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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Aufgearbeitet?
Gerold Becker und der Skandal um die Odenwaldschule
Von Eberhard Reuß
Sendung: Donnerstag, 2. Februar 2017, 10.05 Uhr
Redaktion: Rudolf Linßen
Regie: Eberhard Reuß
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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O-TON 1 Jürgen Oelkers: „Also ich kannte Gerold Becker, ich habe sogar ein Projekt mal mit
ihm gemacht, hatte also eine persönliche Vorstellung von ihm, und wollte einfach wissen,
warum ich mich so in dem Mann getäuscht habe. Also das hat mich rausgefordert, dass man
absolut gar nicht ahnt, was für Abgründe sich dahinter verbergen, wer ist das eigentlich.“
Um Antworten zu finden, hat Jürgen Oelkers drei Jahre recherchiert. Für den emeritierten
Pädagogik-Professor der Universität Zürich eine geradezu detektivische Arbeit, denn der im
Jahr 2010 verstorbene Gerold Becker hat es meisterhaft verstanden, zu täuschen und zu
tarnen.
O-TON 2 Jürgen Oelkers: „Es gab eben überhaupt keine biografischen Daten und die
ganzen Daten, die man kannte, die spärlichen Daten, auch die waren falsch. Also das
Leben, das er gelebt hat systematisch verschleiert.“
In der Öffentlichkeit und für die Medien ist Gerold Becker jahrzehntelang der begnadete
Pädagoge und gefragte Gesprächspartner gewesen. Angesprochen mit akademischen
Titeln, die er niemals besessen hat. Ein Gespräch 1986 im Süddeutschen Rundfunk.
O-TON 3 Hildegard Bussmann im Gespräch mit Gerold Becker 29.8.1986: „Professor Gerold
Becker ist hier mit mir im Studio. Er weiß viel zu sagen über Schule, wie sie ist. Sie haben
als Lehrer gearbeitet, Sie waren Leiter des Landerziehungsheims in Hessen, der
sogenannten Odenwaldschule, einer freien, nichtstaatlichen Schule. Herr Becker, was ist das
Besondere an dieser Odenwaldschule, was unterscheidet sie von anderen Schulen, welche
Erfahrungen haben Sie da gemacht, die möglicherweise auf andere Schulen übertragen
werden könnten?“ „Ja, die Odenwaldschule ist ein Landerziehungsheim, liegt zwischen
Darmstadt und Heidelberg, wo dreihundert Jungen und Mädchen mit ihren Lehrern auch
leben. Ich glaube das ist, je länger man mit Kindern zusammen ist, gerade in diesen
schwierigen Jahren der Vorpubertät und Pubertät, sozusagen ganz nah mitverfolgen und
beobachten kann, dass es umso vernünftiger und richtiger wird, was man ihnen rät und auch
umso akzeptabler für sie.“
Die Wortgirlanden aus dem Jahr 1986 bringt heute Andreas Huckele auf den Punkt – für sich
und mehr als hundert weitere ehemalige Schüler und Opfer von Gerold Becker.
O-TON 4 Andreas Huckele: „Sexualisierte Gewalt war Kulturprogramm der Odenwaldschule.
Da war Gerold Becker nicht alleine, sondern es gab die ganze Reihe von anderen Tätern, es
gab noch mehr, und den Tätern war auch klar, dass sie dort oben in guter Gesellschaft sind.“
Andreas Huckele ist eines der Opfer von Gerold Becker, die den Skandal bereits 1999 in der
„Frankfurter Rundschau“ öffentlich gemacht haben. Und doch erst im zweiten Anlauf Gehör
fanden, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Odenwaldschule im Jahr 2010.
O-TON 5 Andreas Huckele: „Also der Einzige, der mir gegenüber sein Bedauern
ausgesprochen hat und sein Versagen eingestanden hat, war Jürgen Oelkers.“
O-TON 6 Jürgen Oelkers: „Wenn man liest, die Aussage von einem Schüler, steht da
drinnen: Ja, das Becker auf Jungen steht, das wussten wir. Aber damals fiel das gar nicht
auf. Ich habe den Artikel damals nicht gelesen, ich kann mich auch daran nicht erinnern,
wohl aber, ich war damals schon in der Schweiz, in irgendeiner Schweizer Zeitung stand
irgendwo auf Seite fünf so eine Kurzmeldung: Ehemaliger Leiter der Odenwaldschule ist
unter Verdacht gerade, sowas. Aber ich bin dem auch nicht nachgegangen. Ich konnte mir
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nicht vorstellen, dass an dem irgendwas dran war, also das heißt, ich war genauso blind.
Wieso bist du dem nicht nachgegangen, ich bin dem Becker ja später wieder begegnet. Er
hat munter Rundfunkfeatures gemacht, hat Interviews gegeben, hat Artikel weiter
geschrieben, Vorträge gehalten, als sei nichts da passiert.“
Das Vermächtnis des pädophilen Kriminellen Gerold Becker ruht in den digitalisierten
Archiven der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Und hört sich mit dem Wissen von
heute nur noch zynisch und perfide an.
O-TON 7 Gerold Becker: „Ich glaube, das wichtigste... Neugier auf die Welt, das Zutrauen,
dass ich in dieser Welt noch was machen kann, dass was veränderbar ist, dass ich nicht nur
Opfer von Verhältnissen bin, sondern immer auch Täter, der sich so oder so entscheiden
kann. Dass ich, für mich persönlich, durchaus etwas bewirken kann und das ist sogar
vergnüglich.“
Gerold Becker im Jahr 1995 im Süddeutschen Rundfunk – auf dem Höhepunkt seines
Ruhmes – und doch nur eine legendenhaft verbrämte Lebenslüge. Die Jürgen Oelkers in
seinem Buch „Pädagogik, Elite, Missbrauch – Die ‚Karriere‘ des Gerold Becker“ akribisch
entlarvt.
O-TON 9 Jürgen Oelkers: „Gerold Becker ist ja in Verden an der Aller aufgewachsen, da war
er Jugendführer in der evangelischen Jugend. Und da muss er irgendwann mal seine
pädophilen Dispositionen entdeckt und ausgelebt haben. Wer er sexuell war, das wusste er
schon sehr früh.“
Gerold Becker lebte in großbürgerlichen Verhältnissen in einem streng protestantischen
Elternhaus. Der Vater ist Privatdozent für landwirtschaftliche Betriebslehre. Die Mutter
stammt aus einer weitverzweigten Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie. Gerold Becker kommt
1936 zur Welt, wächst mit zwei Brüdern und einer Schwester auf. Er gilt als begabter Schüler
und besteht 1955 mit glänzenden Noten das Abitur am Domgymnasium in Verden. Damals
eine reine Jungenschule.
O-TON 10 Jürgen Oelkers: „Er ist dann nach München, wohl um die Großstadt kennen zu
lernen, so deutet er das selber, aber da gibt es sicher das Bestreben in einschlägigen
Kreisen verkehren zu können, bevor er angefangen hat zu studieren in Göttingen. Und
darüber wissen wir einiges, was er in Göttingen gemacht hat.“
Gerold Becker studiert Theologie, um Pfarrer zu werden.
O-TON 11 Jürgen Oelkers: „Er hat immer parallel zu seinen Studiengängen Kontakt mit
Jugendlichen gehabt und da hat er sicher auch einige Jugendliche missbraucht, das ist auch
aktenkundig. Das hat ihm aber weder geschadet, noch ist das irgendwie aufgefallen damals.“
Wie ist Gerold Becker damit Ende der 50er Jahre ungestraft davongekommen?
O-TON 12 Jürgen Oelkers: „In einem Fall wissen wir, dass der Vater des Jungen Becker
energisch zu Rede gestellt hat, hat aber auf eine Anzeige verzichtet. Warum? Weil damals
vor Gericht war es sehr schwer den Kindern Gehör zu verschaffen. Deswegen versuchte
man alles, um den Kindern diesen Auftritt vor Gericht zu ersparen. Also verzichtete man auf
die Anzeige.“
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Gerold Becker ist sechsundzwanzig, als er 1962 nach Österreich wechselt um in Linz sein
Vikariat zu absolvieren.
O-TON 13 Jürgen Oelkers: „Und ist dann nach einem Jahr Hals über Kopf geflohen. Und
man kann vermuten, dass auch da entsprechende Missbrauchsfälle hochkamen, ging zurück
nach Göttingen und ist dann relativ schnell im pädagogischen Seminar der Universität
untergekommen, wo Hartmut von Hentig gerade ein Jahr lang war. Den hat er in der
Zwischenzeit kennen gelernt in Göttingen.“
Hartmut von Hentig ist Ende dreißig, Gerold Becker elf Jahre jünger.
O-TON 14 Jürgen Oelkers: „Das war eine offene, homosexuelle Beziehung. Hentig
beschreibt diese Zeit als rauschhafte Jahre in Göttingen, so weit geht das. Und Gerold
Becker machte in seinem Schatten Karriere, damals schon.“
Mit der Beziehung zu Hartmut von Hentig stehen Gerold Becker alle Türen offen – auch
ohne akademischen Abschluss.
O-TON 15 Jürgen Oelkers: „Es gab damals ein Heim für Jugendliche, das hieß „das Haus
auf der Hufe“, da war Gerold Becker Geschäftsführer und hatte also auch unmittelbaren
Zugang zu Jugendlichen in schwierigen Verhältnissen. Das war ein Haus in der Nähe von so
Nachkriegssiedlungen, das war in Bahnhofsnähe, das war damals so eine Art Elendsviertel.
Und da baute die Stadt ein Haus für Jugendliche, damit die halt einen Treffpunkt hatten. Und
Becker hat da auch Umgang mit Jugendlichen gehabt.“
Bis 1968 bleibt Gerold Becker Geschäftsführer dieses Jugendheims – dann wechselt er an
die Odenwaldschule.
O-TON 16 Jürgen Oelkers: „Ich gehe davon aus, dass er von Hentig wegwollte. Und da
brauchte er einfach Freiraum und den Freiraum fand er an der Odenwaldschule. Das muss
er von Anfang an gespürt haben. Es gibt einen Text von ihm, wo er Emotionen zeigt, nämlich
als der Schulleiter Schäfer, sein Vorgänger, ihn gefragt hat: „Wollen Sie nicht mein
Nachfolger werden?“ Da geriet er in einen Freudentaumel und sagte: „Ich konnte absolut
meine Sprache nicht fassen, ich war außer mir.“ Schreibt er nirgendwo sonst, an keiner
anderen Stelle mit einem solchen Gefühlsaufwand. Das heißt, er muss seinen Zielen relativ
nahegekommen sein. Das war nicht die Wissenschaft, das war auch nicht wirklich
Schulleitung, das konnte er nämlich gar nicht, das waren die Jungs.“
In seinem Buch beschreibt Jürgen Oelkers die Netzwerke der bundesdeutschen
Reformpädagogik. Seilschaften, die Gerold Becker zeit seines Lebens davor schützen, für
seine pädosexuellen Straftaten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Damit beleuchten die
Recherchen des emeritierten Pädagogikprofessors aber auch, wie in der Bundesrepublik seit
den sechziger Jahren die Bildungsreform betrieben worden ist. Allen voran von der grauen
Eminenz der Zunft, Hellmut Becker – übrigens nicht verwandt mit Gerold Becker.
O-TON 17 Jürgen Oelkers: „Hellmut Becker, also der mit Doppel-L, war Leiter des MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung, 1963 gegründet, und war zugleich auch im Vorstand
der Odenwaldschule und einer der großen Strippenzieher der deutschen Bildungsreform.
Hellmut Becker war der Mann hinter den deutschen Privatschulgesetzen nach 1945, also bis
dahin, als Relikt des Kulturkampfes, wurden die kirchlichen Schulen gefördert mit staatlichen
Mitteln, das gab es schon in der Weimarer Republik, aber nicht die weltanschaulichen
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Schulen, so hießen die reformpädagogischen Schulen in der Gesetzgebung. Und Becker hat
durchgesetzt, dass die Geld kriegen, wenn sie als Ersatzschulen anerkannt wurden, so dass
die Odenwaldschule plötzlich vom Staat bezahlt wurde, weil sie dann natürlich auch sehr
schnell als Ersatzschule anerkannt worden ist, die anderen Landerziehungsheime übrigens
auch. Also Hellmut Becker, das war der Mann im Hintergrund, und der hat Gerold Becker an
die Odenwaldschule geholt.“
Das war 1969 und verbunden mit der festen Zusage, dass Gerold Becker ab 1971 Leiter der
Odenwaldschule wird. Und das alles ohne pädagogische Ausbildung, ohne Dissertation,
ohne erstes und zweites Staatsexamen. Wie so vieles andere im Leben von Gerold Becker
ist auch das bislang unbekannt gewesen – auch für Andreas Huckele, der von 1981 bis 1988
die Odenwaldschule besuchte und von Gerold Becker sexuell missbraucht worden ist:
O-TON 18 Andreas Huckele: „Oeckers hat sich wirklich die Mühe gemacht durch die
Weltgeschichte zu fahren und mit vielen Menschen zu sprechen und ich bin überrascht, was
er alles an Informationen zusammengetragen hat. Also besonders die pädagogische
Richtung zu der auch die Odenwald-Schule gehörte, wurde ja bestimmt von Männern, die
selbst homosexuell und/oder pädokriminell waren, die selbst keine eigenen Kinder hatten
und die auch keine pädagogische Ausbildung hatten.“
Hartmut von Hentig, ehedem der bekannteste deutsche Erziehungswissenschaftler und
bestens vernetzte Repräsentant deutscher Reformpädagogik, hat sich bis zu seinem 90.
Lebensjahr nie zu seiner Homosexualität bekannt. Das wäre in den 1950er und 1960er
Jahren mutig, vor allem aber strafbar gewesen. Doch offener Umgang mit seinen eigenen
Neigungen und seinem Verhältnis zu Gerold Becker war auch Jahrzehnte später tabu.
Hartmut von Hentig im Jahr 2007 in einem Interview im Südwestrundfunk.
O-TON 19 Eggert Blum und Hartmut von Hentig: „Sie sind Junggeselle geblieben bis heute.“
„Es ist ein eingeschränktes Leben, aber für den Pädagogen, für den gibt’s genug Kinder, da
braucht er nicht noch die eigenen, die er dann vermutlich vernachlässigt hätte. Wo hätte ich
denn da auch noch mein Familienleben mit ihnen haben können. Also den Kinderteil hatte
ich, den Teil mit der Ehefrau, den hatte ich nicht.“
2016 hat Hentig erstmals sein Liebesverhältnis zu Becker beschrieben. Ein auf fast 1400
Seiten ausgedehntes Outing und eine Selbstrechtfertigung. Zum einen, nichts gewusst zu
haben. Und zum anderen, weiter Verständnis für seinen pädokriminellen Lebensmenschen
Gerold Becker zu artikulieren. Hentig zitiert darin auch aus Briefen von Andreas Huckele,
einem der Opfer von Gerold Becker.
O-TON 20 Andreas Huckele: „Also ich habe Herrn von Hentig nie autorisiert aus meinen
Briefen an Becker zu zitieren. Und das ist ein Zeichen dafür, dass auch Herr Hentig völlig
entgrenzt ist. Also Hentig macht entweder ganz bewusst gemeinsame Sache mit Becker und
nutzt diese Verdrehung ganz bewusst, um mich als Täter und Becker als Opfer darzustellen
oder er ist tatsächlich so dumm und so gutgläubig und so naiv, dass er sich Beckers
Verdrehungen zu Eigen gemacht hat. Es wird ja auch immer wieder gefragt: Wie kann man
eigentlich mit so einem Täter zusammenleben, der so was macht und davon nichts
mitbekommen? Und was hier erkennbar wird an dem Zitieren der Briefe von mir an Gerold
Becker ist, dass Herr von Hentig über die gleiche Entgrenzung verfügt, wie Becker eben
auch. Indem er einfach meine persönlichen Briefe nimmt, aus dem Nachlass von Becker
herausgekramt, und öffentlich zitiert. Ich habe es juristisch prüfen lassen, es ist die Frage mit
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welchen Erfolgsaussichten gehe ich in so ein Verfahren. Das ist eben auch noch eine Frage,
an wie vielen Prozesstagen Herr von Hentig eben noch persönlich teilgenommen hätte oder
ob die biologische Lösung schneller ist als die juristische.“
Es geht für den greisen Pädagogen Hartmut von Hentig noch immer darum, irgendwie die
Deutungshoheit in einer längst verlorenen Sache zurückzugewinnen. Koste es, was es wolle,
kommentiert Jürgen Oelkers kopfschüttelnd:
O-TON 21 Jürgen Oelkers: „Hentig kann ja jetzt nicht mehr leugnen, dass Gerold Becker
Täter war, aber er versucht ihn verständlich zu machen. Er sagt: Ja, Pädophilie ist ja auch so
eine Krankheit, da muss man also auch irgendwie Mitleid haben mit ihm und außerdem
waren das ja auch Liebesbeziehungen zu den Jugendlichen, zitiert dann Seitenweise aus
damaligen Briefen, versucht also Becker verständlich zu machen und damit auch die Opfer,
die gegen ihn ausgesagt haben, versucht da Misstrauen zu sähen, dass man denen auch
nicht glauben kann, dass sie eben Becker schlechtgemacht haben vor allen.“
Der nunmehr dritte Teil der Autobiografie von Hartmut von Hentig trägt den Titel „Immer noch
mein Leben“ – veröffentlicht in einem Verlag, der den Namen trägt „Was mit Kindern“.
O-TON 22 Andreas Huckele: „Und das ist ja das, das ist echt unglaublich, „Was mit
Kindern“.“
Andreas Huckele ist empört:
O-TON 23 Andreas Huckele: „Also was für mich total wichtig ist, ist das einfach ganz klar
wird: Das, was Hentig mit diesem Buch macht, ist eine weitere Attacke gegen die
Betroffenen sexualisierter Gewalt auf der Odenwaldschule. Also es ist kein Diskurs, es ist
eine Attacke, eine gewalttätige, verbale Attacke, die maskiert ist als Beitrag zum Diskurs.
Hier verteidigt jemand seine Biographie und die Biographie seines verbrecherischen
Freundes.“
Jürgen Oelkers hat das Umfeld analysiert, in dem Täter wie Gerold Becker weitgehend
ungestört und am Ende sogar ungestraft haben agieren können. Die Welt der
Reformpädagogik und ihre schönen Worte. Wie lautete doch Leitspruch der
Odenwaldschule?
O-TON 24 Jürgen Oelkers: „„Werde, der du bist“ ist ein Pindar-Zitat in der Übersetzung von
Hölderlin und ich glaube, dass die Übersetzung schon mal gar nicht stimmt, weil es den
Griechen eine Subjektorientierung unterstellt, die die Griechen gar nicht denken konnte. Also
„werde, der du bist“ war ein richtig guter Slogan für die Absichten, nämlich möglichst viele
Kinder aus bürgerlichen Familien, die das zahlen konnten, zu rekrutieren.“
Es ist die Welt einer demokratischen Elite, die sich ihrer selbst vergewissern will und sich
von einer Rhetorik blenden lässt, die den Anspruch erhebt, „alternativlos“ zu sein.
O-TON 25 Jürgen Oelkers: „Ja, weil da eine Sprache im Spiel ist, der man nicht
widersprechen kann. Also wer ist schon dagegen, dass die Erziehung vom Kind ausgeht, da
muss man schon sehr, sehr konservativ sein, um dagegen was zu sagen. Es hat sich eine
Rhetorik durchgesetzt, eine Sprache, die schützt, die Täter schützt. Man kann nicht sagen:
Ich bin dagegen. Man kann auch nicht sagen: Ich will etwas völlig anderes, denn dann wäre
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man ja Kinderfeind oder sowas. Es ist eine perfekte Sprache, die wasserdicht ist, die als
Ideologie wirkt und die einfach keine Distanz zulässt.“
Öffentlichkeit und Medien ließen sich gern blenden. Auszüge aus einer Hörfunkreportage
des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1985.
O-TON 26 Reportage HR 1985 mit Gerold Becker: „Gerold Becker, Schüler Hartmut von
Hentigs, hat die schon vom Selbstverständnis der Schule her ständig in Veränderung
begriffene Pädagogik, unter Beibehaltung der Hauptprinzipien Freizügigkeit und
Selbstverantwortung, in den vergangenen dreizehn Jahren wesentlich mitbestimmt und nach
außen vertreten.“ „Ich denke, dass in einer zunehmend entsinnlichten Welt, Hartmut Hentig
hat gesprochen vom allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit, also in der es zunehmend
weniger Gelegenheiten gibt originale Begegnungen zu haben. Dass es ist einer solchen Welt
noch von einer ganz anderen Dringlichkeit ist, jungen Menschen auch Erfahrungen mit sich
selber als körperliche Wesen zu ermöglichen, um das so allgemein zu sagen. Als solche, die
etwas anfassen, körperliche Empfindungen haben, Zärtlichkeit, Ängste.“
O-TON 27 Andreas Huckele: „Es gab ja auch Schüler, die sind zu anderen Lehrern
gegangen oder zu Schulkameraden gegangen oder zu Eltern gegangen und haben erzählt,
was sie mit Gerold Becker erlebt haben und ihnen wurde dann nicht geglaubt,
beziehungsweise ihre eigene Situation hat sich massiv verschlechtert, indem Eltern gesagt
haben, „jetzt sprich doch nicht so schlecht über Gerold Becker, nur weil er schwul ist“, oder
die Schüler wurden aus der Schule raus gemobbt von Becker selbst oder wie auch immer.“
Erinnert sich Andreas Huckele:
O-TON 28: Andreas Huckele: „Kurz vorm Abgang Beckers hat ja die Schule das
fünfundsiebzigjährige Jubiläum gefeiert und Gerold Becker ist gemeinsam mit Hartmut von
Hentig und dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker über das Gelände
flaniert und wenn man das als Sechzehnjähriger beobachtet, dann hat man dazu keine
Fragen mehr. Das war eine Demonstration von Übermacht, die einen fassungslos und auch
sprachlos macht.“
O-TON 29 Reportage HR 1985: „(Applaus) Fünfhundert geladene Gäste kamen heute
Morgen, um die Diskussion zwischen Bundespräsident Richard von Weizsäcker und dem
Pädagogen Hartmut von Hentig zu verfolgen. Gemeinsam machte man sich dann auf zum
Besuch der Odenwaldschule nach Oberhambach. Bundespräsident von Weizsäcker, der seit
den sechziger Jahren zum Förderverein der Schule gehört, nahm dann auch noch einige
Stunden an dem Fest teil.“
So berichtete der Hessische Rundfunk 1985 tagesaktuell über das fünfundsiebzigjährige
Jubiläum der Odenwaldschule.
O-TON 30 Jürgen Oelkers: „Das war ein wasserdichtes System, entweder gewusst und
nichts getan oder sie haben weggeschaut oder sie wussten es auch nicht, das war ganz
unterschiedlich. Neben Becker gab es ja auch noch andere Täter, die inzwischen auch
bekannt sind. Richtig ist, dass die Odenwaldschule galt als die Schule für die großen Namen,
Unselds Sohn war da oder die Weizsäckers oder Höfers, das waren alles bekannte Namen,
die ihre Kinder da unterbrachten. Daraus schloss man, dass die Schule sozusagen einen
bestimmten Zugang hatte zu diesen Familien. Meistens stand dahinter Hellmut Becker, der
hat das vermittelt oder Hentig, der hat auch mal gesagt: „Schickt doch eure Kinder an die
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Odenwaldschule.“ Da kamen aber immer Problemkinder hin oder die Kinder, die in der
Familie nicht unbedingt gelitten waren, die kamen da hin, so dass das also auch nicht so
war, dass da sich gleichsam die Elite versammelt hat. Die Schutzmacht, das waren die
Eliten.“
Doch irgendjemand aus den Reihen dieser Schutzmacht hat Gerold Becker bereits 1984 mit
Ansage aus dem Verkehr gezogen und dafür gesorgt, dass Becker sich mit Ende des
Jubiläums im Jahr 1985 als Leiter der Odenwaldschule verabschiedet. Andreas Huckele
fragt:
O-TON 31 Andreas Huckele. „Wer hatte die Macht Gerold Becker abzuberufen? Das ist nie
geklärt worden. Es war nur klar, dass Gerold Becker als Pädokrimineller der Vertreibung aus
dem Paradies entgegensah, als klar war, er muss 85 gehen.“
Jürgen Oelkers meint über den Abgang Gerolds Beckers von der Odenwaldschule:
O-TON 32 Jürgen Oelkers: „Also er selber hat immer gesagt wegen Erschöpfung. Aber der
war noch ganz munter, also das kann nicht der Grund gewesen sein, nein, der betrieb ja ein
riskantes Spiel, also das hätte jeden Tag auffliegen können, jeden Tag hätte irgendjemand
zur Polizei gehen können, Eltern hätten sich melden können, irgendwann war ihm das zu
heiß. Er wollte zum Hessischen Rundfunk, das klappte nicht, dann war er arbeitslos und
dann hat er ein Stipendium bekommen, das hat ihm Hellmut Becker verschafft und hat dann
also munter weitergemacht. Er hat nicht aufgehört mit seinen sexuellen Missbräuchen und ist
dann relativ schnell in der hessischen Lehrerbildung untergekommen, als persönlicher
Berater des Kultusministers, Holzapfel. Und war im Prinzip für das Ministerium tätig, hat also
Propaganda gemacht für die sozialdemokratische Schulreform. Die Rolle spielte er perfekt,
bis dann das dummerweise mit dem Brief kam 98/99. Als sich dann endlich, nach zwanzig
Jahren, Opfer von ihm gemeldet haben bei der Frankfurter Rundschau bei dem Herr
Schindler, der jetzt beim Spiegel ist.“
O-TON 33 Andreas Huckele: „Nachdem der Bericht von Jörg Schindler in der Frankfurter
Rundschau `99 erschienen ist, saßen Jörg Schindler, mein Schulkamerad, mit dem ich
gemeinsam die Gespräche mit Herr Schindler geführt habe, und ich, wir saßen zusammen
im Café und haben uns angeschaut und in dem Moment haben uns die Worte gefehlt, dass
nach dem Artikel überhaupt nichts passierte.“
O-TON 34 Jürgen Oelkers: „Also es hat niemand gewagt gegen die Mafia der
Reformpädagogen um Hartmut von Hentig irgendwas zu unternehmen, niemand. Ich bin
dem Becker ja später wieder begegnet, zum letzten Mal beim Deutschen Schulpreis 2007 in
Berlin, da trat er mit dem Hentig auf. Damals schon sehr krank, aber der war öffentlich
sichtbar und das war sicher Strategie. Hat dann ja auch, auf Raten der Anwälte, mit denen er
Kontakt hatte, gesagt, dass er sich dazu nicht äußert und schweigt. Weil er wusste, dass die
Taten verjährt waren, musste er auch nicht befürchten, dass ihn jemand anzeigt. Bis es 2010
dann wirklich ernst wurde. Er hat also mehr als zehn Jahre so weitergemacht, das einzige
was schwierig war, war seine Krankheit.“
Am 7. Juli 2010 ist Gerold Becker an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. 2015 ist
der Trägerverein der Odenwaldschule zahlungsunfähig und geht in Insolvenz. Eine
Fortführung des Schulbetriebs unter dem Namen Odenwaldschule erhält keine
Genehmigung. Ende 2016 wird das Schulgelände samt Gebäuden an eine Mannheimer
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Unternehmerfamilie verkauft. Doch die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an der
Odenwaldschule und andernorts ist noch immer nicht vorbei. Jürgen Oelkers, emeritierter
Professor für Pädagogik an der Universität Zürich:
O-TON 35 Jürgen Oelkers: „Ja, es sind noch viele Fragen offen. Wie war das mit den
Jugendlichen, die vom Jugendamt in Berlin an die Odenwaldschule kamen. Die sind
gekommen, weil ein Platz an der Odenwaldschule billiger war als ein Heimplatz. Einige
waren auch in Gerold Beckers Familie, also in der Gruppe, mit der er da zusammenlebte. Da
müsste es einiges in den Akten geben in Berlin, aber die sind bislang nicht zugänglich.“
Und die Lehren aus dem Fall Odenwaldschule?
O-TON 36 Jürgen Oelkers: „Pädophile Täter wird es weiter geben und es kommt darauf an,
welche Präventionsmaßnahmen ergreifen wir. Ob der Fall Hentig und Becker aufgearbeitet
ist, das kommt darauf an, wie die Anhänger sich verhalten. Zu Becker bekennt sich ja
niemand mehr, zu Hentig schon. Aber wie Hentig sich nachdem das rausgekommen ist,
verhalten hat, das ist das Gegenteil von dem, was er bislang immer pädagogisch gepredigt
hat und das ist keineswegs zu Ende.“
Auch nicht für die Opfer von Gerold Becker. Andreas Huckele:
O-TON 37 Andreas Huckele: „Also eine Entschädigung in dem Sinne hat nie stattgefunden.
Was stattgefunden hat ist, dass die Stiftung „Brücken bauen“, das ist eine Stiftung mit der die
Odenwaldschule die Entschädigungsleistung versucht hat outzusourcen, Zahlungen
vorgenommen hat in Anerkennung des Leids. Also es gab nie eine Entschädigungszahlung,
die ja vielleicht auch zur Folge gehabt hätte, dass weitere juristische Schritte in die Wege
geleitet werden und soweit ich weiß, sind insgesamt etwa eine halbe Million Euro an alle
Betroffenen gezahlt worden. Das heißt, wenn man von einer Zahl ausgeht von über hundert
Betroffenen, dann kann man sich schnell ausrechnen, dass das ein Durchschnitt von etwa
fünftausend Euro pro Person gibt.“
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