Kitatanz Zur Evaluation eines Pilotprojekts Prof. Dr. Kristin Westphal Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Fachbereich 1 Bildungswissenschaften IfGP Arbeitsbereich Ästhetische Bildung Erziehen und Bilden in der Kindheit KITATANZ Zur Evaluation eines Pilotprojekts Stand April 2012 Prof. Dr. Kristin Westphal unter Mitarbeit von Susanne Schittler, wiss. Mitarbeiterin Sarah Otto, Grundschullehrerin und Tanzpädagogin Laura Otto, wiss. Hilfskraft Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Fachbereich 1 Bildungswissenschaften Institut für Grundschulpädagogik Arbeitsbereich Ästhetische Bildung Erziehen und Bilden in der Kindheit Initiator: Crespo Foundation Frankfurt/M. (Karin Heyl/Cora Stein) Kooperationen: Projekt „Starthilfe“ Sigmund-Freud Institut Frankfurt/M. (2007–2009) tanzlabor_21 ein Projekt von Tanzplan Deutschland und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Ausbildungsbereich Zeitgenössischer und Klassischer Tanz Masterstudiengang Tanzpädagogik unter der Leitung von Prof. Kurt Koegler (2007-2011) und seit 2012 von Prof. Ingo Diehl (2012) Kita 79 und 101 Frankfurt/M. Haus der Volksarbeit e.V. Frankfurt/M. (2012) Arbeitszentrum Fort- und Weiterbildung an der Pädagogischen Akademie Elisabethenstift Darmstadt (2012) Projektleitung und Tanzpädagogin: 1. Phase 2007-2009: Sylvia Scheidl, M.A. 2. Phase 2010-2011: Nira Priore Nouak, M.A. 3. Phase 2012-2013: Nira Priore Nouak, M.A. Musikalische Unterstützung: Michael Gambacurta, M.A., Musiker und Komponist Fotos und Trailer: Nina Werth 1 Inhalt 1. KITA TANZ. Ein Pilotprojekt zur Implementierung zeitgenössischer Tanzpädagogik in die Ausbildung von ErzieherInnen 2. KITA TANZ 1: Tanz beobachten. Tanz vermitteln 2.1 Leitfrage 2.2 Methodisches Vorgehen 2.3 Ergebnisse der ersten Projektphase 3. KITA TANZ 2: Tanz beobachten. Tanz gestalten 3.1 Methodisches Vorgehen 3.2 Beobachten 3.3 Ergebnisse der 2. Projektphase 4. Auswertung im Zeitvergleich 5. Ausblick 6. Wissenschaftliche Begleitung 6.1 Zum Selbstverständnis als Beobachtende 6.2 Methoden der Evaluation 6.3 Ausblick auf weitere Forschung 7. Links und Publikationen zum Projekt 8. Literatur 9. Förderung und Autorisierung 10. Anhang 2 1. KITA TANZ – ein Pilotprojekt zur Implementierung zeitgenössischer Tanzpädagogik in die Ausbildung von ErzieherInnen Neuere Ansätze für eine Zusammenarbeit der Künste und Bildung werden derzeit vielfach in interdisziplinär angelegten Projekten erprobt, in denen professionelle Theater-, Tanzund Performance-MacherInnen in Kooperation mit Schulen und Kindergärten gebracht werden, um auf diese Weise ästhetische Lernfelder (wieder) neu auszuloten. Sie eröffnen Möglichkeiten einer ästhetischen Praxis mittels eigener Erfahrungen durch Körperwahrnehmung, Tanzen und Bewegen. Von den Modellen im ästhetischen Feld erhofft man sich, dass sie auf Schule, Kindergarten und Bildung insgesamt zurückwirken. Sie werfen die umstrittene und zu untersuchende Frage auf, wie sich diese Erfahrungen im Kontext institutioneller Strukturen zwischen Konvention und Neuaufbruch sowie der Tradition einer ästhetischen Bildung gegenüber den Intentionen einer Kunstvermittlung brechen und zu neuen Qualitäten führen (Dietrich 2009, S. 39f.; Bilstein 2007/2009). Im Feld des „Ästhetischen“ treffen sehr unterschiedliche Theorien, Konzepte und Themen aufeinander. Die Spannweite ergibt sich aus den unterschiedlichen Zugängen zum Begriff „Ästhetik“. So wird einerseits von den Künsten her und andererseits von den Sinnen (aisthesis) im unmittelbaren Anschluss an die alltäglichen Lebens- und Lernvollzüge gedacht. Ein weiteres Moment betrifft unterschiedliche Auffassungen von pädagogischen Intentionen. Diese werden entweder ausgehend von den Aktivitäten des Kindes, wie hier im Vorschul- und Grundschulalter, oder ausgehend von kulturellen Formen und Praktiken, in die ästhetisches Lernen und Bilden einführen, wie hier durch Tanz und Musik, formuliert. Ein letztes Moment nimmt die übergreifenden Aspekte der einzelnen Bezugsdisziplinen als ein Prinzip von Lehren, Lernen, Schul- und Kindergartenkultur in den Blick. Ausgehen möchten wir hier von einem Verständnis, dass das Ästhetische als einen eigenen Erkenntnisweg und Modus, Selbst und Welt zu erfahren versteht, an dem sinnlich-leibliche, symbolische und kognitive Anteile gleichermaßen beteiligt sind. Gabriele Klein hebt auf die bildende Wirkung von Tanzen ab, indem sie dem Tanz bspw. über die mimetische Annäherung mittels Bewegungserfahrungen Möglichkeiten zur Transformation zuschreibt: Tanz könne so auf gesellschaftliches Leben und seine Bedingungen zurückwirken und „andere Zugänge des Verstehens, Erkennens, Begreifens, Sich-Wehrens von Selbst und Welt“ erfahren werden. (Klein 2008, S. 14f.) Was das spezifisch Ästhetische einer tänzerischen Bewegung ausmacht und welche bildende Wirkung darin enthalten und 3 wie beides zu beobachten und zu vermitteln ist, sind Fragen, die die Perspektive unserer wissenschaftlichen Begleitung des Projekts KITA TANZ bestimmt haben. In zwei Zeitschienen Phasen (2007-2009/2010-2011) wird versucht, die Bildungspotenziale von zeitgenössischem Tanz in der Begegnung von (angehenden) TanzpädagogInnen, ErzieherInnen und Kindern im Vor- und Grundschulalter zu erkunden, mit der Absicht, die so gewonnenen Erkenntnisse in ein tanzpädagogisches Weiterbildungsmodell für ErzieherInnen münden zu lassen. Das Projekt durchläuft verschiedene Phasen der Beobachtung, Begleitung und Konzeptionierung. Im folgenden beschreiben wir den Weg, den dieses Projekt von 2007 bis zur Etablierung eines Weiterbildungsprogramms im Januar 2012 gegangen ist, schließen mit einer kurzen Reflexion unseres methodologischen Selbstverständnisses ab und werfen nicht zuletzt den Blick auf die Notwendigkeit für eine ästhetisch und künstlerisch orientierte tanzpädagogische, grundlagentheoretische und anwendungsbezogene Forschung. Eine Auswahl wichtiger Momente sind in diesem Bericht herausgestellt, die für den Verlauf dieses Projektes bestimmend waren und vermutlich einen typischen Charakter aufweisen.1 Hinsichtlich weiterer Initiativen für eine strukturelle Verankerung derartiger Kooperationen lässt sich an diese Erfahrungen möglicherweise produktiv und stimulierend anknüpfen. Für Studierende in der Ausbildung der beteiligten Institutionen (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und Universität sowie Institutionen der Aus- und Weiterbildung von sozialpädagogischen Fachkräften) wird ein Einblick gegeben, der Blickwinkel und Sichtweisen „über den eigenen Deckelrand hinaus“ auslösen und zu weiteren Kooperationen anregen kann. Dabei denken wir insbesondere an die Reflexion der Themen, die die organisatorische Ebene mit pädagogisch-inhaltlichen Fragen verknüpfen und wie diese gegenseitige Bezogenheit untersucht werden könnte. Berührt werden dabei Fragen nach den unterschiedlichen Professionskulturen wie der Wahrnehmung der eigenen Arbeit, dem professionellem Selbstverständnis der jeweils eigenen Rolle, wie auch der Wahrnehmung und Vorstellung von Pädagogik und von Tanzen als ästhetische Praxis und wie diese sich personal, kulturell und institutionell vermittelt. 2. KITA TANZ 1: Tanz beobachten. Tanz vermitteln Das Projekt KITA TANZ in der ersten Projektphase von 2007 bis 2009 – installiert in einer Kindertagesstätte mit einer für den Standort Frankfurt typischen heterogenen Durch 1 Gespräche mit anderen Tanzforschenden und -pädagoginnen haben uns einzelne Phänomene, die uns in diesem Projekt begegnet sind, bestätigt. Vgl. http://www.hfmdk-frankfurt.info The Artists body. 4 mischung von etwa 100 Kindern unterschiedlicher Herkunft bei 9 Mitarbeitern – ist von der Crespo Foundation Frankfurt am Main initiiert worden. Das grundlegende Ziel der Crespo Foundation ist, Menschen und KünstlerInnen zu stärken (empowerment) in sozialen und pädagogischen Feldern innovativ künstlerisch zu wirken. Zusammen mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, die zu dem Zeitpunkt einen Masterstudiengang Tanzpädagogik eingerichtet hat, der bis zum Start des Projekts vornehmlich auf die Vorbereitung eines Arbeitsfeldes in der freien Tanzszene oder in Institutionen ausgerichtet ist und um schulische und sozialpädagogische Arbeitsfelder erweitert werden soll, gestaltete sich das Setting des Projekts wie folgt: Eine der Studentinnen des Masterstudiengangs, Sylvia Scheidl, hat als Projektleitung von KITA TANZ die Aufgabe übernommen, zunächst alle (!) MitarbeiterInnen einer Kindertagesstätte über ein regelmäßig stattfindendes Programm in zeitgenössischen Tanz einzuführen. Vermittelt wurden Techniken und Bewegungsweisen, die zur Sensibilisierung für den eigenen und den anderen Körper sowie für die tänzerische Bewegung und für die Mittänzer führen. Fernerhin wurde in elementare Bewegungsformen (gehen, laufen, fallen, rollen etc.) und Prinzipien der Methode der Kontaktimprovisation (rolling point, Schwerkraft, Balance, Koordination) eingeführt, sowie spielerische Möglichkeiten für Improvisation und Gestaltung erprobt. In einem zweiten Schritt wurde die Weiterbildung mit der direkten Arbeit mit den Kindern verknüpft. Über ein Jahr leitete die Tanzpädagogin einmal pro Woche unter Beteiligung der Erzieherinnen zwei Gruppen von Kindern im Alter von 3–5 und im Alter von 5–7 Jahren an. Zwei Projektwochen und die Einbeziehung eines Musikers ermöglichten es, gemeinsam erarbeitete Grundlagen zu vertiefen und zu einer öffentlichen Aufführung zu bringen. Im Fokus von KITA TANZ 1 stand dabei, die Voraussetzungen für ein Fort- und Weiterbildungsmodell für Erzieherinnen durch die Tanzpädagogin zu untersuchen und die Ergebnisse in die Entwicklung eines Weiterbildungskonzeptes münden zu lassen. Begleitet wurde dieses Unterfangen durch „Starthilfe“, ein Projekt des Sigmund-FreudInstituts Frankfurt/M.. Der Tanzpädagogin und dem Team der Kindertagesstätte wurden Supervision und eine Begleitung bei den Teamgesprächen anerboten. Eine wissenschaftliche Begleitung des Prozesses erfolgte mit Hilfe qualitativer Methoden, dessen Ausgangsfragestellungen und Ergebnisse hier vor dem Hintergrund unseres Selbstverständnisses von ästhetischer Bildung im Folgenden skizziert werden sollen. 5 2.1 Leitfrage Leitend war die Fragestellung, wie sich in diesem Pilotprojekt ein Zugang zu kultureller Bildung gestalten kann, der sich zwischen Bildung und Tanzkunst verortet, ohne das Eine dem Anderen zu subsumieren. In der Tradition stehen diese Bereiche durchaus in einem sich gegenseitig befruchtenden Verhältnis. Durch eine zunehmende Spezialisierung in den Künsten und der Bildung zeigen sich die beiden Bereiche jedoch mehr oder weniger stark als zunächst unvereinbare Kooperationspartner. Das Projekt KITA TANZ ist von daher zunächst als ein Experiment zu sehen, Bildung und Tanzkunst in ihrem Verhältnis (wieder) neu zu befragen. Die Untersuchung zielte zunächst vornehmlich darauf ab, danach zu fragen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um ErzieherInnen für neuere Formen und Verfahrensweisen von Bewegung, Tanz und Körperwahrnehmung zu sensibilisieren und ein Verständnis für Tanz und Bewegung zur Entfaltung der Persönlichkeit und Ausdrucksfähigkeit zu entwickeln. Das besondere Anliegen lag darin zu überprüfen, wie sich Anknüpfungspunkte für eine Weiterbildung für ErzieherInnen vor dem Horizont zeitgenössischen Tanzes (im Besonderen der Kontaktimprovisation) herstellen lassen. 2.2 Methodisches Vorgehen Methodisch sind verschiedene Formen aus der qualitativen Sozialforschung zur Anwendung gekommen. Vor, während und nach der ersten und zweiten Projektphase wurden diese Instrumente zur Erhebung von Daten eingesetzt, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, die in die das Projekt begleitenden Gespräche und Moderationen eingeflossen sind: – Teilnehmende Beobachtungen der Tanz- und Bewegungsarbeit im Handlungsfeld – Leitfadeninterviews bzw. Narrative Interviews, die die unterschiedlichen Perspektiven im Zeitvergleich seitens der Beteiligten einfangen, um qualitative Aussagen zu möglichen Veränderungsprozessen zu erfassen und zu reflektieren. 2.3 Ergebnisse der ersten Projektphase Die Frage danach, welche Voraussetzungen für ein Gelingen eines solchen Projektes erfüllt sein sollten, führte uns auf die Ebene organisatorischer Voraussetzungen einerseits und auf inhaltliche und pädagogische Ebenen andererseits, die Fragen nach der Aus- und Weiterbildung der jeweils Beteiligten evozieren. Dabei treten sowohl die Konzeption der Kindertagesstätte als einer sogenannten offenen Kindertagesstätte, für die die Freiwilligkeit von Angeboten für die Kinder kennzeichnend ist, in den Vordergrund als auch Fragen nach der Ausbil- 6 dung im Masterstudiengang Tanzpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. In den Blick kommt aber auch die Organisationsstruktur der Einrichtung und nicht zuletzt gelangen die Kommunikationsstrukturen innerhalb der Einrichtung in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Hinsichtlich der Konsequenzen für die Ausbildung im Masterstudiengang Tanzpädagogik fokussieren sich Fragen nach der Möglichkeit und Notwendigkeit, Studierende auf die Realität – wie in unserem Falle – einer Kindertagesstätte vorzubereiten ebenso wie spezifische Fragen nach der Vorbereitung und Entwicklung einer Weiterbildungskonzeption für ErzieherInnen. Berührt werden dabei Fragen nach der Wahrnehmung, dem Anspruch und Qualität der eigenen Arbeit, dem Selbstverständnis, der jeweils eigenen Rolle, wie auch der Wahrnehmung und Vorstellung von Pädagogik und von Tanz, sowie nicht zuletzt der Bedeutung, die Musik für Tanzen einnimmt. Die narrativen Interviews, Gespräche und Beobachtungen geben uns folgende Einblicke: a) Ein gegenseitiger Einblick ist nötig: Einerseits für die Tanzpädagogin in den Alltag der Erzieherinnen, um Handlungsabläufe zu verstehen und andererseits für die Erzieherinnen ein Einblick in Tanztechniken, der sich nicht im bloßen Erfahren oder Zuschauen erschöpfen kann, sondern sich in einem regelmäßigen Austausch mit der Tanzpädagogin fortsetzen muss. b) Die von den Erzieherinnen zu Beginn der Projektphase positiv geäußerten Erwartungen an das Weiterbildungsprojekt sind zunächst für die Qualität der Begegnung von Erzieherinnen und Künstlerin bestimmend gewesen. Die Vorerfahrungen mit Bewegung und die Motivation für dieses Projekt waren unterschiedlich gelagert und die Tanzpädagogin von daher aufgefordert, mit differenzierten Aufgabenstellungen und Zugängen (bspw. zur Kontaktimprovisation) zu arbeiten, bei denen es nicht um Leistungsunterschiede in bspw. Beweglichkeit, Kraft und Technik geht. c) Zum Thema wurden in den Interviews die jeweiligen Erfahrungen mit Nähe und Distanz in der Bewegungsarbeit im Spiegel der sozialen Arbeitsbeziehungen gemacht. Auch Erfahrungen mit dem Alltags- als Bewegungsraum sowie die Vorerfahrungen mit Bewegung und Kontaktimprovisation und eine Selbsteinschätzung zum Körperempfinden wurden reflektiert. 7 d) In der Umsetzung in die Arbeit mit den Kindern sind vornehmlich Fragen nach Ordnung und Disziplin aufgetreten. Unter pädagogischen und künstlerischen Gesichtspunkten haben sie die Frage danach aufgeworfen, inwiefern der Anspruch der Projektleitung, künstlerischen Tanz vermitteln zu können, für sie umsetzbar ist. Hierbei zeigten sich Unterschiede, was die Arbeit mit den ErzieherInnen selbst in Bezug zu Körperwahrnehmung und tänzerischer Bewegung anbelangte und deren Übersetzung in die Vermittlungsposition: in die Arbeit mit Kindern. Auch ist altersabhängig zu differenzieren: Für die Arbeit mit den dreijährigen Kindern kristallisierte sich für die Tanzpädagogin heraus, dass für sie der Zugang zu den Kleinsten über narrative Strukturen (performatives Erzählen) hilfreich gewesen ist, während die älteren Kinder in choreografischen Aufgabenstellungen mehr gefordert werden können. e) Nach der ersten Phase in der Arbeit mit den ErzieherInnen wird von der Projektleitung zum Ausdruck gebracht, dass der Anspruch, eigene künstlerische Vorstellungen auf die pädagogische Einrichtung einer Kindertagesstätte zu übertragen kaum möglich sei. Die sich im Lauf der Zeit abzeichnenden Reibungspunkte zwischen der Kultur der Institution, pädagogischem sowie künstlerischem Selbstverständnis und den Reaktionen der Kinder fordern dazu auf, die eigenen Voreinstellungen von Tanz und pädagogischer Vermittlung zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu bestimmen. Deutlich wurde hierbei, dass sich ein eher enges Verständnis von Tanzkunst und Pädagogik nur dann öffnen kann, wenn die Erfahrungswirklichkeiten der am Geschehen Beteiligten, insbesondere auch die konkrete kindliche Perspektive, einbezogen wird. 3. KITA TANZ 2: Tanz beobachten. Tanz gestalten Das Folgeprojekt konnte 2010/2011 als zweite Projektphase mit weiteren Perspektiven eröffnet werden. Teilgenommen haben an der zweiten Projektphase zwei Kindertagesstätten mit insgesamt drei Erzieherinnen und zwei Kindergruppen im Vorschulalter mit je ca. 12– 15 Kindern. Ausgehend von den Erfahrungen der ersten Projektphase wurde das Setting wie folgt verändert: Über den Zeitraum eines Jahres bereiteten die Erzieherinnen einmal pro Woche gemeinsam mit der Tanzpädagogin eine Stunde Tanzpraxis vor, in der sie ausgehend von einer anfänglichen Teilnahme zunehmend auch selbst zu Anleitenden wurden. Flankiert wurde 8 die Stunde mit einer Stunde Vor- und einer Stunde Nachbereitung, so dass dem Bedürfnis nach Austausch und inhaltlicher Reflexion mehr Raum gegeben werden konnte. Die in diesem Projektteil arbeitende Tanzpädagogin Nira Priore Nouak veränderte den in der ersten Projektphase verfolgten tänzerischen Ansatz der Kontaktimprovisation um Methoden des Body-Mind-Centering und Bartenieff Fundamentals. Auch fließen Techniken der Improvisation in die Konzeption mit ein. Einen weiteren Akzent setzte die regelmäßige Einbindung des Musikers Michael Gambacurta: Musik und Rhythmus als ein die Bewegung und den Tanz bestimmendes Element sollte von den Kindern im Dialog mit dem Musiker, der Tänzerin und den Erzieherinnen erkundet werden. Die Entscheidung, Musik live einzubinden, hatte zum Hintergrund, die Kinder in die gegenseitige Bedingtheit von Bewegung und Musik Einblick gewinnen zu lassen, auf die von ihnen gesetzten Bewegungsimpulse musikalisch antworten zu können und sowohl Musik als auch Tanz somit als ein gemeinsam zu entwerfendes kulturelles Bild erfahrbar zu machen. 3.1 Methodisches Vorgehen Über teilnehmende Beobachtung während der Tanzstunden und den Einsatz eines kriteriengeleiteten Beobachtungsbogens konnte das Bewegungsverhalten einzelner Kinder in den Blick genommen werden. Über narrative Interviews sowie teilnehmende Beobachtung konnte die Art der Vermittlung zwischen den Beteiligten (ErzieherInnen und Tanzpädagogin/Kinder) im Zeitvergleich erhoben werden. Bewegungstagebücher, die über jedes Kind von den Erzieherinnen geführt wurden und Kinderzeichnungen des Bewegungsund Tanzausdrucks gaben Hinweise auf die Perspektive der Beteiligten; Foto- und Videomaterial wurde ebenfalls ergänzend erhoben. 3.2 Beobachtungen – wovon ausgehend, womit, wohin führend Angedacht war im Kontext einer die Akteure einbeziehenden Forschungshaltung (acteurs research), die ErzieherInnen wie auch Beobachtenden selbst in ihrer Beobachtungsfähigkeit zu stärken und einen Austausch anzuregen: Ein Beobachtungsbogen (vgl. Anhang 10a/b) sollte zur Entwicklung der Beobachtungsfähigkeit der Beobachtenden beitragen. Ein Bewegungstagebuch sollte die Entwicklung der einzelnen Kinder in der Wahrnehmung der Erzieherinnen dokumentieren. Dieses Instrument, das dazu dient, eine Sprache für Beobachtungen und Erfahrungen zu finden, scheint uns grundsätzlich geeignet, Erzieherinnen durch die Kontinuität andere Reflexionsmöglichkeiten zu eröffnen. Es wurde von den Erzieherinnen trotz der zeitlichen Begrenztheit in der Umsetzbarkeit als ein wichtiger Baustein der Beobachtung zunehmend wertgeschätzt. 9 Eine weitere Ebene der Reflexion und damit Ausbildung von Beobachtungskompetenz stellten die im Anschluss an die Stunden stattfindenden Gespräche der ErzieherInnen mit der Tanzpädagogin dar, in denen neben der gerade erlebten Erfahrung sowohl Notizen aus den Bewegungstagebüchern, Fotos aus vergangenen Stunden oder Kinderzeichnungen zur Grundlage des Reflexionsgesprächs wurden. Von der Tanzpädagogin wurden die Gespräche inhaltlich durch Kriterien aus der Tradition der einzelnen Tanztechniken gerahmt. An den Stunden, an denen die Forscherinnen anwesend waren, wurden deren aktuell notierte Beobachtungen (Beobachtungsbogen, offene Beobachtungen) als ein weiterer Baustein mit in das Gespräch aufgenommen. Ausgehend von den in den Reflexions- und Planungsgesprächen gemachten Beobachtungen forderten die Erzieherinnen die Kinder dazu auf, ihre Erlebnisse beim Tanzen aufzuzeichnen. Die darüber entstandene Möglichkeit der Verständigung über eine von den Kindern z.B. dargestellte Körpersymbolik floss dann wieder in die gemeinsamen Deutungen, Planungen und Reflexionen ein. In dieser Verfahrensweise sehen wir enormes Entwicklungspotenzial, vor allem, wenn auch die kindliche Perspektive stärker mit eingebunden werden soll. 3.3 Ergebnisse der 2. Projektphase Im Anschluss an die Beobachtungsebenen der ersten Projektphase – organisatorische Voraussetzungen einerseits und inhaltliche und pädagogische Ebenen andererseits – lassen sich folgende Ausdifferenzierungen vornehmen: Umorientierungen auf der organisatorischen Ebene Auf der Ebene der organisatorischen Voraussetzungen konnten die bereits im ersten Projektteil aufgetretenen Reibungspunkte zwischen den Ansprüchen und Erwartungen von Seiten der Institution, der Erzieherinnen sowie der Tanzpädagogin deutlicher ausformuliert werden. Sie machen sich fest an der Problematik, die Zeitplanung des Fortbildungsmoduls unter Berücksichtigung der gegebenen Personaldecke in den Alltag der Kindertagesstätte einzubauen. In diesem Zusammenhang zeigte sich die Diskrepanz zwischen künstlerisch orientiertem Ansatz und dem Bildungsauftrag von Kindertagesstätten nicht nur in der Problematik der Passung der institutionellen Zeitstruktur und Raumnutzung mit der Prozesshaftigkeit und dem Raumbedarf, die künstlerische Projekte auszeichnet, sondern auch in unterschiedlichen Auffassungen von Tanz, Lernen, Kind, Bildung und Kultur. Diese eher auf der organisatorischen Ebene auftretenden Reibungen sind ein Spiegel und übertrugen sich auch auf die inhaltliche und pädagogische Ebene in dem Maße, wie die Erzieherinnen sich als Anleitende sowie Teilnehmende/Lernende in einer Person als 10 ambivalent erfahren mussten und die Kommunikation des eigenen Erfahrungsprozesses nicht immer zur eigenen Zufriedenheit zu leisten war. Umorientierungen auf der pädagogisch-inhaltlichen Ebene für ErzieherInnen Dennoch oder vielleicht gerade wegen dieser reibungsvollen Situationen ist es z.T. zu grundlegenden Umorientierungen in inhaltlicher Hinsicht gekommen: So waren bspw. unterschiedliche Entwicklungen bezüglich des Tanzverständnisses der Erzieherinnen zu beobachten. Standen in einem Fall Widerstände gegenüber der eigenen Erfahrung mit Tanzbewegungen im Fokus, die nur teilweise bearbeitet werden konnten und durch die institutionellen Bedingungen zementiert wurden, so war im Gegensatz dazu im anderen Fall zu beobachten, wie sehr sich die im Laufe des Jahres stattfindende Auseinandersetzung mit dem eigenen Verständnis von Tanz in Kontrastierung mit den durch die Tanzpädagogin eingebrachten Formen zeitgenössischer Tanztechniken zu einer positiven Veränderung nicht nur der eigenen Haltung Tanz gegenüber, sondern auch des professionellen Selbstverständnisses der Erzieherinnen auswachsen konnte. In den Interviews wurden jenseits des Kompetenzzuwachses im Hinblick auf die Anwendung von tänzerischen Grundformen auch die Veränderungen des eigenen Körpergefühls und des geänderten Blicks auf Kinder erwähnt. Dabei zeigte sich eine Erweiterung des eigenen Verständnisses im Hinblick a) auf die Potenziale von Tanz, die sich jenseits eines funktionalistischen Verständnisses verorten. Tanz wird nun weniger als Mittel zur Bewegungsförderung angesehen, wie es zu Beginn des Projekts im Hinblick auf die Förderung der Schulfähigkeit der Vorschulkinder von den Erzieherinnen als ein Bedürfnis geäußert wurde. Es wird nun in seinen Ausdruckspotenzialen wahrgenommen und wertgeschätzt. b) auf die Bereitschaft, die eigene Arbeit prozessorientiert zu verstehen, was ein verändertes Verständnis von Vermittlung impliziert und die eigene Rolle als Erziehende grundlegend anders konturiert: Die gewachsene Bereitschaft zur Improvisation und die Erfahrung, einen Lernprozess gemeinsam mit Kindern zu erleben, die eigene Rolle dabei zwischen Anleitung, Initiierung und Teilnahme verortend, führt zu anderen Perspektiven auf die Potenziale Ästhetischer Bildung. 11 Umorientierung von der Perspektive auf die Kinder zur Perspektive der Kinder? Bezüglich der Perspektive der Kinder lassen sich vorsichtige Behauptungen vornehmen, die sich auf die von der wissenschaftlichen Begleitung geführten Beobachtungsbögen sowie die Bewegungstagebücher der Erzieherinnen stützen und mit Foto-/Videoaufnahmen kontrastiert wurden. Die bestehenden Daten sind zudem flankiert von Notizen der Erzieherinnen, die diese während der übrigen Arbeitszeit mit den Kindern machten und in den Bewegungstagebüchern festhielten sowie von Äußerungen der Erzieherinnen in den Interviews. So lassen sich tendenziell Entwicklungen der Kinder bezogen auf ihr Sozial- und Bewegungsverhalten feststellen: Die am Projekt teilnehmenden Kinder haben über die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit in Bezug zu Tanz und Bewegung einen deutlichen Entwicklungsschub gemacht. Sowohl in den Bewegungsdimensionen (eng/weit/hoch/tief) als auch in den Bewegungsqualitäten (gerichtet/frei) sind Veränderungen zu konstatieren gewesen: Die Bewegungen der Kinder wurden raumgreifender, sie variierten die Raumrichtungen, wenn sie sich bewegten und nahmen eine zunehmend gerichtete, dialogische Qualität an. Das tänzerische Ausdruckspotenzial erweiterte sich in der Hinsicht, dass eigene Bewegungen zu Musik gefunden und in der Gruppe weiterentwickelt wurden. Auf einer Aufführung, die im kleinen öffentlichen Rahmen in einer Kindertagesstätte vor Eltern und KollegInnen stattfand, improvisierten die Kinder gemeinsam mit den Erzieherinnen, der Tanzpädagogin und dem Musiker weitestgehend einen Tanz, den sie zuvor in Grundmustern selbst erdacht hatten. Festzuhalten wäre hier als eine wichtige zu verfolgende Forschungsaufgabe: Die Perspektive auf die Kinder führt uns zu der Frage nach den Perspektiven der Kinder. 4. Auswertung im Zeitvergleich Übergreifend hat sich dadurch ein zentrales Moment des Projekts herauskristallisiert: Die „anderen“ Begegnungen aller Beteiligten führen über einen Moment temporärer Irritation hin zu gegenseitiger Blickfelderweiterung: Die Erzieherinnen wurden hierdurch sensibilisiert für die Potenziale der Kinder, anstatt sich im Jahr der Vorbereitung auf die Schule auf das „noch zu fördernde“ Defizitäre zu fokussieren. Die Möglichkeit, gemeinsam mit der Tanzpädagogin den Entwicklungsprozess der Kinder über ein Jahr fokussiert zu beobachten, schulte zudem jenseits des eigenen Erfahrungszuwachses die Beobachtungsfähigkeit, initiierte Interesse für Fragen bezüglich der Zusammenhänge von Bewegung, Ausdruck und körperlicher Entwicklung. So äußerten bspw. die Erzieherinnen im ersten Projektteil noch ein Verständnis von Vermittlung, das die eigene Erfahrung mit Tanz als in dieser Hinsicht wenig ausschlaggebend betrachtete: Vermittlung von Tanz bedeutete für sie das Weitergeben von Tanzwissen (bspw. Förderung der Bewegungskompetenz durch 12 „aktivierende Übungen“). In KITA TANZ 2 gelang es mit den neu teilnehmenden Erzieherinnen ausgelöst durch die andere Rahmung – Vorbereitung/ Reflexionsgespräche, Teilhabe der Erzieherinnen am Tanz – ein Verständnis zu entwickeln, das die eigene Erfahrung als grundsätzliche Voraussetzung für das Vermitteln von Tanz vor Augen führte und damit den Horizont öffnete für ein Verständnis von Bildung, das sich nicht im Modus der „Erziehung für…“ versteht, sondern vielmehr in einer Vorstellung eines Bildungsprozesses als gemeinsamen Prozess ausdrückt. Nicht zuletzt boten diese gemeinsamen Prozesse der Tanzpädagogin Einblick in pädagogische Blickwinkel. Sie erleichterten ihr, das tanzpädagogische Konzept adäquat anzupassen und im Prozess hin zur Entwicklung eines Weiterbildungskonzeptes auf diesen Erfahrungen aufzubauen. In die Konzipierung der Weiterbildung sind regelmäßige Gespräche zwischen den Beteiligten aufgenommen worden, um über bloße Erfahrungen hinausgehend Reflexionsprozesse auf den verschiedenen Ebenen anzuregen. 5. Ausblick Das Projekt KITA TANZ ist ein lernendes Projekt. Die Erfahrungen der beiden Projektphasen wurden vom Leitungsteam, zu dem Vertreter der Crespo Foundation, die Tanzpädagogin Nira Priore Nouak, die Leitungskräfte der beteiligten Kitas Alexandra Götz und Nicole Würzburg und der zuständige Ansprechpartner der Städtischen Kindertagesstätten Horst Kleinschmidt gehörten, zusammengetragen. Eine Kerngruppe, zusammengesetzt aus Vertretern der Crespo Foundation, Nira Priore Nouak und Prof. Dr. Kristin Westphal erarbeitete in Abgleich mit den problematischen Eckpunkten ein modifiziertes Modell der tanzpädagogischen Weiterbildung. In der Folge kann das Projekt nun für einen größeren Personenkreis als tanzpädagogische Weiterbildung für Erzieherinnen im Rahmen des Programms des Hauses der Volksarbeit e.V. und der Pädagogischen Akademie Elisabethenstift (afw) in Frankfurt angeboten werden. An diesem Angebot nehmen aktuell 16 Erzieherinnen aus verschiedenen Kindertagesstätten Frankfurts teil. Die Weiterbildung wird von Nira Priore Nouak in Zusammenarbeit mit der Crespo Foundation verantwortet. Über einen Zeitraum von 1 1/2 Jahren finden 14-tägige Trainingseinheiten mit eigener Bewegungs- und Körperarbeit, Theorie, Reflexion und Diskussion statt, die aufgeteilt in 5 Module (Körperbildung, Grundlagen in Tanz und Musik, Arbeitsweisen und Vermittlung, Gruppenarbeit, Projektarbeit und Selbstorganisation) ergänzt um einen Workshop mit Gastvortrag am Ende jedes Moduls, in ein eigenes Abschlussprojekt münden. Dieses wird individuell geplant und von der Tanzpädagogin begleitet. In dieser Phase ist vorgesehen, darüber hinausgehend an einer Anbindung an den Bildungsplan in Hessen zu arbeiten sowie an einer weitergehenden strukturellen Verankerung im 13 Masterstudiengang Tanzpädagogik an der HfMDK, in dem Studierende auf das sozialpädagogische Arbeitsfeld vorbereitet werden. Außerdem ist ein Zusatzangebot für die beteiligten Kita-Leitungen vorgesehen. Neben Auswertungsgesprächen nach den Moduleinheiten ist abschließend ein Fragebogen vorgesehen, um die Weiterbildung auf einer nun umfassenderen Ebene unter qualitativen Gesichtspunkten der Umsetzbarkeit noch einmal in den Blick zu nehmen. Fragen ergeben sich aus dem bisherigen Verlauf, inwieweit die Abteilung für klassischen und zeitgenössischen Tanz im Masterstudiengang ästhetische Bildung implementieren konnte, inwiefern weitere Kontakte zu Weiterbildungseinrichtungen, die für Hessen und angrenzende Länder (Rhein-Land Pfalz) Angebote für sozialpädagogische Fachkräfte anbieten und stärker eingebunden werden sollten, um Tanzpädagoginnen weiterhin und nicht nur einmalig einzusetzen. Und nicht zuletzt wäre zu fragen, inwiefern eine wissenschaftliche Begleitung – gesetzt den Fall die Weiterbildung nimmt einen erfolgreichen Verlauf – unter den Aspekten, die wir hier aufgeführt haben, in einer weiteren Phase als sinnvoll zu erachten ist. 6. Evaluation und wissenschaftliche Begleitung Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts hat uns auf einige wichtige Fragen der Vorgehensweise und auf die Begrenzung unseres Designs stoßen lassen. Vorgegangen sind wir mit einem bestimmten Vorwissen, bestimmten Vorerfahrungen im Feld der ästhetischen und tänzerischen Bildung geprägt von Erkenntnissen insbesondere aus der Kindheitsforschung, Bildungs- und Wahrnehmungstheorie und empirisch-qualitativen Forschung. Einige Aspekte, die uns wichtig erscheinen, wollen wir hier skizzieren, gefolgt von einem Ausblick auf weitere Forschungsfragen, wie sie sich im Austausch und in der Vernetzung mit anderen Projekten bundesweit im Rahmen der AG Tanzpädagogische Forschung ergeben haben. 6.1 Zum Selbstverständnis als Beobachtende Aus der Grounded Theory (vgl. Mey 2011) ist bekannt, dass jede Beobachtung und Beschreibung von einem Subjekt unter spezifischen Voraussetzungen der Wahrnehmung und Deutung als auch aus einer bestimmten Position heraus vorgenommen wird. Auch unserem Verständnis nach vollzieht sich jede Wahrnehmung in einem bestimmten Kontext, vor einem bestimmten Hintergrund und Horizont etc., sie knüpft an Vorerfahrungen und ein Vorwissen an und unterliegt einem dynamischen, sich raumzeitlich bewegenden und wandelndem Verständnis dessen, was woraufhin und wie etwas als etwas erforscht wird. Nicht zuletzt wird die Wahrnehmung in der sozialen 14 Situation selbst durch Interaktivität, Intersubjektivität und Interventionshaftigkeit geprägt. Die eingesetzten Verfahren und Techniken sollen den Beobachtenden dazu verhelfen, „Distanz gegenüber den alltäglich-routinehaften, durch einsozialisierte Standpunkte geronnenen Wahrnehmungs- und Denkmustern zu gewinnen“ (Mey 2011, 429). Die in Teilen direkte Einbindung der fokussierten Beobachtungen der Forschenden in die Reflexionssituation nach einer Tanzstunde sehen wir als einen Versuch, die durch die Beobachterperspektive gewonnenen Beschreibungen bereits in die Weiterentwicklung des Prozesses aufzunehmen. Das Beobachten aus unterschiedlichen Perspektiven wie in Punkt 3.2. beschrieben, ermöglichte es, auf dem Grund geteilter Erfahrungen eine gegenseitige Haltung bei Forschenden und Beforschten zu entwickeln, die sich als eine responsive verstehen müsste. Die Grenze zwischen Teilnehmen und Beobachten, Nähe und Distanz ist dabei eine schwankende, die im Forschungsprozess ständig neu austariert werden muss und die Notwendigkeit mit sich bringt, sich als Beteiligte stets der eigenen Position und Haltung gewahr zu werden. Eine derartige Vorgehensweise öffnet den Blick auf die Notwendigkeit, Forschungsprozesse unter dem Fokus der Responsivität, Partizipation und Performativität eher als einen Raum der Erfahrung mit und des Antwortens auf denn einen Raum der Beobachtung von zu verstehen.2 So kann – so unsere Hoffnung zu einer Professionalisierung beigetragen werden: Bewegungs- und Sehgewohnheiten werden reflektiert und die Beteiligten dazu angeregt, ästhetische, soziale und emotionale Erfahrungen zur Sprache zu bringen. 6.2 Methoden der Evaluation Für die Erhebung durch Leitfadeninterviews und teils narrativen Interviews, die wir als ein zentrales Instrument in der Begleitung des Prozesses eingesetzt haben, stellte sich die Frage, welche Spielräume in einem Interviewgespräch UntersuchungspartnerInnen haben, je eigene Akzente ihrer Reflexion und Erfahrungshintergründe mit zur Geltung zu bringen. Als Forschende lag uns daran, über Impulsfragen einen möglichst offenen Rahmen zu geben, gleichzeitig war das Anliegen, auf bestimmte Fragen hin zu fokussieren. In dieser Spannung liegt die Potentialität, Erfahrungswissen einzufangen, zugleich aber auch ihre Begrenzung. Für die teilnehmende Beobachtung lässt sich ebenso – zunächst einem allgemeinen Grundsatz folgend – sagen, dass auch die an dem Prozess beteiligten Beobachtenden Vor 2 Vgl. Bergold, Jarg/Thomas, Stefan: Partizipatorische Forschungsmethoden. Ein methodologischer Ansatz in Bewegung. In: Forum Qualitative Sozialforschung Bd. 13/Nr. 01 2012. http://www.qualitative-research.net. Letzter Zugriff am 22.3.2012. Vgl. auch die in der phänomenologischen Erziehungswissenschaft verbreitete Methode der „Teilnehmenden Erfahrung“, die den Schwerpunkt auf das Involviertsein der Beobachtenden in einen mit den Beforschten geteilten Erfahrungsraum legt. Vgl. Claus Stieve 2010, 41. 15 einstellungen und Vorerfahrungen mit Bewegung und Tanz etc. mitbringen und damit wie alle Beteiligten einem – unabschließbaren – Veränderungsprozess unterliegen (vgl. Kapitel 6.1.). In den Leitfadeninterviews wurden auch Aspekte virulent, die sowohl biographische Aspekte, institutionelle Voraussetzungen als auch das pädagogische und künstlerische Selbstverständnis der Interviewten sowie der Interviewenden berührten. Der Forschungsprozess selbst kann sich damit nur als ein von den Forschenden und Beforschten bestimmter Blick auf Praxis verstehen, der von diesen selbst mitgestaltet und weiterentwickelt wird. Die Auswahl und der Einsatz der Methoden wurden von daher auf die sich im Projekt zeigenden Phänomene in ihrer situativen Spezifität angepasst. Mit Blick auf den Einsatz der Methode der Beobachtung sind wir in diesem Projekt aus verschiedenen Gründen fokussiert vorgegangen. Für das anfänglich avisierte Untersuchungsziel, mehr über eine Kindergartenkultur im umfassenden Sinne zu erfahren, Kinder und ErzieherInnen in ihren Alltagsbezügen im Kindergarten über die eine Tanzstunde hinaus zu beobachten, wäre eine umfassendere und zeitaufwändigere Vorgehensweise der teilnehmenden Beobachtung, z. B. in Form einer Längsschnittstudie, notwendig. Als ein maßgeblicher Fokus der Beobachtung hat sich im Lauf der Zeit das Selbstverständnis und die Rolle sowohl der beteiligten Erzieherinnen als auch der Tanzpädagogin vor dem Hintergrund institutioneller und organisatorischer Probleme herausgebildet und kontrastierend dazu die Beobachtung des Geschehens in den Tanzstunden. Mit Blick auf eine Weiterbildungskonzeption halten wir den Ansatz, über die eigene Körperwahrnehmung Erfahrungsprozesse anzustoßen, für grundlegend, um einen Zugang zur Selbst- und Fremdbeobachtung in der Praxis entwickeln zu können. Der Einsatz eines Beobachtungsbogens (gezielte Beobachtung des Bewegungsverhaltens von Kindern anhand der Kriterien Bewegungsdimensionen/-qualitäten; soziales und ästhetisches Verhalten) sowie die offene Beobachtung, die diesen ergänzte, hat sich im Ansatz sowohl für die Beobachtenden als auch ErzieherInnen und Tanzpädagogin als fruchtbar erwiesen: Durch die Kombination der fokussierten mit der offenen Beobachtung konnten Grundlagen für gemeinsame reflexive Gespräche geschaffen werden. Ein weiterer Fokus lag in der Verknüpfung von organisatorischen und inhaltlichpädagogischen Elementen: Inwiefern die Arbeit und Rolle der Tanzpädagogin, die der ErzieherInnen sowie die Bedingungen der Institution ineinander wirken, war ein Schwerpunkt der gemeinsamen Gespräche, die auf der Ebene des Leitungsteams regelmäßig stattfanden, mit der Absicht, den Prozess des Projekts für alle Beteiligten transparent zu halten und voranzutreiben. 16 6.3 Ausblick auf weitere Forschung Die hier vorgenommene Fokussierung auf die Bedingungen zur Implementierung eines tanzpädagogischen Weiterbildungsmodells für Erzieherinnen findet seine Begrenzung vor allem in der Möglichkeit der umfassenden Spiegelung von Gelingensbedingungen, richtet dadurch aber gerade den Blick auf die Mehrperspektivität, unter der tanzpädagogische Forschung stattfinden muss. In der Begrenztheit zeigen sich erste Bedingungen für eine sinnvolle Bewegungskultur in Institution, Tanzkunst und Bildung. Das Konzept der Entwicklung eines tanzpädagogischen Weiterbildungsprogramms wurde inzwischen in verschiedenen Kontexten vorgestellt. Dabei wurde zum einen deutlich, dass es in Deutschland derzeit in dieser Kooperationsform noch einmalig ist. Zum anderen hat sich im Rahmen einer Tagung an der Sporthochschule Köln des BV für tanzpädagogische Forschung (2011) gezeigt, dass grundsätzlich ein hoher Bedarf an innovativer tanzpädagogischer Forschung besteht. Folgende Forschungsfragen mit Blick auf Grundlagenforschung und anwendungsbezogener Forschung sowie ihrer Methodologien stellen sich daher: • Was ist das spezifisch Ästhetische von Tanzen? • Welche bildende Wirksamkeit ist dem Tanzen inhärent? • Welche Voraussetzungen sind zur Förderung der kulturellen Teilhabe über Bewegung und Tanz erforderlich? • Welchen Einfluss haben tanzkünstlerische Vermittlungsverfahren wie z.B. das Choreografieren auf das Lernen, die Entwicklung und Bildung in der Aus- bzw. Weiterbildung? • Wie lassen sich Gestaltungsprozesse aus der Perspektive des Subjekts erforschen? • Welche Verfahren zur Untersuchung performativer/körperlicher Praxen, Selbst- und Fremdbeobachtung sind zu entwickeln? In den Projekten kam vor allem das sozialwissenschaftliche Methodeninventar zum Einsatz, auf das auch die qualitativ-empirische Bildungs- und Unterrichtsforschung vornehmlich zurückgreift. Neuere Verfahrensweisen in den performativen Künsten verlangen jedoch nach methodischen Vorgehensweisen, die einer körperlich-leiblichen Praxis gerecht werden müssen. Allein auf das „Gesagte“ sich zu stützen, allein auf die ethnografisch orientierte Beobachtung sich zu verlassen, reicht u. E. im Feld des Ästhetischen nicht aus. Wie lässt sich nach welchen Kriterien eine ästhetisch-tänzerische Praxis und ihr Umfeld beobachten und analysieren? Teilnehmende Beobachtung mit Videounterstützung, Teilnehmende Erfahrung, Aufführungsanalysen, performance research, acteur research sind Stichpunkte für neuere Entwicklungen. Für eine grundlagentheoretische Bearbeitung ergeben sich Fragen: Wie wirkt eine performativ und körperlich-leiblich ausgerichtete Praxis 17 auf eine Rezeptions- bzw. Produktionsästhetik zurück? Welche Anbindung an die Frage des Subjekts unter bildungstheoretischer Perspektive ergibt sich daraus? Und auf der Ebene der Vermittlung stellt sich die Frage, welche Verfahrensweisen und welche Voraussetzungen einer ästhetischen Praxis gerecht werden. Was muss ein jeweiliger Bildungsort dafür bereit stellen? 7. Links und Publikationen zum Projekt Links • Kurzfassung KITATANZ 1: http://www.uni-koblenzlandau.de/koblenz/fb1/gpko/person/professorinnen/person/kitatanz.pdf • Trailer zu KITATANZ 1: http://www.hfmdk-frankfurt.info • Fachtreffen Bundesverband Tanz in Schulen 2011 http://www.bv-tanzinschulen.de/fileadmin/user_upload/contentverband/BV_Doku_Forschertreffen_250211.pdf Hochschule für Musik und Darstellende Künste: Festschrift 2011 Publikationen Westphal, Kristin: Ertanzte Räume. In: Liebau, E./Klepacki, L. (Hg.): Tanzwelten. Waxmann 2008 Westphal, Kristin/Schittler, Susanne: Geteilte Räume. Zur strukturellen Verankerung kultureller Projekte in Schule und Kindergarten am Beispiel KITA TANZ. In: Westphal, Kristin (Hg.): Räume der Unterbrechung. Theater Performance Pädagogik. Athena Verlag Obertshausen 2012 TAB 1: http://www.hfmdk-frankfurt.info/projekte-forschung/the-artists-body/tabsymposien/tab-1/programmplan.html 18 8. Literaturauswahl Alkemeyer, Thomas/Brümmer, Christina/ Kodalle, Rea/Pille, Thomas (Hg.): Ordnungen in Bewegung: Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Bielefeld 2009 Barz, Hiener/Kosubek, Tanja/Müller, Bertram/Kessel, Martina(Hg.): Aufwachsen mit Tanz. Erfahrungen aus Praxis, Schule und Forschung. Weinheim 2011 Bilstein, Johannes/Dornberg, Bettina/Kneip, Winfried (Hg.): Curriculum des Unwägbaren. Ästhetische Bildung im Kontext von Schule und Kultur. Athena Obershausen 2007 Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.): Tanz und Anthropologie. Fink München 2007 Breuer, Franz/Mey, Günter/Mruck, Katja: Subjektivität und Selbst-Reflexivität in der Grounded-Theory-Methodologie. In: Mey, G./Mruck,K. (Hrsg.): Grounded Theory Reader. VS Wiesbaden S. 427–448 Carley, Jacalyn: Royston Maldoom Community Dance – Jeder kann tanzen. Das Praxisbuch. Leipzig 2010 Dietrich, Cornelie: Ästhetische Bildung zwischen Markt und Mythos. In: Westphal, K./Liebert, W.- A. (Hg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. Weinheim 2009 Fleischle-Braun, Claudia/Stabel, Ralf (Hg.): Tanzforschung und Tanzausbildung. Leipzig 2008 Fleischle-Braun, Claudia: Der moderne Tanz. Geschichte und Vermittlungskonzepte. 2.Aufl. Butzbach-Griedel 2001 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek 1998 Hardt, Yvonne/Stern, Martin (Hg.): Choreographie und Institution. Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung. Bielefeld 2011 Heitkamp, Dieter: Kinder zum Olymp – Kunst vermitteln: Der Bildungsauftrag der Kultur. Ein Zwischenruf. In: tanzjournal 5/07, S. 19–20 Ingo Diehl, Friederike Lampert (Hg.): Tanztechniken 2010 Tanzplan Deutschland, Leipzig 2011 19 Klein, Gabriele : Tanzkunst als Bildung. In: Die Deutsche Bühne. Heft 2. Köln 2008, S. 14–18. Klein, Gabriele/Barthel, Gitta/Wagner, Esther: Choreografischer Baukasten. Bielefeld 2001 Klepacki, Leopold/Liebau Eckardt (Hg.): Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens. Münster 2008 Lampert Friederike: Tanzimprovisation: Geschichte – Theorie – Verfahren – Vermittlung. Bielefeld 2007 Müller, Linda/Schneeweis, Katharina: Tanz in Schulen. München 2006 Neuß, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Frankfurt a.M. 1999 Stieve, Claus: Sich von Kindern irritieren lassen. Chancen phänomenologischer Ansätze für eine Ethnographie der frühen Kindheit. In: Schäfer Gerd E./Staege Roswitha (Hg.): Frühkindliche Lernprozesse verstehen. Ethnographische und phänomenologische Beiträge zur Bildungsforschung. Weinheim und München 2010, S. 23 ff. Tanz und Schule e.V. (Hg.): Ickstadt, Leonore: Dancing Heads. Ein Hand- und Fußbuch für kreativen zeitgenössischen Tanz mit Kindern und jungen Leuten von 4 bis 18 Jahren. München 2007 Tanz und Schule e.V. (Hg.): Schneider, Katja: Wann beginnt die Choreographie? Einblicke in den Alltag von Tanz und Schule. München 2009 Westphal, Kristin: Bewegung. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.): Handbuch für Anthropologie und Pädagogik. Berlin 2012 Westphal, Kristin: Bewegungserziehung. In: Pousset, Raimund (Hg.): Sozial Pädagogik Kompakt. Ein Handbuch. Weinheim 2010 Wolf, Dagmar: Dokumentanz. Evaluation und Dokumentation des generations- und fächerübergreifenden Schultanzprojekts. Oberhausen 2011 Links: http://contactquarterly.com/cq/webtext/resource.html#Development, 16. November 2011 Pape, Norbert/Heitkamp, Dieter:www.contactencyclopedia.net 20 9. Förderung und Autorisierung Crespo Foundation Frankfurt/M. und alle am Projekt Beteiligten 10. Anhang Beobachtungsbögen a/b 21 10. Anlage a/b Beobachtungsprotokoll* Datum: Kind: Beobachter: 1. Bewegungsmodi Bewegungsdimensionen oben/unten/vorne/hinten/rechts und links Gesten körpernah, ausgreifend gerichtet, ungerichtet, spielerisch, ausdrucksvoll Bewegungsqualitäten Langsam/schnell, rund/eckig, un/geführt/lang/kurz,/dynamisch, kraftvoll Bevorzugte Körperbereiche Arme/Hände, Beine/Füße, Rumpf Kopf Nicht bewegter Bereich 2. Umgang mit Bewegung 2.1. Kontakt Berührungsqualität intensiv, fest, flüchtig, distanziert, ausweichend, dominant, Blickkontakt fokussiert, weit, eher draußen, eher drinnen 2.2. Erfindungen / Impulse bietet Erfindungen/ Impulse an und nimmt sie von anderen an kaum/oft/ab und zu wie? baut Impulse/ Erfindungen in eigene Bewegung ein 22 2.3. Musik Lässt sich von Musik bewegen sich einfühlend, antwortend, verändernd oder eher mechanisch 3. Zusätzliche Beobachtungen Bemerkungen: Fremdbeobachtungen: Eigenbeobachtungen: Notizen zu den gemeinsamen Reflexionen: *Der Anspruch der Beobachtung ist nicht, davon auszugehen, dass wir eine objektive Beobachtung machen können. Er liegt vielmehr darin, zu beobachten, wie sich mir, dem Beobachter (mit einer bestimmten Perspektive), etwas als etwas in einer Situation szenisch und gestisch vermittelt zeigt. Der Bogen wurde vor einem von Marianne Jensen und Arno Hermer entwickelten Beobachtungsinstrumentarium für Fortbildungen in der Theaterpädagogik in NRW entwickelt. 23
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