Carina Gödecke

Plenarsitzung Freitag, 27. Januar 2017, 10 Uhr:
– Es gilt das gesprochene Wort –
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
verehrte Kolleginnen und Kollegen,
I.
Als
am
27.
Januar
1945
sowjetische
Truppen
das
Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erreichten, fanden sie
nur
noch
wenige
Überlebende,
doch
Millionen
von
Habseligkeiten als Spuren der Opfer.
Zehntausende waren kurz zuvor – krank und ausgehungert – von
der SS auf den Marsch in den Tod getrieben worden.
Aber das Leiden der Menschen war auch nach der Befreiung
nicht beendet. Viele starben an Entkräftung. Und die, die
überlebten, waren schwer traumatisiert – ohne Familie, ohne
Heimat.
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„Wir hatten das Gefühl“, so beschrieb es die ehemalige
Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, als
Überlebende von Auschwitz, „jede Menschlichkeit und jeden
Lebensmut verloren zu haben. Wir waren allein, und dies
umso mehr, als keiner wissen und hören wollte, was wir
erlebt haben.“
Heute,
am
27.
Januar,
gedenken
wir
der
Opfer
des
Nationalsozialismus, aller Opfer des Nationalsozialismus:
6 Millionen Juden, engagierte Christen, Sinti und Roma,
Kriegsgefangene
Menschen
mit
und
Zwangsarbeiter,
Behinderung,
Homosexuelle,
Gewerkschafter,
politisch
Andersdenkende – und auch der Opfer der Militärgerichte, wie
die aktuelle Ausstellung in der Wandelhalle unseres Landtags
eindrucksvoll zeigt.
II.
War die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zeit der
Aufarbeitung, der Scham und der Anerkennung einer Schuld,
aus der Verantwortung gewachsen ist, so wird unser 21.
Jahrhundert die Zeit des Bewahrens und Erinnerns werden.
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Erinnerung lebt am stärksten von der Unmittelbarkeit des
Erlebten - durch die Erzählungen der Zeitzeugen, deren Zahl
aber immer kleiner wird.
Der im letzten Jahr verstorbene Friedensnobelpreisträger Elie
Wiesel, selbst Überlebender von Buchenwald und Vorbild im
Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus, war bis
zuletzt zuversichtlich und beschrieb in seiner Gedenkrede zum
27. Januar im Deutschen Bundestag den richtigen Weg des
Erinnerns für die Zukunft:
„Wer einem Zeugen zuhört, wird selber Zeuge. … Wir sind
dabei, eine Generation von Zeugen von Zeugen von Zeugen
zu bilden“.
So werden die Geschehnisse auch an junge Menschen
weitergereicht, wie auch wir es hier im Landtag häufiger im
Rahmen von Ausstellungen und Workshops mit Schülergruppen
praktizieren.
Damit nehmen wir die Verantwortung wahr, die der kürzlich
verstorbene Altbundespräsident Roman Herzog in seiner
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Ansprache
zum
ersten
Gedenktag
für
die
Opfer
des
Nationalsozialismus 1996 beschrieben hat.
Er sagte, dass es darum gehe, aus der Erinnerung immer wieder
lebendige Zukunft werden zu lassen. Und er fährt fort „Wir
wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen
Lehren
ziehen,
die
auch
künftigen
Generationen
Orientierung sind.“
III.
Demokratie und Freiheit brauchen daher Erinnerung. Unsere
heutige, weiterentwickelte Erinnerungskultur ist genau deshalb
wertvoll und unverzichtbar, gerade bei uns in NRW. Und sie
bedarf – ganz im Gegensatz zu dem, was in der letzten Woche
in dieser unsäglichen Rede in Dresden behauptet wurde und
Gott sei Dank zu großem öffentlichen Protest geführt hat keinesfalls einer grundlegenden Korrektur oder gar einer 180º
Wende. Wer das fordert, hat etwas völlig anderes im Sinn.
Demokratie und Freiheit brauchen darüber hinaus Engagement,
Zivilcourage, Haltung und Mut. Gerade in der heutigen Zeit
brauchen wir das lautstarke, mutige, unüberhörbare „Nie
wieder!“, damit Fremdenhass und Intoleranz keinen Platz
bekommen.
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Das gilt heute, und an allen anderen 364 Tagen des Jahres. Und
unser „Nie wieder“ ist heute, wie morgen, vielstimmig und
unüberhörbar.
„Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das
Schweigen der Mehrheit“. So fasste Kofi Annan das klägliche
Versagen der deutschen Gesellschaft zusammen.
Wir aber werden nicht schweigen!
Auch deshalb gedenken wir heute der Opfer.
Wir halten die Erinnerung wach. Und ich sage ganz bewusst: We
remember! Um an die eindrucksvolle Bekenntnisaktion des
jüdischen Weltkongress anzuknüpfen.
Wir
stellen
uns
unserer
Vergangenheit,
weil
wir
die
Verantwortung für unsere Gegenwart und unsere Zukunft tragen.
Und wir wissen um unsere Verantwortung!
Ich danke Ihnen.
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