Mit Mozart im Freudenhaus

Feuilleton.
BaZ Kompakt | Donnerstag, 2. Februar 2017 | Seite 20
Mit Mozart im
Freudenhaus
Die Meisteroper «Don Giovanni» in
einer Neuproduktion am Theater Basel
Von Sigfried Schibli
Basel. «Don Giovanni» heisst die
Mozart-Oper von 1787, im Untertitel «ossia Il dissoluto punito». Diese
Ergänzung fehlt in der Basler Produktion dieser Oper, einer Koproduktion mit der English National Opera
in London, wo die Inszenierung des
britischen Regisseurs Richard Jones
im Bühnenbild von Paul Steinberg
bereits im Oktober Premiere feierte.
Die Titeländerung hat ihren Grund:
In Jones’ Inszenierung wird Don Giovanni, der Mörder und notorische
Frauenheld, gar nicht bestraft. Im
richtigen Moment setzt er seinen Diener Leporello an seine Stelle, und der
von Giovanni ermordete Komtur, der
im gespenstischen Schlussteil als Untoter wiederkehrt, um den Übeltäter
der verdienten Strafe zuzuführen,
zieht den unschuldigen Diener mit in
den Abgrund.
Betrüger bleibt eben Betrüger,
darin bleibt sich Don Giovanni treu.
Und ist am Ende trotz den «Wanted»Plakaten, die an jeder Strassenlaterne hängen, siegreich: Don Giovanni kann weitermachen wie bisher, eine Frau nach der anderen verführen, Alte mit Jungen, adlige Frauen mit Bauernmädchen abwechseln
lassen. Einmal ist ein Mann das Objekt seiner magischen Verführungskünste. Am Anfang und am Ende
sehen wir diesen Erotomanen, der
ein ganzes Freudenhaus mit sich
selbst als wichtigstem «Personal»
betreibt und in Leporello einen verlässlichen Partner hat, jeweils für
ein paar Augenblicke mit einer Spanierin hinter einer Tür verschwinden. Was sie dort treiben, ist der Fantasie des Zuschauers überlassen.
In Leporello hat der adlige Giovanni einen Zuhälter, der auch mal
einen Blick durchs Schlüsselloch erhascht. Dieser Don Juan kennt keine
Tabus. Er legt auch Donna Anna, deren Vater er danach mit einem Stich
in die Lendengegend ins Jenseits befördern wird, über die Bettkante.
Aber Giovanni ist nicht der einzige Liebessüchtige in diesem Pandämonium der menschlichen Begierden: In der ersten Szene sehen wir
den Komtur, wie er mit einer jungen
Elevin Sexspiele treibt, während
Don Giovanni mit Donna Anna frivole Sadomaso-Praktiken erprobt.
Unendlich viel und unglaublich
Kluges ist über die Figur des Don
Giovanni geschrieben worden, über
den Nihilismus dieses Triebtäters,
über die Macht des Erotischen, das
Stockholm-Syndrom und die sinnliche Kraft der Musik. Regisseur Jones
schert sich wenig um die metaphysische Tiefe dieses Werks, ihm geht es
mehr um das «Dramma giocoso», Herr Macho und sein Diener. Titeldarsteller Riccardo Fassi (links)
um die Komödie.
imponiert mit sicherem Bass, Biagio Pizzuti verkörpert Leporello mit
viel Spielwitz. Foto Priska Ketterer
Türen auf, Türen zu
Wenn sich Giovanni mit Zerlina
Nicht nur im ersten Terzett nach schneidender Schärfe und noch etins Bett legen will, liegt dort schon der mit schönem Nachdruck gespiel- was schmaler Tiefe, passend zum
jemand – Donna Elvira, die Hüterin ten Ouvertüre gab es Wackler im verletzten Ehrgefühl dieser tragivon Zerlinas Jungfräulichkeit. Das Zusammenwirken von Orchester- schen Operngestalt.
Paradestück der Inszenierung ist die graben und Bühne. Die PremierenZerlina wird von der MezzoVerwechslungsszene von Giovanni aufführung wirkte orchestral noch sopranistin Maren Favela gesungen.
und Leporello: Ohne rote Perücke nicht ganz fertig geprobt; und dies, Sie ist die einzige hell gekleidete
und Hornbrille ähnelt der Diener obwohl Dirigent Erik Nielsen – in Person in einem dunkel gehaltenen
seinem kahlköpfigen Chef, und den Rezitativen auch gewandter Ensemble (Kostüme: Nicky Gilliwenn Leporello stumm die Lippen Spieler am Hammerklavier – mit brand) und singt mit ihrer klar fobewegt, während Don Giovanni ihm dem Sinfonieorchester Basel (teil- kussierten, für diese Partie aber zu
die Stimme leiht und Donna Elvira weise auf historischen Instrumen- wenig warmen Stimme stabil und
mitsamt ihrer Zofe bezirzt, darf auch ten) eher ruhige Tempi wählte und klangfarblich eher neutral.
gelacht werden.
Ihr Bräutigam Masetto – ein
spürbar darauf achtete, die Sänger
Die mandolinenbegleitete Kan- auf der Bühne nicht zu hetzen.
Bauer im Sonntagsstaat – ist beim
zonette «Deh vieni alla finestra»
Bass Nicholas Crawley gut aufgesingt Don Giovanni in einer Telefon- Unverbrauchte Stimmen
hoben. Simon Bode singt die grosse
zelle; er hat bei Donna Elvira angeEin junges Gesangsensemble Tenorpartie des Don Ottavio (mit
rufen und die junge Zofe an den Ap- leistet auf der Basler Opernbühne Arie «Dalla sua pace»). Technisch
parat bekommen. Später wird Otta- ganze Arbeit. Erst 25 Jahre zählt der und musikalisch ist ihm nichts anzuvio in der nämlichen Telefonkabine Titeldarsteller, der Mailänder Bass kreiden; das flache Timbre seiner
mit Anna kommunizieren, die fern- Riccardo Fassi. Imponierend seine Stimme ist Geschmackssache.
mündlich ihre grosse Szene «Crude- Sicherheit im Text und seine SouveSängerisch
und
orchestral
le! Ah no, mio bene» durchgibt – sie ränität im Schauspielerischen. Die (fabelhafte Holzbläser!) gab es viel
hat die alte Hoffnung, mit Giovanni für diese Partie erforderliche Diffe- Erfreuliches zu hören an diesem
ein Liebespaar bilden zu können, nie renzierung der stimmlichen Farben Premierenabend, und der von Henganz aufgegeben. So wenig wie muss sich mit wachsender Erfah- ryk Polus einstudierte Chor agierte
Donna Elvira, die sich am Ende mehr rung noch einstellen.
tadellos.
aus Verzweiflung als aus ÜberNur wenige Jahre älter ist Biagio
Über die Inszenierung werden
zeugung zu einem Leben im Kloster Pizzuti, der die Leporello-Partie mit sich Anhänger und Verächter des sobemerkenswerter Kraft und Variabi- genannten Regietheaters kaum einientscheidet.
Die Inszenierung von Richard lität der stimmlichen Mittel verkör- gen können. Sie wirkt cool und emoJones hat wenig Vertrauen in die pert und den buffonesken Zügen tional neutral; die entscheidende
Ausdruckskraft der Musik Mozarts. dieser Figur nichts schuldig bleibt. Frage, wer dieser Don Giovanni nun
Die unentwegt geöffneten und ge- Als in jeder Hinsicht voluminöser ist, vermag sie nicht zu beantworschlossenen Türen und die ver- Komtur – ob blutverschmiert oder in ten. Nach 165 Spielminuten und
schiebbaren Wände bringen viel Un- Armeeuniform – glänzt der Bass Mi- einer Pause mischten sich einige
ruhe ins Spiel, und das Herum- chael Hauenstein.
Buhs in den starken, aber nicht
rennen von Zimmer zu Zimmer in
Die sängerisch wohl reifste frenetischen Premierenapplaus. Es
der ersten Szene des abendfüllen- Leistung kam von der Australierin wird gestritten werden über die Londen Werks ist dem Gesang nicht Kiandra Howarth (Donna Anna), doner/Basler Neuinszenierung dieförderlich. Man ertappt sich in die- auch sie deutlich unter dreissig: eine ser «Oper aller Opern», wie E. T. A.
ser bühnentechnischen Material- Stimme von glühender Intensität und Hoffmann sie im Feuer der Begeisteschlacht beim Gedanken, wie aktu- Leidenschaft, mit weit tragenden rung nannte.
ell und nach wie vor unerfüllt doch Phrasierungen und nie störendem
die Idee des «leeren Raums» des Vibrato.
Theater Basel, Grosse Bühne. Nächste
Donna Elvira wird von Anna Ra- Vorstellungen 5., 10., 12., 16., 17., 19.,
bald 92-jährigen britischen Jahrhundertregisseurs Peter Brook ist.
jah verkörpert – ein Sopran von 25. 2. 2017. www.theater-basel.ch