zehntausend Gymnasiallehrer vertritt und dreitausend Lehrkräfte an Gesamtschulen. Sie sieht das Sitzenbleiben als unverzichtbare Chance. Take 10 – Cornelia Schwartz: Unsere Erfahrung ist wirklich, dass Schüler in der nächsten Klassenstufe, in die sie zurückgehen müssen, dann wieder motiviert mitarbeiten, weil sie merken, aha, ich kann da an verschiedene Sachen anknüpfen, die ich vorher im Unterricht gemacht habe und ich gehöre jetzt nicht mehr zu den schlechtesten, sondern ich gehöre jetzt möglicherweise erst mal zum Mittelfeld und ich könnte mich an die Spitze vorkämpfen und das passiert tatsächlich auch. Sprecher: Wird Leon sich an die Spitze seiner neuen Klasse vorkämpfen? Als Sportler kann er durchaus kämpfen und zeigt hohe Ausdauer. Aber es gibt Dinge, die er als sinnlos ansieht. Sprecher (Text Leon): Vokabeln für Englisch und Latein zu lernen ist für mich Zeitverschwendung. Ich hab Besseres zu tun. Ich trainiere gerne für meinen Sport und mach das mehrmals in der Woche. Ab der 11. Klasse will ich gezielt lernen, weil es dann fürs Abitur zählt, jetzt ist es unwichtig und es reicht eine Drei. Ich finde es sinnlos, mich jetzt für gute Noten anzustrengen, wenn es später sowieso keinen mehr interessiert. Sprecher: Wird das Sitzenbleiben seine Meinung ändern? Das Verhältnis zwischen dem Teenager und seiner Mutter ist angespannt. Als Leon nach den MatheHausaufgaben noch Vokabeln lernen soll, verlässt er verärgert das Haus. Silke Weber findet, dass ihr Sohn keine Ordnung in seinen Schulsachen hält. Nach der Nichtversetzung wollte sie wissen, wie er mit dieser Erfahrung umgeht. Take 11 – Silke Weber: Er wollte das Thema nicht ansprechen. Ich habe es versucht ja, mehrfach. Ja, er hat geschwiegen und ist weg gegangen. Nein, es war kein Thema und es wurde hier auch nicht kritisiert. Ist jetzt so, und wir müssen 's Beste draus machen. Sprecher: Sitzenbleiben heißt scheitern und manche Eltern empfinden die Klassenwiederholung ihrer Kinder als eigenes Scheitern. Leons Mutter beteuert, im Familienleben habe sich mit dem Sitzenbleiben nichts geändert. Take 12 – Silke Weber: Überhaupt gar nichts, also es hat keine positiven, aber auch keine negativen Auswirkungen, sag ich mal. Gar kein Problem. Sprecher: Später räumt sie ein, dass Leons Vater gegenüber dem Sohn einen heftigen Wutausbruch hatte. Nach dem letzten Zeugnis empfahl man dem Jungen, das 6 Gymnasium zu verlassen. Aber Leon will bleiben und seine Mutter möchte ihm Zeit geben. Take 13 – Silke Weber: Ich bin mir jetzt auch noch nicht hundertprozentig sicher, ob das die richtige Entscheidung ist, ihn da einfach wiederholen zu lassen, aber ich denke, es ist seine Entscheidung und demzufolge möchte ich mich da einfach nicht so wirklich darüber hinwegsetzen, zumal er eigentlich ein Kind ist, das eine sehr feste eigene Meinung hat. Sprecher: Cornelia Schwartz vom Philologenverband berät als Lehrerin öfter Eltern in dieser Situation. Take 14 – Cornelia Schwartz: Wichtig ist, dass Eltern sich klarmachen, mein Kind wird nicht glücklich, wenn es immer nur das Gefühl hat, ich kann mit anderen kaum mithalten. Da ist wirklich die Frage, ob es nicht gesünder ist und glücklicher macht, wenn man dann sagt, ich will mich nicht permanent überfordern, ich gehe auf die Schulart, wo meine Talente tatsächlich zur Geltung kommen dürfen und wenn das mal nicht das Gymnasium ist, geht die Welt nicht unter. Sprecher: Aber gerade Akademiker-Eltern sehen dies oft anders und das spüren auch die Kinder. Da ist die Nichtversetzung manchmal die Vorstufe zur Familienkatastrophe. Die empirische Bildungsforschung hat nachgewiesen, dass sich die Leistungen der Klassenwiederholer höchstens vorübergehend verbessern. Dennoch befürwortet der Philologenverband das Sitzenbleiben. Cornelia Schwartz argumentiert mit einer umstrittenen Studie. Der Volkswirt Dr. Michael Fertig sorgte 2004 mit seiner Untersuchung für Schlagzeilen: "Sitzenbleiber sind die besseren Schüler" titelte damals beispielsweise das Magazin "stern", das die erstaunliche These des jungen Wissenschaftlers so zusammenfasste: "Sitzenbleiber haben bessere Chancen auf einen höheren Schulabschluss". Die ideologisch befrachtete Debatte wurde von Fertig so lange befeuert, bis er zurückrudern musste. So habe er das weder gesagt noch gemeint. Aber wie dann? Zitator: Bezüglich der Verortung der Studie im akademischen Spezialdiskurs ist festzustellen, dass der Autor den erziehungswissenschaftlichen Forschungsstand zu den Effekten von Nichtversetzung und Klassenwiederholung nicht zur Kenntnis nimmt. Sprecher: So bewertet die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Monika Palowski von der Universität Bielefeld die Studie von Michael Fertig, deren Aufbau und Rezeption sie 2014 untersuchte. In ihrer Dissertation "Der Diskurs des Versagens. Nichtversetzung und Klassenwiederholung in Wissenschaft und Medien" stellt Palowski fest: 7 Zitator: Insgesamt liefern Fertigs Ergebnisse (2004) keinerlei verlässliche Belege dafür, dass sich eine Klassenwiederholung generell positiv auf das Niveau des später erreichten Schulabschlusses oder auf die Leistungen der Betroffenen auswirkt. Sprecher: Michael Fertig räumt ein, dass es unklar sei, ob und wie sich Alternativen zur Nichtversetzung ebenfalls positiv auf den Schulerfolg auswirken könnten. Monika Palowski kritisiert, dass in Fertigs Studie der Notendurchschnitt beim letzten Schulabschluss nicht erhoben wurde. Den Medien wirft Palowski vor, Fertigs Studie unkritisch und ohne Relativierung der Resultate begleitet zu haben. Ein schlechtes Zeugnis also für den deutschen Bildungsjournalismus. Wer als Journalistin zum Thema "Sitzenbleiben" recherchiert, trifft bei mehreren Interviewpartnern auf erfahrene Klassenwiederholer. Die Diplompädagogin Anna Kreibohm leitet das private Nachhilfeinstitut "Faultier" in Mainz. Sie hat selbst die elfte Klasse wiederholt und ihr habe es nicht viel genutzt, sagt sie. Immer wieder begegnet Anna Kreibohm enttäuschten Eltern, deren Kind im Wiederholungsjahr nicht in allen Fächern gute Noten hat. Take 15 – Anna Kreibohm: Die Effekte, die man sich erhofft, die positiven, die bleiben oftmals aus. Das sieht man auch daran, dass viele Eltern ihre Kinder bei uns anmelden im Laufe des wiederholten Schuljahres. Da sieht man, dass allein das Wiederholen des Schuljahres eben noch keine Unterstützung als solche bietet. Da fehlen die Grundlagen. Ein Wiederholen der achten Klasse nützt nichts, wenn in der 5., 6. Klasse schon Dinge auf der Strecke geblieben sind, die unabhängig vom Sitzenbleiben mit Unterstützung wiederholt werden müssten. Sprecher: Die eher mathematisch begabten Schüler scheitern häufiger im fremdsprachenorientierten Gymnasium. Längst ist wissenschaftlich erwiesen, dass Schüler keineswegs in Lerngruppen besser lernen, in denen alle einen ähnlichen Leistungsstand haben. Andererseits sind Lerngruppen mit unterschiedlich leistungsfähigen Schülern schwieriger zu unterrichten und erfordern mehr Vorbereitungszeit. Bildungsforscher Michael Zimmer-Müller von der Universität Koblenz-Landau wendet ein: Take 16 – Michael Zimmer-Müller: Ich will mich überhaupt nicht gegen Inklusion aussprechen, in keinster Weise. Aber für mich kommt sofort der Gedanke: Warum integrieren wir nicht einfach erst mal unsere leistungsschwachen Schüler? Mit denen es vielleicht sogar noch einfacher wäre als mit anderen Kindern, die ebenfalls inkludiert werden sollten. Die Anforderungen sind auf alle Fälle nicht ganz so hoch. Sprecher: Für ihn ist Sitzenbleiben ohnehin keine pädagogische Maßnahme... 8 Take 17 – Michael Zimmer-Müller: ...weil in meinen Augen ist 'ne Maßnahme, die setzt in der Regel 'ne Diagnose voraus und zwar 'ne sehr konkrete Diagnose. In dem Fall wäre es dann auf ein oder zwei Fächer bezogen. Wenn man eine Diagnose hat, hat man Daten, Ergebnisse, mit denen man Maßnahmen entwickeln kann und dann wird es eine pädagogische Maßnahme. Aber hier setzt man einen Schüler wieder in die gleiche Klassenstufe zurück, der in einigen Fächern möglicherweise die Ziele sehr gut erreicht hat und das ist so 'ne Holzhammermethode meines Erachtens, aber keine pädagogische Maßnahme. Sprecher: Die Analyse der individuellen Gründe für das Sitzenbleiben setzt allerdings bei den Lehrern diagnostische Fähigkeiten voraus, über die viele nicht verfügen. Take 18 – Michael Zimmer-Müller: Das ist auch eigentlich unsere Aufgabe hier, die Lehrkräfte zu befähigen, Tests einzusetzen, wenn sie den Eindruck gewinnen, es könnte notwendig und hilfreich sein. Vergleichsarbeiten zur Diagnose für Sitzenbleiber zu nutzen, kann man machen, aber um Leistungsdefizite in einem Fach schon früher zu diagnostizieren, da muss man mit spezifischen Tests für das Fach rangehen. Man muss statistisches Grundverständnis dafür haben und man muss verstehen, was 'n Mittelwert, 'ne Standardabweichung ist, das ist was, was vielen Lehramtskandidaten nicht unbedingt liegt. Sprecher: Warum ist Leon sitzen geblieben? Weil er sich in einer schwierigen Familiensituation, am Beginn der Pubertät, nicht für die Schule motivieren kann? Weil eine SchreibLeseschwäche vorliegt? Weil das Gymnasium nicht seinem Begabungsprofil entspricht? Weil er überhaupt anders und Anderes lernen möchte als Latein, Geschichte und Englisch? Welche Alternativen zum Sitzenbleiben gab und gibt es für ihn? Die Universität Koblenz-Landau hat das pädagogische Reformprojekt "Komm Mit! – Fördern statt sitzen bleiben" an dem seit 2008 siebenhundert Schulen der Sekundarstufe eins in Nordrhein-Westfalen teilnahmen, wissenschaftlich begleitet. Den Schulen stand für die Reduzierung der Sitzenbleiberquote jeweils eine Drittel Lehrerstelle zur Verfügung, womit sie zunächst einmal analysieren konnten, warum Schüler bisher sitzen geblieben sind, um auf dieser Grundlage ein Förderprogramm zu erarbeiten. Die Schulen, die eigene Konzepte entwickelten, erhielten Unterstützung durch entsprechende Fortbildungen für die Lehrer. Michael Zimmer-Müller: Take 19 – Michael Zimmer-Müller: Was den Austausch der Schulen stützen sollte, waren regelmäßig stattfindende Regionalkonferenzen, in denen die Schulen sich gegenseitig berichtet haben, was sie gerade getan haben, wie erfolgreich das war und wo's Probleme gab. Was ich positiv finde, ist, dass man den Schulen einen sehr großen Freiraum gegeben hat. Es 9 muss 'ne Passung zwischen Maßnahme, Schule und möglicherweise auch den Lehrkräften geben. Sprecher: Die Schüler erhielten außerhalb des Unterrichts beispielsweise Unterstützung durch Lernpaten und Stadtteilmütter. In Förderstunden an der Schule verbesserten sie ihre Lernstrategien und Lernmotivation. Ihr Selbstvertrauen und ihre Belastbarkeit stiegen, wenn ihre Sprach-Lesekompetenz und ihre Argumentationsfähigkeit gestärkt wurden. Die Lehrer nahmen an Fortbildungen zur Verbesserung der diagnostischen Kompetenz und der Selbstreflektion teil. Durch kollegiale Hospitation und Feedback lernten sie, die Qualität ihres Unterrichts zu hinterfragen. Gelingt es ihnen, ein motivierendes und lernförderndes Klima in der Klasse zu schaffen? Drücken sie sich klar und verständlich aus? Haben die gestellten Aufgaben etwas mit den Interessen und dem Alltag der Schüler zu tun? Werden Verbindungen zu anderen Fächern hergestellt? Da jede Schule ihr spezielles Förderprogramm erarbeitete, konnten die Wissenschaftler nicht den Erfolg jeder einzelnen Maßnahme feststellen. Aber die Zahl der Sitzenbleiber wurde eindeutig gesenkt. Doch individuelle Förderung wie diese kostet Geld und so hält man in vielen Bundesländern bisher am Sitzenbleiben fest. Barbara Mathea ist Referentin im rheinland-pfälzischen Bildungsministerium und Leiterin der Gymnasialabteilung. Take 20 – Barbara Mathea: Wenn ich ein Kind, das leistungsmäßig in der nächsten Klassenstufe nicht erfolgreich mitarbeiten kann, einfach unbesehen in diese Klassenstufe aufsteigen lasse, dann wird die Frustration noch viel größer, weil sich immer mehr Defizite anhäufen. Sprecher: Barbara Mathea spricht sich für das Sitzenbleiben aus. Doch auch im rheinlandpfälzischen Bildungsministerium zeigt man sich offen für Reformen. Man könne schwachen Schülerinnen und Schülern die Versetzung nicht schenken. Aber man könne die Ehrenrunde mit guter und vor allem früher Förderung durchaus abwenden. Sie berichtet über ein Projekt des Bildungsministeriums für den Mathematikunterricht, an dem verschiedene Schulen teilnahmen. Take 21 – Barbara Mathea: Ein wichtiger Schritt, in dem ein Umdenken bei den Lehrern erfolgt ist, ist mit dem Stichwort Lernstandserhebungen verbunden. Dass ich einen Test schreibe, nicht um eine Note zu geben, sondern um zu bilanzieren, wo stehen die einzelnen Schüler, denn wenn ich eine Klasse nur übernehme, kann ich das allein im Unterricht nicht so differenziert herausfinden. Wenn ich aber schon zu Beginn sehe, da ist ein spezielles Defizit, entweder bei der ganzen Klasse, weil vielleicht ein Thema nicht hinreichend behandelt wurde, oder bei bestimmten Schülern, dann kann ich frühzeitig reagieren und ganz sicher manche Fünf und manche Nichtversetzung verhindern. Sprecher: Obwohl viele Lehrer das Sitzenbleiben keineswegs als ideale Lösung bei Lernproblemen ansehen, finden sie es im Einzelfall doch oft sinnvoll. 10 Oberstudiendirektorin Madeleine Dazert-Balthasar leitet seit siebzehn Jahren ein Gymnasium, an dem in den letzten drei Jahren deutlich weniger als ein Prozent der Schüler eine Klasse wiederholt hat. Take 22 – Madeleine Dazert-Balthasar: Wir beobachten seit Jahren, dass die Empfehlungen der Grundschule für das Gymnasium in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle tragen. Insgesamt gesehen müssen wir umgekehrt feststellen, dass die wenigen Kinder, die nach der sechsten Klasse unsere Schule verlassen müssen, weil sie nicht versetzt wurden und in den beiden Jahren zuvor entsprechende Schullaufbahnwechselempfehlungen ausgesprochen wurden, überwiegend ohne Empfehlung der Grundschule zu uns gekommen sind. Sprecher: Schon vor dem Aufnahmegespräch bei der Anmeldung bieten die Direktorin und ihr Schulleitungsteam den Eltern im November eine erste Beratung an. Auch nach der Orientierungsstufe werden die Schüler bei Bedarf unterstützt. Take 23 – Madeleine Dazert-Balthasar: An unserer Schule haben sich neben dem Methodentraining "Lernen lernen", welches wir auch als Fortbildungsmodul für Eltern anbieten, dabei zwei Angebote aus meiner Sicht besonders bewährt, nämlich die Mithilfe unserer Schulsozialarbeiterin und unser Lerncafé, das Schülern helfen soll, sich zu sortieren, sicher Hausaufgaben zu machen und so eben eine gute Grundlage zu schaffen, damit sie ihre Potenziale tatsächlich entfalten können. Sprecher: Zusätzliche Lehrerwochenstunden für Teamteaching oder Differenzierungsmaßnahmen – das würde beim Thema Nichtversetzung auch helfen, sagt Madeleine Dazert-Balthasar. Ein Lehrer, der differenziert unterrichtet, kann beispielsweise den Lernumfang durch unterschiedliche Aufgabenstellungen reduzieren, er kann andere Methoden und Materialien wählen oder das Lerntempo verändern. Er kann einem leistungsstarken Schüler eine Zusatzaufgabe stellen, während er einem schwächeren Schüler ergänzende Erklärungen gibt oder einfach mehr Zeit. Er kann spezielle Lehrmaterialien mit differenzierten Aufgaben für Hausaufgaben oder Stillarbeitsphasen nutzen. Bei den Wiederholern ist für Madeleine Dazert-Balthasar die Anstrengungsbereitschaft entscheidend. Und außerdem: Die Nichtversetzung setze ja nicht nur ein "mangelhaft" in zwei Fächern voraus, sondern auch, dass man diese Noten nicht ausgleichen kann. Somit weise das gesamte Zeugnis nicht genügend gute oder befriedigende Leistungen auf. Take 24 – Madeleine Dazert-Balthasar: Aus meiner Sicht, und ich denke, das ist auch die Meinung meiner Kollegen, ist die Möglichkeit der Klassenwiederholung durch Nichtversetzung nicht per se als sinnlos anzusehen. Pädagogisch im Einzelfall sinnvolle Maßnahmen sollten nicht primär unter dem Kostenaspekt gesehen werden, das ist meine Meinung. 11 Sprecher: Nicht-Versetzungen durch eine falsche Schulwahl der Eltern entgegen anderslautender Empfehlungen der Grundschule erlebt auch Anna Kreibohm, die Leiterin des Nachhilfeinstituts "Faultier", recht häufig. Take 25 – Anna Kreibohm: Dafür bezahlen dann die Kinder letztendlich in der fünften, sechsten Klasse, weil dann das Niveau so stark angehoben wird, dass dann die Kinder wirklich nicht mehr mithalten können. Sprecher: Anna Kreibohm hat in ihrem Nachhilfeinstitut keine positiven Erfahrungen mit dem Sitzenbleiben gemacht. Take 26 – Anna Kreibohm: Gerade, weil auch viele Fächer wiederholt werden, in denen die Noten gar nicht schlecht waren und die Schüler das Gefühl haben, dass mit ihrer Zeit da nicht sinnvoll gewirtschaftet wird. Jede Art der individuellen Förderung ist sinnvoller. Es bedeutet definitiv Mehrarbeit und im Grunde genommen deutet es wie immer darauf hin, dass das deutsche Schulsystem überarbeitet werden müsste beziehungsweise Neuerungen stattfinden müssen. Sprecher: Der 18jährige Jannik ist in seinem Wiederholungsjahr inzwischen nicht mehr sicher, ob er das Abitur überhaupt noch machen möchte oder nach der zwölften Klasse mit der Fachhochschulreife abgeht. Es fällt ihm immer schwerer, sich für das Lernen zu motivieren. Take 27 – Jannik: Ja, das ist zu monoton irgendwann, man hockt nur noch da und frisst in sich rein. Viele sehen ja das Abitur, da fängt man an, selber zu denken, sagt man ja immer, aber es ist eher weniger der Fall, würd ich sagen. Sprecher: Auch wenn Jannik und Leon sich kurzzeitig in einigen Fächern verbessern mögen ihre Grundprobleme löst das Wiederholungsjahr nicht. "Individuelle Förderung kostet Kraft", sagt die rheinland-pfälzische Bildungsreferentin Barbara Mathea. Take 28 – Barbara Mathea: Alles im Umfeld der individuellen Förderung, da muss man Lehrkräfte unterstützen. Es ist nicht möglich, sie von dieser Aufgabe zu entbinden. Wir haben gelernt, dass es die homogene Lerngruppe gar nicht gibt, da ist schon die Heterogenität zwischen Jungen und Mädchen da, damit muss man umgehen in allen Schularten. Sprecher: Die eine bestimmte Alternative zum Sitzenbleiben gibt es nicht. Aber klar ist: Eine frühzeitige Diagnose bei Schulproblemen und individuelle Förderung helfen immer. Manchmal hilft ein Schulwechsel oder auch nur der Wechsel in eine Parallelklasse 12 mit anderen Lehrern und einer neuen Klassengemeinschaft. Eine Klassenwiederholung mag manchen Spätentwicklern helfen oder in bestimmten Einzelfällen. Aber für die meisten der 146.000 Sitzenbleiber des letzten Schuljahres ist es wohl die schlechteste Lösung, die sie ein Jahr ihrer Lebenszeit kostet. Sie könnten dieses Jahr vermutlich sinnvoller nutzen. ******************** 13
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