SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Wenn Schule Schule macht (5) Mit Nele Freudenberger Sendung: 03. Februar 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 Die Wiener Schulen Mit Nele Freudenberger, einen schönen Guten Morgen! In unserem letzten Teil „wenn Schule Schule macht“ gehen wir heute nach Wien. Hier gibt es ja gleich zwei Schulen! Wobei – so einfach ist das gar nicht… warum nicht? Das erfahren Sie gleich! Auf jeden Fall werden wir alte Bekannte treffen. Den Namen der Wiener Schule – zumindest der ersten, da wusste man natürlich noch nicht von der zweiten – prägt Christian Friedrich Daniel Schubart. Wie auch schon bei den Mannheimern. Er schreibt über die Wiener: „Gründlichkeit ohne Pedantery, Anmuth im Ganzen, noch mehr in einzelnen Teilen, immer lachendes Colorit, großes Verständnis der blasenden Instrumente, vielleicht etwas zu viel komisches Salz sind der Charakter der Wiener Schule“. Hier wird sie also ganz klar als Wiener Schule bezeichnet, ist im Grunde aber nicht mehr als das Mannheimer Pendant – nur ohne Stamitz. Und doch werden hier die Grundlagen dafür gelegt, aus Wien die Musikmetropole schlechthin zu machen. Was den Schulbegriff angeht, gibt es zwei Lager: diejenigen, die ihn Teilen und diejenigen, die ihn ablehnen. Letztere unterstellen Hugo Riemann, dem Musiklexikographen, den Begriff überhaupt erst ins Musikterminologische Rennen gebracht zu haben. Wie dem auch sei: wir gehen jetzt mal von einer ersten und einer zweiten Wiener Schule aus, hier in der SWR2 Musikstunde und schicken Musik von einem ihrer wichtigsten Vertreter voran: Georg Christoph Wagenseil Musik1 Georg Christoph Wagenseil Konzert für Oboe, Fagott, Streicher und b.c. in Es-Dur, 1. Satz Susanne Regel, Oboe / Rainer Johannsen, Fagott Alexander Weimann, Echo du Danube Programmaustausch BR, C5046450W04 01-010, Zeit:4:20 Der erste Satz aus Georg Christoph Wagenseils Konzert für Oboe, Fagott, Streicher und b.c. in Es-Dur. Alexander Weimann leitete Echo du Danube, Susanne Regel spielte Oboe, der Fagottist war Rainer Johannsen. Ein schönes Beispiel Musik dafür, wie damals experimentiert wird mit den vergleichsweise neuen Gattungen, wie man 2 den alten barocken Prunk und Protz abschüttelt, sich der Polyphonie entledigt und hingeht zu einer sehr subjektiven Empfindsamkeit. Georg Christoph Wagenseil gehört zu den wichtigsten Figuren der ersten Wiener Schule – will man den Begriff auf die Vorklassik beschränken, wozu es auch unterschiedliche Meinungen gibt. Der junge Georg Christoph beginnt seine Karriere schon gegen Widerstände – sein Vater sähe ihn gern als Jurist, sein Klavierlehrer spornt ihn allerdings dazu an, sich mehr der Musik zuzuwenden. Was er, wie die Musikgeschichte zeigt, auch macht. Er studiert unter anderem bei dem kaiserlichen Hofkomponisten und Hofkapellmeister Johann Joseph Fux. 1735 bewirbt sich Wagenseil als Hofklaviermeister am Wiener Hof und bekommt die Stellung auch. Vermutlich durch die positive Fürsprache seines Lehrers. Hofklaviermeister klingt natürlich toll, aber im Grunde ist Wagenseil der Klavierlehrer der kaiserlichen Familie. Vier Jahre später wird er Hofkomponist, wiederum ein Jahr später erscheint sein erstes Druckwerk: sechs Klavierpartiten – also Klavierstücke, die noch in der barocken Form dargereicht werden. Seine erste Kompositionsphase gilt verstärkt sakralen Werken, die er vor allem in Anlehnung an Palestrina gestaltet, die zweite gilt der Oper. Hier bereitet er den Weg für Glucks Opernreform vor, sprengt die von der neapolitanischen Schule geschaffene Konstruktion, die vorsieht, dass Rezitativ und Dacapo Arie sich abzuwechseln haben und er ordnet ganz klar das inhaltliche Geschehen der Musik unter – nicht umgekehrt. Die dritte Kompositionsphase gilt vor allem der Sinfonie – genau wie bei den Mannheimern spielt diese instrumentale Großform eine wichtige Rolle. Über 100 Stück hat Wagenseil komponiert, die Änderungen und Entwicklungen, die von ihm stammen entsprechen im Wesentlichen denen der Mannheimer Schule. Ähnlich wie die Mannheimer legt Wagenseil sich in der Anzahl der Sätze auch nicht fest, schwankt zwischen drei und vier Sätzen. Wird ein vierter Satz komponiert, handelt es sich um ein Menuett. Das wird in Mannheim ebenfalls so gehandhabt. Hier ein Menuett aus einer Wiener Sinfonie: komponiert hat es Franz Xaver Dussek, ein Schüler von Wagenseil 3 Musik2 Franz Xaver Dussek Minuetto e Trio, Sinfonie B-Dur Aapo Häkkinen, Helsinki Baroque Orchestra M0321254 W04 012, Zeit: 3:46 Minuetto e Trio aus der Sinfonie in B-Dur von Franz Xaver Dussek oder auch Duschek genannt – Aapo Häkkinen leitete das Helsinki Baroque Orchestra. Franz Xaver Dussek hat bei Wagenseil studiert, ist einer seiner bedeutenden Schüler, die das Ihrige dazu beitragen, den Wechsel vom Barock zur Wiener Klassik zu vollziehen. Das Menuett, so klein und unbedeutend es in seiner Form sein mag, spielt für die klassische Sinfonie eine wichtige Rolle – denn schließlich setzt es sich durch! Als dritter Satz in der Regel. Dieser dritte Satz bietet die Möglichkeit zu spielen, musikalisch etwas albern zu sein. Kein Wunder also, dass später das Scherzo das Menuett ablösen wird. Außerdem passt es natürlich zu der eingangs zitierten Einschätzung Schubarts, die Wiener benutzten „etwas zu viel komisches Salz“. Ansonsten gilt für die Wiener Schule bzw. die erste Wiener Schule genau das, was für die anderen bisher in unserer SWR2 Musikstundenreihe besprochenen Schulen auch gilt: wer Neues machen will, muss Altes ausmisten. Etwas, was der zweite wirklich wichtige Protagonist der ersten Wiener Schule auch macht. Sein Name ist Matthias Georg Monn. Vielmehr weiß man aber auch nicht über ihn. Er ist ab frühestens 1738 Organist in der Wiener Karlskirche – aber schon beim „wie lange“ hören die Antworten auf. Er stirbt jung, wird nur 33 Jahre alt. Umso bemerkenswerter sein kompositorisches Schaffen. Eine frühe von ihm überlieferte Sinfonie führt das besagte Menuett als dritten Satz ein, außerdem bringt er erstmals das zweite Thema ins Spiel, das für eine ordentliche klassische Sonatenhauptsatzform unerlässlich ist! Durchführungen, Mollseitensätze – das was Monn da hinterlässt ist schon sehr modern. Und durchaus gut zu hören im ersten Satz seines d-Moll Cellokonzerts. 4 Musik3 Matthias Georg Monn 1. Allegro, Konzert für Violoncello, Streicher und Cembalo in g-Moll Petra Müllejans, Freiburger Barockorchester Jean-Guihen Queyras M0023384 W03 / 007 Zeit: 5:48 Der erste Satz aus dem Cellokonzert in d-Moll von Matthias Georg Monn. JeanGuihen Queyras wurde vom Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Petra Müllejans begleitet. Matthias Georg Monn, ein für die erste Generation der Wiener Schule ungeheuer wichtiger Komponist, der so manche Neuerung eingeführt hat. Hier müssen wir uns noch einmal dem Schulbegriff stellen: das Gros der Musikwissenschaftlichen Forschung bezeichnet mit der ersten oder frühen Wiener Schule lediglich die Frühoder Vorklassik als Pendant zur Mannheimer Schule. Viele der Neuerungen die die frühe Wiener Schule präsentiert, werden auf virtuose Weise in der Wiener Klassik weiterentwickelt. Bedeutet das, dass die große Trias – Haydn, Mozart, Beethoven – die Nachfolgegeneration der ersten Wiener Schule ist? Dass auch sie zu dieser Schule gehören? Oder sind sie etwas eigenes, die drei...? Klar ist, dass mit ihren Werken eine Zäsur stattfindet. Die Phase des Barocks ist endgültig beendet, es beginnt etwas Neues, Eigenes, das auf den Entwicklungen der – und da ist der Haken – Wiener UND Mannheimer Schule fußt. Man kann die Mannheimer nämlich gewiss nicht außen vor lassen, wenn man sich die Wurzeln der Klassik ansieht. Und auch dann stellt sich die Frage: ist die Wiener Klassik selbst eine Schule oder eine Epoche? Der Unterschied läge in einer Personengebundenheit im Gegensatz zu einem zeitlichen Rahmen. Im Zusammenhang zur zweiten Wiener Schule – auf die wir gleich noch zu sprechen kommen werden – wird in einem einschlägigen Musiklexikon darauf hingewiesen, dass diese ihren Namen vor allem deshalb trägt, um den engen Bezug zur Wiener Klassik, also der ersten [!] Wiener Schule zu akzentuieren! Ich werde jetzt also einfach so tun, als seien Haydn, Mozart, Beethoven Teil der ersten Wiener Schule, wohl wissend, dass diese Zuordnung mehr als problematisch ist. 5 Joseph Haydn oder Papa Haydn, wie er ja bis heute liebevoll genannt wird, legt den wirklichen Grundstein für das, was da noch kommen wird. Um den Schulgedanken noch kurz aufzugreifen: Beethoven studiert ja auch bei ihm – wenn auch nicht lange und nicht in reiner Harmonie… Haydn selbst wächst in einem Wien auf, das in der Kirchenmusikalischen Tradition Palestrinas steht und im weltlichen Bereich in der Tradition der Neapolitaner – Haydn lebt sogar einige Zeit im selben Haus wie der Librettist Pietro Metastasio! Es wird experimentiert. Haydn gilt lange als Erfinder des Streichquartetts, inzwischen muss man da etwas zurückrudern. Trotzdem ist er natürlich einer der ersten, die Streichquartette komponieren und vor allem veröffentlichen. Die Quartette aus seinem op. 1 und 2 sind noch fünf-sätzig, haben alle je zwei Menuette – stehen also in der Tradition der Suite, klingen auch noch etwas galant – der junge Haydn hat hier noch nicht zu seinem Ton, zum klassischen Stil gefunden. Komponiert werden diese Quartette vermutlich für das Musizieren im Hause des Barons Carl Joseph Weber von Fürnberg bei Wien. Haydns Weg in das Wiener Musikleben. Hier der erste Satz aus seinem op. 1 Nr. 1 in B-Dur Musik 4 Joseph Haydn: Streichquartett B-dur op.1. Nr.1 Auryn Quartett M0258476 W01 / 001, 2‘40 Der erste Satz aus Haydns op. 1 Nr. 1 – sicherlich noch kein Vorzeigequartett, aber eben ein erster Schritt in die richtige Richtung. Haydns Bedeutung für die Musikgeschichte kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Haydn bringt den Sonatensatz zur Vollendung, was natürlich Auswirkungen auf die einschlägigen Instrumentalen Gattungen hat: Solokonzert, Solosonate, Sinfonie und eben Streichquartett. Mozart ist sozusagen der nächste Schritt in dieser Entwicklung und Wien der Ort an dem all diese Entwicklungen möglich sind: Wien ist damals ein Ort, an dem es feste Stellen für Musiker und vor allem Komponisten gibt. Anders als in Mannheim steht ein Umzug des Hofes überhaupt nicht zur Debatte! 6 Auch die Operninstitutionen und den Stephansdom darf man als Arbeitgeber für Komponisten und andere Musiker nicht außer Acht lassen. Diese Stellen sind international besetzt, das heißt ein reger Austausch ist möglich. Und vor allem hat auch die Volksmusik ihren Platz in Wien – genauso international wie die Bewohner ihrer Stadt, mährisch, böhmisch, ungarisch und natürlich österreichisch sind die Lieder und Tänze, die man auf der Straße hört. Und dann sind da noch der Adel und die gehobenen Bürger und ihre Lust an Musik: egal ob im Salon, im Konzert oder einfach für sich zu Hause! Es herrscht auf jeden Fall ein musikalisches Klima und es ist eine Frage der Zeit, bis Wien die Musikmetropole Nummer eins wird. Und nur eine Stadt wie diese ermöglicht den großen, für andere Komponisten wegweisenden Schritt, den Mozart gegangen ist: ein Leben als freischaffender Komponist zu führen, der nicht in den Diensten eines Herrn steht, sondern nur (oder meistens) in Diensten seiner eigenen Kreativität. Das private Musizieren schafft ein gutes Klima für eine der großen Formen der Wiener Klassik: die Klaviersonate. Haydn hat schon unzählige, herrliche Werke komponiert, Mozart steht ihm in nichts nach. Im Gegenteil. Er bringt etwas Eigenes in die Instrumental-Musik: eine natürliche Sanglichkeit. Musik beginnt sehr persönliche Geschichten zu erzählen! Musik5 Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate F-Dur KV 332 Klara Würtz, Kalvier M0437485 W02 / 004, 6‘32 Der erste Satz aus der Klaviersonate Nr. 12 in F-Dur von Wolfang Amadeus Mozart hier in der SWR2 Musikstunde gespielt von Klara Würtz. Mozart ist der erste Komponist, der sich traut ins kalte Wasser zu springen und ein freies Leben zu führen – ohne die sichere Bezahlung eines Dienstherrn. Ein Umstand, der nur im damaligen Wien möglich war und natürlich Nachahmer gefunden hat. 7 Das klingt banal, ist aber für die Musikentwicklung ein wichtiger Schritt, weil Mozart und andere nach ihm nicht mehr so sehr Rücksicht nehmen müssen auf die Mode, auf den Geschmack anderer, sondern ihren Kompositionen quasi freien Lauf lassen können. Vereinzelt kann oder muss man sich Moden unterordnen, um Geld zu verdienen, aber ist frei, wenn man will. Und da sind wir auch schon bei: Fürsten-gibt-es-viele-aber-es-gibt-nur-einenBeethoven! Das neue Selbstbewusstsein ist ebenfalls unerlässlich für eine weitere Entwicklung in der Musik – und gerade Beethoven muss reichlich davon gehabt haben. Zu Recht, wenn man sich seine Werke anschaut. Er ist der Komponist, der aus den Quellen Haydns und Mozart schöpfen kann und es auch tut – gegen alle Widerstände. Er schafft eine völlig neue Art von Sinfonie. Das erkennt man nicht zuletzt an der Masse – während Haydn 104 und Mozart 41 Sinfonien komponieren, schafft Beethoven es auf die Zahl neun. Seine Werke sind komplexer, dichter, durchkomponierter. Er schafft Seelengemälde. Welche, die sehr düster sein können, welche, die vor Lebensfreude fast bersten und welche, die überaus launisch sind. Beethoven eben. Musik 6 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 1, Menuett Orchestra of the Eighteenth Century / Leitung: Frans Brüggen M0341915 W01 /003, Zeit: 3’25 Der dritte Satz aus der ersten Sinfonie von Ludwig van Beethoven, Frans Brüggen dirigierte das Orchestra of the Eighteenth Century. Allerspätestens mit Beethoven ist also die erste Wiener Schule abgeschlossen und er hinterlässt ein Werk, das in seiner Vollkommenheit seine Nachfolger vor eine wirklich große Aufgabe stellt. Ein Umstand, der den Komponisten der zweiten Wiener Schule sehr wohl bewusst ist und letztlich Teil ihrer Ästhetik wird. Fangen wir mit der Begrifflichkeit an, die in diesem Fall ausgesprochen unproblematisch ist: die zweite Wiener Schule auch einfach Wiener Schule genannt, womit eine frühklassische Wiener Schule schlicht und ergreifend negiert wird, ist eine Schule im eigentlichen Sinne, denn sie 8 hat schon mal einen Lehrer: nämlich Arnold Schönberg. Dieser Lehrer hat eine ausgesprochen konkrete, innovative ja sprichwörtlich unerhörte Idee: er will nichts sachte weiterentwickeln, er will mit Traditionen brechen, weil seiner Meinung nach in manchen Teilen keine Weiterentwicklung mehr möglich ist. Dieser Lehrer hat auch eine Zahl zu benennender Schüler. Die beiden bekanntesten aus seiner Schule sind Alban Berg und Anton von Webern. Aber auch der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno hat bei ihm studiert und ebenso Kurt Weil, der aber recht schnell andere musikalische Wege beschreitet. Ab 1904 sind Berg und von Webern Schönbergs Schüler – die zweite Wiener Schule hat also auch ein ziemlich konkretes Anfangsdatum. Schönberg geht es vor allem darum, die spätromantische Tonalität konsequent weiter zu denken – was zwangsläufig dazu führt, sich von der Dur-Moll-Tonalität zu verabschieden. Die Aufgabe ist der erste Schritt, der zweite Schritt ist, ein formales Alternativ-Konzept zu schaffen – die Zwölftontechnik, ein Konzept, in der sich alle zwölf Töne einer Tonleiter – also die Tonleiter inklusive aller Halbtöne – auf einander beziehen. Schönbergs kompositorische Anfänge entsprechen ganz den ästhetischen Vorstellungen seiner Zeit. Spätromantisch. Anders kann man die frühen Werke Schönbergs nicht nennen. Dann kommt der Schritt der Ablösung von der Dur-Moll-Tonalität in eine freie Tonalität. Ein Schritt, der leider nicht gut funktioniert, da jedes mal ein neues Regelwerk geschaffen werden muss, innerhalb dessen sich ein Stück bewegt. Trotzdem ist dies ein großer und bedeutender Schritt für die weitere Entwicklung. Eins der Werke Schönbergs, das die Dur-Moll-Tonalität aufgibt und als Meilenstein der atonalen Musik gilt, ist sein zweites Streichquartett. Nicht nur, dass er hier auf eine ur-klassische Form zurückgreift und ihr ihre ur-eigenen tonalen Bezüge nimmt – er stellt dem Streichquartett auch noch eine weitere Klangfarbe zur Seite: eine Sängerin Musik 7 Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2, Ausschnitt 4. Satz (Entrückung) Christiane Oelze, Leipziger Streichquartett M0018557 W01 / 004, 2‘10 9 Der vierte Satz mit dem Titel „Entrückung“ aus dem Streichquartett Nr. 2 von Arnold Schönberg, gespielt vom … Quartett, gesungen hat…der Text stammt übrigens von Stefan George. Ein erster Schritt in Richtung 12-Tonmusik. Dieses Quartett ist noch nicht konsequent atonal – es steht in fis-Moll – aber es ist auf dem besten Wege dahin. Zwar schimmert die Grundtonart immer wieder deutlich hörbar durch, ergibt aber als Tonales Gerüst keinen Sinn mehr, weil sich die chromatisch verlaufenden einzelnen Stimmen zu stark überlagern. Anton Webern als Schüler Schönbergs, nimmt das Angebot der Atonalität an. Während Schönberg selbst aus der Zeit der Spätromantik kommt und die tonalen Grenzüberschreitungen aus einer Notwendigkeit heraus selbst entwickelt, die quasi aus seinem eigenen Werdegang als Komponist entsteht, können seine Schüler einfach seine Ideen übernehmen und weiterentwickeln. Was sowohl Berg als auch Webern machen – und zwar so gut sie können, aber jeder auf seine Weise. Streckenweise wird Schönberg das zu viel. Er schreibt im März 1912 in sein Tagebuch: „Die Hartnäckigkeit mit der mir meine Schüler auf den Fersen sind, indem sie zu überbieten trachten, was ich biete, bringt mich in Gefahr, ihr Nachahmer zu werden und hindert mich, dort ruhig auszubauen wo ich eben stehe. Sie bringen gleich alles zur zehnten Potenz erhoben. Und es stimmt! Es ist wirklich gut. Aber ich weiß nicht, ob es nötig ist“ Vor allem Webern stürzt sich förmlich auf das Konzept der Zwölftönigkeit – verfolgt es mit der Akribie eines Naturwissenschaftlers! Webern will in seinen Kompositionen den Weltenorganismus spiegeln. „das selbe Gesetz hat für alles Lebende Geltung“ ist seine Maxime. Seine Ästhetik ist vielleicht die, die der eines Mathematikers am nächsten kommt. 1940 schreibt Schönberg rückblickend: „1907 neuer Stil. Erzählte Webern von kurzen Stücken, eines der Klavierstücke sollte nur aus 3 bis 4 Takten bestehen – Webern beginnt kürzere und kürzere Stücke zu schreiben – folgt all meinen Entwicklungen. Versucht alles zu übersteigern“ Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist also nicht ungetrübt. Wobei fraglich ist, ob Webern Schönbergs innere Not überhaupt bemerkt. Schönberg verrät seinen Schülern von seiner neuen Entwicklung nachweislich aber zunächst nichts. 10 Bleibt vage, wenn er sagt, er sei „auf dem Weg zu einer ganz neuen Sache“. Schönbergs erste zwölftönige Komposition sind das Präludium und das Intermezzo der Suite für Klavier op 25. Fakt ist, dass von Webern derjenige ist, der die Zwölftontechnik am radikalsten verfolgt und umsetzt. Bei dieser Technik wird eine Reihe aus den zwölf Tönen der Tonleiter gebildet, die sich an bestimmte Vorgaben halten muss: jeder Ton darf nur einmal vorkommen, zwei Terzen nacheinander sind zu vermeiden um keinen Durbzw. Mollcharakter aufkommen zu lassen. Diese Reihen können dann in vier Modi auftreten: dem Original, dem Krebs, dem Umkehrkrebs und der Spiegelung – die Reihe kann also in alle Richtungen gespiegelt werden. Das klingt mathematisch sehr konstruiert und ist es auch. Aber mit etwas Übung kann man die Reihen und ihre Modi tatsächlich hören und erkennen. Jetzt ein 12-töniges Stück Musik für Orchester von Anton von Webern: eins der sechs Stücke op. 6 für Orchester Musik 8 Anton von Webern: Orchesterstücke op.6, M0051640 014 Staatskapelle Dresden / Dirigent Giuseppe Sinopoli M0026386 003, 0’55 Eines der sechs Stücke op. 6 für Orchester Anton Webern. Giuseppe Sinopoli dirigierte die Staatskapelle Dresden. Ein Meilenstein der Musikgeschichte, dessen Uraufführung in einem Tumult endet. 31. März 1913, Musikvereinssaal Wien. Schönberg dirigiert das Orchester des Musikvereins – die Vorgänger der heutigen Wiener Philharmoniker sozusagen. Ich weiß nicht so genau, was das Publikum erwartet hat – auf dem Programm stehen Werke von Schönberg, Berg, von Webern und Zemlinsky. Wobei Zemlinsky musikalisch sicherlich das zahmste Stück beigesteuert haben wird. Klammern wir diesen Freund und Lehrer Schönbergs also aus. Das Publikum ist entsetzt über diese Musik! Alles beginnt mit Gelächter im Parkett – in dem wohl hauptsächlich Musiker sitzen. Das gilt den ersten Takten von Weberns sechs Stücke op. 6. Bei Zemlinskys Stück beruhigen sich alle wieder etwas. 11 Als dann aber Schönbergs Kammersinfonie Nr. 9 gespielt wird, bricht das Publikum wieder in schallendes Gelächter aus und macht – vermutlich mit wenig schmeichelhaften Äußerungen – seinem Unmut Luft. In einer Rezension dieses Konzert heißt es, in den zweiten Rängen sei es gar zu einer „obligaten Rauferei“ gekommen. Die Situation eskaliert dann völlig bei Alban Bergs „Zwei Orchesterlieder nach Ansichtskarten von Peter Altenberg“ – es singt ein bekannter Tenor, wieder brechen alle in schallendes Gelächter aus, der Präsident des akademischen Verbandes für Literatur und Musik Erhard Buschbeck droht zunächst, alle Unruhestifter polizeilich entfernen zu lassen und legt dann dem Publikum nahe, sie mögen doch noch Mahlers Kindertotenlieder anhören, die noch auf dem Programm stünden, um Mahler zu ehren. Es gibt ein großes Durcheinander, irgendwer nennt irgendwen „lausbübisch“ und fängt sich daraufhin eine Ohrfeige Buschbecks ein – der dazu eigens ins Parkett springt. Die Zeitung beendet den Artikel mit den Worten: „es hätte schon längst früher der diensthabende Polizeikomissär einschreiten und dadurch vermeiden sollen, dass der herrliche Musikvereinssaal durch ein solch wüstes Treiben musikalischer Leidenschaften entweiht werde.“ Das Konzert wurde also abgebrochen und die Ohrfeige vor Gericht verhandelt. Was für ein Konzert! Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass das Publikum für die radikale Musik der zweiten Wiener Schule damals noch nicht bereit ist. Bleibt es noch, über Alban Berg zu reden. Auch er ein fleißiger Schüler Schönbergs, aber völlig anders als von Webern. Auch Berg findet seine eigene Tonsprache, allerdings eine, die weniger radikal ist, immer noch Elemente bringt, die in der Tradition der Spätromantik stehen – diese allerdings durchmischt und durchbricht mit den Mitteln der Atonalität oder der Zwölftontechnik. Ein Paradebeispiel dafür seine Oper Wozzeck nach Büchners Drama Woyzeck. Hier ein Ausschnitt 12 Musik 9 Alban Berg: Oper Wozzeck, Szene Marie - Wozzeck 3. Akt Matthias Goerne, Bariton - Wozzeck Dorothea Röschmann, Sopran - Marie Orchester Sinfonieorchester des Schwedischen Rundfunks Dirigent Honeck, Manfred M0051640 014, Szene Marie – Wozzeck aus dem dritten Akt von Alban Bergs Oper Wozzeck Manfred Honeck dirigierte das Sinfonieorchester des Schwedischen Rundfunks gesungen haben Matthias Goerne und Dorothea Röschmann. Und so geht unsere SWR2 Musikstunde „wenn Schule Schule macht“ mit der zweiten Wiener Schule zu Ende. Wenn Sie wollen, können Sie die Sendungen noch einmal nachhören oder nachlesen auf unserer Homepage swr2.de. Mein Name ist Nele Freudenberger ich sage Tschüss und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag! 13
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