Kapitel 1

Romina Gold
Sieh nicht zurück
Das Buch:
Um sich und ihr ungeborenes Kind zu retten, flieht Helen vor ihrem
gewalttätigen Ehemann. Sie täuscht ihren Tod vor und baut sich unter
dem Namen Kelly Jones ein neues Leben in der Nähe von San Francisco auf. Dort trifft sie den Bodyguard Vince Hanson, der nie gekannte
Gefühle in ihr entfacht. Magisch angezogen von seiner fürsorglichen
Art und seinem attraktiven Äußeren verliebt sie sich in ihn.
Doch Helen wiegt sich in einer trügerischen Sicherheit, denn
einen Mann wie Steven Devine verlässt man nicht ungestraft. Vince
und Helen werden auf grausame Weise von ihrer Vergangenheit eingeholt.
Die Autorin:
Geboren und aufgewachsen in der sonnigen Toskana Deutschlands,
bin ich vor einigen Jahren der Liebe wegen an den Rhein gezogen.
Heute lebe ich mit Mann und Hund im schönen Wonnegau, inmitten
von Weinbergen. Mit zwölf Jahren entdeckte ich in meinem Elternhaus eine alte mechanische Schreibmaschine und verfasste darauf
meine ersten literarischen »Perlen«. Seitdem hat mich die Leidenschaft zum Geschichtenerzählen nicht mehr losgelassen. Ich schreibe bevorzugt in den Genres Romantic Thrill und Romance. Meine
beruflichen Erfahrungen als Finanzmanagerin fließen ebenso in die
Romane mit ein wie die Inspirationen, die ich auf Reisen rund um die
Welt sammle. Professionelle Tipps für die Actionszenen erhalte ich
von meinem Mann, einem ehemaligen Vize-Europameister im Thaiboxen, der jahrelang Personenschützer und Polizisten in Nahkampfund Verteidigungstechniken unterrichtet hat.
Romina Gold
Roman
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Sieh nicht zurück – Solid Rock
Romina Gold
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ISBNs: 978-9963-53-597-2 (Paperback)
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Für Marco
Danke, dass du an meiner Seite bist.
Kapitel 1
Sausalito, Kalifornien
as Klingeln seines Smartphones riss Jason aus der
Konzentration. Sein Blick glitt zur Wanduhr, die
fast Mitternacht zeigte. Er faltete die Financial
Times zusammen und griff nach dem iPhone. Außer seinem Vater gab es nur eine Person, die ihn so spät abends
anrief. »Hi Linda«, begrüßte er seine Cousine.
»Hallo Jason. Hab ich dich geweckt?«
»Nein.«
»Du klingst müde.«
»War mal wieder ein langer Tag.«
»Bei mir auch.«
»Alles klar bei dir?«
»Nun, wenn du so direkt fragst: Ich könnte deine Hilfe
brauchen. Wäre schön, wenn du morgen kurz vorbeikommen würdest.«
Er zögerte. »Um was geht es konkret?«
»Um eine Unterbringung. Komplizierte Geschichte …
Ich kann diese Frau nicht ins übliche Programm geben, sie
benötigt besonderen Schutz.«
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»Und wie soll ich dir dabei helfen?«
»Das würde ich gern persönlich mit dir besprechen.«
Jason zögerte erneut. Er unterstützte das Frauenhaus,
das Linda leitete, finanziell großzügig, aber für weiteres
Engagement fehlte ihm die Zeit. Auch den morgigen
Samstag hatte er bereits verplant.
»Jason, bitte. Es ist Wochenende, da wirst du doch mal
eine Stunde für mich übrig haben.«
»Hm … Wie wäre es am Nachmittag?«
»Um drei? Zum Kaffee?«
»Kaffee klingt gut. Überredet! Wir sehen uns morgen.«
»Ja, bis dann! Ich freu mich auf dich.«
Das Frauenhaus lag in einer Seitenstraße des Mission Districts in San Francisco, wo es sich unauffällig zwischen die
Wohnhäuser reihte.
Jason folgte Linda in die gemütliche Küche. »Hallo
Sue«, begrüßte er die Sozialarbeiterin Susana Rodriguez,
die sich mit Linda die Leitung teilte.
»Hi Jason.« Sie lächelte ihn an, stellte eine Teekanne
und die Zuckerdose zu den Tassen auf dem großen Esstisch und ließ seine Cousine und ihn allein.
Jason fixierte das Arrangement. »Hattest du mich nicht
zum Kaffee eingeladen?«
»Keine harten Drogen in meinem Haus.« Linda feixte,
bevor sie sich zur Küchenzeile umwandte, wo sie die Kanne von der Wärmeplatte der Kaffeemaschine zog und ihm
einschenkte.
Jason setzte sich schmunzelnd. Sie wollte wohl wirklich etwas von ihm. »Dann leg mal los.«
Sie nahm ebenfalls Platz und strich sich eine blonde
Strähne aus der Stirn. »Eine meiner Frauen, sie nennt sich
Kelly Jones, will wieder ein normales Leben führen. Job,
eigene Wohnung.« Linda zögerte. »Kelly ist geflohen,
nachdem ihr Mann sie verprügelt und die Kellertreppe
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hinuntergestoßen hatte. Leider zu spät. Ihr Baby kam tot
zur Welt.«
Jason sog scharf die Luft ein.
»Der Typ hat zwei Gesichter«, fuhr Linda fort. »Laut
Kelly kann er andere Menschen wunderbar manipulieren,
und wenn’s sein muss, ist er total nett und hilfsbereit. Er
hat sich in der Stadt so beliebt gemacht, dass er sogar zum
Sheriff gewählt wurde. Niemand weiß, dass er seine Frau
schlägt. Kelly hat die Prügel regelmäßig über sich ergehen
lassen und die Spuren vertuscht.«
Jason hörte nicht zum ersten Mal von diesem Verhalten.
»Sie befürchtet, dass er nach ihr sucht, um sie wieder
unter seine Kontrolle zu bringen. Wenn herauskommt,
was er ihr angetan hat, war’s das mit seiner Karriere.
Außerdem weiß er nichts von der Totgeburt, und er will
seinen Sohn.«
Jason sah Linda fassungslos an. Seine Unterstützung
war für ihn bislang eine saubere, abstrakte Sache gewesen.
Aus der Stiftung floss Geld, sie dokumentierte den Verwendungszweck, seine Assistentin kümmerte sich um den
Papierkram, er warf regelmäßig einen Blick darauf. Und
nun wurde er plötzlich mit einem Schicksal konfrontiert.
Linda ignorierte seine entsetzte Miene. »Ich habe Kelly
eine neue Identität besorgt und sie äußerlich verändert.
Doch ihr Mann muss nur hartnäckig genug suchen, dann
wird er sie finden. Jeder Mensch hinterlässt Spuren, und
ihre sind noch frisch. Zu viele Leute erinnern sich an sie.«
»Die Arme.« Jason kam bittere Galle hoch bei der Vorstellung, dass ein Mann seiner Frau das Baby aus dem Leib
prügelte. »Was für ein kranker Typ!«
»Ja, Kelly ist einer meiner schlimmsten Fälle.« Linda
schüttelte traurig den Kopf. »Dabei stammt sie aus geordneten Verhältnissen. Sie hat keine Vorstrafen oder Drogenprobleme wie so viele andere, die hierherkommen.«
»Womit kann ich helfen?«
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Linda verschlang die Finger ineinander und starrte auf
die Tischplatte. »Wie schon gesagt, Kelly möchte wieder
auf eigenen Füßen stehen. Doch mir gefällt der Gedanke
nicht, sie gehen zu lassen. Die Sache mit ihrem Mann, dass
er sie verfolgt …« Sie sah Jason an. »Am liebsten wäre mir,
sie würde in einem überschaubaren Umfeld leben.«
Ihm schwante etwas. »Und welche Rolle hast du mir
zugedacht?«, hörte er vorsichtig nach.
»Deine Assistentin bekommt doch bald ihr Baby, und
du brauchst eine Nachfolgerin. Kelly hat jahrelang im Büro
gearbeitet, sie wünscht sich eine neue Chance und würde
sich sehr engagieren. Sie ist fleißig, gewissenhaft und sieht
gepflegt aus. Ich finde, sie passt in dein Unternehmen.«
»Ich habe schon einen Ersatz für Nicole«, wandte er
ein. »Außerdem hätte Mrs. Jones als Direktionsassistentin hauptsächlich mit Männern zu tun. Alphamännern
wohlgemerkt.«
»Miss Jones. Niemand darf wissen, dass sie verheiratet
ist. Das gehört zu ihrer Tarnung«, korrigierte Linda. »Ich
hatte auch nicht an dein Büro in der Stadt gedacht.«
»Sondern?«
»Kelly benötigt eine sichere Unterkunft. Sie könnte als
Privatsekretärin für dich arbeiten, in deiner Villa, und du
stellst ihr ein Zimmer zur Verfügung.«
»Du willst Miss Jones in einen Junggesellenhaushalt
stecken?«, vergewisserte er sich.
»Ach, Jason. Du bist doch die meiste Zeit unterwegs. Und
in deinem Palast könnte sich eine Horde Pfadfinder verirren.
Kelly und du, ihr würdet euch tagelang nicht begegnen.«
»Du übertreibst mal wieder maßlos.«
Linda zog ihn bei jeder Gelegenheit mit seiner riesigen
Villa auf, die für ihn allein tatsächlich viel zu groß war.
Beim Kauf der Immobilie hatte er geglaubt, die Räume
würden sich bald mit Leben füllen. Mit Kinderlachen.
Doch das war ein Wunschtraum geblieben. »Und was ist
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mit meiner Security?«, gab er zu bedenken. »Ein Wachmann ist immer auf dem Gelände.«
»Perfekt! Das ist der beste Schutz für sie. Wer käme
denn auf die Idee, bei dir nach einer Frau auf der Flucht
zu suchen?«
Jason ließ sich Lindas Argumente durch den Kopf gehen. »Was hält Miss Jones davon?«, fragte er schließlich.
»Kelly weiß noch nichts. Ich wollte erst mit dir reden.«
»Mich weichklopfen, meinst du«, brummelte er.
Linda lächelte. »Das hast du gesagt.«
Er wurde wieder ernst. »Miss Jones muss qualifiziert
sein für die Stelle, ich muss mich auf sie verlassen können.
Win-Gate-Solutions ist kein Wohltätigkeitsverein.«
»Mach dir keine Gedanken. Kelly schafft das, sonst
hätte ich dir den Vorschlag nicht gemacht.«
Jason rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wenn sie für den
Job nicht geeignet ist, kann sie trotzdem bei mir wohnen.
Mein Gästehaus steht leer«, äußerte er nach einem Moment.
Lindas Augen leuchteten auf. »Der Bungalow. Super! Ich wusste, dass du mir hilfst.« Sie sprang auf und
umarmte ihn. »Ich hole Kelly, damit ihr euch kennenlernen könnt.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«
»Jason, sie will raus hier. Irgendwann muss sie den
ersten Schritt machen. Und du bist mit Sicherheit keine unangenehme Begegnung für eine Frau.« Sie zwinkerte ihm
zu und verließ die Küche.
Er starrte ihrer hochgewachsenen Gestalt mit gemischten Gefühlen hinterher.
Jason besaß den Ruf, ein knallharter Verhandlungspartner zu sein, doch bei Linda versagten seine Strategien,
sie kochte ihn immer weich.
Einige Minuten später kehrte seine Cousine zurück,
begleitet von einer Frau mit kurzen schwarzen Haaren
und dunkelbraunen Augen.
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»Das ist mein Cousin, Jason Wingate«, stellte Linda
ihn vor.
»Hallo«, murmelte Kelly, setzte sich auf den Stuhl
neben Linda und versank fast unter dem Tisch.
Jason, der bei ihrem Erscheinen aufgestanden war,
nahm wieder Platz. Sein Blick glitt über ihre schmale Gestalt. Sie wirkte nicht, als wäre sie schon bereit, Lindas
schützendes Nest zu verlassen.
»Kelly, ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Sie umklammerte die Teetasse, die Linda vor sie hingestellt hatte, mit beiden Händen und hörte regungslos
zu. Danach hob sie den Kopf und sah Jason an.
Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»Das würden Sie für mich tun, Mr. Wingate?« Ihr direkter Blick, der im Gegensatz zu ihrer verschüchterten
Körperhaltung stand, erstaunte ihn.
Er nickte. »Sie können in meinem Gästehaus wohnen
und, falls Sie die Qualifikation dazu mitbringen, auch für
mich arbeiten.«
»Ich würde alles tun, um Linda nicht länger auf der
Tasche zu liegen. Sie war für mich da, als …« Ihre Stimme
erstarb.
»Du kannst so lange hierbleiben, wie du willst, das
weißt du doch.« Linda legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Niemand drängt dich, zu gehen.«
Kelly biss sich auf die Unterlippe und senkte den
Kopf.
»Es gibt da noch etwas, Miss Jones«, unterbrach Jason
die aufkeimende Stille. »Ich lebe allein. Ich hoffe, das ist
für Sie in Ordnung? Sie haben im Gästehaus Ihre Ruhe
vor mir, das verspreche ich Ihnen. Außerdem bin ich oft
auf Geschäftsreise.« Er wartete, und nach einem Moment
nickte sie.
»Vom Personal ist aber immer jemand da«, warf Linda ein.
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»Richtig. Meine Haushälterin unter der Woche und
die Security rund um die Uhr.«
Kellys Kopf ruckte hoch. »Security?«, stieß sie hervor.
»Die Wachmannschaft. Meine Villa liegt außerhalb
der Stadt auf einem großen Gelände.« Jason bemerkte,
wie sie blass wurde. »Meine Männer sind Profis, Miss
Jones. Sie bewachen und schützen. Keiner wird Ihnen zu
nahe treten.«
Seine Äußerung hätte sie beruhigen sollen, doch Kelly
schlug die Hände vors Gesicht. Jason und Linda wechselten einen Blick.
»Ich muss los«, sagte er und stand auf. »Ich habe noch
eine Verabredung.«
Kelly ließ die Arme sinken und sah zu ihm hoch.
Jason lächelte sie aufmunternd an. »Denken Sie in
Ruhe über meinen Vorschlag nach.« Aus der Innentasche
seiner Lederjacke zog er ein silbernes Etui und entnahm
ihm eine Visitenkarte, die er ihr reichte. »Falls Sie noch
Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen.«
»Danke für deinen Besuch.« Linda erhob sich und
umarmte ihn.
»Danke für den Kaffee. Wir hören voneinander.«
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Kapitel 2
m Montag rief Linda an und teilte Jason mit, dass
Kelly sein Angebot annehmen würde. Sie verabredeten ihren Umzug für den kommenden Samstag.
Gedankenverloren drehte er nach dem Gespräch seinen Füllhalter zwischen den Fingern. Er hatte sich von
Lindas Enthusiasmus und seinem Mitleid beeinflussen
lassen und eine spontane Zusage gegeben. Ein für ihn untypisches Verhalten, das der Situation und Kelly Jones’
offensichtlichem Leid geschuldet war. Inzwischen zweifelte er an seiner Entscheidung. Er wollte helfen, doch er
war kein Therapeut. Es gab so vieles, was er im Umgang
mit Gewaltopfern nicht wusste. Seufzend griff er nach
dem Telefon, um sich von Linda einige Ratschläge zu
holen.
Jason saß nach dem Fitnesstraining beim Frühstück, als
ihm Vince Hanson, sein Sicherheitschef, Lindas Ankunft
meldete. Er trank seinen Kaffee aus und verließ die Küche.
Seine Gefühle waren noch immer zwiegespalten, doch er
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hatte sein Wort gegeben, und dazu würde er stehen. Ein
Wingate kniff nicht. Niemals.
Sobald das Auto auf der gepflasterten Fläche neben der
grauen Granittreppe zum Stillstand gekommen war, öffnete Vince die Beifahrertür. »Bitte, Ma’am«, sagte er von
seiner imposanten Höhe herab, aber die Frau rührte sich
nicht.
Linda kam unterdessen um den Wagen herum. »Ich
mach das schon, danke, Vince.« Sie berührte kurz seinen
Arm und er erwiderte ihr Lächeln.
Ebenso wie mit Jason verband Vince auch mit Linda
seit Jahren eine enge Freundschaft. Er schätzte ihre warmherzige Art sehr, und ihr Engagement für misshandelte
Frauen und Kinder nötigte ihm Respekt ab. Linda lebte
für ihren Beruf, sehr zum Leidwesen von Vince’ Kollegen,
Dylan Gabriel, den sie trotz aller Bemühungen nicht wahrzunehmen schien.
»Komm, Kelly, wir sind da.«
Wie betäubt verließ Kelly die schützende Hülle des Wagens. Ihre Nervosität hatte sich während der Fahrt auf
der von Pinien, Eukalyptusbäumen und Wermutbüschen
gesäumten Zufahrtsstraße immer mehr gesteigert. Das
monumentale Anwesen, das in Alleinlage oberhalb von
Sausalito thronte, raubte ihr den Atem. Hier sollte sie zukünftig wohnen?
Linda schob eine Hand unter Kellys Arm. Zusammen
stiegen sie die Treppe hoch, wo Jason Wingate sie vor dem
Eingangsportal aus Edelstahl und Glas erwartete.
In Jeans und Kapuzensweater, mit verwuschelten
dunklen Haaren und einem jungenhaften Lächeln entsprach er so gar nicht Kellys Vorstellung von einem erfolgreichen Unternehmer.
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Nach seinem Besuch im Frauenhaus hatte sie Linda
über ihn ausgefragt und erfahren, dass ihr Cousin, obwohl
erst vierunddreißig Jahre alt, CEO der Softwarefirma WinGate-Solutions war. Das Familienunternehmen wuchs
unter seiner Leitung rasant und expandierte aktuell in
Europa.
Mr. Wingate bat sie ins Wohnzimmer, wo seine Haushälterin Kaffee servierte.
»Kelly hat eine Bewerbung geschrieben«, sagte Linda
nach dem ersten Schluck.
Auf das Stichwort hin holte Kelly eine Dokumentenmappe aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. Er überflog
kurz den Lebenslauf.
»Bis auf den Namen stimmen die Angaben«, bemerkte
Linda.
Jason Wingate sah hoch. »Bist du wieder unter die Ausweisfälscher gegangen?«
Sie grinste. »Du Quatschkopf.«
Seiner Äußerung entnahm Kelly, dass sie nicht die Erste war, der Linda eine neue Identität besorgt hatte.
Kelly Jones war zweiunddreißig Jahre alt und in Georgetown, einer kleinen Stadt am Fuß der Rocky Mountains,
aufgewachsen. Nach Abschluss der Highschool hatte sie
beim Bezirksgericht gearbeitet. Seit ihrer Heirat lebte sie
in einem Touristenstädtchen in den Bergen, wo sie zuerst
in einem noblen Sporthotel an der Rezeption jobbte, bis sie
ins Büro des Sheriffs wechselte.
»Sie kennen sich mit den gängigen Computerprogrammen aus?« Jason Wingate sah von der Bewerbungsmappe
hoch und suchte ihren Blick.
Trotz ihrer Nervosität fielen Kelly seine Augen auf. Sie
wirkten lebhaft. Intelligent. Und die ungewöhnliche Farbe
zog sie in ihren Bann. Azurblau.
Sie nickte. »Ich war bis zu meiner … Flucht im Januar
berufstätig.«
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»Gut, dann schlage ich vor, dass Sie probeweise ein
paar Tage für mich arbeiten. Danach sehen wir weiter. Sie
werden meine persönliche Korrespondenz erledigen und
die Stiftungen betreuen.«
»Vielen Dank, dass Sie mir eine Chance geben, Mr.
Wingate. Ich komme zwar aus einem anderen Fachgebiet,
doch ich lerne schnell.«
»Das hört sich schlimmer an, als es ist, Miss Jones. Ich
mache nicht viel Arbeit.«
»So’n Quatsch«, mischte sich Linda ein. »Alle Männer
machen Arbeit.«
Er zog arrogant eine Braue hoch. »Ich nicht«, entgegnete er blasiert und zwinkerte Kelly zu.
Sie lächelte.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Gästehaus.« Er
stand auf, und Linda und Kelly folgten ihm.
Unterwegs begegneten sie der Haushälterin.
»Ann Sanders, sie sorgt dafür, dass ich mich nicht nur
aus der Mikrowelle ernähre«, stellte Jason Wingate die
Frau vor. »Ann, das ist Kelly Jones, sie wird ab heute im
Bungalow wohnen.«
Ann Sanders begrüßte Kelly freundlich, konnte ihr
Erstaunen jedoch nur schlecht verbergen. Offensichtlich war es nicht üblich, dass Linda ihre Schützlinge hier
einquartierte.
Vom weitläufigen Wohntrakt traten sie in den Flur.
»Oben ist mein Privatbereich, unten sind Pool, Trainingsraum und die Hauswirtschaftsräume«, erklärte Mr.
Wingate. »Sie können den Fitnessbereich gern nutzen.
Außer mir trainiert noch mein Securitychef hier. Ich werde
Ihnen Mr. Hanson nachher vorstellen, Sie sind ihm bei der
Ankunft bereits kurz begegnet.«
Kelly konnte nur nicken, sie fühlte sich wie erschlagen
von dem Luxus. Gegen die großzügigen Räume mit der
exquisiten Einrichtung kam ihr das winzige, schlichte
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Zimmer, das sie im Frauenhaus bewohnt hatte, schäbig
vor.
Jason Wingate stoppte vor einer Tür, zog eine Karte
durch den Schlitz am Lesegerät und tippte eine Zahlenfolge ein. »Der Gang führt direkt ins Gästehaus.«
Kelly stand am Anfang einer Glasröhre, die den nur
wenige Meter entfernten Bungalow mit dem Haupthaus
verband. »Wie praktisch«, entfuhr es ihr.
Er ging voraus, öffnete den Zugang am anderen Ende
und bat sie mit einer Geste herein.
Der Wohnbereich war mit skandinavischen Möbeln aus
honigfarbener Buche eingerichtet, sowie zwei kleinen, rotbeige gemusterten Sofas und passenden Sesseln. Ein offener
Kamin versprach Gemütlichkeit an kalten Abenden. Durch
die Panoramafenster flutete Sonnenlicht ins Haus. Kelly trat
zur Glasfront und sah hinab auf das flirrende Wasser der
Richardson Bay und die Halbinsel Belvedere gegenüber.
»Kelly, komm, sieh dir die anderen Räume an«, rief
Linda.
Sie warf einen Blick in die einladende Wohnküche. Auf
der gegenüberliegenden Seite befanden sich zwei Schlafzimmer mit angrenzenden Bädern. Kelly entschied sich
spontan für den Raum mit der Aussicht über die Bucht.
Die weißen Möbel, Teppichboden und Bettwäsche in
Blautönen sowie maritime Dekogegenstände verbreiteten
mediterranes Flair.
Kelly spürte, wie ihr Tränen der Dankbarkeit in die
Augen stiegen. »Das ist eine wunderschöne Wohnung.
Danke, Mr. Wingate«, brachte sie stockend hervor.
Linda legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie beruhigend.
Sobald sich Kelly gefasst hatte, kehrten sie in die Villa
zurück, wo Jason Wingate ihr Vince Hanson vorstellte.
»Ich hatte es ja schon erwähnt. Mr. Hanson ist der Leiter meiner Security. Das Team besteht aus fünf Leuten.«
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Kelly sah zu dem blonden Hünen auf, der ihr die Autotür aufgehalten hatte. Er nickte ihr freundlich zu. Sie
schätzte ihn auf mindestens einen Meter neunzig. Der
Anzug betonte seine muskulöse Statur, wachsame meerblaue Augen umfassten ihre Gestalt. Alles an ihm wirkte
einschüchternd. Umso mehr erstaunte sie sein Händedruck. Der Griff seiner großen warmen Hand fühlte sich
beruhigend an.
»Vince wohnt auf dem Gelände in einem Apartment
im Seitentrakt. Sie werden also nie allein sein.«
Kelly fiel plötzlich das Atmen schwer. Erneut zweifelte
sie an ihrer Entscheidung. Lindas Argumente hatten überzeugend geklungen, doch im Grunde war sie hier ebenso
gefangen wie bei ihrem Mann. Eine Gefängniszelle, eingetauscht gegen einen goldenen Käfig.
Linda schien ihre Skepsis zu erahnen. »Wir bringen
jetzt mal deine Sachen rüber, damit du dich einrichten
kannst.«
»Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier, Miss Jones«, äußerte
Jason Wingate.
»Ja, sehr. Ich habe mich im Bungalow sofort wohlgefühlt.« Sie lächelte. »Das ist viel mehr, als ich erwartet
hatte. Sie sind sehr großzügig. Danke, Mr. Wingate.«
»Nennen Sie mich doch bitte Jason«, bot er an.
»Gern. Wenn Sie Kelly zu mir sagen.«
Er nickte und wandte sich an Vince. »Miss Jones
braucht eine Codekarte.«
»Ich kümmere mich sofort darum.« Er nahm die beiden
Taschen, die Kellys Habseligkeiten enthielten, und folgte
ihnen ins Gästehaus.
Sobald er gegangen war, sank Kelly seufzend auf eine
Couch.
Linda setzte sich neben sie. »Alles klar?«
Kelly nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf.
Linda lachte. »Was denn nun?«
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»Ach, Linda!« Ihr standen schon wieder Tränen in den
Augen. »Ich kann’s nicht fassen, dass Jason mich so herzlich aufnimmt.«
»Mach dir darüber mal keine Gedanken. Hier ist massig Platz. Ich hab noch nie verstanden, wofür er dieses
riesige Haus braucht. Ihm würde ein Bett in seiner Firma
reichen.«
»Wieso lebt er allein?«, rutschte es Kelly heraus. Es
wollte ihr nicht in den Sinn, warum ein erfolgreicher und
gut aussehender Mann wie Jason keine Partnerin hatte.
Linda zuckte die Schultern. »Es gab ein paar Freundinnen, aber die Richtige war noch nicht dabei. Für Jason
kommt Win-Gate-Solutions an erster Stelle, und welche
Frau macht so was schon mit?«
»Ich freue mich darauf, für ihn zu arbeiten. Hoffentlich
ist er zufrieden mit mir.«
»Das bekommst du hin. Du bist gut in dem, was du
tust.«
Kelly hätte am liebsten widersprochen, doch sie
schwieg. Seit dem Verlust des Babys fühlte sie sich wertlos.
Sie war schuld an seinem Tod, weil sie Steven nicht rechtzeitig verlassen hatte.
Ein melodischer Gong ertönte, und Linda öffnete die
Haustür. »Vince, komm rein.«
Er betrat das Wohnzimmer. In dem kleinen Raum wirkte er noch größer und breiter als in Jasons offenem Wohnbereich. Kelly konnte den Blick nicht von ihm nehmen.
Er bemerkte es und lächelte ihr zu. »Ich habe die Karte
für die Verbindungstür, Miss Jones.«
Ihr Bann löste sich bei seinen Worten, und sie stieß ein
»Danke« hervor.
»Ich zeige Ihnen, wie man das Schloss bedient, Ma’am.«
Sie stand auf und folgte ihm.
Er reichte ihr die Codekarte und erklärte die Benutzung. Zum Schluss tippte er eine Nummernfolge ein, die
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er laut aufsagte. »Die Ziffern müssen Sie sich merken. Sollte die Karte einmal nicht funktionieren, dann rufen Sie mit
dieser Taste. Es meldet sich jemand vom Wachdienst.«
Kelly konnte nur nicken. Seine Präsenz verschlug ihr
den Atem. Die Vitalität, die von ihm ausging, brachte die
Luft in seiner Nähe zum Vibrieren.
Vince warf ihr einen Blick zu, bemerkte ihre Anspannung und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. »Das
war alles, Ma’am«, sagte er förmlich.
Sie fixierte das Lesegerät, als wäre es hochexplosiv.
»Jeder, der eine Karte hat, kommt hier rein.«
»Nein«, widersprach er. »Es gibt nur diese Karte mit dem
aktuellen Code. Außer Ihnen kann niemand die Tür öffnen.«
»Tut mir leid.« Sie legte den Kopf in den Nacken, um
ihn ansehen zu können. »Ich wollte nichts unterstellen.
Vielen Dank, Mr. Hanson.«
»Gern geschehen. Und bitte nennen Sie mich Vince.« Er
lächelte erneut.
Kelly starrte ihn an, ihr Gehirn war leer gefegt. Ob er
einen Waffenschein besaß für dieses Lächeln?
Vince deutete eine Verbeugung an und ging.
Sie betrat die Küche, weil sie Linda dort herumkramen
hörte.
»Der Kühlschrank ist voll, du wirst also nicht verhungern«, bemerkte diese, bevor sie auf Kellys Gesichtsausdruck reagierte. »Was ist denn los?«
»Nichts.« Kelly schüttelte den Kopf, als wollte sie böse
Geister vertreiben.
»Vince ist total nett, er tut nur immer so reserviert.«
Sie sank auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die
Tischplatte und vergrub das Gesicht in beiden Händen.
»Er ist ziemlich … beeindruckend.«
Linda grinste. »Beeindruckend? Au Mann, sonst fällt
dir nichts zu ihm ein? Vince ist ein echter Kerl, stark und
gut aussehend.«
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Kelly spreizte die Finger und warf ihr einen Blick zu.
»Na, danke. Von echten Kerlen bin ich erst mal bedient.«
»Du wirst ihn kaum zu Gesicht bekommen.«
»Dreht er denn nicht seine Runden?«
»Nein. In diesem Palast ist alles hochmodern.
Überall sind Kameras. Vince sitzt die meiste Zeit im
Überwachungsraum.«
»Wie aufregend.«
»Tja, ruhiger Job. Dadurch hat er eine Menge Zeit zum
Trainieren.« Linda verdrehte übertrieben die Augen.
Kelly feixte. »Er gefällt dir.«
»Vince sieht super aus, aber ich und ein Mann …« Linda zuckte mit den Achseln. »Ich habe meine Erfüllung in
meiner Arbeit gefunden. Außerdem ist Vince … kompliziert.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Vergiss es«,
sagte sie mehr zu sich selbst und griff nach ihrer Handtasche. »So, meine Liebe, ich fahre jetzt. Du bist hier gut
versorgt.« Sie legte Kelly beide Hände auf die Schultern.
»Du hast eine Wohnung, einen Job, stehst wieder auf eigenen Beinen. Mach das Beste daraus.«
»Das habe ich vor.«
»Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Wegen deiner
Therapie: Du solltest weiterhin an unseren Gruppengesprächen teilnehmen. Einer von Jasons Jungs wird dich
in die Stadt fahren.«
Kelly stand auf. »Vielen Dank noch mal, Linda. Wie
kann ich dir jemals zurückgeben, was du für mich getan
hast?«
»Red nicht solchen Mist. Du hast heute den ersten
Schritt in deine neue Selbstständigkeit gemacht, und das
ist für mich das größte Erfolgserlebnis.« Sie umarmte
Kelly.
Die Tür fiel hinter Linda ins Schloss. Kelly durchquerte langsam den Wohnraum, ließ ihre Blicke über die geschmackvolle Einrichtung schweifen und blieb schließlich
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vor der Panoramascheibe stehen. Lange sah sie hinaus in
die beruhigende Weite.
Dies war also ihre neue Zuflucht. Ein gemütliches
Häuschen, abgeschottet von hohen Mauern und rund um
die Uhr bewacht. Würde sie hier endlich zur Ruhe kommen? Nach einer Odyssee durch den halben Kontinent
und Monaten voller Kummer, Selbstvorwürfen und Angst.
Ihre Gedanken glitten zurück zum schlimmsten Tag ihres
Lebens. Ihrem letzten Tag als Helen Devine.
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Kapitel 3
Colorado, Rocky Mountains
Fünf Monate vorher
elen kam blinzelnd zu sich, Dunkelheit umhüllte
sie. Nicht das diffuse Nachtblau ihres Schlafzimmers, sondern absolute, erdrückende Schwärze.
Träge sickerten weitere Details durch ihre Benommenheit: Sie lag auf dem Rücken, ihr Körper steif vor Kälte.
Das linke Handgelenk pulsierte, ebenso ihr linkes Knie.
Muffig-feuchter Kellergeruch stieg ihr in die Nase.
Erschrocken richtete sie sich auf, ein glühender Schmerz
schoss durch ihren Unterleib. O nein, nicht mein Junge!
Helen stöhnte und sank auf den Betonboden zurück.
Sie tastete über ihren Babybauch hinab zu ihrem
Schritt. Der Jeansstoff fühlte sich trocken an. Vor Erleichterung traten ihr Tränen in die Augen.
Mit der Angst um das Kind kam die Erinnerung an
den Streit. Stevens Fäuste in ihrem Gesicht, seine derben
Hände, die sie packten und schüttelten, bevor er sie wie
einen Hund im Genick schnappte und die Kellertreppe
hinunterstieß. Er war mal wieder ausgeflippt. Wegen ein
paar Widerworten …
Sie musste hier raus.
Helen stemmte sich hoch und stützte sich gegen das
rohe Mauerwerk. Ihr Schädel dröhnte, ihr war schwindlig.
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Der schmale Streifen Helligkeit am Ende der Treppe, wo
das Tageslicht unter dem Türspalt hindurchschimmerte,
wies ihr den Weg in die Freiheit.
Stufe um Stufe zog sie sich am Geländer nach oben. Das
verletzte Knie trug sie kaum, doch die Angst um ihr Baby
trieb sie weiter. Steven hatte sie schon einmal über Nacht
in den eisigen Keller gesperrt. Panik überrollte Helen bei
der Erinnerung, wie entkräftet sie damals gewesen war.
Das durfte nicht noch einmal passieren! Nicht in ihrem
Zustand. Sie brauchte Wasser, Nahrung, Wärme.
Endlich erreichte sie den Treppenabsatz und ertastete
den Lichtschalter. Der grelle Schein der nackten Glühbirne
wirkte tröstlich. Sie drehte am Knauf, doch die Tür war
verschlossen. Erschöpft lehnte sie sich gegen das massive
Holz, klopfte und flehte. Auf der anderen Seite blieb es
still. Steven ließ sie schmoren. Eine seiner Lieblingsstrafen.
Sie sammelte ihre Kräfte, drehte erneut den Knopf
und rüttelte daran. Das Klicken, mit dem das verklemmte Schloss aufsprang, schien sie zu verhöhnen. Helen
schluchzte vor Erleichterung.
Sie spähte den Flur entlang in der Erwartung, ihren
Mann an der Wand lehnen zu sehen, die Arme vor der
Brust verschränkt und höhnisch grinsend. Doch der lange Gang war leer. Helen verharrte. Lauschte. Im Haus
herrschte Todesstille. Schließlich hinkte sie zur Eingangstür und sah durch die Buntglasscheibe in der oberen Hälfte nach draußen. Schemenhaft erkannte sie den Pick-up,
der auf seinem gewohnten Platz parkte. Sie zog die Tür ein
Stück auf. Stevens Dienstwagen fehlte. Ihr Blick huschte
zum Ablagebord. Seine Brieftasche war weg. Er war weg!
Erleichtert sackte sie gegen die Wand. Der Spiegel
neben der Garderobe fing ihr Bild ein. Die rotbraunen
Strähnen wirkten fremd in ihrem hellen Haar, und erst
nach einem Moment realisierte sie, dass es sich um getrocknetes Blut von einer Platzwunde an der Schläfe
25
handelte. Sie drehte den Kopf. Eine großflächige Verfärbung zog sich von ihrem linken Auge über die Wange,
an ihrer Nase klebte verkrustetes Blut. Helen senkte den
Blick auf ihr schmerzendes Handgelenk, das grotesk geschwollen war.
Wut auf Steven kochte in ihr hoch. In seiner Raserei
machte er noch nicht einmal vor seinem ungeborenen
Sohn halt. Also war die Freude auf das Baby auch nur
geheuchelt gewesen, eine Lüge, wie so viele davor. Für
ihn zählte einzig die Anerkennung. Mit dem Kind hätte
er mal wieder im Mittelpunkt gestanden. Der tolle Kerl,
ein Mann, der Söhne zeugte. Der Beste für das Amt des
Sheriffs …
Wie im Zeitraffer sah Helen die Zukunft ihres Babys
vorbeitakten. Seine Kindheit und Jugend, geprägt von einem gewalttätigen Vater, der jedes Fehlverhalten im Keim
erstickte. So lange, bis der Junge genauso perfekt funktionierte wie seine Mutter. Oder ebenfalls zu einem Schläger
wurde.
Ihre Hoffnung auf ein normales Familienleben zersplitterte in diesem Augenblick. Steven würde sich nie ändern.
Und sie konnte ihr Kind nicht schützen. Sie besaß weder
körperlich noch mental die Kraft, sich gegen ihren Mann
zu wehren.
Plötzlich fielen alle Emotionen von ihr ab. Angst, Wut,
Schmerz, dafür blieb jetzt keine Zeit. Das Schicksal hatte
ihr eine Chance geschenkt, um ihr Leben und das des
Babys zu retten.
Helen mühte sich die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Ihre Beine zitterten, ihr Rücken schmerzte und heftiger
Schwindel zwang sie zur Vorsicht.
Im Bad betrachtete sie ihren gewölbten Leib. Ein großes
Hämatom prangte darauf, ansonsten wirkte alles normal.
Sie streichelte sanft darüber. »Er wird dir nichts antun«,
murmelte sie. »Ich passe auf dich auf.«
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Kurz überlegte sie, ob sie einen Krankenwagen rufen
sollte, aber dann würde sie nie von Steven wegkommen.
Du suchst nur wieder eine Ausrede für deine ewige Feigheit!,
warf sie sich vor.
Helen hatte schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, wegzulaufen, doch dann wurde sie schwanger, und
Steven verwandelte sich in den Mann zurück, in den sie
sich einst verliebt hatte. Bis zu diesem Morgen, als sein
Zorn aus heiterem Himmel über sie hereingebrochen war.
Eilig wusch sie das Blut von Gesicht und Haaren, bevor sie das Geld, das sie seit Langem aus der Haushaltskasse abzweigte, aus seinem Versteck nahm. Zusammen
mit dem Zweitschlüssel ihres Chevys, der im Anbau hinter
dem Haus stand.
Steven hatte ihr vor einiger Zeit den Autoschlüssel
abgenommen. Eine weitere seiner Schikanen, um ihren
Bewegungsradius einzuengen. Angeblich, damit ihr und
dem Baby nichts passierte. Schwangeren Frauen wurde
es ja öfter mal übel am Steuer. Wie besorgt er getan hatte. Und wie wütend er geworden war, als er den zweiten
Schlüssel nicht finden konnte.
Das Geräusch rollender Reifen auf Schotter, das gedämpft an ihre Ohren drang, riss sie aus ihren Gedanken.
Helen erstarrte. Er durfte noch nicht zurückkommen! Ein
scharfer Stich Angst übertönte die aufkeimende Resignation. So schnell ihr verletztes Bein sie trug, hastete sie
ans Fenster. Erleichtert lehnte sie die Stirn an die Scheibe,
als das unbekannte Auto an ihrem Haus vorbeifuhr und in
das Waldstück dahinter einbog.
Helen wandte sich ihrem Kleiderschrank zu, warf mehrere Garnituren Unterwäsche und einige Kleidungsstücke
in einen Rucksack. Ein letztes Mal glitt ihr Blick durch
den Raum. Alles wirkte akkurat, so, wie Steven es haben
wollte. Sie schlüpfte in eine Winterjacke und humpelte die
Treppe hinab.
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Der Innenraum des Autos roch muffig, und auf der
Windschutzscheibe lag eine Staubschicht. Kein Wunder,
der Chevy stand seit Monaten. Ob er überhaupt noch ansprang? Helen steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Diverse Lämpchen am Armaturenbrett leuchteten auf, das
Batteriesymbol fiel ihr ins Auge. Müsste das nicht ausgehen? Es hatte sie nie interessiert. Und nun hing plötzlich
ihr Leben von einer winzigen Anzeige ab. Sie verdrängte
den Gedanken und startete, doch der Motor blieb stumm.
Panik flutete über sie hinweg. Ihre Blicke huschten durch
den Innenraum. Die Automatik stand auf Parkposition, die
Tanknadel zeigte halbe Füllung, die Cockpitbeleuchtung
funktionierte. Und die Warnleuchte für die Batterie war erloschen! Mit neuem Mut drehte sie den Schlüssel. Sie stieß
heftig die Luft aus, als der Wagen zum Leben erwachte.
Es gab nur eine Straße, die aus dem Touristenstädtchen
hinausführte. Das Haus der Devines lag am Ortsrand, und
sie musste fast die ganze Stadt durchqueren, vorbei am
Sheriff’s Office. Stevens reservierter Parkplatz war leer.
Er kurvt hier rum, er wird mich sehen!
Erneut griff die Panik nach ihr. Helens Blicke sprangen
zwischen dem Gegenverkehr und dem Rückspiegel hin
und her, sie rechnete jede Sekunde mit blitzenden Signalleuchten und dem Aufheulen einer Sirene. Am liebsten hätte sie Vollgas gegeben. Endlich passierte sie die
Stadtgrenze.
Helen beschleunigte, ihre Verletzungen zwangen sie jedoch zur Vorsicht. Ihr geschwollenes Auge tränte, und das
Lenkrad konnte sie nur mit der rechten Hand halten. Die
kurvenreiche Strecke hinunter ins Tal, an deren Rändern
sich der geräumte Schnee türmte, verlangte ihr alles ab.
Sie kroch durch die Serpentinen und fuhr an einsehbaren
Stellen mittig.
Plötzlich brüllte eine Hupe hinter ihr. Steven! Helen
schrak zusammen und verriss das Steuer. Sie packte das
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Lenkrad mit beiden Händen, ein glühender Schmerz
schoss in ihr Gelenk und einzig die geringe Geschwindigkeit bewahrte sie davor, in einen Schneehaufen zu
schleudern.
Ein brachialer Geländewagen hing in ihrem Kofferraum, blendete auf und setzte zum Überholen an. Sie wich
nach rechts aus und entging nur knapp der Kollision mit
einer Felswand. Der Drängler raste an ihr vorbei.
Helen stoppte entnervt. Vollidiot! Erschöpfung, Erleichterung und Schmerz trieben ihr Tränen in die Augen,
und weinend sank sie über das Lenkrad.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie die Kurve,
an der eine Steilwand bis zum Talgrund senkrecht abfiel
und in einem reißenden, wild um rund geschliffene Steine
gurgelnden Gebirgsfluss endete. Vor wenigen Tagen war
ein Lkw bei Glatteis an dieser Stelle durch die Leitplanke gebrochen. Helen, die im Büro des Sheriffs arbeitete,
hatte den Unfallbericht verfasst. Ein Streifen Polizeiband
zwischen zwei Sicherheitsbaken diente als provisorische
Sperre, und nachts warnten blinkende Leuchten.
Panik wallte in ihr hoch, doch nun gab es kein Zurück
mehr. Steven würde sie bis ans Ende der Welt jagen, solange er sie am Leben glaubte. Einen Mann wie ihn verließ
man nicht ungestraft.
Sie wollte den Wagen schon anrollen lassen, da fiel ihr
Blick auf das Handschuhfach. Ob sich ihr Führerschein
noch darin befand? Seit Steven ihr den Autoschlüssel abgenommen hatte, war sie nicht mehr an dem Chevy gewesen.
Sie öffnete die Klappe und durchwühlte den Krimskrams
darin. Eine einzelne Dollarnote flatterte zu Boden. Helen
steckte sie ein und suchte weiter. Sie entdeckte ein Ledermäppchen, zog den Reißverschluss auf, und ein USB-Stick
rutschte heraus. Verdutzt betrachtete sie ihn. Wie kam das
Ding hierher? Es konnte nur Steven gehören. Aber warum
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bewahrte er es im Auto auf? Das passte so gar nicht zu
seiner Pedanterie. Kurz entschlossen schob sie den Stick in
die Hosentasche.
Ihre Hand zitterte sekundenlang über dem Schalthebel. Würde sie es rechtzeitig aus dem Wagen schaffen?
Mit dem dicken Bauch und dem verletzten Knie? Helen
unterdrückte die Fantasien, die vor ihrem inneren Auge
aufstiegen. Bevor der Mut sie verließ, stellte sie den Hebel
auf D, nahm den Fuß von der Bremse und glitt wimmernd
aus dem anrollenden Auto.
Angespannt beobachtete sie, wie das Fahrzeug das
gelb-schwarze Band zerriss und über die Abbruchkante
kippte, hörte das nervtötende Kreischen von Blech, das an
Felsen entlangschrammte. Sie wartete nicht, bis der Chevy
im Flussbett aufschlug, sondern duckte sich hinter die
Büsche am Straßenrand. Falls jemand sie zufällig sehen
würde, wäre ihre Flucht gescheitert. Sie musste Abstand
zwischen sich und die Unfallstelle bringen.
Helen tauchte in den dunklen Wald ein und kämpfte
sich bergab durch den Nadelforst, dessen schneelastige
Zweige bis zum Boden hingen. Sie versank abwechselnd
im Neuschnee oder stolperte über verharschte Flächen.
Ihre Beine gaben immer öfter unter ihr nach, Bauchkrämpfe nahmen ihr die Luft. Erschöpft blieb sie stehen
und betastete ihren Leib. Er war hart. Vorzeitige Wehen!
Sie versuchte, sich mit Atemübungen zu entspannen, doch
die Krämpfe verstärkten sich.
Motorengeräusche wiesen ihr den Weg zur Landstraße, die sie zurück in die Zivilisation bringen würde.
Mit letzter Kraft schleppte sich Helen in diese Richtung.
Die Bäume lichteten sich, sie rutschte eine kleine Böschung hinab und torkelte auf die Fahrbahn. Eine Hupe ertönte, erschrocken fuhr sie herum. Ein sengender Schmerz
schoss durch ihren Leib, und ihre Beine ließen sie nun
endgültig im Stich. Hart landete sie auf dem verletzten
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Knie. Sie schrie auf, versuchte, sich abzustützen, doch der
Schwindel verstärkte sich und legte sich wie ein schwarzer
Schleier über sie. Türenschlagen und aufgeregte Stimmen
drangen gedämpft an ihre Ohren. Jemand berührte ihren
Arm, redete auf sie ein. Helen spürte noch, wie sie hochgehoben wurde, bevor sie in erlösender Stille versank.
Das penetrante Piepsen eines Überwachungsmonitors
tröpfelte in ihr Bewusstsein und holte sie in die Realität
zurück. Ihr erster Blick fiel auf den Infusionsbeutel, der an
dem Ständer neben ihrem Bett hing. Helen bewegte sich
und bemerkte dabei den Gipsverband an ihrem linken
Unterarm.
Schlagartig kam sie vollends zu sich. Mein Baby!, schoss
es ihr durch den Kopf.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Er war flach! Ihre
Finger tasteten weiter, bis sie den Verband berührten, der
ihren Unterleib bedeckte. Kaiserschnitt. Dann war das Kind
auf der Welt! Erleichterung durchflutete sie, und mit neuer
Energie richtete sie sich auf.
Kurz darauf traten zwei Frauen an ihr Bett.
»Unsere Jane Doe ist aufgewacht«, stieß die junge
Krankenschwester hervor.
Die Ärztin warf einen Blick auf den Monitor, bevor sie
sich an Helen wandte. »Ich bin Dr. Leeburgh, Ma’am. Sie
hatten einen Unfall. Erinnern Sie sich?«
Unfall? Helen schüttelte den Kopf und setzte zu einer Entgegnung an, hielt jedoch inne. Jane Doe hatte die
Schwester sie genannt. Man kannte ihren Namen nicht.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wo war der
Rucksack mit ihren Papieren?
Die Ärztin zog eine Pupillenleuchte aus ihrer Kitteltasche und beugte sich zu Helen.
»Geht’s meinem Jungen gut?«, murmelte sie.
Langsam richtete sich die ältere Frau auf. Bedauern lag
in ihrem Blick.
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»Ich will ihn sehen.«
»Es tut mir sehr leid, Mrs. …«
Als Helen nicht reagierte, sprach Dr. Leeburgh weiter.
»Wir mussten einen Notkaiserschnitt machen. Leider kam
die Hilfe für das Baby zu spät.«
»Aber … ich bin in der fünfundzwanzigsten Woche.«
»Das Kind wäre lebensfähig gewesen«, stimmte die
Ärztin zu. »Doch seine Verletzungen waren zu schwer.
Wir haben wirklich alles probiert, Ma’am. Ich bin froh,
dass wir Sie retten konnten.«
Fassungslos starrte Helen die Frau an. Er hat seinen
Sohn getötet!, hämmerte es in ihrem Kopf.
Mit einem klagenden Laut schloss sie die Augen und
ließ den Tränen freien Lauf.
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Kapitel 4
ince stand auf dem Balkon seines Apartments und
starrte auf Sausalito und Belvedere hinab, die im
nächtlichen Lichterglanz erstrahlten. Ein eisiger
Wind zerrte an seinem Shirt, doch er spürte die Kälte nicht.
Seine Gedanken kreisten um die Ereignisse des Tages. Was
war nur in Jason gefahren, dass er eine fremde Frau bei sich
aufnahm? Noch dazu eine, die offensichtlich riesige Probleme mit sich herumschleppte. Ihr Einblick gewährte in seine
geschäftlichen Belange. Was verband ihn mit Kelly Jones?
Er sah sie vor sich, ihre zarte Gestalt, steif vor Anspannung. Die ausdrucksvollen Augen, die seinem Blick nicht
standhalten konnten. Verschüchtert … oder eher ängstlich.
Vince stützte beide Hände auf die Brüstung und legte
den Kopf in den Nacken. Zwischen den dahinjagenden
Wolkenfetzen blinkten vereinzelte Sterne auf. Er beschloss,
Linda anzurufen, um herauszufinden, was es mit dieser
Angelegenheit auf sich hatte.
Am Tag darauf lud Jason Kelly zum Kaffee in die Villa ein.
Heute wirkte sie erholter auf ihn und nicht mehr so nervös. Sie plauderten über das Anwesen, und Kelly brachte
nochmals ihre Dankbarkeit zum Ausdruck.
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»Warum tun Sie das für mich, Mr. Wingate?«, fragte sie
unvermittelt.
Erstaunt blickte er sie an. »Was meinen Sie?«
»Sie lassen mich hier wohnen, obwohl Sie mich nicht
kennen. Bieten mir einen Job an, für den hunderte anderer
Frauen besser qualifiziert wären. Sie sind ein Geschäftsmann, und ich bin ein Kostenfaktor. Warum also tun Sie
das? Aus reiner Nächstenliebe?«
Ihre offenen Worte nötigten ihm Respekt ab. »Eine ehrliche Antwort?«, bot er an.
Kelly nickte.
»Ich war zuerst skeptisch, als Linda mich gebeten hat, Sie
aufzunehmen. Aber dann dachte ich mir, wieso es nicht einfach mal probieren. Seit Jahren unterhalte ich eine Stiftung
für misshandelte Frauen und Kinder, ab und zu begleite ich
Linda zu einem Wohltätigkeitsball. Das war’s auch schon
mit meinem Engagement. Ich wollte endlich einmal aktiv
helfen und nicht nur Schecks ausschreiben.«
Ihr ernsthafter Blick ruhte auf ihm. »Danke für die offenen Worte. Jetzt verstehe ich Ihre Beweggründe.«
Jason fühlte Verlegenheit in sich aufsteigen und wechselte das Thema. »Sie fahren morgen mit mir ins Büro. Dort
befinden sich die Stiftungsunterlagen, und meine Assistentin kann Ihnen die Arbeit erklären.«
Kelly strahlte ihn an. »Darauf freue ich mich. Und danke
für die Mühe, die Sie sich für mich machen, Mr. Wingate.«
»Jason«, erinnerte er sie. »Ich fliege bald nach Europa
und bin dann für einige Wochen weg. Bis dahin sollten Sie
so weit eingearbeitet sein, dass Sie mein Privatsekretariat
führen können.«
Kelly entging nicht, wie er das Wort betonte. Mit schief
gelegtem Kopf sah sie ihn an.
Er bemerkte ihren Blick. »Das war Lindas Idee. Ich wäre
nie darauf gekommen, dass ich eine zweite Assistentin
brauche.«
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»Sie werden zufrieden mit mir sein, das verspreche ich
Ihnen.«
Lächelnd nahm er ihren Eifer zur Kenntnis. Er hatte
schon viele Bewerbungsgespräche geführt, und sein Gefühl
trog ihn selten. Kelly würde gewissenhaft und engagiert
ihre Arbeit erledigen.
Nachdem Kelly gegangen war, rief er Linda an.
»Alles klar bei euch? Wie geht’s Kelly?«, meldete sie
sich.
Jason musste schmunzeln. Seine Cousine kam wie üblich direkt auf den Punkt.
»Sehr gut. Wir haben gerade Kaffee getrunken, und sie
war viel lockerer als gestern. Ich denke, sie wird sich schnell
einleben. Morgen fahren wir zusammen in die Firma.«
»Warum?«
Der alarmierte Tonfall ließ ihn aufhorchen. »Weil Nicole
Kelly einarbeiten muss.«
»Sie soll nicht draußen herumlaufen!«
Jason seufzte. »Wird sie auch nicht. Sie fährt mit mir und
lernt nur Nicole kennen.«
»Aber …«
»Sie will doch ein normales Leben führen«, fiel er Linda
ins Wort. »Dazu gehört, dass sie ihre Arbeit beherrscht.«
»Du hast ja recht. Ich bin mal wieder zu gluckenhaft.«
»Ich berichte dir, wie es gelaufen ist.«
»Okay. Und danke, dass du dich so um Kelly bemühst.«
35
Kapitel 5
elly blieb kurz die Luft weg bei Jasons Anblick. Sie
hatte ihn bisher nur in lässiger Kleidung gesehen,
doch heute stand der perfekte Businessmann vor
ihr. In dem anthrazitfarbenen Maßanzug, dem weißen
Hemd und der dezent gemusterten, bordeauxroten Krawatte wirkte er souverän und Respekt einflößend.
»Guten Morgen, Kelly. Bereit für den ersten Arbeitstag?«
»Ja … sicher. Guten Morgen, Jason.« Nervosität
schwang in ihrer Stimme mit.
»Dann wollen wir mal los.« Er wies auf die silberfarbene S-Klasse, neben deren Beifahrertür Vince Hanson
wartete. Er trug einen dunklen Anzug, und die Morgensonne malte goldene Lichter in sein Haar.
Kellys Atem stockte erneut. Sie starrte ihn an, saugte seinen Anblick förmlich in sich auf. Sein massiver Körper wirkte
unerschütterlich, wie ein Fels in der Brandung. Sekundenlang hielt er ihren Blick fest, sein hübsches Lächeln blitzte
auf. Erst als er sich abwandte und die Tür zum Fond öffnete,
brach der Bann. Kellys Füße setzten sich in Bewegung.
»Guten Morgen, Miss Jones.«
»Guten Morgen, Mr. Hanson«, hauchte sie und huschte an ihm vorbei. Sie glitt auf den Rücksitz aus cremefarbenem Leder.
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Er schloss die Tür und nahm hinter dem Steuer Platz.
Jason saß bereits auf dem Beifahrersitz und scrollte durch
die Kontaktliste seines iPhones. Während der Fahrt telefonierte er. Vince schwieg konzentriert.
Kellys Anspannung legte sich nach ein paar Minuten,
und an ihre Stelle trat Aufregung. Sie war neugierig auf
Win-Gate-Solutions und auf Jasons Assistentin, die sie sich
zum Vorbild nehmen wollte.
Sie überquerten die Golden Gate Bridge. Kurz darauf
rauschte die Limousine in die Tiefgarage und stoppte neben einem Lift. Vince stieg aus, sah sich um, anschließend
öffnete er die Tür für Kelly.
Der Aufzug brachte sie direkt in die oberste Etage des
Hochhauses. Jason steuerte auf eine Tür aus Satinglas und
Chrom zu, die dem Lift gegenüber lag, und öffnete mit
einer Chipkarte.
Sie betraten sein Vorzimmer. Eine Frau erhob sich und
kam ihnen entgegen.
»Meine Assistentin, Mrs. Dennison«, stellte Jason sie vor.
»Guten Morgen, Miss Jones. Ich bin Nicole.« Sie
lächelte.
Kelly erwiderte den Gruß mechanisch, doch ihr Blick
klebte auf dem Babybauch der Frau. Wie ein glühender
Dolch stach der Verlust in ihr Herz.
Nicole legte eine Hand auf ihren Leib. »Ich weiß, ich
sehe aus wie eine reife Melone. Es ist aber erst in sechs
Wochen so weit.«
»Behauptet dein Arzt«, warf Jason trocken ein.
Nicole grinste ihn an. »Jason hat nur Angst, dass das
Kind hier zur Welt kommt und ihn vom Arbeiten abhält«,
sagte sie zu Kelly.
»In die Direktionssitzung platzt«, setzte er feixend drauf.
Kelly riss gewaltsam ihren Blick von Nicoles Bauch los.
»Ich muss ins Finanzmeeting.« Jason sah auf seine Patek Philippe. »Nicole, zeige Kelly bitte alles, was mit den
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Stiftungen zu tun hat. Die Unterlagen nehmen wir später
mit.« Er wandte sich an Kelly. »Vince fährt Sie zurück,
wenn Sie hier fertig sind.«
Es fiel Kelly schwer, sich auf die Erklärungen der Assistentin zu konzentrieren. Immer wieder wanderte ihr
Blick zu deren Mitte.
»Haben Sie Kinder?«, fragte Nicole nach der Einarbeitung.
Sie schüttelte den Kopf. Ein Kloß saß in ihrem Hals.
»Es ist mein Erstes«, plauderte Nicole weiter. »Ein Junge. Ein angehender Footballspieler, sagt mein Mann, weil
er so lebhaft ist.«
Das Telefon unterbrach sie. Kelly nutzte die Gelegenheit und stapelte die Unterlagen, die sie mitnehmen würde, in einem Karton.
Anschließend rief Nicole Vince an. Dieser klemmte sich die Kiste unter den Arm und zusammen betraten
sie den Lift. Die Türen glitten zu, seine Präsenz füllte den
Raum. Kellys Puls beschleunigte sich, und unwillkürlich
wich sie bis zur Kabinenwand zurück. Als der Aufzug in
der Tiefgarage stoppte, merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte.
Vince verstaute den Karton im Kofferraum, und Kelly
sank auf den Rücksitz. Erschöpft schloss sie die Augen.
Die Begegnung mit Nicole hatte sämtliche Wunden wieder aufgerissen. Verstohlen legte sie eine Hand auf ihren
Bauch. Er war flach und leer. Sehnsucht und Kummer
überrollten sie.
Während der Fahrt blickte Vince mehrmals in den Rückspiegel. Er sorgte sich um Kelly. Als er Nicoles Büro betreten hatte, war sie leichenblass gewesen, und in ihren
Augen hatte unsägliche Qual gestanden. Nun saß sie zusammengesunken in ihrem Sitz. Weinte sie? Er überlegte,
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ob er sie ansprechen und seine Hilfe anbieten sollte, unterließ es aber, als er sich an ihre Anspannung im Aufzug
erinnerte. Ihre Angelegenheiten gingen ihn nichts an. Der
zarte Orangenduft, den er heute Morgen an ihr wahrgenommen hatte, stieg ihm erneut in die Nase. »Ma’am …
Miss Jones?«
Kelly schrak auf. Vince hatte vor dem Haupteingang
der Villa angehalten und hielt die Wagentür für sie auf.
Die junge Frau sah verwirrt zu ihm hoch. Ihre Tränen hatten rötliche Spuren auf den Wangen hinterlassen.
»Wir sind da, Ma’am.« Er streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
Kelly ergriff sie mechanisch, murmelte eine Entschuldigung und eilte die Treppe hinauf. Er folgte ihr mit dem
Karton, den er im Arbeitszimmer abstellte.
»Danke, Mr. Hanson.«
»Bitte. Brauchen Sie noch etwas?«
»Nein, vielen Dank.«
Er blickte sie nachdenklich an, bevor er sich mit einem
kurzen Nicken verabschiedete.
Vince fuhr den Wagen in die Garage und blieb eine
Weile sitzen. Kellys offensichtlicher Kummer berührte
ihn, und er fragte sich, warum. Sie war eine Fremde, ihre
Probleme konnten ihm egal sein. Doch ihre traurigen Augen, die Tränenspuren auf ihren filigranen Zügen und ihr
schreckhaftes Wesen weckten den Wunsch in ihm, sie in
die Arme zu nehmen und alles Üble von ihr fernzuhalten.
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Kapitel 6
ie ersten beiden Wochen vergingen wie im Flug.
Kellys Tage waren ausgefüllt mit der Arbeit für
Jason und den Neuerungen in ihrem Privatleben.
Sie hatte den sicheren Kokon von Lindas Frauenhaus
verlassen und musste sich nun wieder den Herausforderungen des Alltags stellen. Der Weg zurück in einen
normalen Tagesablauf, während die ständige Angst, ihr
Mann könnte sie aufspüren, über ihr hing, laugte sie aus.
Kelly fühlte sich noch immer schwach, die schwere
Operation, die Trauer um ihr Kind und die Albträume,
in denen Steven die Hauptrolle spielte, hatten an ihr
gezehrt.
Sie betete darum, dass er sie für tot hielt. Eine vage
Hoffnung, denn sie kannte seine Verbissenheit. Solange
er ihren Leichnam nicht vor sich sah, würde er nicht aufhören, nach ihr zu suchen. Und dann gab es noch diesen
mysteriösen USB-Stick. Mittlerweile verfluchte sie ihre
Spontaneität. Alle Versuche, an die passwortgeschützten
Dateien zu gelangen, waren erfolglos gewesen.
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Lindas Besuche und die Therapiegespräche halfen
Kelly, mit ihren Ängsten und den veränderten Umständen
zurechtzukommen. Linda erkundigte sich regelmäßig,
wie es ihr in der Villa gefiel und ob der Job sie nicht überforderte. Kelly schwärmte in den höchsten Tönen von der
angenehmen Zusammenarbeit mit Jason und dem wundervollen Häuschen, in dem sie sich sehr wohlfühlte. Sie
hätte nie geglaubt, dass sie sich so schnell einleben würde.
Heute jedoch saß sie an ihrem Schreibtisch und starrte
ins Leere. Steven war wieder da. Aufdringlich wie immer
hatte er sich in ihren Kopf geschlichen und hielt sie von
der Arbeit ab. Sorgte dafür, dass Angst und Kummer sie
lähmten. In ihrer Versunkenheit bemerkte sie Jason erst
nach einer Weile.
»Ich wollte mich verabschieden«, sagte er. »Ab heute
sind Sie hier der Boss.« Er streckte ihr die Hand hin.
Kelly stand auf. Sie würde ihn vermissen. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise, und genießen Sie Ihren
Aufenthalt in London. Eine faszinierende Stadt. Ich habe
gegoogelt, dort ist immer etwas los. Also, wenn Sie Freizeittipps brauchen, ich habe eine Liste mit interessanten
Veranstaltungen zusammengestellt. Die ist so lang, dafür
müssten Sie mindestens zweihundert Jahre alt werden.«
Sie feixte.
»Gut zu wissen. Falls mir tatsächlich mal langweilig
sein sollte.« Er griff nach der Mappe mit den Reisedokumenten, die sie ihm hinhielt. »Ich melde mich, sobald ich
gelandet bin. Machen Sie es gut, Kelly. Und wenn Sie etwas brauchen, Vince ist für Sie da.«
»Keine Sorge, ich komme zurecht. Guten Flug.«
Am Nachmittag traf sie in der Küche auf Vince Hanson,
der an der Frühstückstheke stand und in einer Tasse rührte. Für Ann und Kelly war diese Kaffeepause inzwischen
zu einem Ritual geworden. Sie hatten sich vom ersten
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Moment an gut verstanden und genossen ihren täglichen
Austausch.
Zögernd blieb Kelly an der Tür stehen, doch Ann winkte ihr zu. »Komm rein, ich habe Vince auf einen Kaffee
eingeladen.«
»Hallo Mr. Hanson.«
»Hallo Miss Jones.« Das warme Timbre seiner Stimme
bewirkte ein wohliges Kribbeln in ihrem Bauch.
»Mr. Hanson? Miss Jones?« Ann lachte. »So förmlich?«
Kelly fühlte Verlegenheit aufsteigen. »Nennen Sie mich
bitte Kelly. Ich hätte Ihnen das schon früher anbieten sollen, aber wir sehen uns so selten.«
»Mach ich doch glatt.« Er grinste.
Kelly sah ihn irritiert an. Der lockere Ton stand im
krassen Gegensatz zu seinem üblicherweise reservierten
Verhalten. Zögernd lächelte sie zurück.
Vince versuchte, Kellys Blick festzuhalten, doch sie wich
ihm aus. Er seufzte lautlos. Warum war sie nur so schüchtern? Ständig auf der Hut und sprungbereit zur Flucht.
Wie ein scheues Reh. Sein Gespräch mit Jason kam ihm in
den Sinn. Dieser war eines Abends kurz nach Kellys Einzug mit einer Flasche Single Malt bei ihm aufgetaucht.
»Lust auf einen Männerabend?« Jason hielt den Talisker
hoch.
»Immer rein damit.«
Jason ließ sich auf der Couch nieder, und Vince holte zwei
Gläser. Nachdem sie sich zugeprostet und den ersten Schluck genossen hatten, sah Vince seinen langjährigen Freund fragend an.
»Kelly Jones?«, kam er auf den Punkt.
Jason nickte. »Linda hat sie mir anvertraut.« Beim letzten
Wort malte er mit beiden Händen imaginäre Anführungszeichen in die Luft. »Ihr Mann sucht angeblich nach ihr. Er soll
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über Möglichkeiten und Beziehungen verfügen, mit denen er sie
aufspüren kann. Deshalb wollte sie Kelly nicht in einer der üblichen Wohnungen unterbringen und ihr auch keinen Job mit
Publikumsverkehr besorgen. Kellys Flucht ist außerdem noch
nicht lange her, ihre Spur noch frisch.«
»Sie ist verheiratet?«, entfuhr es Vince. Er wusste von Linda, dass Kelly aus einer Beziehung geflohen war, aber diese Information enttäuschte ihn herb.
»Ja. Damit niemand auf die Idee kommt, nach ihrem Mann
zu fragen, nennt sie sich Miss Jones.«
Vince drängte seine widerstreitenden Gefühle zurück und
wechselte das Thema. »Und weswegen versteckst du sie hier?
Deine Privatsphäre war dir doch immer heilig. Eine sichere
Wohnung hätte es auch getan.«
Jason seufzte. »Linda hat mich mal wieder um den Finger
gewickelt. Normalerweise hätte ich ihr finanziell geholfen und es
damit gut sein lassen …«
»Die Frau ist dir unter die Haut gegangen«, mutmaßte
Vince.
»Nicht so, wie du denkst. Ich habe kein persönliches Interesse
an ihr.« Jason seufzte erneut. »Bei unserem ersten Treffen wirkte
sie total hilflos. Verängstigt. Und Linda tat, als wäre ich Kellys
letzte Rettung. Ich brachte es nicht übers Herz, abzulehnen.« Er
sah Vince lange an. »Bitte achte auf sie, aber diskret, damit sie
sich nicht überwacht fühlt.«
»Okay.«
»Sie soll auch nur in Begleitung das Gelände verlassen.«
»So ernst ist es?«
»Ja. Ihr Mann hat …« Jason brach ab. »Tut mir leid, Vince,
ich musste Linda versprechen, Kellys Geschichte vertraulich zu
behandeln. Es ist ihre Entscheidung, wem sie davon erzählt. Nur
eins, der Kerl ist gefährlich. Ein ehemaliger Cop, der es bis zum
Polizeichef gebracht hat. Skrupellos, mit dem Recht auf seiner
Seite und extrem gewalttätig. Kelly hat zu Linda gesagt, er
würde sie eher töten, als sie freizugeben.« Jason fuhr sich mit
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beiden Händen durch das wellige Haar. »Ich wollte es erst nicht
glauben, aber du kennst Linda, sie übertreibt selten.«
»Danke, Ann.« Kellys Stimme riss Vince aus seinen
Gedanken.
Die Haushälterin hatte soeben eine Tasse Kaffee vor
Kelly hingestellt. Diese goss Milch hinein und rührte um.
Der Löffel landete klappernd auf dem Unterteller. Seine
Gegenwart machte sie eindeutig nervös. Kurz spielte er
mit dem Gedanken, sich zurückzuziehen, doch er blieb.
Sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert und nun
bot sich endlich die Chance, einige private Minuten mit
ihr zu verbringen. Vince ahnte, dass mehr in ihr steckte,
dass sie ihr Temperament und ihre Intelligenz hinter einer
Fassade verbarg. Vermutlich hatte sie ihr unauffälliges
Erscheinungsbild über Jahre kultiviert. »Hast du dich inzwischen eingelebt?«
Kelly nickte, hielt den Blick jedoch stur auf ihre Tasse gerichtet. »Es ist schön hier«, sagte sie leise. »So ruhig.«
»Manchmal zu ruhig für meinen Geschmack. Auf
Dauer ist das doch öde. Willst du nicht mal was unternehmen, nach Frisco rüberfahren zum Shoppen oder abends
ausgehen?«
Sie sah verwirrt zu ihm auf. Wollte er mit ihr ausgehen?
Was für ein absurder Gedanke. Wieso sollte er sich mit ihr
abgeben? Bei seinem Aussehen konnte er die attraktivsten
Frauen haben. »Ich … Nein, ich habe alles, was ich brauche.« Sie atmete krampfhaft ein. Vince versuchte nur, nett
zu sein. Es gab keinen Grund, mehr hineinzuinterpretieren.
»Ich bin ein Landei und mich machen Städte nervös.«
»Sausalito ist gemütlich. Klein und überschaubar, nicht
so hektisch wie San Francisco. Meld dich einfach, wenn du
mal hinwillst, dann fährt dich jemand.«
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Kelly nickte. Eigentlich brauchte sie Kleidung. Die Sachen, die sie trug, stammten aus dem Fundus des Frauenhauses oder von dem Geld, das Linda aus Jasons Stiftung
erhielt. Ihr Fluchtgeld war schon lange aufgebraucht. Von
Jasons großzügigem Gehaltsvorschuss könnte sie sich eine
eigene Garderobe zulegen. Es wurde Zeit, dass sie wieder
selbst für sich sorgte. »Vielleicht in ein paar Tagen.«
»Okay.« Er lächelte sie an, bevor er sich Ann zuwandte
und ihr mit einem bittenden Blick seine leere Tasse hinschob.
Ann stellte sie amüsiert unter den Auslauf des Vollautomaten. »Eigentlich gibt es um diese Uhrzeit nur eine
Tasse«, sagte sie zu Vince.
Dieser lehnte sich auf die Theke und beugte sich zu ihr.
»Ich bin ein großer Junge, ich vertrage das.«
Ein Hauch seines Duftes streifte Kelly bei dieser Bewegung, und ihr Herz schlug einen Salto.
Ann lachte. »Na gut, ausnahmsweise.« Sie reichte ihm
die volle Tasse. »Willst du auch noch einen?«, wandte sie
sich an Kelly.
»Nein, danke. Ich muss weitermachen.« Fast fluchtartig
kehrte Kelly an ihren Arbeitsplatz zurück. Während sie die
Post sortierte und ablegte, schweiften ihre Gedanken zu Vince. Seit der Fahrt zu Jasons Firma hatte sie ihn immer nur kurz
gesehen, doch jedes Mal, wenn seine große Gestalt in ihrem
Blickfeld auftauchte, musste sie sich zwingen, ihn nicht allzu offensichtlich anzustarren. Die Kombination aus kerniger
Männlichkeit, sanften blauen Augen und seinem hübschen
Lächeln zog sie unwiderstehlich an. Die Begegnung in der
Küche hatte ihr den Rest gegeben. Er war charismatisch und
duftete fantastisch. Eine gefährliche Mischung.
Kelly seufzte. Es wäre am vernünftigsten, sich von
ihm fernzuhalten. Sie hatte ohnehin keine Chance bei ihm.
Von ihren sonstigen Problemen einmal abgesehen und der
Tatsache, dass sie verheiratet war. Der Gedanke an Steven
machte ihre gelöste Stimmung zunichte.
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Kapitel 7
elly sah erstaunt hoch, als Vince das Arbeitszimmer
betrat und einen Stapel Briefe auf ihren Schreibtisch
legte. Üblicherweise brachten ihr Dylan Gabriel
oder Jake Brandell, die Männer von der Tagschicht, die
Post. Vince war um diese Uhrzeit gewöhnlich mit Jason
unterwegs, doch der hielt sich in London auf.
»Guten Morgen, Kelly.« Er strahlte sie an. »Ich spiele
heute mal den Postboten.«
Sie erwiderte sein Lächeln, gleichzeitig erwachten die
Schmetterlinge in ihrem Bauch. »Guten Morgen, Vince.«
»Falls du in einem Umschlag Geld findest, sag mir Bescheid. Wir machen dann zusammen einen drauf.«
Verwirrt fuhr sie sich durch ihr Haar und zerzauste es
dabei. »Sorry, ich stehe gerade auf dem Schlauch. Erwartest du Post?«
»Nein, das war ein Scherz.« Er betrachtete sie einen
Moment, und sein intensiver Blick beschleunigte ihren
Puls. »Ich wollte dich nicht stören.« Mit einem freundlichen Nicken wandte er sich ab und verließ den Raum.
Kelly verfluchte ihre Reaktion. Warum benahm sie sich
so verklemmt, sobald er in ihre Nähe kam? Verdammt
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noch mal! Viel lieber hätte sie locker mit ihm gescherzt
und gelacht. So wie früher, vor Stevens Zeit. Da war sie
allen Menschen offen begegnet, mit jedem schnell ins Gespräch gekommen. Doch Steven hatte ihr das ausgetrieben, sie immer mehr von anderen isoliert, bis sie sich nur
noch um ihn kümmerte und er zu ihrer einzigen Bezugsperson wurde.
»Du bist ihn los«, murmelte sie vor sich hin, griff nach
dem Stapel Briefe und schlitzte die Kuverts auf. Dabei
nahm sie sich vor, bei der nächsten Begegnung mit Vince
nicht wieder wie ein verschrecktes Huhn zu reagieren.
Seit Jasons Abreise hielt sich Vince hauptsächlich in der
Villa auf und nutzte jede Gelegenheit, um Kelly zu sehen.
Er fühlte sich von ihr angezogen, obwohl ihm sein Verstand riet, die Finger von ihr zu lassen.
Er brachte ihr vormittags regelmäßig die Post. Nachmittags gesellte er sich zur Kaffeerunde und unterhielt die
Frauen mit seinem Geplauder. Kelly taute allmählich auf,
lachte über seine Späße und konterte schlagfertig seine
gutmütigen Neckereien.
Des Weiteren übernahm er den Chauffeurdienst, wenn
Kelly zu ihren Therapiegesprächen nach San Francisco
musste oder Linda besuchen wollte. Dabei entdeckten sie
ihre gemeinsame Vorliebe für Rockmusik.
Als sie auf einer dieser Fahrten mit ihm den Refrain
von Tykettos »Forever Young« schmetterte und ihn glücklich
anstrahlte, brach das letzte Eis zwischen ihnen.
»Wie wär’s heute Nachmittag mit einem Ausflug nach
Sausalito?«, schlug Vince vor. »Ich muss Jasons Wagen
bewegen und könnte dich mitnehmen.«
Sie wussten beide, dass dies nur ein Vorwand war, um
sie aus dem Haus zu locken, doch Kelly stimmte zu. »Ich
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sehe nur noch schnell die Post durch, ob etwas Eiliges dabei ist, dann können wir los«, sagte sie.
»Mach langsam, ich bin in der Garage. Komm einfach
rüber, wenn du fertig bist.«
Eine halbe Stunde später verließ Kelly das Gästehaus.
Sie hatte sich umgezogen und ihr Make-up aufgefrischt.
Vince stand im Schatten neben den geöffneten Rolltoren
der Halle, die er als Garage bezeichnet hatte, und sah ihr
entgegen. In dem langärmeligen Shirt mit der Spitzenborte,
den Röhrenjeans und den Sneakers wirkte sie mädchenhaft.
Sie blieb neben ihm stehen und ließ fasziniert ihren
Blick über Jasons Fuhrpark schweifen.
»Oh«, murmelte sie. »Das ist ja wie bei einer
Automobilausstellung.«
Vince grinste.
Obwohl sie schon einige Zeit hier wohnte, betrat sie
heute zum ersten Mal die Garage. Bisher hatte immer ein
Wagen vor der Villa auf sie gewartet.
Kelly umrundete einen achatgrauen Porsche 911 GT3,
dessen Metalliclack in den hereinflutenden Sonnenstrahlen glitzerte.
»Bitte nicht den Porsche.«
Erstaunt drehte sie sich zu ihm um.
»Der ist mir in den Schultern zu eng.« Er feixte.
Ihr Blick glitt über seinen Körper und nahm Maß. Vince
spürte, wie ihm heiß wurde.
»Okay«, sagte sie gedehnt, riss den Blick von ihm los
und ließ ihn über das runde Dutzend schöner und teurer
Autos schweifen. »Wo passt du rein?«
Er zeigte auf einen BMW M6 Gran Coupé mit getönten
Scheiben und rubinschwarzer Lackierung.
»Dann nehmen wir doch den. Obwohl …« Kelly entdeckte den John Cooper Works, der halb von einem kobaltblauen Aston Martin DB9 GT verdeckt wurde, und
steuerte darauf zu. »Ich liebe Minis!«
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Dieser Wagen war ein besonders schickes Exemplar.
Schwarz, mit rotem Dach und roten Außenspiegeln. Ihre
Begeisterung entlockte Vince ein Stöhnen.
»Auch zu eng?«
Er nickte gequält.
»Ja, wer fährt denn die Autos während Jasons
Abwesenheit?«
»Jake bekommt die kleinen und ich die großen.«
Amüsiert zog sie die Brauen hoch und ließ die Finger
über den schimmernden Lack gleiten.
»Willst du ihn mal fahren?«
Kellys bislang so gelöstes Gesicht verschloss sich. »Ich,
äh … nein.«
Er sah sie forschend an, während er sich fragte, warum
sie plötzlich dichtmachte.
»Ich haue bestimmt eine Beule rein«, murmelte sie fast
entschuldigend.
»Ach was. Der Kleine ist zwar eine echte Rakete, lässt
sich aber gut beherrschen. Genau das Richtige für zierliche
Frauen. Probier’s mal aus, es lohnt sich, damit macht die
Strecke ins Tal einen Riesenspaß.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Wir werden einen großen
Kofferraum brauchen, ich will die Stadt leerkaufen.«
»Dann nehmen wir doch den Jeep.« Vince wies auf
einen kirschroten Jeep Grand Cherokee. »Darin bleibe ich
wenigstens nicht stecken.«
Ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht.
Er warf ihr einen amüsierten Blick zu, bevor er sich
abwandte, um den Schlüssel aus einem Wandsafe zu
holen.
»Für was braucht ein Mensch so viele Autos?«
Vince lachte. »Das ist Jasons einzige Leidenschaft. Er
hat keine schicke Jacht, keine Villa auf den Bahamas oder
anderen Millionärs-Schnickschnack.«
»Aber er kann doch immer nur einen Wagen fahren.«
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»Er fährt sie alle. Regelmäßig. Meistens nachts, um den
Kopf frei zu kriegen.« Vince öffnete die Beifahrertür und
legte Kelly sanft eine Hand auf den Rücken. »Komm, steig
ein.«
Vince lenkte den Geländewagen über die kurvige Strecke
Richtung Sausalito. Seine Nähe beschleunigte Kellys Puls.
Er hatte das Jackett ausgezogen und die Ärmel des Hemdes bis zu den Ellenbogen umgeschlagen. Verstohlen musterte sie ihn unter halb gesenkten Lidern. Sein markantes
Profil, die kräftigen Unterarme und die sehnigen Hände,
die sicher das Lenkrad hielten. Wie es wohl wäre, seine
Finger auf ihrer Haut zu fühlen?
»Was brauchst du denn aus der Stadt?«, fragte Vince
und riss sie aus ihren Gedanken.
»Hauptsächlich Kleidung.«
»Und was genau?«
»Och, eigentlich alles. Jeans und T-Shirts, ein paar
Businesssachen, vielleicht ein Kostüm und ein Kleid.«
»Wie konnte ich das vergessen. Frauen brauchen immer alles.« Er nahm kurz den Blick von der Straße und
zwinkerte ihr zu. »Dann weiß ich, wo wir hingehen.«
Kelly stöhnte innerlich. Dieses Lächeln brachte sie noch
um den Verstand.
Sie erreichten Downtown Sausalito und bogen auf den
Bridgeway ein, die Einkaufsstraße direkt am Meer. Kelly
erhaschte einige Blicke auf die Marina, wo sich die Jachten
sanft in der Dünung wiegten.
Vince parkte, stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür, doch Kelly machte keine Anstalten,
auszusteigen. Sie saß wie versteinert auf dem Sitz, die Finger vor der Brust ineinander verkrampft.
Da vorn ging Steven!
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Sie erkannte ihn an seinen energischen Schritten, der
hageren Figur und dem schwarzen Haar.
»Kelly? Kelly!«
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, ein großer Körper beugte sich in den Wagen. Abwehrend hob sie den Arm.
Vince wich ein Stück zurück. »Was ist denn los?« Seine
besorgten Worte plätscherten an ihre Ohren.
Steven kam direkt auf sie zu. Gebannt hingen ihre Blicke
an seiner Gestalt. Und dann sackte sie erleichtert zusammen. Das war nicht Steven, nur ein Mann, der ihm ähnelte.
Ein nervöses Lachen kroch ihre Kehle herauf. Kaum verließ sie einmal ihre selbst gewählte Isolation, da sah sie auch
schon Gespenster. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Ich …«
»Wenn du dich nicht wohlfühlst, fahren wir zurück.«
»Nein, ist okay.« Sie griff hinter sich und zog Handtasche und Jacke vom Rücksitz.
Vince wich zur Seite und ließ ihr Raum zum Aussteigen. Besorgt musterte er sie. Als sie schwankte, legten sich
seine Hände stützend auf ihre Oberarme und Kelly sank
gegen ihn. Sein Körper strahlte eine beruhigende Stärke
aus, tröstliche Wärme umfing sie. Und sein Duft. Eine
Mischung aus frischer Meeresbrise und Sandelholz. Verführerisch. Kurz genoss sie seine Nähe, bevor ihr Verstand
wieder die Oberhand gewann. Was tat sie da?
Hastig wich sie zurück, und er gab ihre Arme frei.
»Alles in Ordnung?«, vergewisserte er sich.
Kelly rang sich ein Lächeln für ihn ab. »Wo wollen wir
zuerst hin?«, fragte sie betont munter.
Sein sanfter Blick ruhte noch einen Moment auf ihr,
doch dann ging er auf ihr Ablenkungsmanöver ein.
Die Shoppingtour wurde ein voller Erfolg.
Kellys anfängliche Nervosität legte sich rasch dank
Vince’ beruhigender Gestalt an ihrer Seite. Er wirkte souverän, und sie mochte seine geduldige Art. Sie fühlte sich
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wohl in seiner Nähe, viel zu wohl. »Das reicht für heute«,
sagte sie und deutete auf die voluminösen Tragetaschen,
die er für sie schleppte.
»Im Ernst? Wir haben doch gerade erst angefangen.«
»Ich dachte nur, bevor du zusammenbrichst.«
»Wie bitte?« Vince tat gekränkt.
»Nun, du siehst ziemlich erledigt aus.«
Er lachte gutmütig, und sie konnte den Blick nicht von
seinen attraktiven Zügen lösen. Die charmanten Grübchen
in den Wangen zogen sie magisch an. Die Verkäuferin,
die Kellys Einkäufe in eine Tüte gepackt hatte, schien der
gleichen Meinung zu sein. Ihre Blicke klebten ebenfalls an
Vince’ Gesicht.
»Ich könnte eine Erfrischung vertragen«, sagte er auf
dem Weg zum Auto. »Wie wär’s mit einem Eis?«
»Du isst Eis?« Sie sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, ein
Muskelprotz wie du ernährt sich nur von Proteinshakes
und riesigen Steaks.«
Er blieb stehen und zog eine Braue hoch. »Muskelprotz? Dafür hältst du mich?«
Sie stoppte ebenfalls. »Pure Schmeichelei«, erwiderte
sie und grinste.
Sekundenlang hielt er ihren Blick fest, und Kelly wurde es warm. »Es gibt nur wenige Dinge, bei denen ich
willenlos werde. Eines davon ist Schokoladeneis.« Der
verlockende Unterton, der in seiner Stimme mitschwang,
beschleunigte ihren Pulsschlag.
Rasch unterbrach sie den Blickkontakt und setzte ihren
Weg fort.
Sie verstauten die Tüten im Wagen und saßen Minuten
später in einer gemütlichen Eisdiele mit Blick über die
Bucht.
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»Danke für deine Hilfe«, sagte Kelly. »Ich hoffe, du
hast dich nicht zu sehr gelangweilt.«
»Mir hat’s Spaß gemacht, es war ein unterhaltsamer
Nachmittag.« Vince strahlte sie an. »Ich komme nur selten
in die Stadt. Meistens begleite ich Jason zu seinen Terminen und auf Geschäftsreisen, da bleibt nicht viel Zeit für
Privates. Das hier«, seine Geste umfasste die Eisdiele und
die Bucht, »ist mal eine angenehme Abwechslung.«
Er dachte an die heftige Diskussion mit Jason vor
dessen Abflug. Vince hätte ursprünglich mit nach Europa
fliegen sollen, doch Jason änderte den Plan und bestand
darauf, dass er zu Hause blieb und für Kellys Sicherheit
sorgte. Vince widerstrebte der Gedanke, seinen Boss einem angeheuerten Bodyguard anzuvertrauen.
»Wie lange arbeitest du schon für Jason?«, fragte Kelly.
»Seit fast zehn Jahren. Wir kennen uns allerdings viel
länger.«
»Ihr wirkt auch eher wie Freunde.«
Er lächelte. »Das sind wir. Unser Arbeitsverhältnis hat
sich erst später ergeben.«
Sie tauchte den Löffel in die Sahnehaube auf ihrem Eis
und schob ihn sich in den Mund. Vince’ Blick klebte an
ihren Lippen, seine Gedanken drifteten in eine gefährliche
Richtung. Erst als Kelly nervös an einer Haarsträhne zupfte, wurde ihm bewusst, dass er sie anstarrte.
Sie ist nicht dunkelhaarig, schoss es ihm durch den Kopf.
Jetzt wusste er, was ihn seit der ersten Begegnung störte.
Er war auf ihre schwarz gefärbten Brauen und die braunen
Kontaktlinsen hereingefallen. Linda besaß wirklich Talent
dafür, ihre Frauen mit einem neuen Look zu tarnen.
In seiner Fantasie sah er Kelly mit blonden Haaren und
hellen Augen vor sich. Farben, die besser zu ihrer zarten
Haut passten.
»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, unterbrach sie
sein Sinnieren.
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»Äh, beim Football.«
»Klar. Blöde Frage.«
»Ich hätte auch im Fitnessstudio sagen können«, konterte er amüsiert.
»Oder das. Männer und Sport …«
»Hat Jason dir den Fitnessbereich in der Villa gezeigt?
Trainingsraum, Pool und Sauna? Du kannst gern alles nutzen. Ich trainiere auch dort.«
Kelly nickte. »Er hat mich herumgeführt.« Sie erinnerte
sich an den großen Indoorpool mit Verbindung zum
Außenschwimmbecken. An die dreistufige Sauna, die wie
der Poolraum mit einer verspiegelten Fensterfront Richtung Bucht verglast war. Der Fitnessraum bot Geräte für
Kardiotraining und Muskelaufbau, außerdem einen Bereich fürs Boxen. Kein Wunder, dass Vince und Jason so
gut aussahen bei diesen Trainingsmöglichkeiten.
»Brauchst du auch Sportkleidung?«, fragte Vince.
Kelly überschlug kurz ihr Budget. Sie hatte mehr ausgegeben als geplant, weil Vince eifrig bei der Kleidersuche
mitgeholfen hatte. Für einen alleinstehenden Mann besaß
er ein gutes Gespür für Frauenmode. Sie korrigierte sich.
Wieso sollte er keine Partnerin haben? Nur weil er in
Jasons Haus wohnte, hieß das noch lange nicht, dass er
Single war. Sie beschloss, Ann bei Gelegenheit danach zu
fragen.
»Nein, vorerst nicht.«
Gegen Abend betrat Kelly mit einem Korb Schmutzwäsche
den Keller. Auf dem Weg zum Hauswirtschaftsraum kam
sie am Fitnessbereich vorbei. Das rhythmische Klirren von
Metall drang an ihre Ohren. Vince. Sie dachte an seinen
Traumkörper, dem sie heute mehrmals sehr nahe gewesen
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war. Erneut keimte der Wunsch nach seiner Nähe in ihr
auf. Nach seiner Stärke, seiner Vitalität. Und diesem Gefühl der Geborgenheit, das sie bei ihm empfand.
Sie füllte die Waschmaschine, verließ den Raum und
wäre beinahe in das Objekt ihrer Begierde hineingelaufen.
Vince stand im Flur und sah ihr entgegen. Er trug dunkelblaue Sportkleidung – eine kurze Hose und ein Muskelshirt – die seine Figur modellierte. Ein feiner Schweißfilm
schimmerte auf der gebräunten Haut.
»Hab ich doch richtig gehört.«
Kelly verschlug es den Atem. Die eng sitzende Kleidung verbarg nichts von seinem durchtrainierten Körper.
Sie kannte ihn nur im Anzug, und dieser Anblick warf sie
fast um.
»Willst du auch trainieren?«, fuhr er fort, bevor ihr
Starren peinlich wurde.
Plötzlich verlegen schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich
hatte Wäsche. Äh … ich meine, ich habe eine Maschine
Wäsche laufen.« Sie kam sich blöd vor mit ihrem Gefasel, doch sie konnte momentan keinen klaren Gedanken
fassen.
»Ach so. Ich dachte schon, du wolltest mich ein wenig
antreiben.«
»Du siehst nicht aus, als bräuchtest du einen Tritt«,
rutschte es ihr heraus.
Er hob langsam einen Arm und wischte sich mit dem
Handtuch, das er bei sich trug, über das verschwitzte Gesicht. Danach legte er es um seinen Nacken und schloss
die Finger um beide Enden. Fasziniert beobachtete sie das
Spiel seiner Arm- und Schultermuskeln. Ihr Mund wurde
plötzlich trocken.
»Jason und ich trainieren gewöhnlich zusammen, das
beste Mittel gegen den inneren Schweinehund. Wenn er
noch länger wegbleibt, schrumpfe ich garantiert«, scherzte
Vince.
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Kelly lächelte. »Oh, das geht gar nicht. Ich schreibe ihm
sofort eine Mail und pfeife ihn zurück.«
Vince legte den Kopf schief. »Dir fällt es also auch
schon auf«, sagte er mit Leidensmiene.
»Was?«
»Dass ich immer weniger werde.«
»Ja, du siehst aus wie ein Hobbit.«
Sein warmes Lachen jagte ihr wohlige Schauer über
den Rücken. »Wenn das so ist, dann können wir morgen
einen Ausflug mit dem Mini machen«, wagte er sich vor.
»Hobbits müssen aber in den Kofferraum.«
Er war während des Gesprächs zu ihr aufgerückt, und
Kelly trat einen Schritt nach hinten. Sie tat das nicht, weil
ihr seine Nähe unangenehm war, sondern weil sie sich zu
wohl bei ihm fühlte. Sein vom Training erhitzter Körper
strahlte eine anziehende Wärme ab, und sein männlicher
Duft lockte sie. Plötzliches Verlangen pulsierte durch ihre
Adern. Ein unbekanntes, verwirrendes Gefühl.
»Ich muss wieder rüber, sonst brennt mein Abendessen an«, schwindelte sie spontan.
»Und ich muss weitermachen.« Vince gab die Treppe
frei.
Kelly nahm zwei Stufen und drehte sich zu ihm um. So
waren sie auf Augenhöhe. »Gute Nacht. Und danke noch
mal für den schönen Tag. Du bist ein toller Modeberater.«
Er lächelte. »Ich fand den Tag auch schön«, sagte er
leise. »Schlaf gut, Kelly.«
Sie drehte sich hastig um und lief nach oben.
Kelly betrat die Küche, goss sich ein Glas Saft ein und
sank auf einen Stuhl. Was für ein Prachtkerl! Seufzend
schloss sie die Lider, doch als sich das Bild seines halb
nackten, muskulösen Körpers in ihrer Fantasie materialisierte, riss sie die Augen schnell wieder auf.
Sie brauchte keine weiteren Probleme. Ihr Leben war
ein einziges Chaos, sie versuchte gerade mühsam, auf
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eigenen Beinen zu stehen. Was sollte sie mit einem neuen
Mann?
Du musst ihn ja nicht gleich heiraten, raunte ihre innere
Stimme, und Kelly gab sich kurz der Vorstellung hin, mit
Vince eine Affäre zu haben. Die Ernüchterung schwemmte
alle erotischen Anwandlungen davon. So, wie sie aussah,
wollte sie doch keiner. Sie hatte in den letzten Monaten
stark abgenommen, ihre Haut war schlaff, und auf ihrem
Bauch prangte rot und hässlich die frische Narbe.
Nervös sprang sie auf und lief ins Wohnzimmer. Auf
dem Tisch erblickte sie die Duftkerze, die Vince heute für
sie gekauft hatte. Das Glas war ihr wegen des hübschen
nostalgischen Etiketts ins Auge gefallen. Vanilla Dream
stand darauf. Als Vince ihren verzückten Blick bemerkte,
hatte er ihr kurzerhand die Kerze geschenkt.
Wenig später erfüllte cremiges Vanillearoma den
Raum. Kelly stöhnte. Selbst der Duft erinnerte sie an ihn.
Wieso bekam sie diesen Mann nicht aus dem Kopf?
Um sich abzulenken, schaltete sie den Fernseher ein,
doch sie konnte sich auf die Sendung nicht konzentrieren.
Lustlos zappte sie durch die Kanäle. Nachrichten, eine
Talkshow, ein Actionfilm mit Keanu Reeves … nicht einmal er schaffte es, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Frustriert warf sie die Fernbedienung auf die Couch.
Vince stieg nach dem Training langsam die Treppe zu seinem Apartment hinauf. Seine Gedanken kreisten um Kelly. Die Wohnung kam ihm heute besonders leer vor, und
er verspürte den Drang nach Gesellschaft. Nach Kellys
Gesellschaft, um genau zu sein. Ob sie sich ebenso einsam
fühlte wie er?
Er dachte über ihren fast fluchtartigen Abgang nach.
Hatte er diese Reaktion ausgelöst? Und falls ja, mit was?
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Er rief sich die Shoppingtour in Erinnerung, wie nahe
er ihr dabei gekommen war. Mehrmals hatte er wie zufällig ihren Arm gestreift oder seine Hand auf ihren Rücken
gelegt, und sie hatte es zugelassen. Es konnte nicht an ihm
liegen.
Nachdenklich trank er seinen Proteinshake leer und
ging ins Bad, wo er sich aus der Trainingskleidung schälte.
Enge Shorts, die nur bis zur Mitte der Oberschenkel reichten, und ein ärmelloses Shirt. Er betrachtete das Häufchen
Stoff zu seinen Füßen. Viel hatten die Klamotten von seinem Körper nicht verborgen. War sie deswegen so verlegen gewesen? Sie kannte ihn schließlich nur im Anzug.
Bei dem Gedanken wurde ihm heiß. Sollte sie tatsächlich auf ihn reagiert haben? Seinen Körper attraktiv finden? Die meisten Frauen zogen weniger massige Männer
vor, und sie war so ein zartes Persönchen. Seine Laune hob
sich bei der Vorstellung, dass er ihr gefiel.
58
Kapitel 8
usammen mit der Post überreichte Vince Kelly ein
kleines Paket. Sie blickte verwirrt zu ihm hoch.
»Für dich«, sagte er und sah, wie sie blass wurde.
»Es weiß doch niemand, dass ich hier bin.«
»Die Sendung kommt aus England.« Er schob das Päckchen über den Schreibtisch auf sie zu. »Der Absender ist eine
Hermès-Boutique in London. Das muss von Jason sein.«
Sie starrte den Karton an und machte keine Anstalten,
ihn zu öffnen.
»Wir durchleuchten sämtliche Post. Da ist keine Bombe
drin«, bemerkte er grinsend.
»Wie schön, dass ich zu deiner Erheiterung beitrage.«
Das Zucken in ihren Mundwinkeln stand im Widerspruch
zu den tadelnden Worten. Kelly schlitzte das Paketband
auf, nahm einen Umschlag aus dem Karton und eine quadratische Schachtel in gedecktem Orange. Sie entfaltete
den Brief, überflog die handgeschriebenen Zeilen und
blickte zu Vince auf. Ihre Augen leuchteten. »Du hast
recht, es ist tatsächlich von Jason«, sagte sie und las vor.
»Liebe Kelly,
danke für Ihren Tipp mit dem Musical und dass Sie noch eine
Karte für mich ergattern konnten.
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Sie hatten recht, London ist eine faszinierende Stadt. Wussten Sie, dass meine Familie ursprünglich von hier stammt?
Bei Gelegenheit mache ich mich auf die Suche nach dem alten
Familiensilber.«
Sie hielt inne und sah Vince an. »Dahinter hat er ein
Smiley gemalt«, sagte sie und las dann den Rest vor.
»Betrachten Sie das Tuch bitte als kleines Dankeschön für
Ihre Bemühungen und Ihre exzellente Arbeit.
Herzlich, Ihr Jason Wingate.«
Kelly legte den Brief zur Seite und wandte sich der
Schachtel zu. Auf dem Deckel prangte das Firmenlogo von
Hermès. Sie nahm ihn ab und entfaltete das Einschlagpapier. Ein Seidentuch schimmerte hervor. Sie hob es heraus, stand auf und breitete es aus. Es zeigte ein geometrisches Muster in abgestuften Silber- und Grautönen, das
strahlenförmig von innen nach außen verlief. Darüber verteilt waren galoppierende Pferde zu sehen. Das Tuch wirkte durch die metallischen Farben und den zarten Glanz
der Seide modern und gleichzeitig elegant. »Wie schön«,
murmelte sie. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Jason wollte dir eine Freude machen. Er schätzt deine
Leistung sehr.«
»Aber Hermès …«
Vince ahnte, was ihr durch den Kopf ging. Kurz war
er versucht zu sagen, dass dieses Geschenk Jasons Bankkonto nicht wehtat, doch er schwieg.
Kelly faltete das Tuch zu einem Dreieck und legte
es um die Schultern. »Er ist so nett, so aufmerksam.«
Schwungvoll drehte sie sich einmal um sich selbst. »Wie
sehe ich aus?«
Vince betrachtete ihre Gestalt in der hellblauen Bluse,
dem nachtblauen Bleistiftrock und den eleganten Pumps
und hätte beinahe »zum Anbeißen« gesagt. Doch er bremste
sich im letzten Moment. »Das Tuch steht dir gut«, sagte er
stattdessen. »Es sieht toll aus zu deinen dunklen Haaren.«
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Sie strahlte. »Ach, da kommt mal wieder der Modeberater durch.«
Er deutete eine Verbeugung an. »Immer wieder gern,
Ma’am.«
Sie drehte sich noch einmal und blieb dicht vor ihm
stehen. »Hast du noch mehr Komplimente auf Lager?«
Am liebsten hätte er ihr das spitzbübische Grinsen weggeküsst, doch stattdessen nutzte er ihre gelöste Stimmung.
»Ich finde, der neue Schal sollte ausgeführt werden. Wie
wär’s mit einer Runde im Mini?«
Kelly zögerte. »Wirst du mich begleiten oder Jake?«
»Such’s dir aus.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich dachte nur, weil du
nicht so gern mit dem Wagen fährst.«
Freude wallte in ihm hoch, als ihm die tiefere Bedeutung ihrer Worte aufging.
»Solange ich nicht stundenlang darin sitzen muss, ist es
erträglich«, meinte er mit einer Leidensmiene, die sie zum
Schmunzeln brachte. »Wann bist du hier fertig?«, wechselte er das Thema, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
»Ich brauche schätzungsweise noch zwei Stunden.«
»Gut, dann treffen wir uns doch um …«, er warf einen
Blick auf seine Armbanduhr, »halb zwölf beim Auto. Bitte
in Freizeitkleidung und mit dem neuen Schal.«
Kelly betrat die Garage und erblickte Vince, der den Mini
belud. »Hobbits in den Kofferraum!«
Er richtete sich auf und schenkte ihr sein hübsches Lächeln. »Hab’s gerade probiert, ich passe noch nicht rein.«
Interessiert glitt ihr Blick über ihn. Er hatte den üblichen Anzug gegen Jeans und Hemd getauscht. Darüber
trug er eine gesteppte Weste. Das Hemd stand am Hals
offen und ließ einen Teil seiner muskulösen Brust sehen,
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die lässig aufgerollten Ärmel gaben seine starken Unterarme frei.
Kellys Kehle wurde trocken.
»Du siehst hübsch aus«, unterbrach er die aufkeimende Stille.
Sie hatte sich für graue Jeans und eine dunkelgrüne
Tunika entschieden, zu der das silbergraue Tuch einen
eleganten Kontrast bildete. Eine Fleecejacke trug sie über
dem Arm.
Seine Bemerkung trieb ihr die Röte in die Wangen.
»Das liegt nur an dem Schal.«
Vince überging ihre Verlegenheit. »Gib mir deine Sachen.« Er streckte eine Hand danach aus und verstaute
Handtasche und Fleece. Anschließend hielt er die Fahrertür auf. »Du fährst.«
Kelly zögerte nicht lange, sondern glitt auf den Sitz.
Nachdem sie Platz genommen hatte, trat Vince neben sie
und beugte sich in den Wagen. Während er ihr die wichtigsten Funktionen erklärte, kam er ihr sehr nahe, streifte
einmal ihren Arm, und der Duft seines frischen Eau de
Toilette stieg ihr in die Nase. Ihr Puls beschleunigte sich.
Verdammt! Seine unverschämt erotische Ausstrahlung
würde sie irgendwann komplett um den Verstand bringen. Zum Glück beendete Vince soeben die Einweisung
und ging zur Beifahrerseite. Fasziniert sah sie zu, wie er
zuerst eines der langen Beine ins Auto bugsierte und dann
seinen großen Körper nachschob. Die Tür ließ sich tatsächlich noch schließen.
Kelly feixte. »Passt wie angegossen.«
Er sah sie leidend an. »Schneide mich nachher bitte mit
dem Dosenöffner raus.«
»Wir sollten vielleicht besser den Beifahrer-Airbag
abschalten.«
»Spotten Sie etwa über mich, Ma’am?«, fragte er bemüht ernst, doch seine Augen blitzten amüsiert.
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»Das würde ich mich nie wagen«, antwortete sie im
gleichen Tonfall. Kelly umfasste das Lederlenkrad mit
beiden Händen und ließ ihre Finger langsam darübergleiten, bevor sie den Motor startete, der mit einem satten
Brummen zum Leben erwachte. »Los geht’s!« Sie fuhr bis
an das Metalltor und öffnete es mit der Codekarte, die Vince ihr reichte. »Wie komme ich eigentlich vom Gelände?«
Bisher hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, das
Anwesen ohne Begleitung zu verlassen. Sie fühlte sich in
dieser abgeschlossenen Welt sicher und geborgen.
»Neben dem Scanner ist ein Rufknopf«, antwortete er.
»Du kannst aber auch gern eine Karte haben.«
Sie nickte.
»Du solltest nur nicht allein wegfahren. Mit Linda ist
abgesprochen, dass dich immer jemand begleitet.«
Wieder eingesperrt, kam es Kelly in den Sinn, doch dieses Mal diente es ihrem Schutz und war keine Schikane
eines kontrollsüchtigen Mannes. Trotzdem ernüchterte sie
der Gedanke an Steven und warum sie sich bei Jason verstecken musste.
»Alles in Ordnung?« Vince mit seinem feinen Gespür
bemerkte ihren Stimmungsumschwung sofort.
Sie wandte ihm den Kopf zu. »Nur eine alte Erinnerung.« Kelly lenkte das Auto geschickt über die kurvige
Strecke den Hügel hinab, folgte der Küstenstraße und
nutzte jede Gelegenheit zum Gasgeben. Der Wagen war
ein Traum. Klein und wendig, mit einer süchtig machenden Beschleunigung. »Der totale Wahnsinn«, stieß sie nach
einer rasant genommenen Kurve hervor. »Tolle Kiste.
Fährt Jason tatsächlich damit?«
Vince sah sie verständnislos an. »Klar, wieso nicht?«
»Nun, er ist fast so groß wie du und auch ziemlich
breit. Wie passt er hier rein?«
Vince lachte. »Ich habe einfach von allem ein bisschen
zu viel. Jason ist etwa fünfzehn Kilo leichter als ich.«
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»Wie viel wiegst du denn?«
Er sagte es ihr und sie schluckte. Das war mehr als das
Doppelte von dem, was sie auf die Waage brachte. »Tja,
einen Tod muss man sterben«, murmelte sie, bevor sie
wieder aufs Gas trat und den Motor aufheulen ließ.
Schmunzelnd lehnte sich Vince im Sitz zurück. Zumindest die paar Zentimeter, die er noch Spielraum hatte.
Minuten später dirigierte er Kelly zu einem Parkplatz in
Strandnähe, wo sie den Wagen verließen. Er streckte sich
und stöhnte. »Erst mal die Knochen sortieren.«
»So schlimm?« Amüsiert beobachtete sie ihn. Er war
schon eine Augenweide.
Anschließend öffnete Vince den Kofferraum, nahm
einen Picknickkorb und eine Decke heraus.
»Picknick?«, entfuhr es ihr.
»Eine Idee von Ann. Ich hoffe, du magst das.« Er wirkte ein wenig verlegen, was Kelly besonders süß fand.
»Ja. Natürlich.« Sie folgte ihm die Stufen zum Strand
hinab.
Eine Läuferin mit Hund kam ihnen entgegen, ansonsten schien der Küstenstreifen verlassen. Die kühle Brise
zerzauste Kellys Haar und drückte die Tunika eng an ihren Körper. Sie schlüpfte fröstelnd in die Fleecejacke.
Vince steuerte einige fast mannshohe, eng stehende
Felsblöcke an und zwängte sich hindurch. Dahinter gab
es ein Fleckchen Strand, das die Steine vor dem ärgsten
Wind schützten. »Ist der Platz okay?«, wandte er sich an
Kelly. »Da draußen ist es so windig, da würden wir nur
Sand essen.«
Sie nickte. Die Stelle wirkte einladend, die Wand in ihrem Rücken strahlte Sonnenwärme ab und durch die Lücken zwischen den Felsen konnte sie das Meer aufblitzen
sehen.
Minuten später saßen sie auf der Decke und genossen
Anns Köstlichkeiten.
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»Iss nicht zu viel«, neckte sie. »Sonst passt du nicht
mehr ins Auto.«
Er grinste. »Zur Not kannst du mich aufs Dach
schnallen.«
»Oder hinterherschleifen.« Sie zwinkerte ihm zu.
Vince’ gutmütiges Grinsen wurde noch eine Spur breiter.
»Kommst du öfter hierher?«, wollte sie wissen.
Er nickte. »Ich bin gern am Wasser.«
Kelly, die in den Bergen aufgewachsen war, kannte
die See nur von einem Urlaub mit ihren Eltern. »Ich war
erst einmal am Meer«, sprach sie ihre Gedanken aus. »In
Florida, ist schon ewig her.«
»Dann bist du nicht von hier? Von der Westküste, meine ich.«
»Nein. Ich habe in den Rocky Mountains gelebt.« Sie
hielt die Information bewusst vage in Anbetracht dessen,
was Linda ihr eingebläut hatte, und lenkte das Gespräch in
eine andere Richtung. »Was machst du in deiner Freizeit?
Außer dich in der Folterkammer abzurackern.«
»Folterkammer?« Er lächelte. »Im Sommer gehe ich
gern surfen.«
Kellys Fantasie schenkte ihr direkt ein Bild. Sein sportlicher Körper, nackt bis auf Badeshorts, wie er auf einem
Surfboard über einen schäumenden Wellenkamm jagte.
»Was noch?«
»Reicht das nicht?«
Sie bemerkte, dass er sich über ihre Fragerei amüsierte.
»Nun, ich dachte an das Übliche. Bier trinken mit ein paar
Kumpels oder ein Spiel ansehen.«
Vince zuckte mit den Schultern. »Das ist ziemlich
eingeschlafen. Die Jungs sind wie ich beruflich sehr eingespannt, da gehören die Wochenenden der Familie.«
»Und du hast keine Familie?«, rutschte es ihr heraus.
»Meine Eltern und einen jüngeren Bruder. Frau und
Kinder habe ich keine, falls du das meinst.«
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Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Sorry, ich
frage zu viel«, entschuldigte sie sich.
Er sah sie ernsthaft an. »Du darfst mich alles fragen,
Kelly«, sagte er warm und berührte kurz ihre Hand.
Sie hielt seinen Blick fest. »Okay. Wenn das so ist …
Wie alt bist du?«
»Siebenunddreißig«, antwortete er mit einem kleinen
Lachen.
»Ich bin zweiunddreißig.«
»Und was machst du in deiner Freizeit?«
Kelly senkte den Kopf. Was sollte sie ihm erzählen?
Sie war einmal sehr aktiv gewesen, doch Steven hatte ihr
systematisch alle Hobbys, die sie in Kontakt mit anderen
Menschen brachten, verleidet. Zuletzt bestand ihr Leben
aus dem Job im Sheriff’s Office, der Versorgung des Haushalts und aus den Veranstaltungen, auf denen er sich gern
zeigte. Steven genoss die Anerkennung der Gemeinde,
mit ihr als perfekter Vorzeigefrau an seiner Seite. »Früher
habe ich viel Sport gemacht, hauptsächlich Skilaufen. Eine
Freundin von mir ist Schlittenhunderennen gefahren, da
habe ich bei den Wettkampfvorbereitungen geholfen. War
ein Riesenspaß mit den Hunden.« Wehmut überfiel Kelly.
»Und zwei Jahre lang hatte ich in den Sommerferien einen
Job als Aushilfs-Rangerin in einem Nationalpark. Betreuung der Ferienkindergruppen …« Ihre Stimme verklang.
»In den letzten Jahren habe ich mich in unserer Gemeinde
sehr engagiert«, fügte sie hinzu.
Vince knüllte schweigend die Papierserviette zusammen, lehnte sich zurück, stützte sich mit den Ellenbogen
auf der Decke ab und legte den Kopf in den Nacken.
Kelly betrachtete ihn verstohlen. Die Sonne tupfte goldene Reflexe in sein Haar, und das klare Licht betonte die
maskulinen Züge. Ihr Blick glitt tiefer. Das Hemd zeichnete die Form seines Oberkörpers nach. Die Weste war verrutscht, und sie bemerkte unterhalb der linken Achsel eine
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Ausbuchtung. Die Konturen eines Holsters. »Du trägst
eine Waffe?«, entfuhr es ihr.
Vince setzte sich auf. »Ich trage im Dienst immer eine
Waffe.«
»Im Dienst? Jetzt?« In ihre Verblüffung mischte sich ein
Hauch Entsetzen.
Er lächelte beruhigend.
Sie starrte ihn fassungslos an, als ihr die tiefere Bedeutung seiner Worte aufging. Jasons wundervolles Haus, der
neue Job, Linda, Ann und vor allem Vince – das alles war
nur eine schöne Scheinwelt. Draußen lauerte ihr Mann,
um sie wieder in die Berge zu schleppen.
»Kelly?«
Sie fühlte seine Hand auf ihrem Arm. Warm und
beruhigend.
»Mach dir keine Sorgen. Ich kann mit Waffen umgehen, und ich benutze sie nur im Notfall.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deinetwegen oder
wegen der Waffe, Vince. Ich bin froh, dass du bei mir bist.«
Sie atmete krampfhaft ein. »Ich nehme an, du weißt, dass
ich vor meinem Mann geflohen bin?«
Er nickte.
»Ich musste gerade an ihn denken. Er wird nie aufhören, nach mir zu suchen.«
»In der Villa bist du sicher. Sie ist ein super Versteck. Und
falls er dich tatsächlich finden sollte, muss er erst mal an mir
vorbei.« Vince’ Stimme klang beherrscht, doch auf seinem
Gesicht spiegelte sich Zorn. Mit den blitzenden Augen und
der kantigen Miene sah er gefährlich und gleichzeitig höllisch attraktiv aus. Sein Blick legte sich auf Kelly, die Wut
verflog und seine Augen fanden zu ihrem sanften Meerblau
zurück. »Du siehst ihn überall, nicht wahr?«, fragte er leise.
Sie schaute perplex zu ihm hoch.
»An dem Tag in Sausalito, da warst du auf einmal wie
erstarrt, nur weil ein Mann am Auto vorbeiging.«
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Kelly seufzte. »Du bemerkst ja alles.«
»Das ist mein Job. Ich achte instinktiv auf
Unregelmäßigkeiten.«
»Es ist wie ein Fluch«, murmelte sie. »Nicht nur, dass er
mich in meinen Träumen verfolgt, ich …« Sie verstummte, zu verlegen, um Vince an ihren Gefühlen teilhaben zu
lassen.
»Keine Sorge. Linda ist gut darin, Spuren zu verwischen, und die neuen Identitäten, die sie besorgt, halten
jeder Prüfung stand.«
Kelly sog scharf die Luft ein. »Du weißt von dem
Programm?«
»Ja. Meine Männer und ich haben schon ein paar Mal
geholfen, wenn Gefahr im Verzug war. Das heißt, Dylan
hauptsächlich.« Vince schmunzelte. »Er ist hoffnungslos
in Linda verliebt.«
»Nur zu verständlich. Bei ihrem Aussehen.« Ein warmes Gefühl stieg in Kelly auf bei dem Gedanken an Linda,
die ihr inzwischen eine Freundin geworden war. »Ich verdanke ihr sehr viel.«
»Sie ist ein Engel. Leider denkt sie nur an die Arbeit.«
Kelly neigte den Kopf zur Seite. »Vielleicht müsste Dylan etwas deutlicher werden«, schlug sie vor.
Vince sah sie lange an. »Ist das bei allen Frauen so?
Muss ein Mann deutlicher werden?«, fragte er leise.
Sie hielt seinen Blick fest. »Wenn er ans Ziel kommen
will«, hörte sie sich murmeln. Mein Gott, was tat sie da?
Ihr letzter Flirt lag Ewigkeiten zurück. Sie wusste kaum
noch, wie das ging. Nervös leckte sie sich über die Lippen.
Vince hob ihre Hand zu seinem Mund und berührte
zart ihre Fingerknöchel. »Männer mögen es auch, wenn
Frauen etwas deutlicher werden.«
Kelly spürte seinen warmen Atem, der die federleichten
Küsse begleitete. Ein wohliger Schauder überlief sie. Am
liebsten hätte sie beide Hände in seinem Haar vergraben
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und ihn an sich gezogen. Warum reagierte sie nur so heftig auf ihn? Eigentlich müsste dieser kraftvolle Körper sie
abschrecken, doch stattdessen fühlte sie sich geborgen in
seiner Nähe. »Vince«, murmelte sie.
Er sah sie aus funkelnden Augen an, und ein verführerisches Lächeln verzauberte seine Züge. »Zu Ihren Diensten, Ma’am.« Seine Zunge glitt über ihre Handinnenfläche.
Kelly stieß den Atem aus und lehnte sich gegen ihn.
Seine Muskeln spannten sich, er legte eine Hand auf ihre
Taille und zog sie näher an sich. Langsam senkte er den
Kopf, und ihre Lippen trafen sich.
Ein Beben lief durch Kellys Körper, und der Wunsch
nach mehr wurde übermächtig. Sie vertiefte den Kuss,
angespornt von seinem Zögern. Vince gab seine Zurückhaltung auf, als sie eine Hand auf seinen Nacken legte und
ihn an sich zog. Er eroberte ihren Mund, seine Finger auf
ihrer Taille schienen sich durch die Kleidung zu brennen.
Sie schmiegte sich an ihn, wünschte, er würde ihre bloße
Haut berühren. Dieses heftige Verlangen war neu für Kelly, und verunsichert löste sie sich von ihm.
Verwirrt sah sie ihn an und blickte in seine glühenden
Augen. Es musste ihn immense Kraft kosten, sich zurückzuhalten. Und plötzlich verstand sie: Er wollte sie nicht
überrollen mit seiner Leidenschaft. Ihr Herz flog ihm zu.
»Danke«, flüsterte sie.
»Wofür?« Seine Stimme klang rau.
»Für deine Rücksichtnahme. Und diesen wundervollen Kuss.«
Er erwiderte verliebt ihr Lächeln, während seine Finger
über ihre Wange glitten. »Nachschlag gefällig?«, fragte er
mit einem amourösen Zwinkern.
Sie nickte und versank in seinen Zärtlichkeiten.
Stunden später kehrten sie zum Wagen zurück. Kelly fühlte sich wie berauscht, ihr ganzer Körper prickelte. Es war
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neu für sie, dass sich ein Mann zurückhielt, seine Begierde
nicht in den Vordergrund stellte. Was für ein Unterschied
zu Steven, der nie lange gefackelt hatte.
Vince schloss den Kofferraumdeckel und wandte sich
ihr zu. Sie legte die Arme um seine Mitte und schmiegte sich
an ihn. Er küsste sie, seine Hände glitten über ihren Rücken
hinab zu ihrem Po. Kelly drängte sich noch enger an ihn.
»Kelly.« Die Sehnsucht in seiner Stimme verlieh ihr Mut.
Ihre Finger berührten seinen Hosenbund, schoben
sich ein Stückchen darunter. Trotz des Shirts fühlte sie die
straffen Muskeln.
»Du spielst mit dem Feuer, Chérie«, raunte er, und sein
dunkles Timbre hallte in ihrem Bauch wider.
Am liebsten hätte sie ihn auf der Stelle vernascht. »Wir
sollten zurückfahren«, stieß sie hervor.
Vince starrte in ihre Augen. »Ich passe nur leider nicht
mehr in den Mini.«
»Wieso nicht?«
Er sah mit einem vielsagenden Blick an sich hinunter.
Sie bemerkte die Ausbeulung in seinem Schritt und brach
in befreiendes Gelächter aus, in das er mit einstimmte.
»Und was nun?«, kicherte sie.
»Das ist alles deine Schuld«, beklagte er sich. »Mach
was dagegen.«
Sie wies mit dem ausgestreckten Arm Richtung Meer.
»Wie wär’s mit einer Abkühlung?«
»Ich hatte eigentlich eine etwas angenehmere Lösung
im Sinn.«
»Aber nicht hier«, hauchte sie.
Er rollte mit den Augen. »Wenn du so weitermachst,
kommen wir nie nach Hause.«
Sie erreichten Jasons Anwesen am Abend und blieben auf
dem Treppenabsatz vor der Eingangstür stehen, um den
Blick auf die Bucht zu genießen. Die untergehende Sonne
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übergoss die Umgebung mit ihrem milden rötlichen Licht.
Von hier oben sahen die Schiffe in der Richardson Bay und
die Häuser am gegenüberliegenden Ufer aus wie Miniaturen. Alles wirkte friedlich und idyllisch.
Vince hatte einen Arm um Kellys Schultern gelegt. Sie
schmiegte sich in die Wärme seines Körpers, ein Schutz
gegen den Wind, der über die Kuppe blies und an ihrer
Kleidung zerrte.
»Du strahlst vielleicht eine Hitze ab«, bemerkte sie. »Ist
das immer so?«
Er sah sie zärtlich an. »Hm … im Winter halte ich
warm, und im Sommer spende ich Schatten.«
Sie lachte. »Dann bist du ja doch zu etwas zu
gebrauchen.«
Vince schnaubte. »Komm, wir gehen rein, bevor dein
dreistes Mundwerk einfriert«, murmelte er an ihrer Wange
und zog sie mit sich zur Haustür.
Kelly knuffte ihn in die Seite.
In der Küche der Villa saßen sie wenig später über
dampfenden Kaffeetassen. Kelly hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn zu sich in den Bungalow einzuladen,
doch dann verließ sie ihre Courage. Jasons Küche war ein
neutraler Ort, um diesen schönen Tag ausklingen zu lassen.
Vince zauberte eine Schachtel mit Schokoladentäfelchen aus dem Schrank.
»Oh, Schokolade.« Kelly grinste.
»Meine zweite Leidenschaft.«
Sie hielt seinen liebevollen Blick fest und spürte auf
einmal Tränen hinter den Lidern brennen.
Er bemerkte ihren Stimmungsumschwung, obwohl sie
ihn zu verbergen versuchte. »Hey, alles okay mit dir?«
»Ja. Es war ein wundervoller Nachmittag. Danke,
Vince.«
Er griff über die Küchentheke nach ihrer Hand und
drückte sie kurz. »Wir können das jederzeit wiederholen.«
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Sie nickte zögerlich. »Willst du dir das wirklich antun?«, fragte sie leise. »Ich meine, mich.«
»Was ist denn so schlimm an dir?«
»Mein Leben ist kompliziert, ein einziges Chaos.« Sie
seufzte. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Die Arbeit für Jason und dass ich hier wohnen darf, das ist nur
eine Lösung auf Zeit.«
Er schritt um die Theke herum, trat an den Barhocker,
auf dem sie saß. Tröstend zog er sie in seine Arme. »Mach
dir keine Sorgen. Linda und Jason haben dir geholfen und
werden dich weiter unterstützen. Du musst keine übereilten Entscheidungen treffen. Und ich bin auch für dich
da. In jeder Hinsicht.«
Kelly konnte nur nicken. Ein dicker Kloß saß in ihrem
Hals.
Er küsste sie auf die Stirn. »Lass dir alle Zeit, die du
brauchst. Uns läuft nichts davon.«
Etwas später suchten sie ihre Wohnungen auf.
Kelly löste den Knoten des Seidenschals und faltete ihn
zusammen. Jasons Geschenk hatte ihr auf mehrere Arten
Freude bereitet. Lächelnd rief sie sich die wundervollen
Stunden mit Vince in Erinnerung, durchlebte erneut den
Nachmittag. Bald jedoch drifteten ihre Gedanken ab zu
den ungeklärten Dingen in ihrem Leben und zu Steven.
Obwohl sie ihn hasste und es tausend Gründe dafür gab,
warum sie ihn verlassen hatte, war sie vor dem Gesetz
immer noch seine Frau. Durfte sie es zulassen, dass sich
ein anderer Mann in sie verliebte? Durfte sie Vince mit
ihren Problemen belasten, ihn vielleicht sogar in Gefahr
bringen? Nicht auszudenken, wenn Steven sie aufspüren
würde. Er war krankhaft eifersüchtig und in seiner Rage
zu allem fähig. Einmal hatte er zwei Männer übelst schikaniert, nur weil sie mit Kelly scherzten. Und sie hatte
es oft genug büßen müssen, dass seine Fantasie mit ihm
durchging.
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Um sich von den düsteren Gedanken abzulenken,
duschte Kelly und gönnte sich ein Körperpflegeprogramm.
Zum Abschluss frisierte sie ihre Haare, deren ungewohnte Kürze sie noch immer störte. Sie cremte ihren Körper
mit einer duftenden Bodylotion ein und vergaß auch die
Narbenpflege nicht. Dabei übermannte sie einmal mehr
die Trauer um ihr totes Kind. Es hätte die Frühgeburt
überleben können, doch es war in ihrem Bauch gestorben.
Durch die Schläge seines Vaters. Sie spürte den gewohnten
Zorn in sich aufsteigen.
Linda hatte ihr geraten, Steven anzuzeigen, aber Kelly
scheute diesen Schritt. Vielleicht würde sie den Prozess
gewinnen, doch ihre Anklage stand auf wackligen Füßen.
Was, wenn man ihn freisprechen würde? Dann wäre sie
vor ihm nicht mehr sicher. Momentan kannte er ihren
Unterschlupf nicht, hielt sie hoffentlich für tot, und Kelly
bekam so zumindest eine Chance auf ein neues Leben.
Der mysteriöse USB-Stick fiel ihr wieder ein. Irgendwann hatte sie die unzähligen Versuche, das Kennwort
zu knacken, eingestellt und den Stick Linda anvertraut,
die ihn in ihrem Safe aufbewahrte. Trotzdem ließ sie der
Gedanke, was darauf gespeichert sein könnte, nicht los.
Was war so wichtig, dass Steven es außerhalb des Hauses
versteckte?
Vince hätte gern den restlichen Abend mit Kelly verbracht,
doch er wagte es nicht, sie in sein Apartment einzuladen
oder mit in den Bungalow zu gehen. Ein Bett in der Nähe
würde ihn nur auf dumme Ideen bringen. Sein letzter intimer Kontakt lag Ewigkeiten zurück.
Er lümmelte sich mit einer Fertigpizza aufs Sofa und
ließ den Tag Revue passieren. Mit dem Ausflug hatte er
sie ablenken und aus dem Alltagstrott reißen wollen. Es
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war nie seine Absicht gewesen, sich ihr zu nähern, trotz
der Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Doch nun
fühlte er sich wie neugeboren. Mit geschlossenen Augen
meinte er, ihre weichen Lippen zu spüren, ihre Hände, die
seinen Körper erkundeten. Zarter Orangenduft stieg ihm
in die Nase, und ihr seidiges Haar kitzelte seine Wange.
Ein leises Seufzen entglitt ihm und holte ihn in die Realität
zurück.
Ihr Mann kam ihm in den Sinn, und Wut kochte in
ihm hoch. Der Kerl war ein Kontrollfreak, der seine Frau
als sein Eigentum betrachtete. Vermutlich hatte sie ihre
Hobbys auf seinen Druck hin aufgegeben. Die meisten
brutalen Männer beschränkten sich nicht aufs Prügeln,
sie zogen ihren Kick aus der Dominanz über Schwächere.
Vince wagte nicht, sich vorzustellen, was Kelly durchgemacht haben musste.
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Viel Spaß beim Weiterlesen.
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