SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Aufgearbeitet? Gerold Becker und der Skandal um die Odenwaldschule Von Eberhard Reuß Sendung: Donnerstag, 2. Februar 2017, 10.05 Uhr Redaktion: Rudolf Linßen Regie: Eberhard Reuß Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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O-TON 2 Jürgen Oelkers: „Es gab eben überhaupt keine biografischen Daten und die ganzen Daten, die man kannte, die spärlichen Daten, auch die waren falsch. Also das Leben, das er gelebt hat systematisch verschleiert.“ In der Öffentlichkeit und für die Medien ist Gerold Becker jahrzehntelang der begnadete Pädagoge und gefragte Gesprächspartner gewesen. Angesprochen mit akademischen Titeln, die er niemals besessen hat. Ein Gespräch 1986 im Süddeutschen Rundfunk. O-TON 3 Hildegard Bussmann im Gespräch mit Gerold Becker 29.8.1986: „Professor Gerold Becker ist hier mit mir im Studio. Er weiß viel zu sagen über Schule, wie sie ist. Sie haben als Lehrer gearbeitet, Sie waren Leiter des Landerziehungsheims in Hessen, der sogenannten Odenwaldschule, einer freien, nichtstaatlichen Schule. Herr Becker, was ist das Besondere an dieser Odenwaldschule, was unterscheidet sie von anderen Schulen, welche Erfahrungen haben Sie da gemacht, die möglicherweise auf andere Schulen übertragen werden könnten?“ „Ja, die Odenwaldschule ist ein Landerziehungsheim, liegt zwischen Darmstadt und Heidelberg, wo dreihundert Jungen und Mädchen mit ihren Lehrern auch leben. Ich glaube das ist, je länger man mit Kindern zusammen ist, gerade in diesen schwierigen Jahren der Vorpubertät und Pubertät, sozusagen ganz nah mitverfolgen und beobachten kann, dass es umso vernünftiger und richtiger wird, was man ihnen rät und auch umso akzeptabler für sie.“ Die Wortgirlanden aus dem Jahr 1986 bringt heute Andreas Huckele auf den Punkt – für sich und mehr als hundert weitere ehemalige Schüler und Opfer von Gerold Becker. O-TON 4 Andreas Huckele: „Sexualisierte Gewalt war Kulturprogramm der Odenwaldschule. Da war Gerold Becker nicht alleine, sondern es gab die ganze Reihe von anderen Tätern, es gab noch mehr, und den Tätern war auch klar, dass sie dort oben in guter Gesellschaft sind.“ Andreas Huckele ist eines der Opfer von Gerold Becker, die den Skandal bereits 1999 in der „Frankfurter Rundschau“ öffentlich gemacht haben. Und doch erst im zweiten Anlauf Gehör fanden, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Odenwaldschule im Jahr 2010. O-TON 5 Andreas Huckele: „Also der Einzige, der mir gegenüber sein Bedauern ausgesprochen hat und sein Versagen eingestanden hat, war Jürgen Oelkers.“ O-TON 6 Jürgen Oelkers: „Wenn man liest, die Aussage von einem Schüler, steht da drinnen: Ja, das Becker auf Jungen steht, das wussten wir. Aber damals fiel das gar nicht auf. Ich habe den Artikel damals nicht gelesen, ich kann mich auch daran nicht erinnern, wohl aber, ich war damals schon in der Schweiz, in irgendeiner Schweizer Zeitung stand irgendwo auf Seite fünf so eine Kurzmeldung: Ehemaliger Leiter der Odenwaldschule ist unter Verdacht gerade, sowas. Aber ich bin dem auch nicht nachgegangen. Ich konnte mir 2 nicht vorstellen, dass an dem irgendwas dran war, also das heißt, ich war genauso blind. Wieso bist du dem nicht nachgegangen, ich bin dem Becker ja später wieder begegnet. Er hat munter Rundfunkfeatures gemacht, hat Interviews gegeben, hat Artikel weiter geschrieben, Vorträge gehalten, als sei nichts da passiert.“ Das Vermächtnis des pädophilen Kriminellen Gerold Becker ruht in den digitalisierten Archiven der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Und hört sich mit dem Wissen von heute nur noch zynisch und perfide an. O-TON 7 Gerold Becker: „Ich glaube, das wichtigste... Neugier auf die Welt, das Zutrauen, dass ich in dieser Welt noch was machen kann, dass was veränderbar ist, dass ich nicht nur Opfer von Verhältnissen bin, sondern immer auch Täter, der sich so oder so entscheiden kann. Dass ich, für mich persönlich, durchaus etwas bewirken kann und das ist sogar vergnüglich.“ Gerold Becker im Jahr 1995 im Süddeutschen Rundfunk – auf dem Höhepunkt seines Ruhmes – und doch nur eine legendenhaft verbrämte Lebenslüge. Die Jürgen Oelkers in seinem Buch „Pädagogik, Elite, Missbrauch – Die ‚Karriere‘ des Gerold Becker“ akribisch entlarvt. O-TON 9 Jürgen Oelkers: „Gerold Becker ist ja in Verden an der Aller aufgewachsen, da war er Jugendführer in der evangelischen Jugend. Und da muss er irgendwann mal seine pädophilen Dispositionen entdeckt und ausgelebt haben. Wer er sexuell war, das wusste er schon sehr früh.“ Gerold Becker lebte in großbürgerlichen Verhältnissen in einem streng protestantischen Elternhaus. Der Vater ist Privatdozent für landwirtschaftliche Betriebslehre. Die Mutter stammt aus einer weitverzweigten Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie. Gerold Becker kommt 1936 zur Welt, wächst mit zwei Brüdern und einer Schwester auf. Er gilt als begabter Schüler und besteht 1955 mit glänzenden Noten das Abitur am Domgymnasium in Verden. Damals eine reine Jungenschule. O-TON 10 Jürgen Oelkers: „Er ist dann nach München, wohl um die Großstadt kennen zu lernen, so deutet er das selber, aber da gibt es sicher das Bestreben in einschlägigen Kreisen verkehren zu können, bevor er angefangen hat zu studieren in Göttingen. Und darüber wissen wir einiges, was er in Göttingen gemacht hat.“ Gerold Becker studiert Theologie, um Pfarrer zu werden. O-TON 11 Jürgen Oelkers: „Er hat immer parallel zu seinen Studiengängen Kontakt mit Jugendlichen gehabt und da hat er sicher auch einige Jugendliche missbraucht, das ist auch aktenkundig. Das hat ihm aber weder geschadet, noch ist das irgendwie aufgefallen damals.“ Wie ist Gerold Becker damit Ende der 50er Jahre ungestraft davongekommen? O-TON 12 Jürgen Oelkers: „In einem Fall wissen wir, dass der Vater des Jungen Becker energisch zu Rede gestellt hat, hat aber auf eine Anzeige verzichtet. Warum? Weil damals vor Gericht war es sehr schwer den Kindern Gehör zu verschaffen. Deswegen versuchte man alles, um den Kindern diesen Auftritt vor Gericht zu ersparen. Also verzichtete man auf die Anzeige.“ 3 Gerold Becker ist sechsundzwanzig, als er 1962 nach Österreich wechselt um in Linz sein Vikariat zu absolvieren. O-TON 13 Jürgen Oelkers: „Und ist dann nach einem Jahr Hals über Kopf geflohen. Und man kann vermuten, dass auch da entsprechende Missbrauchsfälle hochkamen, ging zurück nach Göttingen und ist dann relativ schnell im pädagogischen Seminar der Universität untergekommen, wo Hartmut von Hentig gerade ein Jahr lang war. Den hat er in der Zwischenzeit kennen gelernt in Göttingen.“ Hartmut von Hentig ist Ende dreißig, Gerold Becker elf Jahre jünger. O-TON 14 Jürgen Oelkers: „Das war eine offene, homosexuelle Beziehung. Hentig beschreibt diese Zeit als rauschhafte Jahre in Göttingen, so weit geht das. Und Gerold Becker machte in seinem Schatten Karriere, damals schon.“ Mit der Beziehung zu Hartmut von Hentig stehen Gerold Becker alle Türen offen – auch ohne akademischen Abschluss. O-TON 15 Jürgen Oelkers: „Es gab damals ein Heim für Jugendliche, das hieß „das Haus auf der Hufe“, da war Gerold Becker Geschäftsführer und hatte also auch unmittelbaren Zugang zu Jugendlichen in schwierigen Verhältnissen. Das war ein Haus in der Nähe von so Nachkriegssiedlungen, das war in Bahnhofsnähe, das war damals so eine Art Elendsviertel. Und da baute die Stadt ein Haus für Jugendliche, damit die halt einen Treffpunkt hatten. Und Becker hat da auch Umgang mit Jugendlichen gehabt.“ Bis 1968 bleibt Gerold Becker Geschäftsführer dieses Jugendheims – dann wechselt er an die Odenwaldschule. O-TON 16 Jürgen Oelkers: „Ich gehe davon aus, dass er von Hentig wegwollte. Und da brauchte er einfach Freiraum und den Freiraum fand er an der Odenwaldschule. Das muss er von Anfang an gespürt haben. Es gibt einen Text von ihm, wo er Emotionen zeigt, nämlich als der Schulleiter Schäfer, sein Vorgänger, ihn gefragt hat: „Wollen Sie nicht mein Nachfolger werden?“ Da geriet er in einen Freudentaumel und sagte: „Ich konnte absolut meine Sprache nicht fassen, ich war außer mir.“ Schreibt er nirgendwo sonst, an keiner anderen Stelle mit einem solchen Gefühlsaufwand. Das heißt, er muss seinen Zielen relativ nahegekommen sein. Das war nicht die Wissenschaft, das war auch nicht wirklich Schulleitung, das konnte er nämlich gar nicht, das waren die Jungs.“ In seinem Buch beschreibt Jürgen Oelkers die Netzwerke der bundesdeutschen Reformpädagogik. Seilschaften, die Gerold Becker zeit seines Lebens davor schützen, für seine pädosexuellen Straftaten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Damit beleuchten die Recherchen des emeritierten Pädagogikprofessors aber auch, wie in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren die Bildungsreform betrieben worden ist. Allen voran von der grauen Eminenz der Zunft, Hellmut Becker – übrigens nicht verwandt mit Gerold Becker. O-TON 17 Jürgen Oelkers: „Hellmut Becker, also der mit Doppel-L, war Leiter des MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung, 1963 gegründet, und war zugleich auch im Vorstand der Odenwaldschule und einer der großen Strippenzieher der deutschen Bildungsreform. Hellmut Becker war der Mann hinter den deutschen Privatschulgesetzen nach 1945, also bis dahin, als Relikt des Kulturkampfes, wurden die kirchlichen Schulen gefördert mit staatlichen Mitteln, das gab es schon in der Weimarer Republik, aber nicht die weltanschaulichen 4 Schulen, so hießen die reformpädagogischen Schulen in der Gesetzgebung. Und Becker hat durchgesetzt, dass die Geld kriegen, wenn sie als Ersatzschulen anerkannt wurden, so dass die Odenwaldschule plötzlich vom Staat bezahlt wurde, weil sie dann natürlich auch sehr schnell als Ersatzschule anerkannt worden ist, die anderen Landerziehungsheime übrigens auch. Also Hellmut Becker, das war der Mann im Hintergrund, und der hat Gerold Becker an die Odenwaldschule geholt.“ Das war 1969 und verbunden mit der festen Zusage, dass Gerold Becker ab 1971 Leiter der Odenwaldschule wird. Und das alles ohne pädagogische Ausbildung, ohne Dissertation, ohne erstes und zweites Staatsexamen. Wie so vieles andere im Leben von Gerold Becker ist auch das bislang unbekannt gewesen – auch für Andreas Huckele, der von 1981 bis 1988 die Odenwaldschule besuchte und von Gerold Becker sexuell missbraucht worden ist: O-TON 18 Andreas Huckele: „Oeckers hat sich wirklich die Mühe gemacht durch die Weltgeschichte zu fahren und mit vielen Menschen zu sprechen und ich bin überrascht, was er alles an Informationen zusammengetragen hat. Also besonders die pädagogische Richtung zu der auch die Odenwald-Schule gehörte, wurde ja bestimmt von Männern, die selbst homosexuell und/oder pädokriminell waren, die selbst keine eigenen Kinder hatten und die auch keine pädagogische Ausbildung hatten.“ Hartmut von Hentig, ehedem der bekannteste deutsche Erziehungswissenschaftler und bestens vernetzte Repräsentant deutscher Reformpädagogik, hat sich bis zu seinem 90. Lebensjahr nie zu seiner Homosexualität bekannt. Das wäre in den 1950er und 1960er Jahren mutig, vor allem aber strafbar gewesen. Doch offener Umgang mit seinen eigenen Neigungen und seinem Verhältnis zu Gerold Becker war auch Jahrzehnte später tabu. Hartmut von Hentig im Jahr 2007 in einem Interview im Südwestrundfunk. O-TON 19 Eggert Blum und Hartmut von Hentig: „Sie sind Junggeselle geblieben bis heute.“ „Es ist ein eingeschränktes Leben, aber für den Pädagogen, für den gibt’s genug Kinder, da braucht er nicht noch die eigenen, die er dann vermutlich vernachlässigt hätte. Wo hätte ich denn da auch noch mein Familienleben mit ihnen haben können. Also den Kinderteil hatte ich, den Teil mit der Ehefrau, den hatte ich nicht.“ 2016 hat Hentig erstmals sein Liebesverhältnis zu Becker beschrieben. Ein auf fast 1400 Seiten ausgedehntes Outing und eine Selbstrechtfertigung. Zum einen, nichts gewusst zu haben. Und zum anderen, weiter Verständnis für seinen pädokriminellen Lebensmenschen Gerold Becker zu artikulieren. Hentig zitiert darin auch aus Briefen von Andreas Huckele, einem der Opfer von Gerold Becker. O-TON 20 Andreas Huckele: „Also ich habe Herrn von Hentig nie autorisiert aus meinen Briefen an Becker zu zitieren. Und das ist ein Zeichen dafür, dass auch Herr Hentig völlig entgrenzt ist. Also Hentig macht entweder ganz bewusst gemeinsame Sache mit Becker und nutzt diese Verdrehung ganz bewusst, um mich als Täter und Becker als Opfer darzustellen oder er ist tatsächlich so dumm und so gutgläubig und so naiv, dass er sich Beckers Verdrehungen zu Eigen gemacht hat. Es wird ja auch immer wieder gefragt: Wie kann man eigentlich mit so einem Täter zusammenleben, der so was macht und davon nichts mitbekommen? Und was hier erkennbar wird an dem Zitieren der Briefe von mir an Gerold Becker ist, dass Herr von Hentig über die gleiche Entgrenzung verfügt, wie Becker eben auch. Indem er einfach meine persönlichen Briefe nimmt, aus dem Nachlass von Becker herausgekramt, und öffentlich zitiert. Ich habe es juristisch prüfen lassen, es ist die Frage mit 5 welchen Erfolgsaussichten gehe ich in so ein Verfahren. Das ist eben auch noch eine Frage, an wie vielen Prozesstagen Herr von Hentig eben noch persönlich teilgenommen hätte oder ob die biologische Lösung schneller ist als die juristische.“ Es geht für den greisen Pädagogen Hartmut von Hentig noch immer darum, irgendwie die Deutungshoheit in einer längst verlorenen Sache zurückzugewinnen. Koste es, was es wolle, kommentiert Jürgen Oelkers kopfschüttelnd: O-TON 21 Jürgen Oelkers: „Hentig kann ja jetzt nicht mehr leugnen, dass Gerold Becker Täter war, aber er versucht ihn verständlich zu machen. Er sagt: Ja, Pädophilie ist ja auch so eine Krankheit, da muss man also auch irgendwie Mitleid haben mit ihm und außerdem waren das ja auch Liebesbeziehungen zu den Jugendlichen, zitiert dann Seitenweise aus damaligen Briefen, versucht also Becker verständlich zu machen und damit auch die Opfer, die gegen ihn ausgesagt haben, versucht da Misstrauen zu sähen, dass man denen auch nicht glauben kann, dass sie eben Becker schlechtgemacht haben vor allen.“ Der nunmehr dritte Teil der Autobiografie von Hartmut von Hentig trägt den Titel „Immer noch mein Leben“ – veröffentlicht in einem Verlag, der den Namen trägt „Was mit Kindern“. O-TON 22 Andreas Huckele: „Und das ist ja das, das ist echt unglaublich, „Was mit Kindern“.“ Andreas Huckele ist empört: O-TON 23 Andreas Huckele: „Also was für mich total wichtig ist, ist das einfach ganz klar wird: Das, was Hentig mit diesem Buch macht, ist eine weitere Attacke gegen die Betroffenen sexualisierter Gewalt auf der Odenwaldschule. Also es ist kein Diskurs, es ist eine Attacke, eine gewalttätige, verbale Attacke, die maskiert ist als Beitrag zum Diskurs. Hier verteidigt jemand seine Biographie und die Biographie seines verbrecherischen Freundes.“ Jürgen Oelkers hat das Umfeld analysiert, in dem Täter wie Gerold Becker weitgehend ungestört und am Ende sogar ungestraft haben agieren können. Die Welt der Reformpädagogik und ihre schönen Worte. Wie lautete doch Leitspruch der Odenwaldschule? O-TON 24 Jürgen Oelkers: „„Werde, der du bist“ ist ein Pindar-Zitat in der Übersetzung von Hölderlin und ich glaube, dass die Übersetzung schon mal gar nicht stimmt, weil es den Griechen eine Subjektorientierung unterstellt, die die Griechen gar nicht denken konnte. Also „werde, der du bist“ war ein richtig guter Slogan für die Absichten, nämlich möglichst viele Kinder aus bürgerlichen Familien, die das zahlen konnten, zu rekrutieren.“ Es ist die Welt einer demokratischen Elite, die sich ihrer selbst vergewissern will und sich von einer Rhetorik blenden lässt, die den Anspruch erhebt, „alternativlos“ zu sein. O-TON 25 Jürgen Oelkers: „Ja, weil da eine Sprache im Spiel ist, der man nicht widersprechen kann. Also wer ist schon dagegen, dass die Erziehung vom Kind ausgeht, da muss man schon sehr, sehr konservativ sein, um dagegen was zu sagen. Es hat sich eine Rhetorik durchgesetzt, eine Sprache, die schützt, die Täter schützt. Man kann nicht sagen: Ich bin dagegen. Man kann auch nicht sagen: Ich will etwas völlig anderes, denn dann wäre 6 man ja Kinderfeind oder sowas. Es ist eine perfekte Sprache, die wasserdicht ist, die als Ideologie wirkt und die einfach keine Distanz zulässt.“ Öffentlichkeit und Medien ließen sich gern blenden. Auszüge aus einer Hörfunkreportage des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1985. O-TON 26 Reportage HR 1985 mit Gerold Becker: „Gerold Becker, Schüler Hartmut von Hentigs, hat die schon vom Selbstverständnis der Schule her ständig in Veränderung begriffene Pädagogik, unter Beibehaltung der Hauptprinzipien Freizügigkeit und Selbstverantwortung, in den vergangenen dreizehn Jahren wesentlich mitbestimmt und nach außen vertreten.“ „Ich denke, dass in einer zunehmend entsinnlichten Welt, Hartmut Hentig hat gesprochen vom allmählichen Verschwinden der Wirklichkeit, also in der es zunehmend weniger Gelegenheiten gibt originale Begegnungen zu haben. Dass es ist einer solchen Welt noch von einer ganz anderen Dringlichkeit ist, jungen Menschen auch Erfahrungen mit sich selber als körperliche Wesen zu ermöglichen, um das so allgemein zu sagen. Als solche, die etwas anfassen, körperliche Empfindungen haben, Zärtlichkeit, Ängste.“ O-TON 27 Andreas Huckele: „Es gab ja auch Schüler, die sind zu anderen Lehrern gegangen oder zu Schulkameraden gegangen oder zu Eltern gegangen und haben erzählt, was sie mit Gerold Becker erlebt haben und ihnen wurde dann nicht geglaubt, beziehungsweise ihre eigene Situation hat sich massiv verschlechtert, indem Eltern gesagt haben, „jetzt sprich doch nicht so schlecht über Gerold Becker, nur weil er schwul ist“, oder die Schüler wurden aus der Schule raus gemobbt von Becker selbst oder wie auch immer.“ Erinnert sich Andreas Huckele: O-TON 28: Andreas Huckele: „Kurz vorm Abgang Beckers hat ja die Schule das fünfundsiebzigjährige Jubiläum gefeiert und Gerold Becker ist gemeinsam mit Hartmut von Hentig und dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker über das Gelände flaniert und wenn man das als Sechzehnjähriger beobachtet, dann hat man dazu keine Fragen mehr. Das war eine Demonstration von Übermacht, die einen fassungslos und auch sprachlos macht.“ O-TON 29 Reportage HR 1985: „(Applaus) Fünfhundert geladene Gäste kamen heute Morgen, um die Diskussion zwischen Bundespräsident Richard von Weizsäcker und dem Pädagogen Hartmut von Hentig zu verfolgen. Gemeinsam machte man sich dann auf zum Besuch der Odenwaldschule nach Oberhambach. Bundespräsident von Weizsäcker, der seit den sechziger Jahren zum Förderverein der Schule gehört, nahm dann auch noch einige Stunden an dem Fest teil.“ So berichtete der Hessische Rundfunk 1985 tagesaktuell über das fünfundsiebzigjährige Jubiläum der Odenwaldschule. O-TON 30 Jürgen Oelkers: „Das war ein wasserdichtes System, entweder gewusst und nichts getan oder sie haben weggeschaut oder sie wussten es auch nicht, das war ganz unterschiedlich. Neben Becker gab es ja auch noch andere Täter, die inzwischen auch bekannt sind. Richtig ist, dass die Odenwaldschule galt als die Schule für die großen Namen, Unselds Sohn war da oder die Weizsäckers oder Höfers, das waren alles bekannte Namen, die ihre Kinder da unterbrachten. Daraus schloss man, dass die Schule sozusagen einen bestimmten Zugang hatte zu diesen Familien. Meistens stand dahinter Hellmut Becker, der hat das vermittelt oder Hentig, der hat auch mal gesagt: „Schickt doch eure Kinder an die 7 Odenwaldschule.“ Da kamen aber immer Problemkinder hin oder die Kinder, die in der Familie nicht unbedingt gelitten waren, die kamen da hin, so dass das also auch nicht so war, dass da sich gleichsam die Elite versammelt hat. Die Schutzmacht, das waren die Eliten.“ Doch irgendjemand aus den Reihen dieser Schutzmacht hat Gerold Becker bereits 1984 mit Ansage aus dem Verkehr gezogen und dafür gesorgt, dass Becker sich mit Ende des Jubiläums im Jahr 1985 als Leiter der Odenwaldschule verabschiedet. Andreas Huckele fragt: O-TON 31 Andreas Huckele. „Wer hatte die Macht Gerold Becker abzuberufen? Das ist nie geklärt worden. Es war nur klar, dass Gerold Becker als Pädokrimineller der Vertreibung aus dem Paradies entgegensah, als klar war, er muss 85 gehen.“ Jürgen Oelkers meint über den Abgang Gerolds Beckers von der Odenwaldschule: O-TON 32 Jürgen Oelkers: „Also er selber hat immer gesagt wegen Erschöpfung. Aber der war noch ganz munter, also das kann nicht der Grund gewesen sein, nein, der betrieb ja ein riskantes Spiel, also das hätte jeden Tag auffliegen können, jeden Tag hätte irgendjemand zur Polizei gehen können, Eltern hätten sich melden können, irgendwann war ihm das zu heiß. Er wollte zum Hessischen Rundfunk, das klappte nicht, dann war er arbeitslos und dann hat er ein Stipendium bekommen, das hat ihm Hellmut Becker verschafft und hat dann also munter weitergemacht. Er hat nicht aufgehört mit seinen sexuellen Missbräuchen und ist dann relativ schnell in der hessischen Lehrerbildung untergekommen, als persönlicher Berater des Kultusministers, Holzapfel. Und war im Prinzip für das Ministerium tätig, hat also Propaganda gemacht für die sozialdemokratische Schulreform. Die Rolle spielte er perfekt, bis dann das dummerweise mit dem Brief kam 98/99. Als sich dann endlich, nach zwanzig Jahren, Opfer von ihm gemeldet haben bei der Frankfurter Rundschau bei dem Herr Schindler, der jetzt beim Spiegel ist.“ O-TON 33 Andreas Huckele: „Nachdem der Bericht von Jörg Schindler in der Frankfurter Rundschau `99 erschienen ist, saßen Jörg Schindler, mein Schulkamerad, mit dem ich gemeinsam die Gespräche mit Herr Schindler geführt habe, und ich, wir saßen zusammen im Café und haben uns angeschaut und in dem Moment haben uns die Worte gefehlt, dass nach dem Artikel überhaupt nichts passierte.“ O-TON 34 Jürgen Oelkers: „Also es hat niemand gewagt gegen die Mafia der Reformpädagogen um Hartmut von Hentig irgendwas zu unternehmen, niemand. Ich bin dem Becker ja später wieder begegnet, zum letzten Mal beim Deutschen Schulpreis 2007 in Berlin, da trat er mit dem Hentig auf. Damals schon sehr krank, aber der war öffentlich sichtbar und das war sicher Strategie. Hat dann ja auch, auf Raten der Anwälte, mit denen er Kontakt hatte, gesagt, dass er sich dazu nicht äußert und schweigt. Weil er wusste, dass die Taten verjährt waren, musste er auch nicht befürchten, dass ihn jemand anzeigt. Bis es 2010 dann wirklich ernst wurde. Er hat also mehr als zehn Jahre so weitergemacht, das einzige was schwierig war, war seine Krankheit.“ Am 7. Juli 2010 ist Gerold Becker an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. 2015 ist der Trägerverein der Odenwaldschule zahlungsunfähig und geht in Insolvenz. Eine Fortführung des Schulbetriebs unter dem Namen Odenwaldschule erhält keine Genehmigung. Ende 2016 wird das Schulgelände samt Gebäuden an eine Mannheimer 8 Unternehmerfamilie verkauft. Doch die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule und andernorts ist noch immer nicht vorbei. Jürgen Oelkers, emeritierter Professor für Pädagogik an der Universität Zürich: O-TON 35 Jürgen Oelkers: „Ja, es sind noch viele Fragen offen. Wie war das mit den Jugendlichen, die vom Jugendamt in Berlin an die Odenwaldschule kamen. Die sind gekommen, weil ein Platz an der Odenwaldschule billiger war als ein Heimplatz. Einige waren auch in Gerold Beckers Familie, also in der Gruppe, mit der er da zusammenlebte. Da müsste es einiges in den Akten geben in Berlin, aber die sind bislang nicht zugänglich.“ Und die Lehren aus dem Fall Odenwaldschule? O-TON 36 Jürgen Oelkers: „Pädophile Täter wird es weiter geben und es kommt darauf an, welche Präventionsmaßnahmen ergreifen wir. Ob der Fall Hentig und Becker aufgearbeitet ist, das kommt darauf an, wie die Anhänger sich verhalten. Zu Becker bekennt sich ja niemand mehr, zu Hentig schon. Aber wie Hentig sich nachdem das rausgekommen ist, verhalten hat, das ist das Gegenteil von dem, was er bislang immer pädagogisch gepredigt hat und das ist keineswegs zu Ende.“ Auch nicht für die Opfer von Gerold Becker. Andreas Huckele: O-TON 37 Andreas Huckele: „Also eine Entschädigung in dem Sinne hat nie stattgefunden. Was stattgefunden hat ist, dass die Stiftung „Brücken bauen“, das ist eine Stiftung mit der die Odenwaldschule die Entschädigungsleistung versucht hat outzusourcen, Zahlungen vorgenommen hat in Anerkennung des Leids. Also es gab nie eine Entschädigungszahlung, die ja vielleicht auch zur Folge gehabt hätte, dass weitere juristische Schritte in die Wege geleitet werden und soweit ich weiß, sind insgesamt etwa eine halbe Million Euro an alle Betroffenen gezahlt worden. Das heißt, wenn man von einer Zahl ausgeht von über hundert Betroffenen, dann kann man sich schnell ausrechnen, dass das ein Durchschnitt von etwa fünftausend Euro pro Person gibt.“ 9
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