Eingriffe in das menschliche Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen: Ethische Aspekte der tiefen Hirnstimulation (THS,DBS) Abschlussarbeit zur Erlangung des Grades „Master of Arts“ im weiterbildenden Masterstudiengang Medizinethik am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Eingereicht von: Dr.med. Dr.rer.nat. Reiner Christoph Beck Studierendennummer: 1259164 Robert-Schuman-Str.14 51109 Köln Eingereicht bei: Frau Dr. phil. Lara Huber (Erstgutachterin) Herrn Univ.-Prof.Dr. rer. med. Norbert W. Paul (Zweitgutachter) Köln, 06.02.2015 Eingriffe in das menschliche Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen: Ethische Aspekte der Tiefen Hirnstimulation (THS,DBS) Inhaltsverzeichnis Seite I. II. Einleitung Chirurgische Eingriffe als therapeutische Verfahren in der Neurologie und Psychiatrie 1. Historischer Überblick zur Neurowissenschaft 1.1 Von der Psychochirurgie zur Neuromodulation: Elimination versus Neuro-Modulation 1.2. Das Gehirn als Forschungsgegenstand 1.3. Chirurgische Eingriffe in das Gehirn: Historischer Überblick zur Psychochirurgie und Hirnmodulation 1.3.1 Die Tiefe Hirnstimulation (DBS) 1.3.2 Ethische und anthropologische Aspekte zur Neurotechnik: Akteure und Institutionen, Technikfolgen 1.3.3 Spezifische medizinethische Fragestellungen bei neurochirurgischen Eingriffen in das Gehirn 1.3.4 Wie lassen sich Persönlichkeitsmerkmale bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn erfassen? 2. Zur Leitlinientherapie und dem Stellenwert der THS bei Neuropsychiatrischen Erkrankungen 2.1. Einige grundsätzliche Überlegungen zur Diagnose und Therapie bei Neuropsychiatrischen Erkrankungen 2.2. Die THS beim idiopathischen Morbus Parkinson (iPS) 2.3. Die THS beim Tourette-Syndrom 2.4. Die THS bei der schweren Zwangserkrankung (OCD) 2.5. Die THS bei therapieresistenten depressiven Erkrankungen 2,6. Die THS bei Abhängigkeitserkrankungen (SUD) 2.7. Die THS bei Morbus Alzheimer 2.8. Zusammenfassung der empirischen Befunde zur THS bei Neuropsychiatrischen Erkrankungen III. Ethische Problemstellungen bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn 1. Einige grundlegende medizinische Aspekte Orientierungspunkte ärztlichen Handelns (BenefizienzNonmaleficence) 3. Der Respekt vor der Autonomie der Patienten und Informed Consent 1 3 3 3 3 9 14 17 22 32 35 35 39 49 52 59 67 72 75 77 77 83 86 Eingriffe in das menschliche Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen: Ethische Aspekte der Tiefen Hirnstimulation (THS,DBS) Inhaltsverzeichnis Seite 4. 4.1. 4.2. 4.3. IV. Zum Konzept der Vulnerabilität Einige theoretischen Hintergründe zum Vulnerabilitätskonzept Zur Vulnerabilität bei neurochirurgischen Eingriffen Zur Vulnerabilität neurochirurgischer Eingriffe in das Gehirn Spezifische ethische Herausforderungen bei der Neuromodulation (THS) bei Neurochirurgischen Erkrankungen 1. Die rechtlichen Rahmenbedingungen 2. Die partizipative Behandlungsgestaltung 3. Zur kontextualisierten Bewertung der THS 3.1 Die ethischen Richtlinien zur innovativen THS-Forschung 3.2 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS im therapeutischen Kontext 3.2.1 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS beim Morbus Parkinson (iPS) 3.2.2 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS beim TouretteSyndrom 3.2.3 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei der schweren Zwangserkrankung (OCD) 3.2.4 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei therapieresistenten depressiven Erkrankungen 3.2.5 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei Abhängigkeitserkrankungen (SUD) 3.2.6 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei Morbus Alzheimer 3.2.7 Die Schutzpflichten gegenüber neuropsychiatrisch Kranken: Zur Public Health Ethik - Geht es gerecht zu? V. Spezifische neuroethische Kriterien bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn mit der THS bei neuropsychiatrischen Erkrankungen VI. Zusammenfassung und Ausblick VII. Literaturangaben VIII. Abkürzungen 92 92 99 101 104 104 106 108 109 110 110 111 112 114 116 118 120 125 126 130 143 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 1 Eingriffe in das menschliche Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen: Ethische Aspekte der tiefen Hirnstimulation (THS, DBS). I. Einleitung Das öffentliche Interesse an der Neurowissenschaft ist in den letzten vierzig Jahren durch neuere wissenschaftlich technische Erkenntnisse und breite finanzielle Unterstützungen gestiegen. Von dem Kongress der USA wurde von 1990-2000 die „decade of the brain“ ausgeboten, und eine Stiftungsinitiative in Deutschland erklärte das nachfolgende Jahrzehnt als die „Dekade des menschlichen Gehirns“. (Synofzik, 2004) 2013 wurde von der Europäischen Kommission das „HBP“ (Human Brain Project) mit einer Milliarde Euro Unterstützung finanziert, was inzwischen auf heftige Kritik gestoßen ist wegen des „schlechten Managements, undemokratischer Strukturen und falscher Prioritätensetzung.1 Neurowissenschaftliche Fragestellungen (Kandel, 1996, Kolb, 1993, Birbaumer, 2011 S.40f, Dudel, 2001) wurden inzwischen von den Lebenswissenschaften aufgegriffen und in einen breiteren Diskurs eingebunden. Ethische, juristische und soziale Implikationen bei der Erforschung von Eingriffen in das Gehirn erfordern ein wissenschaftliches Zusammenwirken von Technik und Lebenswissenschaften (Medizin, Psychologie, Philosophie, Soziologie, Theologie u.a.) um „die erwünschten Vorteile (benefits) gegenüber den schädlichen Auswirkungen von Innovationen zu maximieren“ (Greely, 2007 S.40f, Metzinger, 2005b, Greely, 2012) Für Eingriffe in das Gehirn wurde dies von der „Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich –technischer Entwicklungen“ interdisziplinär bereits dargelegt. (Merkel, 2007) Weiterhin stellt sich aus anthropologisch-ethischer Sicht vordringlich auch die Frage einer veränderten Konzeption der menschlichen Natur (Bora, 2005, Clausen, 2008, Huber, 2009a, Janich, 2009, Mainzer, 2010) und eines „Menschenbilds der Hirnforschung“ (Janich, 2009). Die „Neurophilosophie“ (Synofzik, 2004) 2 als eine „epistemisch – ethisch“ orientierte Disziplin“ soll einen fächerübergreifenden Diskurs mit „erkenntnistheoretischer und ethisch-praktischer Absicht“ anregen. Die „Neuroethik“3 (Glannon, 2006, Jox, 2013) befasst sich mit der „ethischen Einordnung bestimmter Verfahren in konkreten Anwendungskontexten“, mit der „Entwicklung von Handlungsregeln“, und einer 1 Schnabel,U.: Flagschiff in schwerer See. Hirnforscher üben massive Kritik an European Human Brain Project. Die Zeit No 29/2014; Open message to the European Commission concerning the Human Brain Project neurofuture.eu aufgerufen 20.7.2014 2 der Begriff „Neurophilosophie wird Patricia Churchland 1986 CHURCHLAND, P. 1986. Neurophilosophiy: Toward a unified science of the Mind-Brain., Cambridge, Bradford. zugeschrieben. 3 der Begriff wird dem Journalisten William Safire (2002) zugeschrieben. „Neuro-ethics of „walking“ in the newborn“,which appeared in August 1973 in the journal Perceptual and Motor Skills“ siehe dazu Buniak et al. Philosophy,Ethics, and Humanities in Medicine 1014,9:9,S.2 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 2 „angemessenen Deutung der Erkenntnisse aus Einblicken und Eingriffen in das menschliche Gehirn.“ (S. 8) (Woopen, 2009). Es wird nach Roskies zwischen der „neuroscience of ethics“ und der „ethics of neuroscience“ unterschieden. (Roskies, 2002) Im Sinne einer „informierten Ethik“ (Huber, 2009a) müssen die spezifischen Entstehungsbedingungen neurowissenschaftlicher Forschungserkenntnisse und Handlungsregulierungen einer empirischen und normativen Bewertung unterzogen werden, um naturalistische Fehlschlüsse zu vermeiden, und die Deutung der empirischen Daten spezifizierter, und hinsichtlich einer normativen Argumentation diskursfähig zu machen.(Shook, 2014) Eingriffe in das Gehirn werden seit den 50er Jahren (Einführung des Psychopharmakons Chlorpromazin) überwiegend als psycho,-neuropharmakologische Eingriffe verstanden, was zu einer einschneidenden Veränderung der psychiatrischen Behandlung geführt hat. (Schramme, 2004, Slaby, 2011, Stier, 2013, Stoecker, 2014)Inzwischen hat sich eine gewisse Ernüchterung breit gemacht, was die Effizienz und NichtSchädigung von Langzeitbehandlungen von schweren chronischen psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen (idio-pathischer Morbus Parkinson, Bewegungsstörungen, Demenzerkrankungen, Depressionen, schwere Zwangserkrankungen, Abhängig-keitserkrankungen) mit Psycho,Neuropharmaka betrifft. (Nutt, 2011, Hasler, 2012) Bei der Suche nach einer Verbesserung der Eingriffstiefe und der Eingriffsgenauigkeit bei schweren neuropsychiatrischen Erkrankungen haben die technischen Verbesserung der bildgebenden Verfahren (Neuroimaging) (Goldberg, 2013) und der neurochirurgischen Interventionsmöglichkeiten (Huber, 2008), eine Zusammenarbeit von Psychiatern (Habel, 2002), Neurologen, Neurochirurgen, Neuropsychologen und Neurotechniker forciert, woraus die Erforschung von „Electroceuticals“ (Reardon, 2014) möglich wurde. Neurostimulation mit der Nanotechnik und Molekulargenetik zu verbinden hat zu einem neuen industriellen (Glaxo Smith Welcome) und universitären Forschungsinteresse geführt. Insbesondere durch den erweiterten Einsatz neuromodulierender Verfahren (DBS, THS) bei Bewegungsstörungen, und bei psychiatrischen Erkrankungen, sowie im Bereich des Neuroenhancements (Lipsman, 2009, Zimermann, 2010), entstehen neue neuroethische Herausforderungen. Hirnforschung und Eingriffe in das Gehirn müssen medizinethische Argumente berücksichtigen um die medizinischen Studien und Indikationen zu rechtfertigen (Adorno, 2009, Hasler, 2012, Hilgendorf, 2013). „Wichtig ist vor allem die Frage, ob Hirngewebe als materielles Substrat für menschlichen Geist und für die Persönlichkeit eines Menschen interpretiert werden.“ (Schneider, 1995, S.79) Grenzfragen der menschlichen Existenz, insbesondere im Bereich neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen, müssen einem normativen Diskurs unter-zogen werden.(Fuchs, 2008, Fuchs, 2013) Dafür geben insbesondere Fragen zur Leib-Seele Problematik, zur Mensch-Maschine Problematik, zur Biologismus – Kontroverse in der Psychiatrie, und nicht zuletzt die historischen Fehlentwicklungen der Hirnforschung und ,-elimination im Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 3 Bereich der Psychiatrie, während und nach dem zweiten Weltkrieg (Johnson, 2009, Levy, 2008, Mashour, 2005, Meier, 2009, Schmuhl, 2001) Anlass zu einer differenzierteren Darstellung. Eingriffe in das Gehirn bedürfen neben sorgfältig abgewogenen medizinischen (neuropsychiatrischen/neurochirurgischen) Indikationsstellungen in einem Arbeitsteam, vordringlich einer Rechtfertigung, auf dem Hintergrund normativer Handlungsregeln.(Singer, 2002, Müller, 2009, Merkel, 2007, Linke, 2000 ,140f, Hilgendorf, 2013, Clausen, 2009, Goodman, 1991, Ford, 2009) Thesenbildung: Wie lässt sich der Einsatz operativer Gehirninterventionen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen rechtfertigen? Welche neuroethischen Problemfelder ergeben sich bei Eingriffen in das menschliche Gehirn bei der tiefen Hirnstimulation (THS, DBS)? Können mit einer medizinethischen normativen Analyse Kriterien zur Verbesserung der Handlungsregeln bei THS (DBS) gewonnen werden? II. Chirurgische Eingriffe als therapeutische Verfahren in der Neurologie und Psychiatrie 1. Historischer Überblick zur Neurowissenschaft 1.1 Von der Psychochirurgie zur Neurostimulation: Elimination versus Neuro-Modulation 1.2 Das Gehirn als Forschungsgegenstand Der Gegenstand der Hirnforschung ist das Hirn, „was sich unter der Schädeldecke befindet“ ... und das Hirn als Organ „mit funktionaler Bedeutung.“ Janich gibt zu bedenken, dass „weder das Hirn noch seine Teile Naturgegenstände, sondern hochkomplexe Konstrukte technischer und begrifflicher Bemühungen zu bestimmten wissenschaftlichen Zwecken“ sind.“ (Janich, 2009, S. 40 f) Aus Sicht des Medizinhistorikers wird die Seele seit dem 17. Jahrhundert „mit festen Strukturen des Gehirns in Verbindung gebracht.“ (Schott, 2002) Descartes (1596 – 1650) sah die Zirbeldrüse (Corpus pineale) als den Sitz der Seele an, und Th. Willis (1621 bis 1675) „verlegte das Seelenorgan noch eindeutiger in die festen Hirnsubstanzen (Schott, 2002, S. 1420) Der Gemeinsinn wird in die Streifenkörperchen, die Einbildungskraft in den Balken, und das Gedächtnis in der Hirnrinde lokalisiert („DreikammerModell“). Ende des 18. Jahrhunderts publizierte T. Soemmerring (1755- Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 4 1839) „Über das Organ der Seele“ eine Wiederauflage der Ventrikellehre, und wurde von I. Kant kritisiert mit dem Argument, dass sich „die Seele nicht selbst im Raum „anschaulich machen“ (könne), da sie sich hierzu selber zum Gegenstand ihrer äußeren Anschauung machen müsste, was sich widerspreche.“(zitiert in Schott, 2002, S. 1421). Große publizistische Erfolge gingen zur selben Zeit von dem Wiener Arzt Joseph Gall aus (1758 – 1828), der eine „Organologie“ des Gehirns entwickelte und postulierte, dass sich der „Schädelknochen seiner Form nach der Hirnoberfläche anpasst“, und somit lokalisatorische Passungen zwischen Fähigkeiten und Schädelformung („Kranioskopie“) bestehen. Von Johann Kaspar Spurzheim (1776 – 1832) wurde die „Schädellehre“ als „Phrenologie“ bezeichnet und erfreute sich zur damaligen Zeit eines gesellschaftlichen Amüsements. Die Bedeutung der „Phrenologie“ wird von Schott in deren Einarbeitung in die „physische Anthropologie“ des 19. Jahrhunderts mit der „Rassenbiologie und späteren Rassenhygiene“ gesehen, und „erstmals wurde die hirnphysiologische beziehungsweise anthropologische Bedeutung der Hirnrinde grundsätzlich anerkannt ... (was) “den Weg für die Lokalisation von Gehirnfunktionen bahnte ... und die hirnanatomische Ausrichtung psychiatrischer Forschung („Hirnpsy-chiatrie“) im ausgehenden 19. Jahrhundert einleitete.“ (Schott, 2002,S.1422) Zur gleichen Zeit wurde die Tiefenpsychologie, hervorge-gangen aus der „romantischen Naturphilosophie“ mit der Beschreibung des „Unbewussten“ (C.G. Carus) als Baustein der Psychoanalyse und der Psychosomatik begründet. Die „Gehirnhypothese“ (Platon, Hippokrates) war mindestens bis zur Renaissance (Vesalius 1514 – 1564) in Konkurrenz mit der „Herzhypothese“ (Aristoteles) bestimmende, und die Ventrikelhypothese von Galen (1. Jhd. N. Chr.) dominierte bis zu Descartes (1596 – 1650) (lokalisiert den Geist in die Epiphyse, die den Fluß der animalischen Geister in den Ventrikeln kontrollieren) die „Geist – Seele“ Vorstellungen. Tier – Mensch – Vergleiche und systematische Vergleiche von klinischen Anamnesen und Hirnbefunden (Wepfer 1620-1695) ermöglichten Spekulationen zu funktionell lokalisatorischen Bestimmungen. Insbesondere von den schottischen Philosophen Reid (1710-1796) und Steward (1753-1828), und von den Anatomen Gall (1758–1828) und Spurzheim (1776-1832), wurden die funktionellen anatomischen Strukturen, von denen nur die Sprachregion weiterhin ernsthaft beachtete wurde, beschrieben. Mit Lokalisationsstudien (Flourens 1794-1867) mit Gehirneliminationsstudien an Vögeln) wurden die Gehirnstrukturen funktionell ausdifferenziert, und das Großhirn als der Sitz der Intelligenz, das Cerebellum mit der Koordinationsfunktion und die Medulla oblongata als Grundprinzip des Lebens definiert (bei dessen Elimination der Tod eintritt). Von Bouillard (1796-1881) wurde der Frontallappen mit der Sprachfunktion korreliert, und M. Dax (1836) hielt einen Vortrag über die Sprachbewegung der linken dominanten Hemisphäre. P.Broca (1824-1880) betonte die linksseitige Hemisphärendominanz, zusammen mit Wernicke (1848-1904), sodass anatomische Studien mit klinischen Fallstudien korreliert wurden (Dejerine, Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 5 1892 definiert die Dyslexie; Liepmann, 1900 die Apraxie).4 Anfang des 20. Jahrhunderts, mit zunehmender akademischer Etablierung der „Neuropsychologie“ (der Begriff wird W.Osler (1913) zugeschrieben, H. Klüwer (1933), D.O. Hebb (1949) , kam es zu einer Relativierung der „Lokalisations–Theorie“ durch die „Äquipotenz–Theorie“ (H. Head, K. Goldstein, I. Pawlow, K. Lashley), welche mit Hilfe psychologischer Experimente mit Labyrinthversuchen die Unterteilung in Gehirnareale als bedeutungslos postulierte. Der „zelluläre Konnektionismus (J. HughlingsJackson,1835-1911) systematisierte das Nervensystem und etablierte dessen hierarchisch funktionell geschichtete Organisationsstruktur. (Kolb, 1993, Kandel, 1996, Dudel, 2001) Inzwischen wurden die lokalisatorischen Ansätze durch Netzwerkstruktur Hypothesen ersetzt, wobei je nach Problembewältigung und Input – Output Erfordernis synchronisierte Hirnaktivitätsmuster in wechselnder Arealbeteiligung aktiviert werden. (Singer, 2002) Parallel hierzu haben die technischen Entwicklungen zur „elektrischen Theorie“, zur „Neuronenhypothese“, zu den „Färbetechniken der Nervenzellen“, sowie die Entwicklung der „bildgebenden Verfahren“, sowie die Differenzierung der „Analyseebenen der Neurobiologie“, einschließlich der Computertechniken, entscheidend zum Erkenntnis-fortschritt beigetragen. Bereits S. Gray (1731) erkannte, dass der menschliche Körper elektrisch geladen werden kann, wobei A. von Humboldt (1769-1859) über die „animalische“ Elektrizität der Nerven publizierte. L.Galvani (1791) wird der Begriff der Bioelektrizität zuge-schrieben. Die elektrischen GehirnExperimente an Tieren (R. Caton, 1857), und die Studie „Über die elektrische Erregbarkeit des Cerebrum“ von G.T. Fritsch (1839-1929), E. Hitz (1838-1907), wurden 1929 klinisch von Hans Berger nutzbar gemacht („Über das Elektroencephalogramm des Menschen“). Seit 1936 wurden „elektromechanische Dualrechner“ von Louis Couffignal und dem deutschen Ingenieur Konrad Zuse (1910-1995) entwickelt, und im Interesse der Industrie und der Militärforschung weiterentwickelt. In der Nachrichtentechnik wird auf die „mathematische Theorie der Information“ von Claude Shannon und Warren Weaver (1949) Bezug genommen (Janich,2009, S.66) Insbesondere das „Konzept der programmgesteuerten Universalrechner“ (Alan M. Tuning (1912-1954) und die Weiterentwicklung zum „von-Neumann-Computer“ führte zur „Forschungsrichtung des „künstlichen Lebens“ im Sinne eines Computermodells des Lebens, wobei die enorme Entwicklung der Rechnerkapazitäten und der Rechnergeschwindigkeit zur Entwicklung „virtueller Welten“ beigetragen haben. (Mainzer,2010, S. 31 ff) Die Verbindung der Neuronentheorie des Gehirns mit der Kognitionswissenschaft basiert auf der „Neuronenhypothese“ von F. Fontana (1781), der die Nervenfasern aus der Gehirnmasse heraus-differenzierte, und Camillo Golgi (1875) gelang mit 4 Die bisherigen Ausführungen sind der Darstellung von DRÜHE-WIENHOLT, C. 1997. Geschichte und Entwicklung der Neuropsychologie. Neurol Rehabil, 76-81. entnommen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 6 der Silbernitratfärbung die histologische Darstellbarkeit der Nervenzellen, woraus sich die Neuronentheorie (Ramon y Cajal (1852-1934) anatomisch etablierte (der Begriff des Neuron wird W. Waldayer (1891) zugeschrieben. Die Technik des Mikroskopierens, die Herstellung und Beschreibung anatomischer und histologischer Präparate, bestimmten die Deutung und die medizinische Verwertung der Erkenntnisse vom menschlichen Gehirn. Bahnbrechend war die „Netzwerktheorie“ von Hebb (1949), der eine assoziative Lerntheorie einzelner Zellen, die gleichzeitig aktiviert werden, und hiermit ein funktionelle Netzwerk bilden, im visuellen System beschreiben konnte. W.McCullogh und W. Pitts (1943) führten den Begriff der „Informationsverarbeitung“ in Verbänden von Nervenzellen ein, wobei Rumelhart und McClelland (1986) „neuronale Netzwerke mit neurobiologischen und neuroinformationellen Aspekten“ in der neurowissenschaftlichen Diskussion weiterentwickelten. „Robotik und KIForschung bauen die ersten „Maschinen“ nach dem Design dieser Netzwerke.“ (Mainzer, 2010,S.238) Ca.1950 führte W. Penfield die Elektrostimulationen am Cortex von Epilepsiepatienten systematisch bei Operationen durch, und konnte das Modell eines sensomotorischen Homunculus beschreiben, was das funktionelle „Bild vom Gehirn“ in der neurologischen Praxis befruchtet hat. Der Schritt von der histologisch anatomischen cytoarchitektonischen Methode von Korbinian Brodmann (1908) (52 Areale oder Felder des menschlichen Gehirns) (Kandel, 1996) bis zu dem „Gehirn-Atlas im Internet“ zeigt den technischen und methodischen Fortschritt, ermöglicht durch die anwachsenden Speicherkapazitäten und Rechnergeschwindigkeiten der nun folgenden Computer Generationen. „The BrainSpan Reference Atlases are full-color, highresolution, Web-based digital brain atlases accompanied by a systematic, hierarchically organized taxonomy of developing human structures.“(www.brain-map.org) Die gewählten Visualisierungsverfahren, die experimentell gewonnenen Daten der kognitiven Neurowissenschaften und deren Generalisierbarkeit, sowie die Anwendung der Forschungserkenntnisse in der medizinischen Praxis bedürfen einer eingehenden kritischen erkenntniswissenschaftlichen Bearbeitung, zur Vermeidung von Fehlschlüssen. (Huber, 2009b) Molekurlarbiologische, genetische, anatomische und Verhaltens,Entwicklungsaspekte werden zusammengeführt und sind für wissenschaftliche Fragestellungen zugänglich. Die Kombination bildgebender Verfahren (MRT, fMRTI, PET) mit moderner Computertechnik (Algorithmen) soll es ermöglichen mit Hilfe der Hirnaktivität („Brain Reading“) die Gedanken von Probanden zu lesen. Die finanziellen Ressourcen und Interessen sind vorwiegend außerhalb der Universitäten. Aufschlüsse für bestimmte Krankheitsdispositionen, aber auch die Abdeckung versicherungswirtschaftlicher und militärischer Interessen sind möglich. (Haynes, 2007, Clausen, 2009) Die funktionelle Bildgebung des Gehirns (fNMRI, PET u.a.) ist inzwischen zum Standardverfahren der neurokognitiven Forschung in der Psychiatrie (Spitzer, 1998) geworden, in Kombination mit der Genetik („imaging genetics“) und der Informatik („computational neuroscience“), um psychopathologische Zusammenhänge bei neuro-psychiatrischen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 7 Krankheiten besser erklären und behandeln zu können. (Walter, 2013) Zur Frage der Menschenwürde und den anthropologischen Herausforderungen ergeben sich hieraus neue kritische Analysen. (Goldberg, 2013) „Komplexe Netzwerke und Cyberphysic Systems durchdringen bereits unseren Alltag und unser Leben. Sie sind die Maschinen, mit denen die Menschheit in einem Superorganismus zusammenwächst.“ (Mainzer, 2010, S. 235) Rheinberger lässt in seiner „Epistemiologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie“ das Zusammenspiel von „wissenschaftlichen Instrumenten“ und den „wissenschaftlichen Gegenständen“ eindrucksvoll nachvollziehen. (Rheinberger, 2006) Gedanklich wurde im „Substanzdualismus“ Descartes (1596 – 1650) (ontologischer Dualismus mit einer unsterblichen Seele) der menschliche Körper und mit ihm das Hirn frei gegeben für eine beobachtende analytische Zugehensweise, wie sie von dem französischen Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie („Die Maschine Mensch“, 1751) theoretisch gegründet auf Mechanik (Physik), Chemie, Anatomie und Physiologie ausformuliert wurde (monistischer Materialismus). Somit wurden Maschinen und Automaten („ein Apparat, der selbständig Leistungen vollbringen kann“ ebd., S. 19) im 17. Und 18. Jahrhundert „ein bekanntes Deutungsmuster der Natur.“ (Mainzer, 2010, S.18) Eine Reduktion des Lebendigen auf die Mathematisierung ist mit der traditionellen Anschauung von Aristoteles (384-322 vor Chr.) und einer Betrachtung des Lebens unter der Selbstorganisation (Teleologie) nicht zu vereinbaren, was für die medizinischen Konzepte bis zur Renaissance bestimmend war. Die Kritik von Imanuel Kant (1724 – 1804) sieht in der Determiniertheit des mechanistischen Weltbildes keinen Platz für die menschliche Willensfreiheit und für autonom verantwortetes Handeln mit Pflichten, im Sinne einer Urheberschaft in Willensfreiheit, mit der Gefahr einer Instrumentalisierung des Menschen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dies von den „romantischen Naturphilosophen“ (Friedrich Wilhelm Schelling (1775 – 1854) aufgegriffen, die „Organisation und Reproduktion als Kennzeichen des Lebendigen herausstellen.“ (Mainzer, 2010,S.27) Die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882), der die Idee von Herbert Spencer (1820-1903) und Jean-Baptist de Lamarck (1744-1829) vom Durchsetzungsvorteil einer Art durch biologische Fitness (Selektionsvorteil) aufgriff, passte sich in die Zeit des Frühkapitalismus und der massenhaften Verelendung der unterprivilegiert Schwachen der Gesellschaft ein (Sozialdarwinismus nach Ernst Haeckel (1834-1919). Eine Brutalisierung durch die „Trias von Therapie, Eugenik und Euthanasie“ bei der Hirnforschung (Hugo Spatz, Julius Hallervorden, Wilhelm Tönnis, u.a.) und die Anstaltsverwahrung psychiatrischer und neurologischer Patienten bereitete die Vernichtung „unwerten Lebens“ in der NS–Zeit vor. Bereits von Benedict-Augustine Morel wurde das „Konzept der Degeneration“ (1857) aus der Zoologie mit der „Sozialhygiene“ verbunden, und später von den „Eugenikern“ aufgegriffen. „Von Sozialhygienikern, die ent-schlossen waren, „Schwachsinn“ durch Sterilisation auszurotten, und von faschistischen politischen Kräften, die darin eine Chance sahen, ihren gewaltigen Haß gegen „entartete“ Gruppen wie Juden und Homosexuelle Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 8 auszuleben.“ (Shorter, 1999,S.155) Von dem Mediziner Alfred Ploetz (1860 – 1940) wurde der Begriff „Rassenhygiene“ gebraucht, „um das Vorhaben, die gesunde „Vitalrasse“ zu erhalten und durch Selektionsmaßnahmen im Sinne der „natürlichen Auslese“ das „Rassenwohl“ zu fördern.“ (Schott, Tölle, 2006, S.110).Über 260 000 Patienten fielen einer industriellen Vernichtung unter Mithilfe der Ärzte zum Opfer. Besondere Möglichkeiten eröffneten sich für die an der typologischen Untersuchung von Hirnen interessierten Forscher (Vergleich von kranken und „Elitegehirnen“) durch den Zugang zu Drittmittel-förderungen (Militär). Ursprünglich war das Forscherehepaar Oskar und Cécile Vogt an der Zuordnung von Rindenfeldern zu bestimmten Hirnfunktionen mit dem Ziel einer „Feinanalyse der individuellen Physiognomie der Hirnrinde“ interessiert. Die Auslese und Vernichtung „unwerten Lebens“ nach klinischen Beobachtungen gab den beteiligten Ärzten die Möglichkeit die Hirne der getöteten zu untersuchen. „Dies setzte voraus, dass sich die beteiligten Forscher über elementare allgemein- und berufsethische Normen hinwegsetzten.“ (Schmuhl, 2001, S. 1240)5 Nach dem zweiten Weltkrieg fanden bioethische Prinzipien (Beauchamp, 2009) und die Leitidee der Menschenwürde (Joerden, 2013) und das bioethische Prinzip der Autonomie (informed consent)(Breitsameter, 2011) in der biologischen Forschung und in der medizinischen Praxis zunehmende Bedeutung. (Synofzik, 2004, Birnbacher, 2006, Beauchamp, 2009, Schulz, 2006, Wiesing, 2010, Paul, 2013) Mit dem Eindringen der Neurowissenschaften in wissenschaftliche Bereiche der Philosophie, Jurisprudenz, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, und der öffentlichen Präsentation der empirischen Befunde als Evidenzen, wächst die Verwobenheit und Überlagerung mit individuellen (partikularen) Interessen. Bewusstsein, Kognition, Willensfreiheit, Schuldfähigkeit, Autonomie und Determiniertheit, das Menschenbild, werden zur Disposition gestellt. (Metzinger, 2005a, Pauen, 2004, Herrmann, 2005, Singer, 2002, Searle, 2004, Damasio, 2006, Dennett, 2010, Roth, 2007, Nagel, 2013, Janich, 2009) Eine wissenschaftstheoretische Einordnung der Hirnforschung kann hier nicht geleistet werden. Soweit nachvollziehbar waren bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die „Erfahrungswissenschaften neben ihren eindrucksvollen Erfolgen in eine Vielzahl von Grundlagenkrisen geraten ... (und) „haben die Aufmerksamkeit der Fachwissenschaften auf ihre eigenen begrifflichen Grundlagen und empirischen Methoden gerichtet.“ (Janich, 2009 , S.140f) Von dem Labormediziner Ludwik Fleck (1935) wurde eine Begriffsanalyse der „wissenschaftlichen Tatsache“ mit deren historischer und 5 Kölner Stadt Anzeiger vom 02.09.2014: Gedenkort in Berlin . Denkmal für Euthanasie- Opfer enthüllt (Katja Tichomirowa): „In Berlin erinnert seit Dienstag ein Denkmal an die Opfer der Euthanasie im Nationalsozialismus ... Denn von Berlin-Tiergarten ging die Ermordung von mehr als 200.000 Menschen aus ... Die Überlebenden der Aktion T4 wurden nach 1945 ein weiteres Mal zu Opfern, diesmal der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz, die bei Entschädigungsregelungen das „Erbgesundheitsgesetzt“ der Nationalsozialisten noch als Rechtsgrundlage betrachtete.“(http://www.ksta.de/politik/-dedenkort-in-berlin-denkmal-fuer-ehthanasie-opfereingeweiht,15187246,28293762.html, aufgerufen 07.09.14 09:21); Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 9 gesellschaftlicher Bedingtheit für die Wissensproduktion empirischer (naturwissenschaftlicher) Befunde beschrieben, und von Thomas S. Kuhn (1962) in einer „Historisierung und Soziologisierung der Wissenschaftsgeschichte als Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen und der Paradigmenwechsel“ aufgegriffen. (Janich, 2009, S.142)6 Dem „tief greifenden Wandel in Forschungspraktiken“ seit dem 20. Jahrhundert geht Paul für die Biomedizin und Lebenswissenschaften nach, indem er die Rationalitäten der Wissenschaftsproduktion (Gegen-stände, Hypothesen, technologische Rationalitäten, informationelle Realitäten, Rationalitäten des Interesses) einer kritischen Analyse unter-zieht, und insbesondere auf die „wachsende Entfernung der Forschungs-praxis von der Alltagswelt, die zunehmende Virtualisierung aber auch die wachsende Selbstreferenzialtiät“ und die „extern, sozial und politisch eingebetteten Verfahren“ empirisch biologischer Befundgewinnung, und deren „Nützlichkeit und Relevanz“, hinweist. Hierdurch ergeben sich Veränderungen der Konzepte Gesundheit, Krankheit und Lebensqualität und der medizinischen Praxis auf die Schramme ebenso hinweist. Auf die Perpetuierung naturalistischer Fehlschlüsse wird eingegangen. (Paul, 2006, Paul, 2009, Schramme, 2012) Die „empirischen Befunde“ zur Hirnforschung lassen sich entsprechend den historisch–gesellschaftlich bedingten methodisch-technischen Möglichkeiten von einem tastbaren, schneidbaren, tragbaren und beobachtbaren „natürlichen“ Hirn im Sinne eines anatomisch – klinischen Blicks, zu einem zunehmend unter Laborbedingungen kontrollierten, gesteuerten und für bestimmte Zwecke (insbesondere mit vorwiegender Anwendungsorientierung) „technisch hergerichteten“ Gehirn nachvollziehen. („Biofakt“, Karafyllis, 2005). (Müller, 2009, Huber, 2009a) 1.3 Chirurgische Eingriffe in das Gehirn: Historischer Überblick zur Psychochirurgie und Hirnmodulation Historisch sind Eingriffe in das Gehirn seit 2500 bis 3000 v.Chr. auf Papyrusrollen aus Ägypten mit 48 Fallstudien von traumatischen Hirnläsionen dokumentiert, und Trapanationen wurden von Schamanen ritualisiert ausgeführt. (Kolb, 1993, Robinson, 2013). „Since the beginning of human existence, the desire to modify human behavior and consciousness through indirect or direct physical intervention has been a „holy grail.“ (Robison,R.A.u.a., 2013, S.2) Läsionsstudien im 18. Und 19. Jahrhundert (Flourens, 1794, Bouilland, 1796, Dax, 1836) sowie das zusammenbringen „fester Strukturen des Gehirns“ mit der „Seele“ seit dem 17. Jahrhundert (Schott, 2002), „phrenologischen Studien“ von F.J.Gall (1819), und die programmatische 6 1Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Basel: B. Schwabe 1995; Thomas S. Kuhn, Historical Structure of Scientific Discovery, Science 136 (1962), 760-764.) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 10 Aussage „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ (Wilhelm Griesinger (1817-1868)7 bilden u.a. den historischen Hintergründe für die experimentelle klinische hirnchirurgische Forschung an psychiatrisch Kranken. (Griesinger, 1845) Die Sozialgeschichte der Psychiatrie (Dörner, 1969) lässt die Einbettung der Behandlung von seelischen Krankheiten in die sozio–ökonomischen Lebensbedingungen und die vorherrschenden gesellschaftlich akzeptierten Normen im zeitlichen Wandel nachvollziehen. Insbesondere die Befreiung der Kranken aus den Ketten und die Forderung nach einem „traitement moral“ oder auch „regime moral“ (aus heutiger Sicht weiterhin brutal anmutende Methoden) von Pinel (1745-1826) und dessen Schüler Esquirol werden als Landmarken eines „humaneren Umgangs“ mit den seelisch Kranken angeführt. Die Psychiatrie ging seit Anbeginn in zwei Richtungen. Einerseits die biologische Ausrichtung mit der Erforschung der Anatomie, Chemie und der Medikation und der biologischen Behandlungen im Sinne einer Neurowissenschaft, und andererseits die sozialpsychiatrische Ausrichtung, die sich den psychosozialen Zusammenhängen, den persönlichen Geschichten, und den „seelischen Nöten“ der Patienten widmeten (Johann Christian Heinroth als erster psychiatrischer Lehrstuhlinhaber in Leipzig 1811). „Die psychosoziale Sichtweise entwickelte Heinroth aus seiner Fixierung auf Moral und Sünde.“ (Shorter, 1999, S.57) Anderseits befasste sich der Neurologe Paul Flechsig (1877) als dessen Nachfolger in Leipzig insbesondere mit der Gehirnoberfläche und der Einteilung in die Sinnes- und Assoziationsfelder. Um 1800 gab es noch wenige Asyle für Geisteskranke („IrrenHeilanstalten“), und diese waren meist in ländlichen Gebieten angesiedelt, weit weg von den Universitätskliniken, was sich in der folgenden Zeit änderte, und diese sollten „als Schauplatz der angewandten Psychiatrie“ eine „zentrale Rolle“ spielen. (Shorter, 1999, S.61). „Wo die neurowissenschaftliche Psychiatrie immer mehr pathologische Zustände entdeckte, sieht die sozial-psychiatrische ein gesellschaftliches Universum, das Abweichungen immer weniger toleriert.“ (Shorter, 1999,S.59) Die „empirische naturwissenschaftlich-medizinische Fundierung der Psychiatrie setzte um 1800 mit der französischen Schule ein. Antoine Bayle erhob die ersten Befunde zur Klärung einer Hirnkrankheit ... später progressive Paralyse genannt wurde.“ (Schott, Tölle, 2006, S.80) Der Begriff Neurologie geht auf Thomas Willis (1621-1675) zurück. In Deutschland wurde die Fachbezeichnung von Moritz Romberg (1795-1873) und Hermann Oppenheim (1858-1919) (Neurologie, Nervenheilkunde) eingeführt, und die Bezeichnung „Nervenarzt“ entstand um 1900. Die akademischen Fächer Neurologie und Psychiatrie entwickelten sich in der folgenden Zeit in Deutschland je nach schulischer Ausrichtung mit einer oder getrennter Professur mit Vorteilen (fachlich verwandte Fächer arbeiten 7 „Der biologischen Ausrichtung der Psychiatrie hat Griesinger zum Durchbruch verholfen und dem somatischen Faktor in Ätiologie und Diagnostik psychischer Krankheiten seinen Stellenwert zugewiesen. Die biologisch-psychiatrischen Thesen Griesingers werden im Allgemeinen als seine größte, wenn nicht gar einzige Leistung hingestellt. Der dabei häufig zitierte Satz „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ kommt jedoch in Griesingers Schriften nicht vor. „ (Schott, Tölle, 2006, S. 70) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 11 zusammen) und Nachteilen (Anwachsen des spezifischen Fachwissens). (Schott, Tölle, 2006, S. 91ff) Die technischen Fortschritte neurochirurgischer Methoden, die Etablierung der Psychiatrie und Neurologie als medizinische Wissenschaften, die gesellschaftlichen Forderungen einer gesundheits-ökonomischen Ausrichtung der Krankenbehandlung, ermöglichten (Übergang zum 19. Jahrhundert) in Europa und in Amerika die Erforschung des Zusammenhangs zwischen anatomischen Hirnstrukturen und deren Funktion.(Mashour, 2005) In den Anfängen wurde die Psychiatrie auf die Neurologie begründet und biologische Ansätze dominierten. Mit Hilfe klinischer – anatomischer Studien versuchte u.a. Carl Wernicke (1881) die Symptome psychiatrischer Patienten bestimmten Regionen des Gehirns ohne hinreichende Aussagekraft zuzuordnen. Im sozioökonomischen Kontext einer ansteigenden Zahl von asylierten Patienten (1937 in den USA 450.000 Patienten in 477 Anstalten) und den damit verbundenen finanziellen Belastungen, so wird von Shorter (1999) und Robison u.a. (2013) argumentiert, werden neben den funktionellen Ansätzen im Anschluss an S. Freud (1856-1939), insbesondere die somatisch therapeutischen Ansätze im Anschluss an Emil Kraepelin (1856 – 1926) (Insulinschock, Metrazol induziertes Koma, Malaria Kuren, Elektroschocktherapie) wegen deren relativ einfachen und kostengünstigen Handhabung breit eingesetzt. Auf das Schicksal der Asylinsassen und die soziologischen und sozialpsychologischen Hintergründe (Stigmatisierungen), sowie die damit verbundene Beschä-digung der „Identität“ der Patienten wird zu einem späteren Zeitpunkt in den Darstellungen von Goffman kritisch eingegangen. (Goffman, 1973, Goffman, 2010) Die Entfernung von „spezifischen Cortexarealen“ wurde von dem schweizer Psychiater Gottlieb Burckhardt (1888) als „Psychochirurgie“ an sechs „unbehandelbaren“ (aggressiven) psychiatrischen Patienten als „topectomie“ (Temporal, und Parietallappen) durchgeführt. Es wurde lediglich von drei erfolgreich operierten Patienten berichtet, zwei mit teilweisem Erfolg, und einem tödlichen Ausgang. 1910 publizierte der estische Neurochirurg Lodovicus Puusepp drei Eingriffe an manischen Patienten mit einer Durchtrennung der Hirnstrukturen zwischen dem frontalen und parietalen Hirnlappen. Alle drei Patienten verstarben. Die Berichte stießen auf heftige Kritik nach deren Präsentation auf Kongressen (von einer Publikation wurde abgesehen) und das Vorgehen wurde angeblich nicht weiter fortgeführt. (Robinson, 2013) Der Wegbereiter der „frontalen Lobotomie“ John Farquhar Fulton und sein Mitarbeiter Carlyle Jacobson (1930) erforschten die „Landkarte des Primatenhirns“ und stellten die Ergebnisse auf dem zweiten Internationalen Neurologen Kongress 1935 in London vor. Sie entfernten unilateral und dann bilateral den frontalen Cortex an zwei Schimpansen und notierten als Resultat, dass die Primaten kein emotionales Verhalten mehr zeigten und keine Frustration zeigten, wenn ihnen Nahrung vorenthalten wurde. (Robison, 2013, S.6) Der portugiesische Neurologe Antonio Egas Moniz („leucotomy“) (Nobelpreis 1949), und der Neurochirurg Almeida Lima Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 12 initiierten, zusammen mit dem amerikanischen Neuropsychiater Walter Freeman und dem Neurochirurgen James Watt (1936) („lobotomy“), in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die frontale Lobotomie an psychiatrischen Patienten. Freeman praktizierte bis in die siebziger Jahre mit spektakulären Auftritten (prominenten Patientinnen) ohne Beachtung hygienischer Bedingungen, mit brachialen „Eispickeln“ („ice-pick orbitoclast“) ohne Narkose, teilweise in Motels, indem er transorbitale Zugänge („transorbital lobotomy“) wählte, und dies für jeden praktizierenden Arzt zugänglich machen wollte. Freeman unternahm postmortale Studien und stellte fest, dass es bei den behandelten Patienten zu einer „retrograden Degeneration „in spezifischen Thalamuszentren gekommen ist, sodass die „white matter tracts distributed between the frontal lobes and projecting to the thalamus and other areas of the cortex“ die spezifischen Eingriffsziele darstellen.“ (Robison, 2013, S.7) Zwischen 1936 bis 1956 wurden geschätzte 60.000 Eingriffe in den USA und ca 10.000 in Great Britain durchgeführt. „Even John Fulton, on whose original work the procedure was based, acknowledged the potential benefits, arguing that appropriate use of psychosurgery could save American taxpayers $ 1 million per day...asking (Freeman) at one point, „Why not use a shot gun?“ (Robison u.a., 2013, S. 8f) Adler definiert die „Psychochirurgie“ als „chirurgische Eingriffe am Gehirn zum Zweck der therapeutischen Beeinflussung von Erleben/Verhalten.“ (Adler, 1979, Adler, 2004) Die läsionellen lokalisatorischen Eingriffe wurden bei „nahezu allen psychischen Krankheiten“ ... „in den Mutterländern der Demokratie“ (Adler, 2004) eingesetzt. Neben der Lobotomie, der Ausschaltung des frontalen Hirnteils, wurde die Amygdala entfernt. Es wurden drei verschiedene Formen von Lobotomien durchgeführt, die Minimale, die Standard, und die Radikale. Die minimale Lobotomie wurde bei Patienten mit „affektiven Symptomen“, und die radikale Lobotomie (posterior und medial) bei schizophrenen Patienten und „treatment failures“ indiziert. Häufig kam es zu unkontrollierten Blutungen, insbesondere bei den medialen und posterioren Lobotomien, die häufig einen tödlichen Ausgang nahmen, „as well as a constellation of associated neuropsychiatric changes, including seizures and what was described as the „frontal lobe syndrom,“ consisting of apathy, inattention and socially inappropriate behavior.“ (Robison, 2013, S.8) 1942 publizierten Freeman und Watts bei 200 behandelten Patienten 63% postoperative Verbesserungen, 23% ohne Veränderungen, und 14% mit negativem Ausgang. „Psychochirurgie“ wird somit verstanden als ein chirurgischer Eingriff in das „gesunde (intakte) Gehirn, die das Ziel verfolgte, psychische Symptome zu bessern.“(Meier, 2009, S.67) Die Indikationen zur Lobotomie wurden von Moniz bei Zwangskranken und agitierten Depressionen gestellt (ursprünglich bei Privatpatienten für die keine Hospitalisierung erforderlich war), wobei die Methode dann in staatlichen psychiatrischen Insitutionen bei chronischen schizophrenen Patienten eingesetzt wurde. Im Unterschied zu den amerikanischen Indikationsstellungen im frühen Stadium der psychotischen Erkrankung, wurde im deutschsprachigen Raum, wegen der hohen Eingriffsrisiken, der relativ hohen Mortalitätsrate , sowie den Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 13 Persönlichkeitsveränderungen, „nur“ bei chronischen Kranken operiert. (Meier, 2009, S.72) Ausgang zur Indikationsstellung war allerdings nicht die Diagnose, sondern das Krankheitssymptom der „affektiven Spannung“, einhergehend mit einer „Anpassungsstörung“ an die institutionellen und sozialen Umwelt-erfordernisse.8 „Primäres Ziel des psychochirurgischen Eingriffs war, psychisch Kranke wieder an die Ordnung inner- und außerhalb der Anstalt anzupassen und sie zu integrieren, wobei Arbeit und Erwerbsfähigkeit, aber auch Pflegeaufwand und Zusammenleben in der Klinik eine zentrale Rolle spielten.“(Meier, 2009, S.76) Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs, so argumentiert M. Meier,(2009), setzte sich ein neuer „Denkstil“ mit einem veränderten „Selbstkonzept“ in der Psychiatrie durch, wobei nicht mehr von „abstrakten Krankheitsbildern“ sondern von „Einzelschicksalen“ ausgegangen wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden technische Neuerungen in die „Psychochirurgie“ eingeführt. Insbesondere wegen der ungünstigen Nebeneffekte der läsionellen Eingriffe in das Gehirn (hirnorganische Anfälle, Gewichtszunahme, Inkontinenz, Persönlichkeitsveränderungen), sowie der Unzufriedenheit mit der Wirkung der ersten Neuroleptika (Chlorpromazins, Resperpin) kam es zu einem häufigeren Einsatz neuerer weniger zerstörender Eingriffe. Die „stereotaktische Lokalisation“ von Hirnstrukturen und die Thermokoagulation des anvisierten Gehirngewebes war aufgrund der verbesserten bildgebenden Verfahren und der verbesserten neurochirurgischen Techniken (Stereotaxie) möglich. 9 Diese konnte an die Stelle der Leukotomie seit 1964 die Subcaudatus-Tractotomie, die Cingulotomie (1951), die anteriore Capsulotomie (1949) und als deren Kombination die „limbische Leukotomie“ (1973) treten. Anhaltende Müdigkeit, Verwirrtheitszustände werden als Nebenwirkungen der Eingriffe weiterhin dokumentiert. Insbesondere die Irreversibilität der Hirnzerstörung, sowie die unbefriedigende und unzureichende Transparenz der Studien,- und Behandlungsberichte, das reduktionistisch eindimensional organische Erklärungsmodell psychischer Erkrankungen limitieren die Rechtfertigung der neurochirurgischen Hirnoperationen. „Diese psychochirurgischen Methoden haben gegenwärtig noch ein begrenztes Indikationsgebiet ... bei schweren affektiven Störungen, Zwangsstörungen und auch Angststörungen, wenn alle somatotherapeutischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten ergebnislos angewandt 8 „Anpassung (engl. adaption, adjustment) ... mit dem allgemein der Prozeß der Erreichung von Störungsfreiheit und den Verhältnissen von Lebewesen zu ihrer natürlichen bzw. sozialen Umwelt beschrieben wird.“(Mittelstrass, J (Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1, 1995, BdI, S. 119) 9 „Das Wort Stereotaxie beschreibt eine minimal invasive operative Behandlungsmethode, die es dem Neurochirurgen erlaubt, nach bildgesteuerter, computerassistierter Berechnung mit Hilfe eines Zielgerätes jeden beliebigen Punkt innerhalb des Gehirns hochpräzise zu erreichen.“ Es wird zwischen der onkologischen und der funktionellen Stereotaxie, die „sich im wesentlichen der hochfrequenten Tiefenstimulation (DBS) nach Implantation geeigneter Stimulationssysteme (bedient), unterschieden. (Http://neurochirurgie.ukkoeln.de/de/stereotaxie/operationsbereich aufgerufen 12.09.2014) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 14 worden sind.“ (Schott, Tölle, 2006, S.479)10 Angesichts der weiterhin unbefriedigenden Versorgungsangebote für psychiatrische Patienten muss das Kriterium der Therapieresistenz weiterhin kritisch bewertet werden. „Vor allem in Deutschland wurde die Psychochirurgie gezielt bei abweichendem Sexualverhalten durchgeführt, so etwa (auf eigenen Wunsch) bei Homosexuellen oder bei strafgefangenen pädophilen Triebtätern, die damit einer Sicherheitsverwahrung entgingen.“ (Stier, 2006,S.223f.) Lassen sich derartige medizinische Interventionen aus heutiger Sicht noch legitimieren? Verbesserungen der sozialpsychiatrischen Interventionsmöglichkeiten und Auflösung der Heilanstalten und psychiatrischen Großkliniken, sowie das Engagement zur Verbesserung des Schutz der Patienten vor ungerechtfertigten Übergriffen in deren Bedürfnisse und deren Integrität (Psychiatrie-Enquete) führten seit den 1960iger Jahren zu einer Diskreditierung somatisch verstümmelnder medizinischer Interventionen bei psychisch Kranken. Auf den ersten Lehrstuhl für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie wurde 1980 Herr Professor Dr. K. Nittner an der Neurochirurgischen Klinik der Universität zu Köln berufen, nachdem die Abteilung für Sterotaxie und Funktionelle Neurochirurgie 1970 gegründet wurde, zusammen mit der Arbeitsgruppe „Medizinische Physik.“ Während sich die stereotaktischen Eingriffe bei onkologischen Erkrankungen, bei neurologischen Bewegungsstörungen, Schmerzstörungen, Epilepsieerkrankungen in verschiedenen Zentren zunehmend etablierten, ist die Indikationsstellung bei psychiatrischen Erkrankungen weiterhin im innovativen Forschungsstadium angesiedelt. Mit der verbesserten neurochirurgischen Technik (Minimalisierung, Verbesserung der Zielgenauigkeit) ist die Forderung nach einer Reversibilität der Intervention eher realisierbar geworden. 1.3.1 Die Tiefe Hirnstimulation (DBS) Bei der tiefen Hirnstimulation (Deep brain stimulation, DBS) werden die Elektroden (internes Interface) in der Regel beidseitig (bilateral) im Bereich der Basalganglien stereotaktisch gezielt bei dem wachen Patienten lokalisiert. Es wird ein eng umgrenzter Hirnbereich stimuliert (moduliert) um „die pathologisch veränderten Erregungsmuster zu beeinflussen“ (Clausen, 2011, S. 15), und damit „zentrale neurologische Kreisläufe durch elektrische Stimulation moduliert“ (Schläpfer u.a., 2014, S.135). Über vier getrennt ansteuerbare Elektrodenkontakte werden Hirnstrukturen angesteuert, deren Frequenz - Einstellung über einen Impulsgenerator (Implantation im Brust- oder Bauchbereich) erfolgt. In der Diskussion sind die Zielpunkte ventraler intermediärer Kern (VIM) des Thalamus, der Globus pallidus 10 Psychiatrische Chirurgie- auch funktionale Neurochirurgie-bezeichnet operative Eingriffe in das Gehirn zur BBeeinflussung der Psyche. Beide Begriffe werden heute in Abgrenzung gegen die ältere und vorbelastete Psychochirurgie verwendet, die mit eher groben Verfahren wie der Lobotomie oder der frontalen Leukotomie operierte.“(Stier, 2006, S.220) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 15 internus (GPI), der subthalamische Kern (STN), sowie die Anzahl der Elektroden und die Stimulationsfrequenz (Hochfrequenz > 100 Hz; niedrigfrequent 60 Hz. (Benabid, 2007) „Die Rationale der THS beruht auf der zunehmenden Erkenntnis, dass eine reine neurologische oder psychiatrische Symptombildung auf Netzwerkstörungen der normalen Informationsvermittlung beruht, die durch eine Neuromodulation korrigiert werden können. Wegweisend war die Aufklärung der neuronalen Dysfunktion der Basalganglien-Kortex-Schleife ... im Sinne von „Rhythmusstörungen“ des Gehirns, die ganz ohne morphologischstrukturelle Veränderungen auftreten können ... deren „elektrochemische Natur der Informationsverarbeitung im Nervensystem lange bekannt ist.“ (Schläpfer u.a., 2014, S.135) Die „constant voltage“ Technik wird seit über 25 Jahren eingesetzt, mit den Anfangen in der Schmerztherapie als rückenmarksnahe Stimulation, und trotz des frühen Entwicklungsstadiums wurden bereits über 100.000 Patienten weltweit mit der TSH behandelt. Vermittelt wird der „therapeutische Effekt“ im Zielgebiet durch den fließenden Strom. „Der hierbei wesentliche Parameter für die Messung des Therapieefektes ist das aktivierte Gewebsvolumen. Das sog. „volume of tissue activated“, VTA) ... noch nicht messbar, kann aber durch mathematische Verfahren näherungsweise bestimmt werden.“ (Vesper, Slotty, 2014, S. 171) Es bildet sich in den ersten Wochen der Elektrodenimplantation eine Mikrogliaaktivierung und ein Flüssigkeitsfilm mit einer anschließenden Gliose, sodass sich die Impedanz verändert mit dem Problem der „Überstimulation“, was durch entsprechende einzelne Ansteuerung der Elektroden und eine Impedanzkompensation (cave Ausfall einzelner Kontakte) weitestgehend vermieden werden kann, damit der Stromfluss über die Zeit konstant erfolgen kann. Forschungsgegenstand sind die Prognostizierung des THS Effektes als Funktion der Stimulationseinstellungen (direktionale, segmentierte Elektrodenvarianten) um die räumliche Ausrichtung und verbesserte elektrische Feldmodulation zu erreichen. Hierdurch soll eine verbesserte Kontrolle der „Nebenwirkungen durch Beeinflussung benachbarter Strukturen“ erreicht werden, da bekanntlich die ventrale Ausbreitung des elektrischen Feldes im Nucleus subthalamicus (STN) limbische Fasern aktiviert und damit zu „Stimmungsveränderungen und Impulskontrollstörungen“ führt, bei lateraler Ausbreitung (kortikobulbärer Trakt) Dysarthrien und Gang-störungen stimuliert werden, sowie bei medialer Ausbreitung (Lemniscus medialis, N.occulomotoris Kerne) Mißempfindungen und Augenbewegungsstörungen induziert werden. Bei allen heute verfügbaren technischen Systemen ist die „Präzision und Stabilität der Therapie in unterschiedlichem Maße beschränkt“: Elektrodenabstand (0,5mm; 1,5 mm); Elektrodenkontakte von einer einzigen Stromquelle gespeist; Programmierung starrer Parameter. (Vesper, Slotty, 2014, S.169f) Durch die Ausweitung der Indikationsstellungen auf psychiatrische Erkrankungen und Epilepsien sowie jüngere Patienten, Veränderung der Zielstrukturen („Faserbündel als funktionelle Zielstrukturen“) ergeben sich bisher ungelöste Anforderungen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 16 an die neuen Techniken (längere Laufzeiten der Generatoren und längere Haltbarkeit der Hardware) mit Verbesserungen des Entladungsschutzes, Einsatz wiederaufladbarer Systeme, Verbesserung der Datenerfassung und der Programmierbarkeit, der Datenspeicherung. Bei der traditionellen Programmierung wird mit dem Versuch-Irrtums–Vorgehen die individuelle postoperative Einstellung zu erreichen versucht. Neuere Systeme (visualisierte Programmierung) fusionieren die präoperative MRT – und postoperative CCT Bildgebung mit „integrierten Atlasdaten („digitaler standardisierter Stereotaxieatlas - Morel-Atlas“) und sollen eine Verbesserung der Prognose der THS und einen konstanteren Stromfluss ermöglichen. Sieh hierzu die kritischen Ausführungen. (Huber, 2009a, Bennett, 2010a, Böhme, 2008) Durch eine „Interleaving-Stimulation“ (hochfrequent wechselnde Stimulation, zwei alternierende Programme; differenzierte Elektrodenkontaktansteuerung mit differenzierten Impulsbreiten,- und Amplituden und Spannungen), einer Verbesserung der Zielansteuerung (bis zu 8-poligen Elektroden) wird eine Individualisierung und „Verbesserung des klinischen Outcomes“ technisch angestrebt. Entscheidenden Beitrag zur stereotaktischen Ziel-regionsbestimmung hat die Bildgebung (MRT, CCT, PET,fNMRI)11 erbracht, so dass die Komplikationen durch das Verfahren wie Blutungen und Verletzungen von Hirnstrukturen reduziert werden konnten. Zusätzlich spielt die Bildgebung bei der „postoperativen Verifizierung der Elektrodenlage“ eine „zunehmende Rolle,“ wobei die MRT- Gängigkeit der TSH–Systeme (Reduzierung ferromagnetischer Elemente) und die Entwicklung sogenannter „closed-loop-systeme“12 in die Zukunft weisen. (Vesper, Slotty, 2014,S.173f) Die sicherheitstechnischen Anforderungen des Gesetzgebers (Medizinproduktegesetz mit der höchsten Risikoklasse III, Europäische Richtlinien) an Neuroimplantate werden bezüglich der „Zielsetzung ingenieurwissenschaftlichen Handelns, mit den Anforderungen an Material, „bioinertes Verhalten des Körpers“, technischer Funktionalität und zukünftiger Möglichkeiten (Nanotechniken) von Stieglitz eingehend diskutiert. (Stieglitz, 2009)13 Es drängen sich bei der Darstellung der technischen Möglichkeiten der TSH anthropologisch–ethische Fragen auf. Angesprochen werden müssen somit die Fragen zur Mensch–Maschine Kopplung, zur infor-mationellen 11 Neuroimaging-Bilder vom Gehirn und das Bild des Menschen. Öffentliche Tagung der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste 27.11.2013 in Düsseldorf. Aktuelle Thematisierung des neurowissenschaftlichen, anthropologischen, ethsichen, medizinischen und rechtlichen Kenntnisstandes (http:///www.ethikrat.org/veranstaltungen/weitere-veranstaltungen/neuroimaging aufgerufen 17.09.2014; 12 „Im September 2013 wurde weltweit das erste TSH System im Rahmen eines Forschungsprojektes in Patienten implantiert, welches neben der „klassischen“ Hirnstimulation neurophysiologische Signale bzw. Aktivitäten aufzeichnen und speichern kann (Brain Radio Project, Medtronic, Dr. J.Mehrkens, Munich). Das neuartige THS-System genannt AC-TIVA PC + S dokumentiert die während alltäglicher Aktivitäten (z.B. Gehen, Sprechen) auftretenden „local-field-potentials“ (LFP) in dem Areal, in dem die TSH.Stimulationselektrode implantiert wurde.“ (Vesper, Slotty, 2014,S.175) 13 „Neuroimplantate stellen den Kontakt zum Nervensystem her und stimulieren Nervenzellen, um sensorische und motorische Funktionen wieder herzustellen, Krankheiten neurologischen Ursprungs im Sinne einer Therapie zu beeinflussen oder Nervensignale zur Steuerung technischer Hilfsmittel aufzunehmen ... Patienten, die sich für ein Neuroimplantat entscheiden, erwarten einen deutlichen Nutzen im Rahmen ihrer Lebensqualität und in der Verrichtung ihrer Tätigkeiten des Alltagslebens ... sowie minimale Nebenwirkungen.“(Stieglitz, 2009, S.24) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 17 Selbstbestimmung, zur Verwertung der gespeicherten Daten, zur „totalen Überwachung“ und Steuerung der Patienten (Willensfreiheit, Verantwortlichkeit), zur Privatsphäre, zu Abbruchkriterien, zu Erfolgskriterien, zur Authentizität, zum gerechten Zugang, sowie Fragen zur Schuldfähigkeit und Testierfähigkeit. 1.3.2 Ethische und anthropologische Aspekte zur Neurotechnik: Akteure und Institutionen, Technikfolgen Chirurgische Eingriffe in das Gehirn sind somit hochriskante, hochtechnisierte Interventionen in ein vulnerables Organ das zentrale Steuerungsfunktionen für den Gesamtorganismus besitzt, und als die materielle Grundlage zur Ermöglichung einer personalen Lebensgestaltung gilt.(Quante, 2002) Wahrnehmung, Erkenntnis, Bewusstsein und Gestaltung eines individuellen Lebensentwurfs in leib – seelischer Auseinandersetzung mit den „Widerfahrnissen“ der Natur (Kamlah, 1972) als diachron erlebtes „Ich“ (Schmidt, 2008, Rager, 2000) sind mit einem aktiven Gehirn denkbar, und ohne dieses nicht. Eine empirische Analyse (naturwissenschaftlich) und Deskription neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und Eingriffe kann die spezifisch menschlichen Dimension nur in einem sehr begrenzten Umfang erfassen, und bedarf notwendigerweise eines medizinethischen, anthropologischethisch-rechtlichen Rechtfertigungsdiskurses (Beck, 1976, Sander, 1999, Stier, 2006, Sturma, 2006, Synofzik, 2004, Spitzer, 2008, Bennett, 2010b, Clausen, 2008, Paul, 2013, Habermas, 2012) Ausgehend von der anthropologischen Konzeption (Plessner)14 der menschlichen „Natur“ in seinem „Doppelcharakter“ („Dem Mensch ist seine Natur nicht nur vorgegeben, sondern er ist von „Natur„ ein Kulturwesen, dem seine Natur gleichzeitig aufgegeben ist“ nach Clausen, 2006, S. 31) müssen bei Eingriffen in das Gehirn, mit einer drohenden Gefährdung der Persönlichkeit und der Person, ethisch–anthropologische Fragestellungen notwendigerweise aufgegriffen werden. „Als Naturwesen auf Natur angewiesen, kann er ohne eine Nutzung ihrer konstruktiven Funktionen nicht einmal schlicht leben. Legitimationstheoretisch gesehen liegt ein paradigmatischer Imperativ vor; dass der Mensch überhaupt in die Natur eingreift, ist ein Klugheitsgebot, diktiert von dem Prinzip Selbstinteresse, wobei sich das Selbst, zunächst bescheiden, mit dem Überleben zufrieden gibt.“ (Höffe, 1993, S. 118) Eine philosophisch historische Betrachtung der „Natur“, geht von den Konzepten von Aristoteles und Platon, über die Scholastik zur modernen Bioethik.15 Die Herausforderung der modernen Bioethik wird von 14 Plessner,H, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Frankfurt a.M., 1981 15 „Die Kraft, welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenhei derselben bestimmt, in Verbindung zu setzten mit der Moralität der Gesinnung, und dadurch eine moralische Weltordnung als Grundlage der physischen nachzuweisen,-dies ist seit Sokrates das Problem der Philosophie gewesen.“ Schopenhauer,A, Die Welt als Wille und Vorstellung. Gold Collection, Jazzybee Verlag, J. Beck, e-book, 2012, 4679 von 4958 Seiten) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 18 Honnefelder (2011) mit der Frage nach der Übernahme verantwortlichen Handelns verbunden - „Welche Natur sollen wir schützen?“ - und einem normativen Diskurs in Auseinandersetzung mit Habermas (Habermas, 2012) geführt. Weitere Ausführungen finden sich hierzu bei Höffe mit deontologischer Perspektive (Höffe, 2007). Die Diskussion mündet ein in eine philosophische Naturalismusdebatte (Keil, 2000, Janich, 2009) die zur Verdeutlichung naturalistischer Fehlschlüsse und Aufweisung der Grenzen und Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung erforderlich ist. (Honnefelder, 2007, Honnefelder, 2011, Paul, 2013) Thematisch ist in dem hier dargestellten Zusammenhang von neurochirurgischen Eingriffen in das menschliche Hirn auf die „Technikfolgenabschätzung“16 „in einer fragilen Welt“ (Bora, 2005) einzugehen. Von Karafyllis wird hierzu eine Bestimmung des „Menschen als Mischwesen zwischen Techniknutzer und Naturwesen“ (S.112) im Zusammenhang mit der „Biofakteforschung“ postuliert, und dies auf dem Hintergrund von Medizintechnik Innovationen, womit humane Lebensgestaltungen perspektivischen Veränderungen unterworfen werden. (Karafyllis, 2005) Höffe (1993) unterscheidet drei Bedeutungen des Technik–Begriffs. Einerseits die „Gesamtheit kognitiver Hilfestellungen ... als Teilsystem der Gesellschaft ... (als) eine Zivilisationsform.“ (S.119). Anlass zu Befürchtungen geben im Allgemeinen nicht die indizierten Eingriffstechniken zur Behandlung definierter neuropsychiatrischer Krankheiten17, sondern die Neurotechniken, welche zur Steigerung „normaler“ Hirnfunktionen eingesetzt werden sollen, oder eine manipulative Fremdsteuerung bezwecken. Im Zusammenhang eines Forschungsprojektes „Eingriffe in die Psyche. Neue Interventionsmöglichkeiten als gesellschaftliche Herausforderungen“ der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen GmbH“ (Merkel, 2007) geht Galert (2005) auf die Frage ein “Inwiefern können Eingriffe in das Gehirn die personale Identität bedrohen?“. Er weist darauf hin, „in welchem Maße empirische Technikfolgenabschätzung von vorgängiger, philosophisch reflektierter Begriffsanalyse abhängig ist.“ Es gilt zu klären unter „welchen Bedingungen“ die Eingriffe stattfinden, wie „groß“ das Risiko abzuschätzen ist, und „worin“ das Risiko besteht. Um den Zusammenhag zwischen Ethik und Technik zu verdeutlichen schreibt Boldt (2009): „In der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten betont Kant, dass ethische Forderungen nicht reduzierbar sind auf technische Anweisungen zur angemessenen Mittelwahl bei gegebenem Ziel ... dass für ihn mit der 16 Mittelstraß,J (Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd 4, J.Metzler Verlag, Stuttgart, 1996, S. 214- 217 17 „Vielmehr sind Indikationen zu verstehen als „rechtsnormativ mögliche pragmatisch-gute Gründe für kunstgerechte Körperidentitätseingriffe unter dem Gesichtspunkt der autonomen Selbstverfügung“(Köhler 1997,S.275) ) “Kollek,R From chance to choice? Selbstverhältnis und Verantwortung im Kontext biomedizinischer Körpertechniken. In Bora,A u.a. (Hrsg.) Technik in einer fragilen Welt.edition sigma, erlin, 2005, S. 81 f. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 19 Vorstellung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen die Idee verbunden ist, eine Eigenschaft von Vernunftwesen zu erfassen, mit der gerechtfertigt werden kann, dass man im Handeln, das zunächst eigenen Zwecken folgt, immer auch die Ansprüche anderer mitbedenken kann und soll.“(S.236) Auf diesem Hintergrund sollen nunmehr die spezifischen medizinethischen Aspekte bei neurochirurgischen Eingriffen in das Gehirn bei neuropsychiatrischen Krankheiten einem Diskurs unterzogen werden. Werden die Darstellungen zur Gesichte der „Psychochirurgie“ kritisch beleuchtet, so fällt generell auf, dass die ärztlichen Dokumentationen zu den neurochirurgischen Eingriffen in das Gehirn, keine statistischen Auswertungen, keine kontrollierten Studiendesigns, keine dokumentierten kritischen Erfolgskontrollen, keine Einwilligungen der Patienten, u.a. beachtet haben. Es fehlt an Transparenz, Operationalisierung, Interdisziplinarität und öffentlicher Rechtfertigung der Indikationsstellungen. Verschulung und Abschottung der jeweiligen psychiatrischen Krankheitseinteilungen trugen zu einem groben Missverhältnis zwischen den ärztlichen Handlungsweisen, dem tradierten ärztlichen Ethos, und den legitimen Bedürfnissen der Patienten, wesentlich bei. Das akademische („bürgerliche“) oder politische Ansehen der Ärzte (Moniz war portugiesischer Außenminister, Freeman behandelte Familienangehörige der high society) legitimierte in diesem System weitestgehend das therapeutische Handeln. Angesichts der nicht vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten (erbärmliche Lebensumstände in den Anstalten), den Anforderungen an die Ärzte nach einer akademischen Karriere, zogen es Nervenärzte/Psychiater vor, sich insbesondere mit der Neuroanatomie und den neurowissenschaftlichen Laborwissenschaften zu beschäftigen. Die neurologischen Kliniken und Heilanstalten waren nach den Weltkriegen mit an Syphilis erkrankten Patienten überfüllt, die Kommunen und Länder sahen sich mit der Finanzierung überfordert. Therapeutisches Ziel war die Anpassung der Patienten an die Anstaltsregeln und deren Ruhigstellung, die Suche nach somatischen, breit einsetzbaren Therapien, ohne Berücksichtigung der Interessen und der physischen und psychischen Integrität der Patienten. Die „Dark History“ (Johnson, 2009) der chirurgischen Eingriffe in das Gehirn wurde bis in die sechziger und siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts fortgeführt, und hat das „collective memory“ (M.Halbwachs, 1980) bezüglich chirurgischer Eingriffe in das Gehirn, wesentlich bestimmt. „Lobotomy is remembered as one of the most spectacular failures in the history of medicine.“(Johnson, 2009, S.367) „Der Trend, Patienten aus der Psychiatrie wieder in „die Gemeinschaft einzugliedern“- jener „Deinstitutionalisierung“ genannte Prozeß -, begann mit der Einführung der Neurolepika 1954, in jenem Jahr, als in den USA die Nahrungsmittel- und Medikamentenbehörde das Chlorpromazin freigab.“(Shorter, 1999, S.418) Zur gleichen Zeit etwa entwickelten sich die Methoden der „Elektroimplantation in das Gehirn von Patienten zum Zweck der experimentell-therapeutischen Verhaltens-/Erlebensbeeinflussung“, wobei als Pionier (50er- bis 60-/70er Jahre) insbesondere Delgado, J.M.R, der den telemetrischen elektrischen Zugang entwickelte und den Begriff Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 20 „Hirnschrittmacher“ prägte (Delgado, 1968), zu nennen ist. (Benabid, 2007) Der Übergang zu einer Minimalisierung der chirurgischen Eingriffe (Stereotaxie, THS) in das Gehirn basierte nicht nur auf den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, den neuen Technologien, sondern auf dem „ethical environment“. Um die Last der Vergangenheit zu bewältigen wurden neue Begriffe eingeführt „Neurosyurgery for Mental Disorder (NMD); Limbic System Surgery“ (Johnson, 2009), und Forderungen an die neue Art der „Psychochirurgie“ (kontrollierte Studien, Verbesserung der Theorien zu psychiatrischen Krankheiten, Verbesserungen der Transparenz, weniger destruktive Eingriffe mit Reversibilität, und Präzisierung der Eingriffe) gestellt. (Johnson, 2009) Nach dem zweiten Weltkrieg, so sieht es M. Meier (2009), wurde die „Persönlichkeit“ im Kranken wahrgenommen, der psychoanalytischen Behandlung Beachtung geschenkt, und der Integrität der Person eine zunehmende Bedeutung zugemessen.18 Meier (2009) sieht bei der Analyse der „psychochirurgischen Praxis der 1940er und 1950er Jahre“ nicht die Sachzwänge, und nicht nur die wissenschaftlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen („Es gab immer Handlungsspielräume“, ebd. S.81) als bestimmend für die Indikationsstellungen an, sondern plädiert für eine „Historisierung“ bei der Beurteilung des „Umgangs mit schwierigen Patienten.“ (ebd. S.81) Die breite Anerkennung der Psychochirurgie in der Nachkriegszeit wäre nicht zustande gekommen, „hätte man psychische Krankheiten nicht (in erster Linie) auf somatische Prozesse zurückgeführt und schwer psychotische Patienten nicht als „unmenschliche Menschen“ wahrgenommen. Darüber hinaus dominierten in dieser Zeit Normalitätsvorstellungen, denen zufolge sich ein Individuum anpassen, gesamtgesellschaftlichen Zielen unterordnen und im Interesse des Kollektivs funktionieren sollte.“ (Meier, 2009, S.82) Hieraus stellt sich die allgemeine Frage, „in welchem historischen) Kontext aktuelle Neurotechnologien stehen.“(ebd. S. 82) Autokratische Strukturen in den psychiatrischen und neurologischen Institutionen (Universitätskliniken, Nervenheilanstalten) bestimmten und bestimmen teilweise heute noch den Umgang der Akteure untereinander (Ärzte, Wissenschaftler), und das Arzt-Patienten-Verhältnis, so dass eine öffentliche Diskussion und Kritik zwingend notwendig ist. Es ist sicher nicht ausreichend die Brutalität der NS – Ärzte - Verbrechen retrospektiv zu beleuchten und den Bedingungen und den institutionellen und individuellen Bedingungen nachzugehen. Vielmehr sollten die heutigen Arbeits,- und Rahmenbedingungen der Ärzte und Wissen-schaftler in den Neurowissenschaften, deren Einstellungen und Handlungsweisen, kritisch 18 Die abnehmende Bedeutung der Psychochirurgie hängt also nicht nur – wie meist behauptet wurde – mit der Einführung der Neuroleptika zusammen, zumal die Zahl der Lobotomien bereits vor 1953 zurückging und die neuen Psychopharmaka zunächst sehr teuer waren, häufig nicht wirkten oder so schwere Nebenwirkungen hatten, dass sie erst allmählich bei einer großen Zahl von Patienten und Patientinnen angewandt wurden. Vielmehr führte der neue Denkstil dazu, dass Hirnoperationen, die psychisch Kranke wieder an die Ordnung inner- und außerhalb der Anstalt anpassen sollten, gleichzeitig aber deren Persönlichkeit veränderten, zunehmend abgelehnt wurden. Der Eingriuff in die Persönlichkeit wog nun in den Augen der meisten Psychiater auch bei Patientinnen und Patienten mit der Diagnose chronische Schizophrenie zu schwer.“ (Meier, 2009, S.77f) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 21 einem Diskurs unterzogen werden, um Transparenz und Entscheidungsfindungen einer normativen Klärung unterziehen zu können. (Gethmann, 1982, Habermas, 2009, Beauchamp, 2009) Die gesellschaftliche Rolle des Nervenarztes, der Nervenärztin, des Neurochirurgen der Neurochirurgin, des Neurowissenschaftlers, der Neurowissenschaftlerin und das ärztliche Ethos stehen auf dem Prüfstand. „Die Psychiatrie im Zeitalter von Erbbiologie und Rassenhygiene war besonders an der Erhaltung und Verbesserung der Volksgesundheit interessiert und verstand sich weithin als Sachwalter sozialpolitischer bzw. politökonomischer Zielsetzungen.“ (Schott, Tölle, 2006, S. 505) Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein internationaler ethischer Diskurs über die ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns (u.a. Formulierung des Nürnberger Kodex im Anschluss an den Nürnberger Ärzteprozess 1947), und bis zur ethischen und juristischen Gewährleistung von Patientenrechten in der Psychiatrie dauerte es mindestens bis zur „Psychiatrie-Enquête“ bis 1975, „in der im Interesse einer adäquaten Behandlung des einzelnen Patienten eine grundlegende Reform des Anstaltswesens empfohlen wurde.“ (Schott, Tölle, 2006, S. 506) Das Dilemma den gesellschaftlichen Interessen (Drittgefährdung) und dem Wohl des Patienten gerecht zu werden bestimmt die Praxis der Psychiatrie, insbesondere wenn es um die Frage geht, für nicht-einwilligungsfähige Patienten („therapie-resistente Patienten“) innovative Therapien (Heilversuche) zu indizieren. Der Patient sieht die Therapien (Zwangsbehandlung, Medikation, Chirurgischer Eingriff in das Gehirn) als ein vorsätzliches „Quälen“ und als Destruktion der körperlichen und seelischen Integrität, die mit der oft einseitigen Erwartung verbunden ist, nachträglich, nach Überwindung der akuten Krankheitsepisode oder der „Therapieresistenz“, gut geheißen oder gerechtfertigt zu werden. Das Gehirn als menschliches Organ und notwendige organische Grundlage leib–seelischer Existenz ist im Zusammenhang mit Krankheit und Gesundheit somit einer anthropologisch–ethischen Diskussion zu unterziehen, hier eingebettet in das „Paradigma des Naturalismus“ (Honnefelder, 2007), insbesondere den „biologischen Naturalismus“ (Keil, 2007, S.28ff), speziell die „biologische Psychiatrie“ (Andreasen, 1990) und „biologische Psychologie“ betreffend (Birbaumer, 2011). In der modernen biologischen Psychiatrie geht es insbesondere darum die Fortschritte des Neuroimaging, der Molekularbiologie und Neurogenetik für die kausale Erklärung und Behandlung von neuropsychiatrischen Krankheiten anzuwenden, was zu einer Kritik wegen der wissenschaftlichen Einengung auf die Neurobiologie führt. Die hiermit zusammenhängenden „ethischen Implikationen für die Psychiatrie“ werden von Stier u.a. (2013) auf dem Hintergrund der „Biologismus-Kontroversen“ kritisch diskutiert. Hierzu ist „Biologismus“ in einem „neutralen Sinn“ ... als Teil eines größeren Gesamtprojekts zu charakterisieren, das sich als philosophischer Naturalismus bezeichnen lässt.“(Stier u.a., 2013,S.1165) „Um den Naturalismus wird in der Philosophie heftiger gestritten als um jede andere These, und das liegt daran, dass ein konsequenter Naturalismus das überkommene philosophische Selbstverständnis in Frage stellt. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 22 Konsequenter Naturalismus bedeutet nämlich nichts weniger als das restlose Aufgehen der Philosophie in naturwissenschaftlicher Forschung.“ (Hartmann, 2000, S.158) Als „Kerngedanke des Naturalismus“ wird vom Naturalismus das Ziel darin gesehen,eine „Metatheorie für einen umgrenzten Problembereich zu entwickeln, die mit den ontologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen der Naturwissenschaften vereinbar ist.“ (Stier u.a., 2013, S. 1166) Die Kritik setzt innerhalb der neuropsychiatrischen Krankheitslehre dort an, wo die Individualität des Erlebens in ihrem Sosein und hinsichtlich dessen kausaler Erklärbarkeit ins Spiel kommt. Es gilt demnach sowohl die Vernachlässigung der Erste – Person Sicht, die Minimierung oder Eliminierung sozialpsychiatrischer und sozialpolitischer, neben der biologisch naturwissenschaftlichen Perspektive (Dritte–Person-Sicht) insbesondere im Bereich der praktischen Neurologie und Psychiatrie zu beachten, um Fehlentwicklungen entgegen zu wirken. „Ohne Berücksichtigung der in der Erste-Person-Perspektive subjektiv erlebten mentalen Zustände und Akte könnte man vor allem in der Psychiatrie kaum eine klinische Diagnose stellen und erst recht natürlich auch keinen Patienten behandeln.“ (Klosterkötter, 2005, S.128) Der veränderte Blickwinkel von der Krankheit zum kranken Menschen bestimmt die medizinethische Betrachtung und Diskussion bei technischen Innovationen. Während Persönlichkeitsveränderungen in den Studien bis zu den 70-iger Jahren des 20.Jahrhunderts als hinzunehmende „Nebenwirkungen“ angeführt wurden, oder als „therapeutische Effekte“ gewollt wurden, gibt es erst in den neueren Studien Ansätze zur systematischen Mitbeachtung und Bewertung von Persönlichkeitsmerkmalen als Folgewirkungen beim Risikomanagement. (Kuhn, 2009) 1.3.3 Spezifische medizinethische Fragestellungen neurochirurgischen Eingriffen in das Gehirn bei Das Gehirn als „Organ über allen Organen“ mit seiner zentralen Steuerungsfunktion, und die Zusammenhänge des Gehirns mit „der Bewusstseinsfähigkeit, der Persönlichkeit und der Identität eines Individuums“ geben Anlass dafür, neurochirurgische Interventionen in das Gehirn, einer spezifischen medizinethischen Diskussion zu unterziehen. (Birnbacher, 2006, S. 274) Worum es in den folgenden Ausführungen geht, wird von Fuchs (2013) formuliert. „Das Gehirn verfügt nicht über geistige Zustände oder über Bewusstsein, denn das Gehirn lebt nicht – es ist nur das Organ eines Lebewesens, einer lebendigen Person. Nicht Neuronenverbände, nicht Gehirne, sondern nur Personen fühlen, denken, nehmen wahr und handeln.“ (S.296) Die Patientinnen/Patienten sprechen in Foren oder in Buchform (Dubiel, 2008)die Befürchtung aus, nach einem chirurgischen Eingriff in das Gehirn „nicht mehr die/der gleiche Mensch wie vorher zu sein.“ Mit dieser Frage ist die Sorge verbunden, nach dem Gehirneingriff wie ein „alien“ zu leben, Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 23 „irgendwie fremd gesteuert“ zu sein, trotz der Verbesserungen motorischer Symptome (Parkinson – Patienten). Bisherige Studien haben die systematische Erfassung dieser Variable nicht beachtet, oder mit Messinstrumenten zu erfassen versucht, die zu wenig sensibel sind. Erste Ansätze zur Verbesserung der Studiendesigns finden sich in der Literatur. (Witt, 2013a) Die besondere Herausforderung liegt darin, dass sich philosophische Konzepte und psychologisch, psychiatrische, neurologische, rechtliche Konzepte in einem Forschungsfeld mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten begegnen.(Friedrich, 2014) Es geht um die Intuition unter Rückgriff auf die Begriffe der Person, der personalen Identität, Persönlichkeit in der medizinethischen Debatte bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn, medizinethische Kriterien zur rechtfertigenden Beurteilung chirurgischer Eingriffe in das Gehirn gewinnen zu können. Es ist allgemein anerkannt, dass der Begriff Charakter (Charakter wird ethymologisch von dem griechischen Begriff des ethos i.S. von Gewohnheiten abgeleitet) in der psychologischen und psychiatrischen Praxis durch den der Persönlichkeit (Roracher, 1969) ersetzt wurde. „Charakter ist die Eigenart des Erlebens und Verhaltens des einzelnen Menschen.“ (Roracher, 1969, S. 4) „Schon Kant in der Anthropologie unterscheidet einen moralischen (sein sollenden) und einen physischen (schlechthin seienden) Charakter, was Lersch wieder aufgreift und als ethischen Charakterbegriff einerseits, als psychologischen andererseits neu fasst.“ (Wellek, 1955,S.82) Schopenhauer ergänzt die von Kant gebrauchte Unterscheidung eines intelligiblen Charakters von einem empirischen Charakter mit dem eines erworbenen Charakters, um auf die auf einen Charakter in seiner Zeit einwirkenden sozial–kulturellen Faktoren und die je individuellen Stellungnahmen mit den hierauf sich beziehenden individuellen Lebensentscheidungen, herauszustellen.19 Es geht um die Frage, welche neuroethischen Kriterien Veränderungen der personalen Identität oder den Wechselns einer Person durch neurobionische Eingriffe (TSH) bewerten können? Im Zusammenhang mit der Hirntod Debatte wird von Birnbacher (2007)20 der „anthropologische Dualismus mit seiner Aufteilung des Menschen in einen physisch-leiblichen und einen psychisch-seelischen Aspekt“ kritisch analysiert. Der „Begriff des Menschen“ mit einem generischen (Potential der Gattung) und individuellen Potential im Sinne einer „bewußtseinsbegabten Existenzweise“ wird als eine „Einheit“ ... „dann nicht im Sinn, dass er eine in sich homogene und einheitliche Substanz wäre, sondern in dem Sinne, dass er Verschiedenes in sich vereint“ (ebd.S.79) gefasst (Substanz19 „Das erkennende Subjekt ist eben durch diese besondere Beziehung auf den eigenen Leib, der ihm außer derselben betrachtet, nur eine Vorstellung, gleich allen übrigen ist, Individuum.“ (Schopenhauer,A Die Welt als Wille und Vorstellung. Gold Collection, e-book, 2012, 1271 von 4958) 20 Birnbacher,D: Ist das Hirntodkriterium“ dualistisch“? in Studienbrief Anthropologische und Ethische Grundlagen der Diskussion um das Hirntodkriterium. Medizinethischer Weiterbildender Studiengang 00207145 (04/07) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 24 Dualismus nach Descartes versus Attribut-Dualismus). Das mind-brain Problem wird philosophisch unterschiedlich gedeutet. „Für die Dualisten sind Bewusstseinsereignisse und Gehirnereignisse numerisch verschiedene Ereignisse, für die Identitisten fallen sie zusammen; für die Interaktionisten vermögen Bewusstseinsereignisse auf andere Bewußtseinsereignisse und auf das physische Gehirn zurückzuwirken, für die Epiphänomenalisten sind sie kausale Sackgassen, bei denen die Kausalkette endet.“ (Birnbacher, 2006, S.279) Dem Konzept des Bewußteins wird hier nicht weiter nachgegangen und auf die Darstellungen bei Zeman (2001) und (Herrmann, 2005) verwiesen. Die spezifischen anthropologischen und ethischen Fragen „neurobionischer Eingriffe“ stellen sich im Hinblick auf die Bewertung der induzierten „Identitäts-, und Personstörungen“ („Wie viel von einem Gehirn muss erhalten bleiben, damit es dasselbe Gehirn bleibt?“, ebd. S.280). (Birnbacher, 2006) „Identitätsprobleme ... ergeben sich, wenn wir uns vorstellen, dass ein biotisches menschliches Gehirn nach und nach durch nicht-biotische Prothesen ersetzt würde und diese- auf einem utopischen Stand der Technik – so passgenau, flexibel und fein abgestimmt sind, dass sie die Leistungen des Gehirns perfekt übernehmen ... ein reines Siliziumgehirn, ein Minicomputer höchster Leistungsfähigkeit, der den Restorganismus ... ebenso steuert und reguliert, wie es ein biotisches menschliches Gehirn tun würde.“ (Birnbacher, 2006, S.282)21 Die Frage nach der Anzahl und der Platzierung von Hirnelektroden bei der TSH stellt sich somit präziser, wenn der funktionell kompensierte Gehirnanteil und dessen „Bedeutung“ für die Identität der „Persönlichkeit“ und somit für die „Identität der Person“ gemeint ist. Der Personbegriff ist als Grundbegriff der Erkenntnistheorie für das LeibSeele – Problem bedeutsam. Von Quante (2010) werden vier Arten der Verwendung des Begriffs Person unterschieden. Der Begriff des „menschlichen Individuums“ wird als zu wenig präzise verworfen. Die „rein deskriptive Verwendung“, der „rein normative“ Gebrauch um „den spezifischen ethischen Status einer Entität anzuzeigen,“ und eine „Kombination der ersten beiden“, um „dann deskriptiv einer Entität einen bestimmten Set von Eigenschaften und Fähigkeiten sowie gleichzeitig“ einen ausgezeichneten ethischen Status zuzuschreiben, womit eine Ethik unterstellt wird, „welche die Personalität ausmachen.“ Quante definiert die Personalität wie folgt: „Personalität ist eine komplexe Eigenschaft, die einem Individuum dann zukommt, wenn es über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt ... Subjekt mentaler Episoden zu sein“, persönlich auf sich Bezug nehmen zu können, ein „(rudimentäres) Zeitbewußtsein und 21 „So arbeitet der israelische Hirnforscher Henry Markram derzeit an seinem Human Brain Project das darauf abzielt, mithilfe von Simulationen und Modellen eine exakte Nachbildung des menschlichen Gehirns zu erschaffen – nicht als Implantat, sondern um dadurch zu neuen Erkenntnissen über die Arbeitsweise des Denkorgans zu gelangen und diese wiederum etwa in die Entwicklung hocheffizienter Computersysteme einfließen zu lassen. So ist das menschliche Gehirn in der Bionik das Vorbild für zukünftige Computer, so wie Gliedmaßen und Organe des Menschen als Vorbilder für den Körper von Rex fungierten. Dieser 'lebt' noch bis zum 11. März im Londoner Science Museum. (“http://uni.de/redaktion/der-bionische-mensch-wie-die-natur-nachgebaut-werden-kann aufgerufen 17.09.2014) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 25 ein (zumindest rudimentäres) Wissen von der eigenen Existenz über die Zeit hinweg zu haben“ ... über logische und instrumentelle Rationalität verfügen, zur Kommunikation (im weiten Sinne) fähig zu sein sowie andere Individuen als Personen anerkennen können.“ (Quante, 2010, S.17 ff) Hiermit ist einerseits eine Graduierung der Fähigkeiten verbunden und eine Exklusion von Lebewesen verbunden, die nicht im Besitz dieser Fähigkeiten oder diese unterhalb eines Schwellenwertes besitzen. Das kritische Probleme einer sozialen Person besteht darin, dass diese „als Mittel zu anderen Nutzen gebraucht werden dürfen“ (Mittelstraß, 1995,S.91), was in der utilitaristischen Konzeption einer „praktischen Ethik“ (Singer, 1994) nachvollzogen werden kann. Es werden von Quante vier Fragestellungen zur „Identität der Person“ unterschieden. Die bereits aufgeführten „Bedingungen der Personalität, die (synchrone) Einheit der Person, die (diachrone) Persistenz, und die Persönlichkeit. (Quante, 2010) Die Fragen zur (numerischen) „Einheit der Person zu einem Zeitpunkt“ als Individuum, als „psychophysische Einheit“ werden von Strawson aufgegriffen. Zur Verdeutlichung der „Primitivität“ des Begriffs der Person schlägt er vor zwei Arten von Prädikaten (M-Prädikate die wir auf materielle Körper anwenden, und P-Prädikate die wir auf Personen anwenden) zu unterscheiden, bei einer Entität. (Strawson, 2003, S. 134) In der Diskussion wird von P.F. Strawson herausgestellt, dass „Personen Körper haben ... zu einer begrifflichen, nicht-empirischen Wahrheit“ gehören. (Mittelstraß, 1995, S.89) In der begreifenden Wahrnehmung anderer Lebewesen und der körperlichen Begegnung nehmen sich Individuen selbst wahr. „Eine Person, die infolge einer Ersetzung von Gehirngewebe in ihrer Persönlichkeit, aber auch in ihrem Identitätsbewußtsein und ihren Erinnerungen durchgreifend und umfassend verändert ist, wird kaum noch als dieselbe Person aufgefasst werden können.“ (Birnbacher, 2006, S.280f) Werden die „Persistenzbedingungen“ der „Identität der Person über die Zeit hinweg“ (Quante, 2010, S. 12 ff) hinterfragt, dann geht es um die „materialen Bedingungen die erfüllt sein müssen, damit man von einer Person sagen kann, sie existiere zu zwei verschiedenen Zeitpunkten.“ Antworten (Rationalisten / Empiristen) hierzu werden einerseits in der Annahme einer „substantiellen Seele“ (Platon, Descartes) und der Gehirn – Kontinuität als ausreichende Bedingung gesehen. Im psychologischen Sinne wurde von J. Locke die Kontinuität durch das Selbstbewusstsein und die Erinnerungsfähigkeit bestimmt. Immanuel Kant kritisiert die „Quasi-Objekt“ (Mittelstraß, 1995, S.89) Konzepte und unterscheidet ein „transzendentales Subjekt“, welches er dahingehend bestimmt, dass es „als „personales Subjekt nicht Gegenstand einer irgendwie gearteten Wahrnehmung“ sein (kann), „da das Ich, das die Identität des Bewusstseins ausmacht, eine inhaltlich leere, formale Vorstellung, eine bloße Bedingung des Erkennens“ ist. (Mittelstraß, 1995,Bd 3, S. 89) Hiervon unterschieden wird von I. Kant die „konkrete Person die sich aus dem Kontext bestimmter Handlungsmöglichkeiten ergibt.“ (Höffe, 2008,S.239). Die Selbst-zwecklichkeit („Handle so, dass du die Menschhait, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 26 anderen, jederzeit uzgleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“) (Instrumentalisierungsverbot), die Respektierung der Person in dem Anderen, sowie die Selbstbe-stimmung in Freiheit mit Rechten und Pflichten, die normative Bestimmung der Person, lassen sich dem kantischen Denken zuordnen. (Kant, 1974) In der Kritik der praktischen Philosophie von I. Kant setzt G.W.F.Hegel (1770-1831) bei der Bildung einer moralischen Person an, die er nicht formal, abstrakt sieht, sondern „im Rahmen bestimmter materialer historisch gewonnener gesellschaftlicher Institutionen.“ (Rechtssystem) Zum Begriff der Person gehört bei Hegel somit die Rechtsfähigkeit. (Mittelstraß, 1995, S.90) Der Rückgriff auf das theologische Person Konzept im Sinne einer Gottähnlichkeit des Menschen ist in einer auf Pluralität ausgelegten Gesellschaft mit deliberativer Diskurstradition nicht konsensfähig, wobei der wertschöpfende Stellenwert (Habermas, 2012) religiöser und theologischer Institutionen eine Bereicherung gesellschaftlichen Zusammenlebens ergeben. Die Gleichsetzung des Person-Begriffs mit Mensch (Äquivalenz-Theorie) (homo sapiens sapiens) schließt als kontingentes Faktum von vornherein die Existenz konstruierbarer intelligenter Maschinen aus. Der Begriff Mensch bezieht sich auf Rechte und nicht auf Pflichten, was für eine Person entscheidender ist. Notwendig wäre es, ein davon unabhängiges Kriterium unter Bezug auf das Leib-Seele–Problem, für die medizin-ethische und psychiatrische Praxis zu formulieren. (siehe hierzu die kritische Auseinandersetzung bei Birnbacher, 2006) Das historische Konzepte von John C. Eccles, der sich mit K. Popper auseinandersetzt, und ein inzwischen wenig plausibles Gehirn und Seele Konzept vertritt, soll hier nur erwähnt werden. (Eccles, 1987) Die „philosophy of mind“ versucht den Zusammenhang zwischen mind (mental domain) und body/brain (physical domain) zu analysieren. Die analytische Philosophie (Van Oudenhove, 2010) bezieht sich nicht ausschließlich auf die Introspektion (Erst-Person-Perspektive) und die Begriffsanalyse, „but also draws upon the empirical methods und findings of the sciences,“ (S.545) im Sinne einer erklärenden (Dritte-PersonPerspektive) neurowissenschaftlichen, quantitativ raumzeitlichen, kausalen Analyse. Van Oudenhove u.a. setzten sich mit dem Artikel „A New Intellectual Framework of Psychiatry“ von Kandell 1998 auseinander, der durch die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften das Leib-Seele Problem einer Analyse unterzieht. Die Autoren kommen zu dem Fazit: „As a result, most research in psychiatry tries to ground clinical practice almost exclusively in neurobiology, although strikingly little of the massive amount of neuroscientific insight gained over the past 20 years have been able to truly change clinical psychiatric practice.“ (Van Oudenhove, 2010, S. 555) Die abstrakte Darstellung der Gehirne mit Hilfe mathematischer Algorithmen und deren Deutung als „Bildgebung von menschlichen Gehirnen,“ an denen abstrakte mentale Funktionen und psychologische Funktionen im Labor analysiert werden, zeigt die Diskrepanz zwischen der Forschungsrealität und der klinischen Handlungsrealität. (Paul, 2009) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 27 Während die empirischen Neurowissenschaftler (Roth, 2007)22 von einem reduktionistischen Konzept (eliminativer Materialismus) und einer „Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn“ sprechen (Roth, 2007, S. 88 ff), wird auf dem Hintergrund anthropologisch–ethischer Konzepte im philosophisch–psychiatrischen Bereich (Fuchs, 2013) das „Gehirn als Beziehungsorgan“ (Leib-Person) im Sinne einer phänomenologisch ökologischen Konzeption erweitert. Dementsprechend geht Roth von einem „Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit“ aus. „Die untere limbische Ebene des vegetativ-affektiven Verhaltens und die mittlere limbische Ebene der emotionalen Konditionierung, Bewertung und Motivation bilden zusammen das unbewusste Selbst. Auf bewusster Eben bildet die obere limbische Ebene in der rechten Hemisphäre das individuell-soziale Ich, dem das kognitiv-kommunikative Ich in der linken Hemisphäre gegenübergestellt wird.“(Roth,2007, S.91) Es wird eine „funktionelle Multi-Zentralität des Gehirns“ mit einer „großen funktionellen Plastizität, d.h. der Veränderbarkeit des Gehirns“ postuliert. (Roth,2007, S.89) Die funktionelle Plastizität des Gehirns wird mit klinischen Beispielen von Birnbaumer,N und Zittlau,J (2014) unter dem Titel „Dein Gehirn weiss mehr, als du denkst. Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung“ populärwissen-schaftlich dargestellt. Kritisch ist anzusetzen, wenn „jump to conclusion“ Interpretationen aus Neuroimaging (fNMRI, PET) Ergebnissen in die psychiatrische Einzelfalldiagnostik gemacht werden. Im Rahmen des „translational BrainModelling“ Ansatzes wird von Stephan,KE (2014) herausgestellt, dass aufgrund des bisher vorliegenden Studienmaterials keine prädiktive Validität (der gleiche Phänotyp kann einen völlig anderen Verlauf haben) möglich ist. Bei der neuromedizinsichen Theorienbildung geht es um ein inverses Problemlösungsverhalten, wie es aus de Physik bekannt ist, und auf dem probalisitischen Modell beruht. Mithilfe von Algorithmen wird eine Approximation an ein bisher plausibles Gehirnmodell zu erreichen versucht, um damit statistische Gesetz-mäßigkeiten erkennen zu können, ohne direkten Bezug auf klinische Relevanz. Mit der Kombination von mathematischen Verfahren und dem Neuroengeneering wird somit ein „nonlinear dynamic causal model“ für fMRI-Studien designs (bold-Studien) entwickelt und ein sehr grobes biologisches Model entwickelt. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass das „Gehirn daran interessiert“ ist, Belohnungen zu induzieren und die Präzision der Verhaltens,Erlebnisereignisse ständig zu verbessern, basierend auf der „Bayesian brain hypothesis“ und einem hierarchischen neurologisch konzipierten Gehirnmodell, welches sicher nicht unangefochten ist. Es handelt sich somit um eine Reduktion der Wirklichkeit auf ein mathematisches Modell, das von seiner Anlage her gesehen „immer falsch“ sein muss. Die zukünftige Erwartung ist, dass sich über Clusteranalysen von klinischen Befunden, und aus dem Modell generierte pathophysiologische Aussagen zur 22 „Die Hirnforschung geht – gemeinsam mit dem überwiegenden Teil der Persönlichkeitspsychologie – davon aus, dass die Persönlichkeit im Gehirn und im weitesten Sinne im peripheren Nervensystem verankert ist, das wiederum mit dem Körper und seinen Funktionen eng zusammenhängt.“ (Roth, 2007,S.88) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 28 Gehirnaktivität (compu-tational assays), individuelle Aussagen (Verhaltensvorhersagen) gewinnen lassen. (Sie Ausführungen sind angelehnt an den Vortrag von Stephan,KE „Konsequenzen für die Diagnostik psychiatrischer Erkrankungen der Neuromodellierung auf dem 4. Symposium Bildgebung und Therapie in der Psychiatrie, 24.und 25. Okt. 2014, UKE – Hamburg). Dieses Modell geht von der allgemeinen Annahme eines hochkomplexen selbstreferrenziellen Systems aus, welches aufgrund eines „overengeneering effects“ - als evolutionär hochspezialisiertes biologisches System - mit einer erhöhten Störanfälligkeit, bei einem gleichzeitigen Trend zur besseren Leistungserbringung und Überlebensverbesserung, ausgestattet ist. Fuchs (2008, 2013) weist auf drei Fehlschlüsse hin, welche die neurowissenschaftlichen Ergebnisse und deren Übertragung in die reale Welt („Nach dieser neurokontruktivistischen Konzeption ist die reale Welt also in dramatischer Weise verschieden von der, die wir erleben. Was wir wahrnehmen, sind nicht die Dinge selbst, sondern nur Bilder, die sie in uns hervorrufen...“) (ebd., 2013, S.26) kritisch beleuchten. Als ersten Fehlschluss (erkenntnistheoretisch gesehen kann Subjektivität und Intentionalität nicht vollständig auf physikalische Beschreibungen reduziert“ werden (ebd.,2013,S.77) nennt Fuchs, dass bei einer empirischen Neurokonzeption „die verkörperte Wahrnehmung“, die „Leib und Lebenswelt“(„Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat“ (Merlaeu-Ponty, 1966, 291)“ (zitiert nach Fuchs,2013, S.36) vernachlässigt wird. Das Gehirn in seiner Einbettung in den lebendigen Körper ist das „Beziehungsorgan“ und „notwendige Bedingung dieses Subjekterlebens“, im Sinne einer „Konzeption des im Organismus verkörperten Subjekts.“(Fuchs, 2013, S.40) Entscheidend ist demnach kausale und intentionale Aspekte der Wahrnehmung voneinander zu differenzieren. Die zweite Kritik setzt sich mit den Fehlschüssen aufgrund der Kategorienfehler (merologischer Fehlschluss und lokalisatorischer Fehlschluss) auseinander. Der „merologische Fehlschluss“ (Verhältnis von Teil und Ganzem) (Bennet, Hacker, Searle, 2010) wird von den Autoren auf dem Hintergrund der Philosophie von Wittgenstein in der Person-alisierung des Gehirns verhaftet gesehen. Fuchs (2013) benennt die „Grundproblematik der neurobiologischen Bewusstseinsforschung letztlich in der Verdinglichung des Bewusstseins selbst.“ (ebd.,S.68) Der „lokalisatorische Fehlschluss“ basiert auf der neurowissenschaftlichen Beobachtung, dass Ausfälle von spezifischen Funktionen mit lokalen Hirnläsionen verbunden werden können, dass die modernen bildgebenden Verfahren (fMRTI) invivo Beobachtungen ermöglichen mit Hinweisen auf spezifische Hirnarealfunktionszusammenhänge mit neuropsychologischen Funktionen, wobei die Interpretation der Befunde (Labor versus Lebenswelt) nur durch zusätzliche Annahmen möglich ist. Die Beobachtung, dass die Stimulation spezieller Hirnareale bestimmten Bewusstseinsphänomenen (Penfields Homunkulus) zugeordnet werden, vernachlässigt, dass der gesamte Mensch mit seinem Erleben reagiert, und die Gleichsetzung neuronaler Abläufe mit dem Bewusstsein nicht identisch Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 29 ist. Die dritte Kritik befasst sich mit der „Debatte der Willens-freiheit“, den Libet (1985) Experimenten mit motorischen Bereitschafts-potentialen, und der Frage Determinismus versus „Gehirn als Organ der Freiheit“ (Fuchs) in der Begrenztheit der Interpretation und Genera-lisierung. Zur weiteren kritischen Diskussion wird auf die analytisch philosophischen und neurowissenschaftlichen Argumente verwiesen. (Searle, 2004, Singer, 2002, Sturma, 2006, Walde, 2006, Pauen, 2004) Fuchs weist auf die „implizit dualistischen Voraussetzungen der neurobiologischen Position“ hin (ebd.,2013,S.79) und vertritt die These „Will man daher die Ursache für eine Handlung als Handlung angeben, so kann sie weder in einem Ich oder Willen noch im Gehirn liegen, sondern nur im Menschen insgesamt mit all seinen seelischen und körperlichen Zuständen.“ (ebd.,2013, S.81) Fuchs argumentiert, zur Überwindung einer cartesianischen und reduktionistischen Sichtweise, für eine „überge-ordnete Bestimmung oder Formierung der neuronalen Prozesse durch erlebte Bedeutungen.“ (ebd., 2013,S.86) Und „was eine Person wesentlich ausmacht, ist ihr Sein-in Beziehungen, und diese intentionalen und sozialen Beziehungen zur Welt sind weder Erzeugnisse des Gehirns noch in ihm aufzufinden.“ (ebd., S.296) Von Hartmann und Galert (Merkel, 2007) wird eine handlungsorientierte konstruktivistisch philosophische Klärung der Begriffe Person, personale Identität und Persönlichkeit, mit (ethisch politisch) praktischer Intention und Herausarbeitung von Kriterien bei Hirneingriffen dargestellt. Aus-gehend von der Person–Konzeption von Locke, für den diese eine moralische und weniger eine deskriptive Kategorie beinhaltet, kann ein Lebewesen dann als Person bestimmt werden, wenn es für seine Hand-lungen verantwortlich gemacht werden kann (Rechte, Pflichten, Gesetze) (wurde schon bei Boethius Person Konzeption dargelegt). Eine Person muss deshalb ein Selbstbewusstsein besitzen, mit den Fähigkeiten zu denken, Erfahrungswissen zu generieren und ein Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft sein, in einer speziellen Umwelt, mit einem freien Willen. „Locke´s famous definition of a person as „a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places.“ (Merkel, 2007,S.275) Marya Schechtman (2010) setzt sich kritisch mit dem Locke´schen Konzept wegen seiner Engstellung auf die rationalen und moralischen Fähigkeiten bei Personen und deren Interaktion, insbesondere wegen der implizierten Diskriminierung und Eliminierung (mit den einschlägigen historischen Erfahrungen) auseinander, und weitet den Blick auf den „person-life view.“ „Human persons exist as enculturated biological beings.“ (280) Die Begegnungen der Menschen sind vielschichtig und am Beispiel von dementen und behinderten Menschen stellt sie die Tiefe der menschlichen Personalität heraus. Hartmann und Galert (2007) arbeiten heraus, dass durch Interventionen in das Gehirn direkt oder indirekt die folgenden Person–Fähigkeiten geschädigt werden: - diskriminative Fähigkeiten (Wahrnehmung und Erkennen); - episodisches Gedächtnis; - Fähigkeit zu Lernen; - Sprache; Fähigkeit zum moralischen Urteilen; - Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln; Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 30 - Disposition um die natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen; Empfindungsfähigkeit; - Leiblichkeit. Das psychische Kriterium für die personale Identität ist das von der Person kreierte Selbstkonzept. Es handelt sich somit um die Leistung eines selbstreferenziellen Wesens, das in der Lage ist seine eigene Lebensgeschichte (Narrativ) kontinuierlich, unter der Voraussetzung einer kontinuierlichen Leiblichkeit, dem Gehirn, als Träger der relevanten kognitiven Fähigkeiten und Persönlichkeitszüge, zu gestalten. Die Autoren sehen hierin eine Möglichkeit an Hand der „stories“ qualitative Kriterien zur Beurteilung der personalen Identität, i.S. einer Kontinuität des Selbst-konzeptes, zu gewinnen. Eine praktische Umsetzung des narrativen Ansatzes wird von F. Baylis (2013) dargestellt. Er setzt sich mit den Schilderungen (self-narratives) von H. Dubil (Parkinson Patient, Akademiker, mit DBS behandelt, „Tief im Hirn, 2008“) auseinander auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Persönlichkeit und persönlicher Identität. Baylis geht der Frage nach dem „dislocated self“ („ich bin nicht mehr ich selbst“,„ich bin wie ein Roboter“, „ich bin wie ferngesteuert“) in Folge einer DBS bei Parkinsonpatienten, aus philosophischer Sicht, nach. Die Behauptung, dass die THS eine Bedrohung der personalen Identität bewirkt sieht er als falsch an, da die dynamische Natur der Identitätsbildung hierbei nicht bedacht wird. Lebensereignisse werden üblicherweise in das Selbstkonzept dynamisch integriert. Die Bedrohung geht bei den neuropsychiatrisch Kranken von der Diskriminierung durch die Gesellschaft aus, und die Perspektive der Bedrohung geht somit in die falsche Richtung. Die entscheidende Bedrohung der personalen Identität besteht darin, dass die Fähigkeit zu informierten und rationalen Entscheidungen bedroht werden kann, was am Beispiel der Auslösung von pathologischem Spielen, Süchten als Nebenwirkungen deutlich wird. Der narrativ medizinischethische Ansatz bietet sicher Ansatzpunkte zu einer Konvergenz mit den psychologischen klinischen Ansätzen der Humanpsychologie von Carl Rogers (1902-1987). Eine praktische Bedeutung im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens hat diese Konzeption, aus psychiatrischer Sicht, bisher nicht erreichen können. Mit dem Begriff der personalen Identität (in amerikanischen Publikationen mit Selbst synonym gebraucht) wird der Begriff des „Selbst als Form des Indikators Ich“ (Mittelstraß, 1995, S.752) angesprochen. (Schmidt, 2008) Von I.Kant wird ein „bestimmendes Selbst (Denken)“ von einem „bestimmbaren Selbst (denkendes Subjekt)“ unterschieden, und er wendet sich gegen eine Vergegenständlichung des Selbst. Ein interessanter Ansatz wird von P. Picoeur erarbeitet, der eine „Hermeneutik des ich bin, dessen Aufgabe es ist, die Konstitution des authentischen Ego (Selbst) zu untersuchen ist, das dem Cogito noch vorausgeht und dieses allererst fundiert“ (präsentiert). ... Als authentisches Ego konstituiert sich das Selbst durch die Frage nach seinem eigenen Sein (Dasein).“ (Mittelstraß, 1995,S.753) Eine sozialpsychologische Konzeption der Persönlichkeit wird von G.H.Mead mit der Unterscheidung der Instanzen „I“ und „Me“ geliefert. Das „I“ als „spontane, impulsive und kreative Triebkonstitution“ wird dem Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 31 „Me“ als „Internalisierung der Erwartungen einer relevanten Bezugsperson bzw. die Antizipation des Bildes, das der andere von mir hat“ entgegengesetzt. (Mittelstraß, 1995, S. 754) Birnbacher (2006) setzt sich kritisch mit dem Personbegriff auseinander und sieht den besondern Vorteil in einem Verzicht auf den „Person – Begriff“ darin, dass sich hierdurch die Chance biete eine „feinkörnige Analyse und Begründung moralischer Rechte zu ermöglichen. Man braucht Wesen, die Person sind, nicht alle möglichen Rechte zuzu-schreiben, und man braucht Wesen, die keine Person sind, nicht bestimmte oder alle moralischen Rechte abzusprechen.“ (S.53 f) Aus den vorhergehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Begriff der „Menschenwürde“ bei der Diskussion der Konzepte zur Person und dem Schutz der personalen Identität (Selbst, Ich), und der Persönlichkeit (als empirisch psychologischer Begriff) implizit mitgedacht wurde. Eine Annäherung an den „Würde-Begriff“, wie er für medizinethischen Belange fruchtbar gemacht werden kann, rekurriert auf eine Differenzierung in die Aspekte der ontischen, phänomenologischen, reflexiven, und relationalen Würde. Die ontische Würde ist unveräußerbar und an die Existenz des Menschen gebunden und ergibt sich aus dem „Dasein und Wesen des Menschen.“ Niederschlag findet dies in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, sowie dem Konzept der Heiligkeit des Lebens.(Kuhse, 1994) (Hilgendorf, 2013) Ein aktuelles und rationales Bewusstsein ist an die Bedingung der Möglichkeit des Subjekts zum Bewusstsein gebunden und ermöglicht damit eine Zuschreibung von Würde, wie es sich in den deskriptiv normativen Ethikkonzepten niederschlägt. Die rationale Würde erlischt mit dem Verschwinden von Fähigkeiten und Interessen. Die reflexive Würde ist mit der moralischen Fähigkeit des Menschen (Kant) verbunden, wird in der Sozialisation erworben und kann jederzeit verloren gehen. Sie stellt einen starken Impetus dar, die moralischen Werte zur Geltung zu bringen, zumal die relationale Würde, die sich aus der gegenseitigen Anerkennung von Subjektiven ergibt, jederzeit verloren gehen kann. (Nussbaum, 2000, Nussbaum, 2012) Die Würde als „Eine Art zu leben“ formuliert Bieri in dem lesenswerten Buch. (Bieri, 2013) „Die Würde des Menschen ... ist eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben ... wie ich von den anderen Menschen behandelt werde ... was für eine Einstellung ich zu ihnen habe ... wie ich zu mir selbst stehe.“ (ebd.,S.12f) Bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn geht es aus medizinethischer Sicht um die Frage, ob es institutionell gewährleistet werden kann, dass die medizinische Indikation zur THS, trotz einer nicht vorhersehbaren Bedrohung der personalen Identität, der Gefährdung der Selbstbestimmung (agent control) zu rechtfertigen ist. Fazit: Das ethische Prinzip der Person ist bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn zu vage, offen und unbestimmt, und bedarf notwendig der Ergänzung und Einbettung in Abwägungsprozesse (Überlegungsgleichgewicht) vor allem mit dem „Prinzip der Autonomiewahrung (die Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten), dem Prinzip Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 32 der Fürsorge (die Behandlung des Patienten in seinem besten Interesse)“(Birnbacher, 2006,S.288), dem Schutz der Person unter Wahrung seiner „Menschwürde“ (Quante, 2010, Joerden, 2013), und dem Schutz der Öffentlichkeit vor antisozialen Persönlichkeiten.(Stoecker, 2014) Neben dem Schutz der körperlichen Integrität muss somit , wegen der Möglichkeit eines Personenwechsels, dem authentischen (personalen) weiter leben können, nach einer THS Rechnung getragen werden. Vorsorgende Maßnahmen (Stellvertreter, Vorausverfügung) unter Einschluss der Angehörigen und nächsten Bekannten sind deshalb geboten. 1.3.4 Wie lassen sich Persönlichkeitsmerkmale bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn erfassen? Die bisherigen Ausführungen haben eine philosophisch ausgerichtete Aufarbeitung der personalen Dimension thematisiert. Die Erfassung von psychologischen Persönlichkeitsmerkmalen muss eine Operationalisierung (reliabel,valide) ermöglichen um die Therapie–Outcomes vergleichbar zu machen. Gleichzeitig bedeutet dies eine Beschränkung auf mit inhaltlichem, formalen Bezug auf die eingesetzten Instrumente (Persönlichkeit ist das, was der Persönlichkeitstest misst). Zu einer sorgfältigen Bestimmung der Persönlichkeitsanteile sind psychiatrische und psychologische valide Test-Verfahren erforderlich um eine transparente und sensitive Studien,- und Behandlungsplanung zu ermöglichen, und nach gültigen fachärztlich-psychologischen Standards zu legitimieren. Vorweg ist an die „Kritik an den Psychopathentypen“ von Kurt Schneider (1980) zu erinnern. Er weist darauf hin, dass diese wie Diagnosen aussehen, aber „Persönlichkeiten kann man nicht diagnostisch etikettieren wie Krankheiten und seelische Folgen von Krankheiten. Man kann eben höchstens Eigenschaften an ihnen aufzeigen, unterstreichen, herausheben, die sie in auffallendem Maße kennzeichnen....“(S.31) Der normative Anteil des Persönlichkeitsbegriffs ist zusammen mit dem Autonomieprinzip, sowie dem Schutz der Privatsphäre, immer mit zu bedenken. Neben einer testpsychologischen Erfassung kognitiver Funktionen, ist die Testung emotionaler und motivationaler Anteile der Persönlichkeit Schwerpunkt einer neuropsychologischen Begutachtungssituation. Die den Tests zugrunde liegenden Persönlichkeitskonzepte entscheiden die Beurteilung und Interpretation der gewonnen Daten. Bei der Aufarbeitung der Literatur zur THS fand Witt (2013) lediglich zwei Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 33 Studien (von 30), die der Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen hinreichend Beachtung schenkten. (S. 507)23 Es lassen sich kategoriale von dimensionalen Persönlichkeitstests unterscheiden. Viele der psychometrischen Persönlichkeitstests24, wie z.B. der NEO-FFI, beruhen auf dem lexikalischen Persönlichkeitsansatz mit den fünf grundlegende Persönlichkeitsdimensionen (Neurotizismus, Introversion/Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit). Erste „molekulare Persönlichkeitsskalen“ zum „FiveFactor–Model“ versuchen „single polymorphisms“ zu entdecken. Die Forschung steckt hierzu noch in den Anfängen. Zukünftig könnte eine Spezifizierung der Eingrifftiefe mit einer Präzisierung der Zielstrukturen von electroceuticals (McCrae, 2010) entwickelt werden. Die Molekular-genetik spielt zum jetzigen Zeitpunkt im Rahmen der praktischen psychiatrischen Anwendung keine Rolle (siehe hierzu Kapur,S.u.a. (Molecular Psychiatry, 2012,17, 1174-1194). Zu bedenken ist, dass mit der TSH behandelte neurologische Patienten nicht per se „psychiatrische Patienten“ sind. Folgewirkungen (side-effects) der THS mit der Auslösung manischer Störungen, Suchtverhalten oder schweren depressiven Zuständen werden bei der THS Behandlung von neurologischen Patienten beobachtet. Das Gehirn fungiert als gemeinsames Eingriffsorgan der THS. Die Forschung muss sich somit um eine sensiblere Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen bemühen, die einer statistischen Aufarbeitung und vergleichbaren Interpretation möglich machen. Das TIPI (Trierer integriertes Persönlichkeitsinventar) von Becker und das HPI (Hamburger Persönlichkeitsinventar) sowie der Gießen-Test von Beckmann sind die am weitesten verbreiteten Persönlichkeits- Instrumente im deutschsprachigen Raum, und haben die „projektiven Verfahren“(Rorschach-Test,TAT) abgelöst. Das Trierer Persönlichkeitsinventar (englische Fassung liegt vor) „basiert auf einer systematischen Aufarbeitung und Weiterentwicklung von Theorien und diagnostischen 23 Die Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 sprechen von einer Persönlichkeitsstörung, wenn bei einer Person bestimmte Verhaltens-, Gefühls- und Denkmuster vorhanden sind, die merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen und sich in einem breiten Spektrum sozialer und persönlicher Situationen bemerkbar machen. Dabei sind die Persönlichkeitszüge überdauernd vorhanden, unflexibel und wenig angepasst und führen in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Andere Konzeptionen von Persönlichkeitsstörungen umgehen den auch heute noch zum Teil pejorativ erlebten Störungsbegriff und sprechen von dysfunktionalen Persönlichkeits- und Verhaltensstilen (Schmitz et al., 2001). Wiederholt im Leben unter verschiedenen Umständen auftretende maladaptive zwischenmenschliche Verhaltensmuster, die das soziale Funktionsniveau und die Lebensqualität der Person beeinträchtigen, sollten an eine Persönlichkeitsstörung denken lassen und die entsprechende Diagnostik veranlassen. Die sozialen Folgen können vielfältig sein, sich in mangelnder Beziehungsfähigkeit und Isolation oder in konflikthaft und instabil verlaufenden Beziehungen ausdrücken oder aber die Balance zwischen Nähe und Autonomie stören. Dabei kann die Person selbst dieses Muster problematisch und veränderungswürdig erleben oder nicht. Die Bewertung von Persönlichkeitsmerkmalen als maladaptiv unterliegt gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen und Veränderungen; so können beispielsweise narzisstische Persönlichkeitszüge in einem hoch-kompetitiven gesellschaftlichen Kontext von der sozialen Gruppe als wenig störend erlebt oder histrionische Persönlichkeitszüge bei Künstlern geradezu als Ausdruck der Kreativität aufgefasst werden. Es handelt sich um eine heterogene Störungsgruppe, so dass mit der allgemeinen Diagnose einer Persönlichkeitsstörung die Symptomatik noch nicht ausreichend beschrieben ist. Erforderlich ist eine genauere Festlegung, die anhand der spezifischen Subtypen von Persönlichkeitsstörungen erfolgen muss, deren Merkmale in der ICD-10 und im DSM-IV jeweils aufgelistet sind. www.AWMF online - S2-Leitlinie Psychiatrie: Persönlichkeitsstörungen.de pdf aufgerufen 14.09.2014 24 siehe hierzu das Testangebot des Hogrefe- Verlag Stuttgart. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 34 Instrumenten zur seelischen Gesundheit von Becker und Minsel, sowie auf faktorenanaytischen Studien zu den varianzstärksten und unabhäng-igen Faktoren der Persönlichkeit.“ Dem Testverfahren ist eingebunden in eine Systemtheorie und in das Circumplexmodell der Persönlichkeit, wobei die Hauptkonstrukte „Seelische Gesundheit“ und „Verhaltens-kontrolle“ als Ankerfaktoren gelten. „Seelische Gesundheit wird nach Becker als Fähigkeit zur Bewältigung externer und interner psychischer Anforderungen“ definiert. Die Testkriterien zum Einsatz bei einer normalen Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen sind teststatistisch und testtheoretisch geklärt(http://www.psychdata.de/index.php?main=search&sub=brose&id= brpr88pe99 aufgerufen am 20.07.2014). Eine praktische Umsetzung mit der Erfassung der personalen Identität, dem „agent“ Konzept, sowie einer sensitiven, validen und reliablen Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen könnte hier ansetzten. Das state-traitKonzept, welches mit einer Operationalisierbarkeit bei Angst-störungen (STAI) international Anerkennung gefunden hat, eignet sich ebenfalls zu einer Operationalisierung von Persönlichkeitsmerkmalen, findet aber bisher kaum Beachtung. (L. Laux, P. Glanzmann, P. Schaffner, C.D. Spielberger seit 1981 im Einsatz). Die Forschung steht noch ganz am Anfang. (Friedrich, 2014) Von Witt (2013) wird zur Bestimmung des psychologischen Persönlichkeitskonzepts das „Core-periphery-Model“, das „Activity-Model“ und insbesondere das „Foundational-Function-Model“ zur Erfassung der Persönlichkeit und der personalen Identität (als philosophischen Begriff) herausgestellt: „If we interpret „centrality to identity“ in terms of „foundational function“, it becomes clear why a change in her central attitudes changes the person. A change in one of her core attitudes resounds through the chain(s) of more peripheral attitudes that depend on them.“ (S.507) Das Konzept stellt einen Kompromiss von philosophischen und psychologischen Dimensionen dar, scheint aber noch nicht hinrejchend durchdacht zu sein. In der von Witt angesprochenen Studie werden das DAPP-BQ -Dimesional Assessment of Personality - und der revidierte NEO PI-R als Instrumente zur Persönlichkeitserfassung ange-führt. Es wird eine longitudinal angelegte Studie vorgestellt, welche das philosophische Konzept der „personal identity“ mit semi-strukturierten Interviews bei den Patienten und Angehörigen erfassen soll, in Kombination mit validierten quantitativen Persönlichkeitstests. Die psychiatrischen Persönlichkeitsdiagnosen werden mit den IDCL (Internationale Diagnosen Checklisten für ICD– Persönlichkeitsstörungen), und nach dem DSM – IV, bzw. DSM-V ((Falkai, 2015)) fachärztlich eingesetzt. Hiermit sollen die Dimensionen der „personal identity“ miterfasst werden, was sicher kritisch gesehen werden sollte, da es sich hier um klinisch deskriptive Skalen zur Erfassung von Störungsbildern handelt, was bei dem THS–Outcome nicht per se im Vordergrund steht.24 24 ICDL der WHO mit den Subtypen: paranoide, schizoide, dissoziale, emotional instabile, histrionische, anakastische, selbstunsichere, abhängige narzisstische, passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung; Saß,H , Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 35 Kritisch anzumerken ist, dass sich Persönlichkeits- (Charakter-) Modelle wie Zwiebelmodelle (Wellek) oder hierarchische Modelle in der psychiatrischen und psychologischen Praxis nicht bewährt haben, da sie wegen der Vermischung von dekriptiven und normativen Begrifflichkeiten zu einer validen Erfassung nicht geeignet sind. Hiermit ließen sich Konvergenzen zu einem in der Neurologie und der biologischen Psychologie anerkannten Krankheitskonzept herstellen. Die Diskussion hierzu kann hier nur angedeutet werden, wobei auf die neurowissenschaftliche und neurophilosophischen Darstellungen bei Friedrich,O, Zichy,M (2014) verwiesen wird. Fazit: Gegenwärtig lassen sich zum Bereich der Erfassung von personaler Identität und von Persönlichkeitsmerkmalen die Grenzen und Fragestellungen aufzeigen und auf weiteren interdisziplinären Forschungsbedarf hinweisen. 2. Zur Leitlinientherapie und dem Stellenwert der THS bei Neuropsychiatrischen Erkrankungen 2.1 Einige grundsätzliche Überlegungen zu Diagnose und Therapie bei neuropsychiatrischen Erkrankungen Von Birnbacher u. Birnbacher (2012) wird bei der Erörterung der „ethischen Aspekte bei der Setzung von Therapiezielen“ festgestellt. „Eine allseits verbindliche Definition von seelischer Gesundheit, richtigem Leben und psychischer Lebensqualität ist bei dem in unserer Gesellschaft herrschenden Wert- und Normpluralismus kaum möglich, noch weniger als entsprechende Definitionen von körperlicher Gesundheit, gesunder Lebensführung und körperlichem Wohlbefinden.“ (in: Wiesing, 2012,S. 222) Als „Schlüsselbegriffe der Medizin“ (Paul, 2006, S.131) sind Gesundheit und Krankheit einem fortwährenden gesellschaftlichen Einfluss unterworfen und nur auf dem Hintergrund einer medizinhistorischen Einordnung zu fassen. Während die „ontologischen Krankheitskonzepte“ im 19. Jahrhundert keinen Trennung zwischen „Krankheitsbeschreibung“ und „Krankheitswert“ vorgenommen haben, und nach dem Modell der „Seuchenmedizin“ Krankheiten bekämpft wurden, hat sich im 20. und 21. Jahrhundert der „analytisch-naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff“ durchgesetzt, und Krankheiten wurden „zunehmend als natürliche Prozesse im menschlichen Organismus“ beschrieben. (Paul, 2006, S. 133f.) Die Unterscheidung von Krankheitsdeskription und Krankheitswerten nimmt darauf Bezug, dass der Begriff Krankheit untrennbar einen deskriptiven und askriptiv, normativen Bedeutungsbereich umfasst. „...nur Wittchen,HM, Zaudig,M,: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. Hogrefe-Verlag, Göttingen, 1998 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 36 das Anerkennen von Krankheitswerten rechtfertigt den Anspruch auf den helfenden oder heilenden Eingriff der Medizin.“ (Paul, 2006, S.135) Die Grenze zwischen pathologischen und gesunden Lebensprozessen wird aktuell durchlässiger, wenn die Diskussion um den Bereich des „Neuroenhancements“ erweitert wird. (Schöne.-Seifert, 2009) Bei der Unterscheidung gesunder und pathologischer Anteile bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen muss sich der theoretisch und praktisch tätige Arzt auf ein probabilistisches neurofunktionelles Krankheitsmodell beziehen. Das der THS zugrunde liegende Krankheitsmodell wird folgendermaßen beschrieben. „The brain operates through complex interactions in the flow of information and signal processing with neural networks. The „wiring“ of such networks, being neural or glial, can physically and/or functionally go rogue in various pathological states. Neuromodulation, as a multidisciplinary venture, attempts to correct such faulty nets.“ (Parpura, 2013,S.436) Der Krankheitsbegriff kann sich im neurologischen und psychiatrischen Fachgebiet nicht alleine auf dieses Hirn-Konzept beziehen. Neuropsychiatrische Krankheiten sollten vielmehr, aus guten Gründen, in einen lebensweltlichen Kontext gestellt werden. „Wie schon Karl E.Rotschuh aufgezeigt hat, gibt es nicht nur den Krankheitsbegriff der Medizin, sondern man muss zusätzlich in Rechnung stellen, dass die Bezeichnung krank und Krankheit a) auch in der alltäglichen Lebenswelt gebraucht werden ... das sich nicht mit dem der (wissenschaftlichen) Medizin deckt; b) in der Arbeitswelt, im Sozialrecht und im Versicherungs-wesen einen bestimmten sozialen status bezeichnen ... c) sowohl in der Geschichte der abendländischen Medizin als auch in außereuropäischen Kulturen und Medizinsystemen der Vergangenheit und Gegenwart mit anderen theoretischen Vorstellungen und praktischen Konsequenzen verbunden wurden beziehungsweise werden...“ (Hucklenbroich, 2012,S. 138f) Psychiatrische Diagnosen25 sind definitorisch als soziale Konstrukte einzuordnen. (Schramme, 2004) Während im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts idiosynkratische diagnostische Einteilungen eine Vergleichbarkeit seelischer Störungen nicht möglich machte, wurde mit dem Anspruch einer weltweiten Erfassung von Gesundheit und Krankheit nach einem Konsens gesucht, im amerikanischen Bereich in dem Diagnostic and Statistical Manual of Diseases dargestellt, und sich im deutschen öffentlichen Gesundheitsweisen auf das international classification of deases (ICD – 10) der WHO bezieht. Unter den gegenwärtigen gesundheitsökonomischen Arbeitsbedingungen der Ärzte ist es ratsam, wenn verwertbare Aussagen zur Schwere einer Krankheit gemacht werden, genau zu wissen, ob es sich um Aussagen auf der Makroebene (Politische, institutionelle finanzielle Verteilungsstrategien) oder um die Mikroebene (Arzt-Patienten-Ebene) handelt. Auf 25 „Unter einer Diagnose ist – grob gefasst – die durch Bezug auf medizinisches Wissen und pathologische Befunde gesicherte Aussage über den gegenwärtigen Zustand eines Patienten zu verstehen. Eine Prognose stellt hingegen im Idealfall eine plausible, aber auf den ersten Blick weitaus weniger sichere Aussage über die zukünftige Entwicklung des Gesundheitszustandes des Patienten dar.“ (Paul, 2006, S. 143) siehe hierzu insbesondere Wolfgang Wieland (2004) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 37 den systematischen Zusammenhang „zwischen Verteilungsdebatte und dem zugrunde liegenden Krankheitsbegriff“ (Schramme, 2004,S. 178) soll unter dem Aspekt der „Gerechtigkeit im Gesundheitswesen“ hier nur hingewiesen werden (Schöne-Seifert, 2007, Schramme, 2012) Bereits 2001 hat sich im Sozialgesetzbuch (SGB IX) die von der WHO empfohlene ICF, International Classification of Functioning, Disability and Health) niedergeschlagen. „Neben dem diagnosebezogenen medizinischen Dokumentationssystem ICD (International Statistical Classification of Deseases and Related Health Problems) wurde damit eine neue Klassifikation eingeführt, der das bio-psycho-soziale Modell von Krankheit und Gesundheit zu Grunde liegt.“26 Die Kernaussage dieses Modells ist eine stärkere Betonung des „empowerments“ bei den erkrankten Personen. Nicht die Defizite, sonder die Aktivitäten und Partizipationen stehen im Focus. Nicht die Diagnose, sondern das „Krankheitsbild,“ unter Beachtung der lebensweltlichen Rahmen-bedingungen, sollen zu einer besseren, weil individuelleren Operationalisierbarkeit und Vergleichbarkeit sozialmedizinischer Aussagen, beitragen. Dies setzt allerdings einen hohen internationalen Aufwand an deliberativen Aktivitäten von Experten des globalen Gesundheitswesens voraus, dessen Niederschlag in der Praxis zurzeit noch sehr unterschiedlich bewertet werden muss. Ausfluss dieses Diskurses, insbesondere angeregt durch die evidenced basierten Medizinansätze, ist die Formulierung von „Leitlinien“, die inzwischen einen festen Bestandteil zur Beurteilung von legitimen medizinischen Indikationen und Behandlungen gefunden hat. „Leitlinien sind Handlungsanweisungen für die Diagnostik und Therapie einer Erkrankung oder eines Symptomkomplexes.“ (Diener, 2008, Vorwort zur 1.Auflage). Im Laufe einer Dekade werden dabei von einer „Kommission“ mit sehr unterschiedlichen Interessen, ein Konsenspapier im Sinne von Leitlinien konzipiert, die als Anweisungen fachärztlichen Handelns beachtet werden sollen.27 Die Leitlinien werden auf der Webbseite der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zu Verfügung gestellt. Der 1962 gegründete Gesellschaft sind 168 Fachgesellschaften angeschlossen. „Die "Leitlinien" der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin, sollen aber auch ökonomische Aspekte berücksichtigen. Die "Leitlinien" sind für Ärzte rechtlich nicht bindend und 26 siehe hierzu: „Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung- Sozialmedizinische Begutachtung neurologischer Krankheiten. Juli 2010. Deutsche Rentenversicherung. Bereich 0440. , S. 16 ff 27 „Die Einstufung der Empfehlungsstärke kann neben der Evidenzstärke die Größe des Effekts, die Abwägung von bekannten und möglichen Risiken, Aufwand, Verhältnismäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder ethische Gesichtspunkte berücksichtigen.“ Es werden Evidenzklassen vorgegeben (positive Aussage gut belegt; Positive Aussage belegt, negative Aussage gut belegt, keine sicheren Studienergebnisse), sowie „Empfehlungsstärken A: Hohe Empfehlungsstärke aufgrund starker Evidenz oder bei schwächerer Evidenz aufgrund besonders hoher Versorgungsrelevanz; B Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer Evidenz oder bei schwacher Evidenz mit hoher Versorgungsrelevanz oder bei starker Evidenz und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz. C Niedrige Empfehlungsstärke aufgrund schwächerer Evidenz oder bei höherer Evidenz mit Einschränkungen der Versorgungsrelevanz.(Diener, 2008, Vorwort zur 4. Auflage) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 38 haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.“(www.awmf.org. aufgerufen am 01.11.2014) Leitlinien werden als Orientierungshilfen bei der Diagnostik und der Therapieauswahl bei speziellen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern betrachtet. 28 Die folgende Übersicht soll auf ausgewählte neuropsychiatrische Krankheitsbilder eingehen, bei denen die TSH bereits „routinemässig eingesetzt wird“, oder bei denen „Ausweitungen des Einsatzes“ zu erwarten sind, sowie solche Krankheitsbilder bei denen die THS in Studien bereits eingesetzt wird. Weltweit wurden seit 1995 über 100.000 Patienten mit der THS (DBS) behandelt.(medtronic.de, aufgerufen 13.11.2014). Europäische Zulassungen gibt es für die folgenden Indikationen. Idiopathisches Parkinsonsyndrom (IPS), Tremor, Dystonie, Zwangsstörung (OCD), Epilepsie. Zum technischen Vorgehen werden stereotaktisch zwei Elektroden (bilaterale Stimulation) in das Gehirn implantiert (beim essentiellen Tremor unilaterral). Die Stimulation erfolgt über einen Neurostimulator (Batterie betrieben, ähnlich einem Herzschrittmacher), der unter die Haut unterhalb des Schlüsselbeins implantiert wird, und die Abgabe von elektrischen Impulsen erfolgt über einen programmierbaren Computerchip. Die Implantation ist jederzeit wieder zu entfernen, die Programmierung erfolgt durch den behandelnden Facharzt und muss individuell erfolgen. Die biologische Anpassung der Elektroden im Gehirn dauert einige Tage, sodass die Stimulation danach begonnen werden kann. (Vesper, 2014) Das Störungsmodell beruht auf der Arbeitshypothese, dass es sich bei den zu behandelnden Krankheiten um „Netzwerkstörungen der neuronalen Informationsübertragung“ im Sinne „neuronaler Dysfunktionen der Basalganglien-Kortex-Schleife“ handelt, „die durch eine Neuro-modulation korrigiert werden können.“ (Schläpfer, 2014) Es wird erwartet, dass Netzwerkstörungen durch „electroceuticals“ (Famm, 2013) gezielter behandelt werden können als mit chemischen Pharmazeutika. Neuroanatomisch und neurophysiologisch handelt es sich bei den Basalganglien um die Strukturen Substantia nigra, das Striatum, das Pallidum, den Nucleus subthalamicus, den Nucleus pedunculopontinus. Diese Strukturen sind mit Faserverbindungen über den Thalamus mit dem Cortex und über die Substantia nigra pars reticularis und den pedunculopontinen Kern mit dem Hirnstamm verbunden. Beteiligt sind vor allem die Neurotransmitter Dopamin und Gammaaminobuttersäure (GABA). Das Zwischenhirn ist unterhalb des Cortex lokalisiert (Striatum). Fast alle Neurone des Pallidums sind Projektionsneurone mit GABA Transmission. „Der Nucleus subthalamicus (STN) ist der einzige ausschließlich erregende 28 Leitlinien-Glossar AWMF : Klassifizierung von Leitlinien: S1: von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet (Ergebis: Empfehlungen); S2: eine formale Konsensfindung („S2k“) und/oder eine formale „Evidenz-Recherche („S2e“) hat stattgefunden; S3: Leitlinie mit allen Elementen einer systematischen Entwicklung („Logik-, Entscheindungs-, outcome“-Analyse); Nationale Versorgungsleitlinien entsprechen methodisch der Klasse S3. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 39 Kern der Basalganglien, seine Neurone verwenden den Transmitter Glutamat und er projiziert zum Globus pallidus internus (GPi), zum Nucelus pedunculopontinus (PPN) und in geringerem Umfang zurück zum Globus pallidus externus.“ (Oertel, 2012,S.5) Der GPi hemmt den Thalamus (Ausgangsstation der Basalganglien) und hat Einfluss auf die Aktivität der kortikalen Strukturen. Die Eingangsstation der Basalganglien ist das Striatum. Wichtig für den hier angesprochenen Zusammenhang ist, dass der Cortex eine direkte erregende Einflussmöglichkeit auf den Nucleus subthalamicus (STN) hat, somit auf den wichtigsten Ausgangs-kern (GPi) der Basalganglien. Damit können motorische Programme ausgewählt werden. Zusammenfassend haben die Basalganglien eine selektive Funktion auf die Expression motorischer automatischer Bewegungen. Es werden Bewegungsfolgen gesteuert und die gelernten motorischen Aufgaben werden ausgeführt (gewohntes Verhalten). Gleichzeitig werden konkurrierende motorische Abläufe selektiv unterdrückt. Der Verlust von Neurotransmittern (Dopamin) führt damit zu einer Störung gewohnter motorischer Abläufe. Die Aufmerksamkeit, die emotionale Beteiligung (über limbische Mitbeteiligung) und Erregbarkeit einer speziellen motorischen Performance wird von den Basalganglien wesentlich mitgesteuert. Das funktionelle Modell der Basalganglien wurde in den 80-iger Jahren insbesondere von Alexander u.a. beschrieben. (Alexander, 1986, Oertel, 2012) Suszeptibilitätsgene (SLITRK1-Gen), SLIT-, und NTRK-Proteine sind an der Entwicklung der Corticostriatalen-thalamocorticalen Schaltkreise beteiligt.(Ludolph, 2012) 2.2 Die THS beim idiopathischen M. Parkinson (iPS) Wann und worüber sollten Patienten/ Patientinnen und Angehörige informiert werden, wenn im Verlauf einer Parkinson-Erkrankung die Behandlung mit der THS fachärztlich indiziert werden kann? Historisch gesehen erfolgte die Erstbeschreibung der ParkinsonErkrankung 1817, die ersten klinischen medikamentösen Behandlungsansätze sind 1961 mit L-Dopa beschrieben, neben den läsionellen Interventionen seit den 1950-iger Jahren. Seit 1993 wurde das Behandlungsspektrum mit der Tiefen Hirnstimulation (1993 STN-THS Erstbeschreibung durch Pollak,P, Benabid,AL, Gross,C. Efffects of the stimulation of the subthalamic nucleus in Parkinson´s desease. RevNeurol 1993:149:175-176) ergänzt. 1998 erfolgte die Europäische Zulassung der beidseitigen STN-Stimulation, 2002 die US-amerikanische Zulassung der beidseitigen STN-Stimulation.29 Die Auswahl der Stimulationsorte wird in der Fachliteratur kontrovers diskutiert, wobei sich allerdings im Überblick folgendes formulieren lässt. Die Basalganglien (Nervenknoten im unteren Gehirnbereich) spielen bei der 29 Abkürzungen: THS Tiefe Hirnstimulation; iPS idiopathisches Parkinson-Syndrom; snonymer Gebrauch Morbus Parkinson, primäres Parkinson-Syndrom; GPi Globus pallidus internus; GPe Globus pallidus externus; SNr Substantia nigra, pars reticulata; STN Nucleus subthalamicus; VIM Nucleus ventralis internus des Thalamus; GAN Gamma-amina-Nutyrat; STN-THS Tiefe irnstimulation im Zielort Nucleus subthalamicus Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 40 Kontrolle kognitiver, emotionale, motorischer und sensorischer Funktionen eine wichtige Rolle, da sie im Austausch miteinander und mit dem Thalamus und dem Neocortex stehen („ganglio-thalamokortikale Organisation“ nach dem Modell von Alexander) (Alexander, 1986), und die als „kortiko-striato-thalamo-kortikale Schleifen“ Zielorte bei der Neuromodulation sind. „Es wird ferner angenommen, dass sowohl STN als auch GPi regulierend in assoziative und limbisch-kortiko-subkortikale Netzwerke eingreifen“, und hierdurch auch in Zusammenhang mit den psychiat-rischen Nebenwirkungen stehen. „An den STN angrenzende Zellverbände projizieren zudem in anterior-zinguläre, ventral-striatale und frontale Hirnregionen.“ (Skuban, 2011,S.704) Eine europäische Zulassung hat die THS (DBS) bei der Indikation iPS für den fortgeschrittenen Levodopa responsiven Morbus Parkinson als „Begleitbehandlung“ zur symptomatischen Besserung von motorischen Einschränkungen, die durch medikamentöse Behandlung nicht adäquat gelindert werden können. Die Medtronic DBS-Therapie ist für die Zielgebiete zur Stimulation STN oder GPi zugelassen. „Der STN ist mit einem Volumen von durchschnittlich 158 mm3 weniger als halb so groß wie der GPi, der ein Volumen von etwa 478 mm 3 besitzt, außerdem beinhaltet der STN auch zahlreiche Neuronen, die nicht in motorische Funktionen eingebunden sind.“ (Skuban, 2011a) Die technisch anspruchsvollere und erwartungsgemäß auch riskantere (nebenwirkungsreichere) Zielstruktur ist somit der STN. Das iPS (ICD-10:G20) ist die häufigste neurologische Erkrankung (Prävalenz 100-200/100.000 Einwohner in Deutschland; > 65 Jahre 1.800/100.000) (Oertel, 2012) Die fachärztliche Behandlung des Morbus Parkinson erfordert „individuelle Therapiestrategien“(Reichmann, 2014), wobei die ParkinsonpatientenParkinsonpatientinnen in sogenannte „biologisch junge Patienten“ (Behandlungsbeginn mit Non-Ergot Dopamin-Agonisten) und „biologisch ältere Patienten“ (Behandlung mit Levodopa) eingeteilt werden, und die Dosierung sich nach dem klinischen Effekt und den Nebenwirkungen richtet. Bei Erkrankungen vor dem 50. Lebensjahr muss ein Morbus Wilson ausgeschlossen werden. (Kupferstoffwechselstörung). Es werden vier Verlaufsformen unterschieden: Akinetisch – rigider Typ; Äquivalenz-Typ; Tremordominanz-Typ; Monosymptomatischer Ruhetremor. Die apparativen Zusatzuntersuchungen, einschließlich der bildgebenden Verfahren (CCT,SPECT,PET, NMR), dienen dem Ausschluss der anderen neurodegenerativen Erkrankungen (atypische Parkinson-Syndrom: MSA,DLK,PSB,CBD), und der symptomatischen, sekundären ParkinsonSyndrome. Weiterhin ist eine genetische Form des Parkinson-Syndroms zu berücksichtigen. Die Klassifizierung der iPS und der atypischen ParkinsonSyndrome erfolgt nach den pathologischen Kriterien in Synukleinopathien und Tauopathien.30 30 Abkürzungen: MSA Multisystematrtophie; DLK Demenz vom Lewy-Körper-Typ; PSP Progressive supranukleäre Blickparese; CBD Kortikobasale Degeneration; Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 41 Die klinische Diagnose eines iPS (UK Brain Bank Kriterien 1990) umfasst die Bradykinese mit einer Verlangsamung willkürlicher Bewegungen, Verlangsamung und Amplitudenreduzierung bei wiederholten Bewegungen, und mindestens ein weiteres Symptom (muskulären Rigor, Ruhetremor von 4-6 Hz, posturale Instabilität). Differentialdiagnostisch müssen im Vordergrund stehende Gangstörungen beachtet, und ausgeschlossen werden. Die Absicherung eines iPS erfolgt mit unterstützenden Kriterien des einseitigen Beginns und der Asymmetrie der Symptomatik im Krankheitsverlauf, dem Ruhetremor, und dem eindeutigen positiven motorischen Ansprechen auf die Medikation mit L-Dopa (>30% in der Unified Parkinson´s Disease Rating Scale, UPDRS Teil III), und durch einen nicht durch zentrale neurologische Zusatzsymptome komplizierten klinischen Verlauf von 10 oder mehr Jahren. Die Beurteilung der klinischen Schwere der Erkrankung erfolgt nach dem Hoehn & Yahr Stadium31 und der Differenz zwischen dem On- und OffZustand nach der UPDRS, sowie der Skala zur Erfassung nichtmotorischer Symptome bei der Parkinson – Erkrankung (NMSQuest, NonMotor- Symptoms Assessment Scale for Parkinson´s disease). Bei der klinischen Stadieneinteilung (H&Y) werden ab Stadium 3 die axialen Symptome berücksichtigt (Gleichgewicht, Gangstörungen, Stürze), wobei diese motorischen Symptome nicht von einer L-Dopamedikation, und somit auch nicht von einer TSH (DBS) beeinflusst werden. Auf die Progredienz der neurodegenerativen iPS haben die Medikamente (Levodopa) und die THS keinen Effekt. Die besondere Gefährdung der Parkinsonkranken wird durch die Klärung von Gefäßerkrankungen, und insbesondere der kognitiven Störungen (neuropsychologische Störungen: Arbeitsgedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Exekutivfunktionen) ermöglicht. „Patienten mit Morbus Parkinson (MP) zeigen häufig Defizite in der Wortflüssigkeit, bei Entscheidungsprozessen, in der kognitiven Flexibilität und beim planerischen Denken. Entsprechende Defizite treten bei der Erstdiagnose des MP bereits mit einer Häufigkeit von 18% auf, wie eine gemeindebasierte Studie gezeigt hat...“(S2e Leitlinie: Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen aktueller Stand 11/2011, AWMF-Register Nr. 030/125, publiziert bei AWMF online) Bei Schädigungen des präfrontalen oder orbitofrontalen Kortex oder subkortikaler Strukuren ( Nucleus caudatus oder Thalamus), die bei einer STN-Stimulation mit beeinflusst werden können, treten dysexekutive Störungen gehäuft auf. Dies hat für die berufliche Teilhabe, die Selbständigkeit, die Alltagsbewältigung, und die Belastung der Angehörigen entscheidendes Gewicht. Eine positive Wirkung auf diese Einschränkungen kann somit von der THS wahrscheinlich nicht erwartet werden. Vielmehr sprechen die 31 Stadium 0: keine Anzeichen der Erkrankung; Stadium 1 einseitige Erkrankung; Stadium 1.5 Einseitige Erkrankung und axiale Beteiligung; Stadium 2 beidseitige Erkrankung ohne Gleichgewichtsstörungen Stadium 2.5 leichte beidseitige Erkrankung mit Ausgleich beim Zugstest, Stadium 3 leichte bis mäßige beidseitige Erkrankung: leichte Haltungsinstabilität; körperlich unabhängig; Stadium 4 starke Behinderung, kann noch ohne Hilfe laufen und stehen; Stadium 5 ohne Hilfe an den Rollstuhl gefesselt oder bettlägerig. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 42 bisher vorliegenden Studien dafür, dass „there ist a significant decline of both sementic and phonetic verbal fluency and a mild trend für a deterioration of verbal memory after DBS. Mood, general cognitive screening, and visospatial abilities remained unchanged.“ (Harati, 2013). Auf den Krankheitsverlauf der neurodegenerativen Erkrankung haben die Behandlungsmethoden keinen Einfluss. Dazu gehören die sich verschlechternden Gangstörungen, die Sprechstörungen (Dysarthrophonie) und die Demenz. Nach den Leitlinien Parkinson-Syndrome gelten als Therapieziele: Therapie von motorischen, autonomen, kognitiven und kommunikativen sowie psychiatrischen Symptomen der Erkrankung Erhaltung der Selbständigkeit in den Aktivitätten des täglichen Lebens (ADL) Verhinderung/Verminderung von Pflegebedürftigkeit Erhaltung der Selbständigkeit in Familie und Gesellschaft (soziale Kompetenz) Erhaltung der Berufsfähigkeit Erhalt/Wiedergewinnen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität Vermeidung von sekundären orthopädischen und internistischen Begleiterkrankungen Verhinderung/Behandlung von motorischen und nicht motorischen Komplikationen Vermeidung von medikamentösen Nebenwirkungen Weiterhin sollte die körperliche und vor allem psychische Belastung der Lebenspartner und der Familie der Patienten berücksichtigt werden. Die zur Verfügung stehenden Medikamente: L-Dopa (4:1 mit Decarboxylase-Inhibitor) überlegener motorischer Effekt o Therapiekomplikationen Dyskinesien, Wirkfluktuation o Nebenwirkungen Orthostatische Hypotonie Übelkeit, Brechreiz Exzessive Tagesmüdigkeit dopaminerg erzeugte Psychose Punding – stereotype, komplexe, entspannende ziellose Handlungen (Zwangsstörungen) Impulskontrollstörungen (Spielsucht, Promiskuität) dopaminerges Dysregulationssyndrom Dopa-Agonisten weniger Dyskinesien, Fluktuationen verbessert o Therapiekomplikationen Halluzinationen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 43 o Nebenwirkungen Orthostatische Hypotonie Übelkeit, Brechreiz Beinödeme dopaminerge Psychosen Impulskontrollstörungen (Spielsucht, Promiskuität) Punding Dopaminerges Dysregulationssyndrom vermehrte Tagesmüdigkeit (cave: Fahrtüchtigkeit) Fibrose der Lunge (Ergot-Derivate) Herzklappenfibrosen COMT-Inhibitoren mit L-Dopa bei motorischen Fluktuationen o Therapiekomplikationen (L-Dopa/Carbidopa/Entacapon) Dyskinesien o Nebenwirkungen Schwere Hepatotoxizität (Tolcapon) Diarrhoen Dunkler Urin MAO-B-Hemmer Frühstadium als Mono oder Kombi Therapie o Reduktion der Off-Zeit und Gewinn von On-Zeit o Verbesserung der Wirkfluktuationen o krankheitsmodifizierende Wirkung (nicht konsistent) Nebenwirkungen Kardiovaskulär, zentralnervös NMDA-Antagonisten reduziert L-Dopa Dyskinesien, Akinese o Nebenwirkungen Verwirrtheit Ödeme Livedo reticularis Nach Präparat – cave bei Dialyse Anticholinergica Tremorwirksamkeit o Nebenwirkungen Kognitionsstörungen Operative Behandlungsverfahren 1. Läsionelle neurochirurgische Intervention a. Sonderindikation (einseitig) Tremor i. Nebenwirkung Sprechstörung ii. Komplikation Irreversibilität 2. Tiefe Hirnstimulation „potente Behandlungsmethode des fortgeschrittenen Stadiums der iPS“ a. Indikation (zweiseitig) Akinese, Rigor, Tremor b. Besondere Indikationen i. Medikamentös nicht behandelbare hypokinetische oder hyperkinetische Fluktuationen ii. Medikamentös nicht einstellbarer Tremor Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 44 iii. Dopaminerg-induzierte Psychosen wenn motorische Symptome nicht ausreichend mit L-Dopa therapierbar (cave: kognitives Defizit) iv. Medikamentös induzierte Impulskontrollstörrungen als Sonderindikation c. Effektivität i. Besserung der Off-Symptome 50-70%, entsprechend der Wirkungsstärke von L-Dopa ii. Wirkdauer 24 Stunden iii. Nachlassen bis Verschwinden der Wirkungsfluktuationen iv. Minderung der L-Dopa induzierten Dyskinesien nach Reduktion der L-Dopa Medikation v. Anhaltende Wirkung bei Stimulation des STN (8Jahres Studie vorliegend) vi. Bei STN kann dopamimetische Therapie (akinetischrigides Syndrom) reduziert werden vii. STN und GPi als Stimulationsorte (Differenz unklar) viii. Stimulationsort Nucleus ventralis intermedius des Thalamus – Sonderindikation: therapieresistenter Ruhetremor bei Älteren d. Schlechter Effekt oder Verschlechterung durch Krankheitsverlauf i. Gangstörung ii. Parkinson Sprechstörung iii. Frontales dysexekutives Syndrom e. Perioperative Komplikationen (Skoban, 2011, Erasmi, 2014) 1. 10% intrakranielle Blutung (Skoban, 2011); 1,65% (Erasmi, 2014) abh. Von der Anzahl der Elektroden 2. Infektionen 4,5 % (Erasmi, 2014) 3. bis 15 % Elektrodenbrüche, 19% Elektrodendislokation; Stimulationsassoziierte Komplikationen: Dysarthrie, Gangstörungen mit Freezing, Lidöffnungsapraxie, Dyskinesien 4. Krampfanfälle (keine Angaben) 5. Komplikationsrate bei STN-Stimulation > GPi (Skoban, 2011, S.705) insbesondere bei Ältere und höherer L-Dopa Medikation (Erasmi, 2014) 6. Letalität oder schwere Morbidität zwischen 0,5 – 3 % (Leitlinien 2012, S.21); Gesamtmortalität 0,1%- 0,4% (Erasmi, 2014) 7. Reversible perioperative Komplikationen < 5 % (Leitlinien 2012, S. 21) f. Verbesserungen der Lebensqualität i. Größter messbarer Effekt in den motorischen Dimensionen (Mobilität, ADL, Stigmata, Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 45 körperliches Unbehagen gemessen mit dem PDQ-39); keine Verbesserung in den nichtmotorischen Dimensionen (Emotionales Wohlbefinden, soziale Unterstützung, Kognition, Kommunikation gemessen mit dem PDQ-39) (Erasmi, 2014) g. Postoperative psychosoziale Anpassungsstörungen und psychiatrische Nebenwirkungen (Skuban, 2011) i. Hypothesen zur Genese: Elektrodenplazierung; Neurotransmitterirritationen, Demaskierung prämorbider psychiatrischer Erkrankungen ii. Apathie, emotionale Verflachung, „SelbstAktivierungsdefizit“32 Prädiktoren: Ausmaß nichtmotorischer Fluktuationen iii. Suizidalität und Depression: 75 % der Suizide und Suizidversuche ereignen sich postoperativ in den ersten 17 Monaten; 0,41 bis 2% (bei iPS im Vergleich zur Normalbevölkerung 10-fach verringerte Suizidrate (Skuban, 2011,S.706)) Erklärungsansätze zu den psychiatrischen Nebenwirkungen 1. Enttäuschung über Therapieeffekte (Maier, 2013) 2. Anforderungen zur Resozialisierung 3. Singlestatus 4. Soziale familiäre Schwierigkeiten 5. Dopamin-Depletion des limbischen Systems 6. Neuropsychologische Auswirkungen der THS: Verlangsamung von Entscheidungsprozessen, Impulskontrollstörungen(Florin, 2013) 7. Interventionsimmanente Nebenwirkungen: Irritation limbischer Strukturen des neuronalen Basalgangliennetzwerkes /inkonsistente Studienergebnisse (eher bei STN Stimulation) 8. Prämorbide und präoperative depressive Episoden 9. Postoperative Veränderung der Parkinsonmedikation iv. Psychosoziale Anpassungsstörungen und social burden 1. Nicht ausreichende Therapie möglich nach Op. 32 „Unter Apathie versteht man einen Mangel an Motivation und Interesse, der sich klinisch druch eine Reduktion willentlich zielgerichteten Verhaltens, verminderter emotionaler beteiligung und ausbleibenden bzw. quantitativ oder qualitativ verminderten Reaktionen in Bezug auf Umgebungsreize äußert und der nicht einer Bewusstseinstrübung oder einer anderen Erkrankung kognitiver oder emotionaler Art geschuldet ist.“(Skuban,2011,S.705) Messung mit der Starkstein Apathy Scale, SAS. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 46 2. Hyomanie und Manie in 4 % (Skuban, 2011, S.707) mit Erklärungsansätzen: a. Prächirurgische bipolare affektive Störung b. Stimulation anatomischer Strukturen (medialer Anteil des STN) 3. Hoher „social burden“ für die Angehörigen und das öffentliche Gesundheitswesen (Prospektive Studie mit Hinweis auf Langzeiteffekte vs. Kurzzeiteffekte bzgl. des „social burden“ und der persönlichen Bewertung von Patienten und caregivers werden im Rahmen des ELSA-DBS erarbeitet. (Ethical, Legal and Social Aspects of Deep Brain Stimulation) Timmermann,L. u.a. „Parkinsons disease patients with subthalamic stimulation and carers judge quality of life differently.“ (Druckfahne übermittelt an den Verfasser e-mail: [email protected]) v. Persönlichkeitsveränderungen33 1. Personwechsel oder Persönlichkeitsänderung(Schüpbach, 2006) möglich. 2. „derzeit kann diesbezüglich noch keine konkrete Aussage getroffen werden.“ (Skuban, 2011, S.708), Studien werden zu diesem Bereich vorbereitet (Witt, 2013a), 3. Erklärungsversuch: Stimulationsziel ventral (STN, GPi) nicht motorische Areale 4. Veränderung von Persönlichkeitszügen (risk seeking behavior), Aggressivität, Apathie, Stimmungsänderung, Sexualverhalten, Ängstlichkeit in einer Metaanalyse in weniger als 0,5% bei TSH (Skuban, 2011), wobei die Messinstrumente hierfür nicht sensibel sind. (Witt, 2013) vi. Absolute Kontraindikationen zur THS bei iPS (Hilker, 2009, Erasmi, 2014) 1. Schwere Allgemeinerkrankungen 2. Erhöhte Blutungsneigung 3. Maligne Grunderkrankungen 4. Chronische Theapie mit Immunsuppressiva 5. Außgeprägte innere und/oder äußere Hirnatrophie 6. Relevante strukturelle Hirnläsionen 33 „Nach E.J. Phares versteht man unter dem Terminus „Persönlichkeit“ ein Muster von chrakteristischen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, die eine Person von einer andern unterscheiden und die über Zeit und Situation fortdauern.“ (Skuban, 2011, S. 707) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 47 7. Schweres frontales dysexekutives Syndrom 8. Manifeste psychiatrische Erkrankung (medikamentös schwer einstellbare Depression) 9. Klinisch relevante Störungen von Affekt (Depression, Manie) und/oder Verhalten (Substanzmissbrauch, Dopamindysregulationssyndrom) und/oder Persönlichkeit 10. Latente oder manifeste Suizidalität (Suizidgedanken, Suizidhandlungen n der Vorgeschichte) 11. Neurochirurgische Kontraindikationen Insgesamt werden demnach die Haupteffekte der THS (iPS) in einer Verbesserung der Motorik und der damit verbundenen Lebensqualität signifikant nachgewiesen. Es werden zwar positive Wirkungen auf nichtmotorische Symptome durch die THS in ausgewiesenen Studien belegt (Schlafdauerverbesserung, Blasenkontrolle, Schmerzen, Hypersalivation, Hyperhidrosis), wobei sich meistens zusätzlich eine Gewichtszunahme in den ersten Tagen nach der THS-STN zeigt, diese sind aber nicht als Zielsymptome zu bewerten und inkonsistent, meistens vorübergehend. (Erasmi, 2014, S. 140 f) Reichmann (2014) sieht eine Indikation für die THS bei Patienten, die nicht älter als 70 Jahre sind, keine psychiatrische Vorgeschichte haben, keine kognitiven Einschränkungen (MMST > 24) zeigen, und bereit sind, die technischen Einstellungen durch den Arzt vornehmen zu lassen. (S. 28) Alternative therapeutische Interventionen bei Dyskinesien und motorischen Fluktuationen sind abzuwägen. Die Behandlung mit der Apomorphinpumpe und der Duodopa-Pumpe haben keine Alterslimitation, keine Einschränkungen für psychiatrische Erkrankungen und kognitive Einschränkungen, und die Behandlung kann von Pflegern und Angehörigen, bei regelmäßigen Arztkontrollen, mit assistierend übernommen werden. (Reichmann 2014, S.28) „Die tiefe Hirnstimulation ist fester Bestandteil der Therapie und gilt als eine potente Behandlungsmethode der Parkinson-Krankheit im fortgeschrittenen Stadium mit Dopa-sensitiven Fluktuationen ... und Dyskinesien, die Nucleus subthalamicus Stimulation der oralen medikamentösen Therapie (ist) in Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität, der Krankheitssymptome und der Alltagsaktivität signifi-kant überlegen. Erste 8-Jahres-Verlaufsbeobachtungen mit positi-vem Ergebnis liegen vor ... Für den Einsatz der Tiefen Hirn-stimulation in frühen oder mittleren Krankheitsstadien gibt es derzeit keine hinreichenden Daten.“ (Leitlinien:Parkinson-Syndrome-Diagnostik und Therapie: AWMF-Register Nr. 030/010, Klasse S2k, S. 2) (Hilker, 2009) Die besten Effekte in einer multicenter, doppel blind randomisierten Studie (Veteran´s Administration study) zeigte eine Überlegenheit der DBS plus „best medication therapy“ über eine ausschließliche medikamentöse Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 48 Therapie. „Patients treated with surgery were found to have, on average, 4.5 more hours per day of relief of the Parkinson´s symptoms (in time) than patients treated with the best medication therapie alone ... DBS patients experienced significant improvements in quality of life measures.“ (Germain, 2014) Aufgrund dieser und vergleichbarer Beobachtungen wird nunmehr eine Ausweitung der Indikation auf frühen und mittlere Krankheitsstadien vorgeschlagen.34 Die hierdurch enstandenen ethischen, medizinischen, sowie rechtlichen Probleme führen zu ersten Vorschlägen, wann der Einsatz der THS im frühen Verlauf fachärztlich indiziert und mit Betroffenen angesprochen werden sollte. (Woopen, 2013) Es wird eine Erkrankungszeit von > 4 Jahren bei einem definitiven iPS mit einem exzellenten Ansprechen auf Levodopa, mit mindestens leichten Wirkfluktuationen, ohne relevante kognitive Defizite und andere Komorbiditäten, gefordert. Insbesondere muss eine Depression (Beck Depression Inventar II < 25) ausgeschlossen werden, es dürfen keine strukturellen Veränderungen im NMR des Schädels vorliegen, und eine stabile soziale Situation mit „realistischen Erwartungen an die Operation“ sollte exploriert werden. Der Zugang zu einem Zentrum mit einem erfahrenen multidizsziplinären Team (Patientenselektion, Operation, Programmierung, Nachsorge) muss gewährleistet sein. (Erasmi, 2014) Fazit: Die THS ist eine alternative Behandlungsmöglichkeit bei schweren motorischen Einschränkungen der motorischen Alltagsroutinen (Dyskinesien, Fluktuationen) bei dem iPS, für einen umgrenzten Personenkreis (<70 Jahre), keine psychiatrische Vorgeschichte, keinen kognitiven Einschränkungen), die sich auf eine Behandlung in einem Behandlungszentrum einlassen wollen. Eine Transparenz hinsichtlich der möglichen und wahrscheinlichen Komplikationen (Qualtitätsmanagement, informed consent) sollte gewährleistet sein, sowie eine multidisziplinäre Nachsorge. Insbesondere ist wegen einer wahrscheinlich wesentlichen Veränderung der psychosozialen Situation (Rollenänderung in der familiären Situation, berufliche Teilhabeklärung, Suizidalität, u.a.) über einen längeren postoperativen Zeitraum (mindestens 17 Monate) eine psychosoziale Fachbetreuung notwendig. 34 Deuschl,G Agid,Y (2013) Subthalamic neurostimulation for Parkinson´s disease with early fluctuations: balancing the risks and benefits. Lancet Neurol 12:1025-1034; Schuepach,WMM, Rau,J, Knudsen,J, Volkmann,P u.a. Neuromodulation for Parkinson`s disease with early motor complications. The New England Journal of Medicine, Febr. 14, 2013, S.610-622 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 49 2.3 Die THS beim Tourette Syndrom Eine relativ häufige neuropsychiatrische Erkrankung (extrapyramidale Systemerkrankung), die in der Kinder,- und Jugendzeit beginnt, ist die Tic Störung. Tics 35 treten bei ca 10-15 % der Kinder (meist transient unter einem Jahr am häufigsten 10-12 Jahre) relativ häufig auf, wobei für die Kombination aus motorischen und vokalen Tics (ICD-10 - F95.2: kombinierte vokale und multiple motorische Tics als Gilles de la Tourette-Syndrom - Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette (1857–1904) eine Häufigkeit von 1% angenommen wird (3-4:1- Jungen : Mädchen). Bei 90 % der Tics kommt es zu einer wesentlichen Besserung bis zum Erwachsenenalter, ca 25% perpetuieren bis in das Erwachsenenalter mit starken Fluktuationen. Bei schweren Ausprägungen von Tics ist die Beteiligung von mehreren Muskelgruppen (außer der Gesichtsmuskulatur) mit scheinbar absichtsvollen Bewegungen (Hüpfen, Kreiseln) zu beobachten. Komplexe Tics sind die Kopropraxie und die Echopraxie, die Koprolalie (19-32%) und Echolalie und Pallilalie, meist in Kombination. Den Tics geht häufig ein „Vorgefühl, premonitoring urge“) voraus, was bei Erwachsenen oft dazu führt, dass diese willentlich unterdrückt werden können (abh. vom Alter). Kennzeichnend ist, dass die Tics suggestibel sind („Echophänomene“). Eine besondere Stigmatisierungsproblematik besteht wegen der langen Latenz (5-10 Jahre) bis zur Diagnose und Behandlung einher. (Ludolph, 2012) Die Diagnosekriterien sind für das Tourette-Syndrom: die Kombination von mindestens zwei motorischen und einem vokalen Tics, der Beginn im Kindes,- und Jugendalter, und eine Erkrankungsdauer von mindestens einem Jahr (möglich sind mehrmonatige Unterbrechungen) und Fluktuationen im Verlauf. Ein Schweregrad der Ticstörung ist nicht gefordert. Genetische Faktoren und Umweltfaktoren sind an der Vulnerabilität zur Entwicklung von Tic-Störungen mit beteiligt. Ätiologisch werden strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten im motorischen und somatosensorischen Anteil der corticostriatalenthalamocorticalen Anteile der corticostriatalen-thalamocorticalen Schaltkreise, sowie insbesondere des limbischen Systems angenommen. Pathophysiologisch wird dem präsynaptischen dopaminergen Neurotransmittersystem (guter Effekt der Dopaminrezeptor-Antagonisten) eine wesentliche Rolle zugeteilt, wobei das serotonerge System mitbeteiligt ist. (Ludolph, 2012, Oertel, 2012) Differentialgnostisch schwierig ist die Abgrenzung der neuropsychiatrischen Erkrankung von dissoziativen Bewegungs-störungen, Zwangshandlungen, allgemeine Hyperaktivität, Manierismen, Stereotypien und Dystonien und Myoklonien. Insbesondere die anderen 35 „Motorische Tics sind unwillkürliche, abrupt einsetzende, nicht rhythmische, in Art, Intensität, Häufigkeit und Lokalisation über die Zeit wechselnd auftretende Bewegungen, die nicht zweckgebunden sind. ... Vokale Tics sind durch das willkürliche Hervorbringen von Lauten und Geräuschen gekennzeichnet (häufig Räuspern und Schniefen, selten laute Schreie).“ Müller-Vahl,R (federführend bei der Erstellung) S1 Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Kapitel Extrapyramidalmotorische Störungen. AWMF-Registernr 030/012. Sept. 2012 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 50 hyperkinetischen Störungen (Chorea, Dyskinesien), Spasmus hemifacialis, Restless-Legs-Syndrom, fokale epileptische Anfälle) müssen fachneurologisch ausgeschlossen werden.36 Eine weitere fachärztliche Problematik liegt in der hohen Komorbiditätsrate von 80 – 90 % mit Zwängen und Ängsten, Impulskontrollstörungen, emotionale Dysregulation, Störungen des Sozialverhaltens, Autismusspektrumstörungen, Teilleistungsstörungen – was im Erwachsenenalter insbesondere mit Zwangsstörungen und Depressionen, Schlafstörungen sowie Suchterkrankungen und Autoaggressionen. (Ludolph, 2012, S.3) Pränatale, perinatale und postnatale (betahämolysierende Streptokokken der Gruppe A Infektionen, PANDAS) Risikofaktoren wurden identifiziert. Die besondere Beeinträchtigung der Lebensqualität wird im Erwachsenenalter durch die psychiatrischen Erkrankungen bewirkt. Die Behandlung setzt bei der komorbiden Störung an. Eine ursächliche oder heilende Behandlung ist bei Tic Störungen nicht möglich. Der Algorithmus zur Behandlung von Ticstörungen setzt bei der Psychoedukation an. Entlastende Funktion wird schon der Mitteilung der Diagnose zugesprochen (Entstigmatisierung). Gleichwertig mit der medikamentösen Behandlung wird die Verhaltenstherapie (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist unwirksam) eingesetzt als „Habit-reversal-Training“ oder „Exposure and response Prevention.“ Die medikamentöse Behandlung zeigt lediglich bei 30 % der Tic-Störungen eine lindernde Wirkung, wobei der Beginn dann sein sollte, wenn sich wesentliche Beeinträchtigungen der Lebenssituation eingestellt haben. Nur Haloperidol, ein Antipsychotikum, ist bei Tic – Störungen zugelassen. Tiaprid wird bei Erwachsenen am meisten eingesetzt. Sie Studienlage ist insgesamt für die medikamentöse Behandlung sehr dürftig. Medikamentöse Behandlung von Tics: (siehe S1 Leitlinie 2012, S. 5 u.a.) Tiaprid effektiv gegen Tics o Nebenwirkungen Müdigkeit, Appetit,- Gewichtszunahme, Hyperprolaktinämie Sulpirid antidepressiv und gegen Zwänge wirksam o Nebenwirkungen wie bei Tiaprid Risperidon gegen Aggressionen wirksam o Nebenwirkungen Sedierung , Gewichtszunahme, Hyperprolaktinämie Aripirazol gute Verträglichkeit o Nebenwirkungen Unruhe, Schlafstörungen, Müdigkeit, Gewichtszunahme 36 Sekundäre Tics : M.Wilson, Neuroakanthozytose, fragiles X-Syndrom, Chorea Sydenham, M.Huntington (Ludolph, 2012) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 51 Pimozid o Nebenwirkungen QTc-Verlängerung mit Sertralin und Makroliden, Müdigkeit, Gewichtszunahme, Sexualfunktionsstörungen, Parkinsonismus Tetrabenazid o Nebenwirkungen Depression, Müdigkeit, keine Kombination mit MAO-Hemmern Tetrahydrocanabinol o Nebenwirkungen nicht bei Kindern, nicht bei Psychosen Clonidin geringer wirksam wie die Antipsychotika o Nebenwirkung Müdigkeit, Schwindel, Hypotonie Haloperidol Tic Reduzierung, antipsychotische Wirkung, analgetisch o Nebenwirkung Sedierung, Gewichtszunahme, Hypersalivation, Akathisie, tardive Dyskinesie Medizinische Indikation der THS bei Tic – Störungen: Ausgewählte erwachsene TS-Patienten/Patientinnen mit therapierefraktären, schweren Tics (Oertel, 2012) Offene unkontrollierte Studien, kleine kontrollierte Studien(Ludolph, 2012) Zielorte sind strittig (nur Einzelfallberichte) o GPi, zentrale thalamische Kerne (Hochfrequenzstimulation mittel Tiefenhirnelektroden) o Bilaterale Stimulation intralaminärer Thalamuskerne o GPi, Nucleus accumbens Effekte o Tic – Reduktion o Reduktion psychiatrischer Komorbidität Zwang, Depression, Angst, Autoaggression Nebenwirkungen o Perioperativ Infektionen, Blutungen o Stimulationsbedingt Müdigkeit, Energieverlust, Sehstörungen, Schwindel Es liegt keine Zulassung zur Behandlung mit THS vor. „Neurochirurgische Eingriffe sollten nur in spezialisierten Zentren mit einem interdisziplinären Team von in der Behandlung des TS versierten Neurologen/Psychiatern und in der Tiefen Hirnstimulation erfahrener Neurochirurgen vorgenommen werden.“(Oertel, 2012, S.323) In der Übersichtsarbeit zur tiefen Hirnstimulation bei psychiatrischen Erkrankungen von Kuhn u.a. (2010) wird darauf hingewiesen, dass das TS nahzu regelhaft mit Zwangsstörungen, ADHS, Depressionen verbunden ist. Mittlerweile gilt bei dieser neuropsychiatrsichen Erkrankung eine neurobiologische Grundlage als gesichert, während früher eine Psychogenese im Vordergrund stand. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 52 Fazit: Bei Tic-Störungen (TS) ist die Effektabschätzung der THS und der anderen Therapien insgesamt sehr dürftig. Individuelle Heilversuche sind, am Ende des Therapiealgorithmus (Psychoedukation, Verhaltenstherapie, Medikamente überwiegend off lable use bis auf Haloperidol, Selbsthilfegruppe) bei schweren, therapierefraktären erwachsenen TS Betroffenen, in speziellen Behandlungszentren, personenbezogen, zu empfehlen. 2.4 Die THS bei der schweren Zwangserkrankung (OCD) Während die bisher dargestellten Krankheitsbilder überwiegend neurologisch-somatische Ätiopathogenesen und Therapieansätze verständlich nachvollziehen lassen, schließen sich neuropsychiatrische Erkrankungen an, die sich nicht so leicht einer somatischen Therapieoption erschließen, da diese mehr dem Bereich der psychiatrischen Erkrankungen zugeordnet werden. Sind chirurgische Eingriffe in das Gehirn bei psychiatrischen Erkrankungen, nach den Erfahrungen der Psychochirurgie Ära, auf dem Hintergrund der technologischen, neurowissenschaftlichen und medizinethischen Erkenntnisfortschritte zu rechtfertigen. Misstrauen ist angebracht wegen der gegenwärtigen weltpolitischen Situation und dem „...misuse of psychiatric somatic therapies as an instrument of social control, based on fears of mind control by the government amidst the prevailing social climate.“ (Sedak,M u.a. 2013, S.47) Im Hinblick auf die einzelnen Krankheitsbilder geht es um die Frage, ob sich rationale medizinische Therapieziele und Therapieoptionen (vertretbares Risiko bei akzeptablem Nutzen) formulieren lassen, die den Einsatz chirurgischer Hirneingriffe rechtfertigen können? Zwangsstörungen haben global Lebenszeitprävalenzraten von 1 – 3 % (subklinisch 2%) der Bevölkerung (auch in unterschiedlichen kulturellen Kreisen) und gehören sozialmedizinisch zu den schwersten Erkrankungen, entsprechend der individuellen und sozioökonomischen Belastung. In Deutschland ist die Ein-Jahresprävelenz von Zwangsstörungen mit 3,8% (4,2% Frauen, 3,5% Männer) beziffert. Bis zur professionellen Hilfesuche dauert es im Durchschnitt 10 Jahre (wegen Scham, Leugnung, mangelnder Informiertheit), wobei sich lediglich Geschlechtsunterschiede für den Krankheitsbeginn (Frauen Anfang 20 Jahre; Männer später Adoleszenz) finden, und sich in (50 – 70 %) kritische Lebensereignisse) angeben lassen.37 10% bis 27% der OCD Patienten berichten über einen Suizidversuch in ihrem Leben. (Sedrak, 2013) Die Lebensqualität von 37 S3-Leitlinie Zwangsstörungen publiziert bei AWMF online Register Nr. 038/017 aktueller Stand 14.05.2013 im Auftrag der DGPPN; NHS National Institute for Health and Clinical Excellence, Obsessive-compulsive disorder. Core interventions in the treatment of obsessive –compulsive disorder and body dysmorphic disorder. November 2005, NICE clinical guideline 31 www.nice.org.uk/cg31 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 53 schwer an Zwangsstörungen erkrankten Personen ist mit der an Schizophrenie erkrankten Personen zu vergleichen. Eine multifaktorielle Genese der OCD mit interagierenden biologischen, psychologischen und externen Faktoren wird schulmedizinisch favorisiert. „Typischerweise berichten Patienten über unangenehme Gedanken, Vorstellungen und Handlungsimpulse (Intrusionen), die sich dem Bewusstsein aufdrängen (englisch: obsessions), sowie über ritualisierte Gedanken- und Handlungsketten (compulsions), die meist mit dem Ziel ausgeführt werden, die aversiven Intrusionen abzuwehren oder zu neutralisieren (Saß et al., 2003).“ (S3-Leitlinien, 2013, S. 20) Intrusionen sind in der Bevölkerung sehr verbreitet, was das spezifische der Zwangsstörungen ausmacht ist, dass die Gedanken bizarre und rational schwer oder gar nicht nachvollziehbar sind. Typisch und interkulturell identisch sind die Themen: Ansteckung 50%), Vergiftung, Verschmutzung, Krankheit (33%), Streben nach Symmetrie (32%), Ordnung, Aggression, Sexualität und Religion. Entscheidend ist, dass die Gedanken als aufdringlich, lästig und abstoßend, sinnlos erlebt werden, und schwer zu beseitigen sind. Wichtig ist, dass die Handlungsimpulse der Zwangsgedanken nicht konkret ausgeführt werden. Zwangshandlungen führen kurzfristig zu einer Erleichterung und Angstreduktion, sind aber langfristig mit einem erheblichen Zeitaufwand (und inneren Kraftaufwand, teilweise rund um die Uhr) verbunden, und eine soziale Teilhabe ist nicht mehr möglich. (Kontrollrituale 60%; Waschrituale 50%; Zählzwang 36%, zwanghaftes Fragen 34%; meistens mehrere Symptome) Das Denken wird verlangsamt („osessional slowness“), eingeengt, grüblerisch, und mit affektiven Symptomen verbunden, mit pathologischem Zweifeln (42%). Die Diagnosestellung erfolgt nach DSM-IV (V) oder ICD – 10 Kriterien (F42.0: vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang; F42.1: Vorwiegend Zwangshandlungen; F42.2: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, gemischt). Es wurden Untergruppen (Typen, Cluster, Dimensionen) herausgearbeitet aufgrund der Symptomatik und anderer Kriterien (z.B. mit Tics vergesellschaftet, familiärer Häufung und frühem Krankheitsbeginn, fehlender Krankheitseinsicht, Komorbidität), welche zu differenzierten Therapievorgehensweisen nötigen.38 Häufigste Ausschlusskriterien sind schizophrene Störungen, oder affektive Störungen, sowie anankastische Persönlichkeiten (Zwänge werden synton erlebt) oder dysmorphophobe Störungen (body dysmorphic disorders) bei denen die Gedanken nicht als bizarr ohne Intrusionen angegeben werden. Das diagnostische Vorgehen ist mit besonderen Herausforderungen und einem hohen zeitlichen Aufwand verbunden, um die „Zwangsspektrumerkrankungen“ (DSM-V) (depressive Störungen 35-78%, Panikstörungen 12-48%, soziale Phobien 18-46%) zu erfassen (TS – Syndrom als genetisch distinkter Subtyp), die dermatologischen Komorbiditäten (Trichotillomanie, Onychotillomanie,-phagie, Akne excoriée, Dermatitiden in Folge der Waschungen), neurologische Erkrankungen (M.Parkinson, Chorea 38 ICD-10 F42: Zwangsstörungen Forschungskriterien nach Dilling, Freyberger in S3 – Leitlinien Zwangsstörungen , 2013, S. 21 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 54 Huntington, toxische oder vaskuläre Basalganglienläsionen), differentialdiagnostisch zu berücksichtigen. Der in den S3-Leitlinien 2013 empfohlene diagnostische Stufenplan (S. 33 f) ist deshalb eine praktische Hilfe, und könnte zu einer verbesserten Versorgungssituation Zwangserkrankter beitragen. Ausgehend von einem Verdacht (20% der dermatologischen Patienten) sind die 5 Fragen zu stellen (NICE clinical guidline31)39 , die ICD – 10 Kriterien F42 und die Komorbiditäten sind zu prüfen, und bei einem positiven Verdacht diagnostische Instrumente einzusetzen (Y-BOCS-Selbstbeurteilungsskala,40 Hamburger Zwangsinventar). Die Erstdiagnose umfasst auch eine Beurteilung der Auswirkungen der Erkrankung auf die Aktivität und soziale Teilhabe (Partizipation), und die Lebensqualität, wobei die Bezugspersonen mit deren Alltags-, Lebensqualität mitzuerfassen sind. (cave: bei Krankheitsbeginn > 50.Lebensjahr muss eine hirnorganische Klärung erfolgen). Nur eine Diagnosestellung auf Augenhöhe unter Einbeziehung der caregivers und insbesondere unter Einbindung in eine Selbsthilfegruppe kann wahrscheinlich eine Behandlungsbereitschaft und Adherence ermöglichen. Die therapeutischen Alternativen beinhalten, neben den psychotherapeutischen Ansätzen, Medikamente, sozialtherapeutische und ergotherapeutische und arbeitstherapeutische Interventionen, sowie neuro-chirurgische Eingriffe. Obwohl von Sigmund Freund (1907) ausführliche psychoanalytische Beschreibungen von Therapieinterventionen vorliegen, liegen erst seit dem Einsatz lerntherapeutisch basierter Verhaltenstherapien, insbesondere nach der kognitiven Wende in den siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, kontrollierte Studien vor, welche die Exposition mit Reaktionsverhinderung und Reaktionsmanagement (KVT) zum Goldstandard bei Zwangsstörungen machen. (Leitlinien des NICE 2005, S3-Leitlinien Zwangsstörungen der DGPPN, 2013). Die „störungsspezifische Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) einschließlich Exposition und Reaktionsmanagement (sollte) als Psychotherapie der ersten Wahl angeboten werden.“ Von einer Psychopharmakotherapie der Zwangsstörungen kann erst seit den 1990-iger Jahren mit dem Einsatz von Clomipramin, besonders jedoch erst seit der Entwicklung der selektiven Serotoninwieder-aufnahmehemmer (SSRI; serotonerge Antidepressiva) gesprochen werden. Es haben sich Spezifika bei der Behandlung von Zwangsstörungen gegenüber anderen affektiven Erkrankungen mit SSRI herausgestellt, die beachtet werden müssen (Dosisabhängigkeit, verzögerter Wirkeintritt nach mehreren Wochen) wenn von einer fachärztlichen Standardtherapie lege artis gesprochen werden kann. „Clomipramin und SSRI sind vergleichbar wirksam bei der Behandlung von Patienten mit Zwangsstörungen. Aufgrund 39 „1.Waschen und putzen Sie sehr viel?; 2. Kontrollieren Sie sehr viel?; 3. Haben Sie qüälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können?; 4. Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?; 5. Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?.“ (S3-Leitlinien Zwangsstörungen, 2013, S. 33) 40 Die Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale in deutscher Fassung von Hand,I u. Büttner-Westphal,H zitiert nach http://www.zwaenge.de/experten/artikel_zwangsstoerungen_07.htm aufgerufen am 21.11.14 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 55 der höheren Rate an Nebenwirkungen von Clomipramin, die häufiger zu Therapieabbrüchen führen, stellt Clomipramin nach den SSRI die Zweite – Wahl-Medikation dar.“ (S3-Leitlinien Zwangsstörungen, 2013, S. 59)41 Nebenwirkungen der SSRI: Vorsicht bei der Kombination mit nichtsteroidalen Antirheumatika wegen Blutungsneigung Hyponatriämie bei älteren Patienten Diarrhöe Suizidgedanken Sexuelle Funktionsstörungen Erhöhtes Frakturrisiko Zunahme von motorischer Unruhe, Angst, Agitiertheit Serotoninsyndrom (Verwirrtheit, Delir, Zittern/Frösteln, Schwitzen, Blutdruckveränderung, Myoklonus und Mydriasis (Clomipramin mit anticholinergen NW, insbesondere kardiale NW) Es sind hohe Dosen der SSRI über einen Zeitraum von mindestens 6 – 12 Wochen erforderlich bis eine Änderung des Präparates und/oder eine Augmentation (Lithium, atypische Neuroleptika), Kombination mit Clomipramin in Frage kommen. Nur in der akuten Phase ist die Kombination von Medikation und KVT einer Monotherapie überlegen. Eine Monotherapie mit Medikation ist nur dann indiziert, wenn die Zwangsstörung zu schwer ist für eine Verhaltenstherapie, keine Möglichkeit zur Behandlung mit einer Verhaltenstherapie besteht und /oder keine Motivation zu einer Verhaltenstherapie besteht. (NICE) In den Effekt - Studien wird eine Responserate als 25% - 35 % Reduktion im Y-BOSC-Gesamtscore definiert, eine Remission als Y-BOCS – Gesamtscore < 8; Y-BOCS-Gesamtscore < 16 (subklinische Symptome). Remissionen sind mit den SSRI trotz einer hohen Dosis und einer langen Behandlungsdauer alleine nicht zu erwarten. Eine Erhaltungstherapie sollte mit der zuletzt wirksamen Dosis weitergeführt werden, eine Mitbehandlung der Angehörigen, Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe, eventuell auch eine Ergotherapie, zur Rückfallprophylaxe, mit eingesetzt werden. Unwirksame Behandlungen bei Zwangsstörungen sind: Antidepressiva (TZA) Benzodiazepine Monotherapie mit Neuroleptika Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Vagusnervstimulation Elektrokonvulsionstherapie (EKT) 41 Beachtung der „off label use“ Kriterien ist angezeigt mit nachgewiesener Wirksamkeit, günstiges NutzenRisiko-Verhältnis, fehlender Alternativ-Heilversuch. „Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse muss die begründete Aussicht bestehen, dass die Behandlung zu einem Erfolg führt. Darüber hinaus besteht eine besondere Aufklärungsverpflichtung“ mit der Notwendigkeit einer gemeinsamen Entscheidungsfindung. (S3-Leitlinien Zwangsstörungen, 2013, S. 57) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 56 für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und/oder psychoanalytische Psychotherapie liegen keine Studien vor 70-80% der Patienten mit Zwangserkrankungen reagieren gut auf Verhaltenstherapie und die medikamentöse Behandlung. (Kuhn, 2010b) Die fachärztliche/fachpsychologische Versorgungspraxis sieht allerdings weniger optimistisch aus, da es nur wenige spezialisierte Therapeutinnen/Therapeuten für Zwangsstörungen gibt, und insbesondere die effektivste Behandlungsform (Exposition mit Reaktionsverhinderung und Reaktionsmanagement) nicht von allen Verhaltenstherapeuten lege artis durchgeführt wird. Selbstmanagement Programme werden eingesetzt, es fehlen allerdings entsprechende Studienergebnisse.42 Umso dringlicher ist es, bei Therapieresistenz bei einer Standardtherapie (mindestens 12 – 24 Monate) nach alternativen Behandlungsmethoden zu suchen, die ein rationales Genese- und Therapie-Modell bei Zwangsstörungen verfolgen. Das kognitiv-behaviorale Modell basiert auf lerntheoretischen Überlegungen mit Störungen der Informationsverarbeitung. Die Grundannahme besteht darin, dass aufdringliche Gedanken (Intrusionen) weit verbreitet sind, sich inhaltlich nicht von normalen Befürchtungen unterscheiden, diese aber von Zwangskranken als bedrohlich und unakzeptabel interpretiert werden (Rachman, Salkovskis). Die Betroffenen übernehmen Verantwortung für die Bedrohung und deren Abwendung. Es wird alles versucht um die mit den Intrusionen verbundenen negativen Emotionen zu beseitigen. Dysfunktionale Kognitionen und Metakognitionen (Konsequenzen der intrusiven Gedanken, Aufrecht-erhaltung der Rituale) verhindern eine langfristige Entlastung. Hierauf aufbauend lassen sich lerntheoretisch konzipierte Therapieverfahren entwickeln, deren Effizienz inzwischen akzeptiert ist. „Das neurobiologische Modell der Zwangsstörung geht von einer Imbalance kortiko-striatothalamokortikaler Schaltkreise aus.“ (S3-Leitlinien Zwangsstörungen, 2013, S. 16) Die topische Diagnostik des zentralen Nervensystems (Robert Bing, 1930) wurde durch neue Erkenntnisse der Hirnphysiologie und ,-anatomie, sowie der Neurotransmitterforschung (Duus, 1980), und der Molekularbiologie, durch Funktionsstudien mit bildgebenden Verfahren (PET, fNMRI, Diffussionstraktotomie) weiterentwickelt. In der klinischen Psychologie und Psychiatrie haben diese Verfahren inzwischen einen festen Platz (Spitzer, 1998, Habel, 2002, Bennett, 2010a). So konnten bei erfolgreichen psychologischen Behandlungsverfahren (Verhaltenstherapie) in den gleichen Hirnzentren Veränderungen im fNMRI nachgewiesen werden (S3-Leitlinien Verhaltenstherapie, 2013), wie sie sich bei erfolgreicher medikamentöser Behandlung ergeben haben (Grawe, 42 Wölk,C, Seebeck,A. Brainy, das Anti-Zwangs-Training. Ein computergestütztes Übungsprogramm zur Überwindung von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Pabst Science Publishers, Lengerich, 2002 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 57 2004) Die Behandlungserfolge mit SSRI Medikation lassen eine Beteiligung serotonerger Transmittersysteme und dopaminerger Systeme (Neurolepktika), aber auch GABAerger Transmittersystem vermuten. Aus den Ergebnissen der Arbeitsgruppe von Baxter (1987) und andere Forschungsgruppen zeigte sich übereinstimmend, dass bei „Zwangsstörungen ein bestimmter neuronaler Schaltkreis, an dem der orbitofrontale Cortex, die Basalganglien und der Thalamus43 beteilt sind, hyperaktiv ist.“ (Grawe, 2004, S.172) Emotionale Bewertungen aus dem orbitofrontalen Kortex werden verstärkt aktiv, der Einfluss des dorsolateralen präfrontalen Kortex nimmt ab. Die Befürchtungen bestimmen somit die dysfunktionalen Kognitionen (Überaktivität in temporalen und frontalen Gehirnbereichen). Hirnstrukturell wurden dorsale präfrontale kortikale und bilaterale Abnormalitäten der grauen Substanz (verkleinert bei Zwangsstörungen) beobachtet. Neuropsychologische Untersuchungen haben konsistent exekutive Defizite und nonverbale Gedächtnisleistungsstörungen, Defizite der psychomotorischen Geschwindigkeit und der selektiven und geteilten Aufmerksamkeit, und dem visuellen Arbeitsgedächtnis nachgewiesen, die teilweise nach erfolgreicher Therapie reversibel waren. (Lautenbacher, 2004) Insgesamt gesehen laufen die neurobiologischen und lerntheoretischen Erklärungsversuche aufeinander zu und können eine hypothesengeleitete Therapiestrategie inzwischen hinreichend begründen, welche die psychiatrische Erkrankung (hier die Zwangsstörung) als ein overengineering Gehirn - Problem interdisziplinär zu fassen versucht. Dementsprechend können begründete Arbeitshypothesen zu somatischen Eingriffen im Gehirn (Medikation,THS) bei Zwangsstörungen formuliert werden, und mit modernem technischen Know How in ein gezieltes ärztliches Handlungskonzept umgesetzt werden. Chirurgische Verfahren: Ablative Verfahren Bilaterale Cingulotomie, bilaterale vordere Capsulotomie (60% Verbesserung berichtet, Kuhn, 2010), Leukotomie (limbisches System)44 mit Einzelfallstudien ohne kontrollierte Studiendesigns; als ultima ratio; Nach den S3-Leitlinien Zwangsstörungen besteht keine Indikation 43 Der Thalamus nimmt ca 4/5 des Zwischenhirn ein (3x1,5 cm Durchmesser) mit drei größeren Zellgruppen mit 120 Untergruppen (lateral, medial, rostral), lateral wird der Kern zur Capsula interna (laminae medullares externae) abgegrenzt. „Der Thalamus ist aber nicht nur eine einfache Umschaltstation für alle ankommenden Impulse, sondern auch ein wichtiges Integrations- und Koordinationsorgan, in dem die unterschiedlichen Afferenzen aus den verschiedenen Körperteilen miteinander integriert und affektiv gefärbt (Schmerz, Unlust, Wohlbefinden) werden...und der Hirnrinde zugeleitet“(Duus, 1980, S.246) Es sind Verbindungen zum extrapyramidalen Synstem, (Koordinationszentrum), steht doppelläufig mit der Hirnrinde in Verbindung und aktiviert die ganze Hirnrinde. Der Subthalamus (Luys-Lörper) gehört zum extrapyramidalen System. 44 Von MacLean wird (Papezscher Regelkreis) das limbische System als „Ring von Hirnwindungen, der Balken, Zwischenhirn, und Basalganglien umrandet und gewissermaßen eine Übergangsone zwischen Nokortex und Hirnstamm darstellt.“ (Hippokampus, Indusium griseum,Area entorhinalis, Gyrus cinguli, Area septalis, Corpus amygdaloideum) (Duus, 1980, S.270 ff) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 58 wegen der Irreversibilität und den Auswirkungen des Eingriffs (Gesichtszunahme, Apathie, oder Manie) THS bei Zwangsstörungen mindestens seit 1999 berichtete Fallstudien, seit 2009 Zulassung (FDA, Europa) mit Effekt auf Zwangssymptome (bis zu 38,7% Responserate) o Zielregionen Nucleus subthalamicus, Capsula interna, Nucelus accumbens,45 Nucleus caudatus, unterer Thalamusstiel (Kuhn,J. u.a. 2010) o Es werden mindestens fünf Doppelblindstudien mit Cross-over Design mit 50 Patienten berichtet, sowie Fallstudien (Kuhn, 2010b, Schlaepfer, 2011, Sedrak, 2013)46 o Indikation zur THS bei Zwangsstörungen Kein Therapieerfolg bei der Leitlinientherapie (KVT, SSRI, einschließlich Augmentation) Zeitpunkt des Eingriffs kann nur individuell bestimmt werden o Unterschiedliche Raten an „transienten Nebenwirkungen“ in Studien: Blutungen, Infektionen, Halbseitensyndrom, Gewichtszunahme, Apathie, Manie; NW – Rate nicht hinreichend abzuschätzen o Weiterführung der Medikation unklar o Hypothese zum Wirkmechanismus: „ However, the most likely explanation of DBS-efficacy is a stimulation-induced modulation of impaired network activity, may be by enhancing rhythmic and synchronous inhibition within and between afferent structures.“ (Kuhn,L u.a.2009,S.137) Die Ausbreitung der Stimulation entlang der neuronalen Strukturen ist bisher nur bedingt beherrschbar, sodass eine individuelle Anpassung ärztlich gehandhabt werden muss, und ein ärztliches follow up erforderlich. o Empfehlungen der S3-Leitlinien Zwangsstörungen, 2013 (S. 86f ): „ Die beidseitige tiefe Hirnstimulation kann unter kritischer Nutzen/Risikenabwägung bei schwerstbetroffenen Patienten mit therapierefraktärer Zwangsstörung erwogen werden. Die beidseitige tiefe Hirnstimulation bei schwerstbetroffenen Patienten mit therapierefraktärer Zwangsstörung soll nur im Rahmen kontrollierter Studien durchgeführt werden.“ Fazit: Das Erreichen des Therapieziels einer Verbesserung der Zwangssymptomatik bei Therapieresistenz muss individuell gegenüber den Risiken eines neurochirurgischen Eingriffs, ohne klare Kenntnis des 45 Der Nucleus accumbens ist ein Kern in den Basalganglien (auf Dopanin reagierend). Er wird mit Belohnung und Aufmerksamkeit, aber auch mit Sucht in Verbindung gebracht. 46 „..a multicenter DBS trial conducted by Medtronic Deep brain stimulation leads were implanted in a total of 29 patients, with a 38,7% decrease in Y-BOCS scores at 12 months ... These data were used to obtain a Humanitarian Device Exemption from the Federal Drug Administration that was approved in 2009.“(Sedrak,M u.a., 2013, S.4) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 59 Wirkmechanismus, mit noch wesentlichen experimentellen methodischen Anteilen, abgewogen werden. Verbesserungen der Aktivität (Selbständigkeit, frei für selbstbestimmtes Handeln), und der sozialen Teilhabe, sowie der Lebensqualität sollten im Focus des therapeutischen Handelns stehen. THS bei Zwangsstörungen sollte in speziellen Therapiezentren (in Studien) mit der Möglichkeit zur psychosozialen Nachsorge durchgeführt werden. 2.5 Die THS bei therapieresistenten depressiven Erkrankungen Zu einer historischen Einordnung der affektiven Störungen finden sich Ausführungen bei Tellenbach (1976) und Berger (2011), wobei übereinstimmend dokumentiert wird, dass die Erkrankungen bereits bei Hippokrates (4.Jhd vor Chr.) als Melancholie und Manie beschrieben wurde. Die Humorallehre unterschied u.a. die schwarze Galle und die gelbe Galle und deren unterschiedliche Mischungsverhältniss als Entstehungshintergrund der affektiven Störungen. Eine Trennung von Soma und Seele wurde dabei nicht präzise vorgenommen. Das hin und her schwingen zwischen depressiven und manischen Stimmungen wurde als Charakteristikum der affektiven Störungen im 19. Jahrhundert unter dem Krankheitsbilder der Zyklothymie (Kahlbaum, 1880; Jules Falret „folie circulaire“) gefasst, als Zustände eines Krankheitsbildes. Von Kraepelin (Ende des 19. Jahrhunderts) wurde dies mit dem Begriff des „manischdepressiven Irreseins“ belegt, und die monopolaren Depressionen wurden auch hierunter gefasst. Die affektiven Krankheiten, die im Unterschied zu den schizophrenen Erkrankungen immer ad integrum remittieren sollen, wurden als Krankheitseinheiten gefasst, und als sogenannte endogene Psychosen benannt.(Tellenbach, 1976) „Durch den Endogenitätsbegriff wurde eine körperliche, d.h. auf heredo-konstitutionelle Faktoren beruhende Ursache unterstellt, die zumindest bis heute jedoch noch nicht nachgewiesen werden konnte.“ (Berger, 2011, S. 542) 47 Der Begriff der depressiven Neurose (psychoanalytisch gesehen) wurde in der deutschen Psychiatrie nur am Rande aufgenommen, vielmehr standen divergierende Vertreter von Schulmeinungen der universitären Psychiatrie, Anstaltspsychiater aus den überbelegten und unterfinanzierten Heilanstalten, und ambulant praktizierende Irrenärzte (Nervenärzte) gegenüber, ohne dass auf ein rationales praktisch umsetzbares psychiatrisches Krankheitskonzept Bezug genommen werden konnte. In 47 Anfang des 20. Jahrhunderts wurden von der Psychoanalyse und von den universitätspsychologischen Schulrichtungen Beitrage zu affektiven Störungen auf dem Hintergrund von Fallstudien und literarischen Ausarbeitungen herausgearbeitet, die zu einem besseren Verständnis der Erkrankten beitrugen. „Struktural gesehen ist deshalb auch die melancholische Psychose nichts „Neues“. Sie ist das Bisherige in einer anderen Qualität einer nivellierten und verzerrten Dominanz. Sie ist ein Übermächtigwerden der habituellen Neigung zur Inkludenz – dass der Typus sich in die Grenze seines ordo einschließt – und zur Remanenz – daß er sich in diesen Grenzen festhalten lässt und hinter sich zurückbleibt ... Die Vitalstörungen sind Phänomene des Eingeschlossenseins in die Bedrückung und Bedrängnis des Leibes, da s im melancholischen Stupor am stärkten ausgeprägt ist. Das Nicht-mehr-schaffen-können ist der Bankrott ... die Irregularität der biopsychischen Rhythmen ... dies ist die Katastrophe, in der diese gliederungssüchtige, so sehr auf die Regelmäßigkeit ihrer Lebensvollzüge angelegte Persönlichkeit in der Melancholie angelangt ist.“ (Tellenbach, 1976, S. 175) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 60 den 60er Jahren wurden empirische Studien vermehrt wahrgenommen, und die unipolaren endogenen Depressionen oder Melancholien von bipolaren endogenen Psychosen unterschieden. Es wurden zwischen den reaktiven neurotischen Depressionen und den endogenen Depressionen dichotomisiert, was in den letzten 10 Jahren völlig aufgegeben wurde, da sich in „Genetik, Symptomatologie, Epidemiologie, Verlauf und Ansprechen auf unterschiedliche Therapieverfahren keine entscheidenden Unterschiede „ nachweisen ließen (Berger, 2011, S.542) Ätiopathogenetische Vorstellungen wurden zur besseren internationalen Vergleichbarkeit der psychiatrischen Nomenklatur aufgegeben. Es wird auf eine deskriptive Typisierung entsprechend der Symptome, der Schwere der Erkrankung, der Dauer der Erkrankung, sowie dem Rückfallrisiko, Bezug genommen, um eine systematisch rationale, von Studien begleitende wissenschaftliche Diskussion zu ermöglichen. Die Klassifikationssystem des DSM-IV (V) (APA), der ICD – 10 (WHO) versuchen dies zu realisieren. (Berger, 2011) Die depressiven Erkrankungen sind, zusammen mit den Angststörungen die häufigsten psychiatrischen Krankheiten und belasten herausragend die öffentlichen Gesundheitssysteme. Die Lebenszeitprävalenz für depressive Störungen ist ca 15 % (Kuhn, 2010, S.4). Die 12-Monats-Prävalenz der Depression wird mit etwa 7% bis 10 % angegeben, bei 5-25 % der Erkrankten ist der Verlauf chronisch. Berger (2011) gibt eine Chronifizierungsrate von 10% an (S.546). Die unterschiedlichen Angaben beruhen auf einer Neufassung des diagnostischen Manuals 2013 (DSM-V), wo eine neue Klassifizierung, unter Zusammenlegung der Dysthymien und der chronischen Depressionen als anhaltende depressive Störungen eingeordnet werden. Bei einem Drittel bis zur Hälfte (50%) der medikamentös behandelten Depressionen spricht die Therapie nicht an. (Berger, 2011, Bschor, 2014) Ein Anstieg der Depressionen im letzten Jahr konnte nicht belegt werden. „In einer Langzeitstudie waren 50% der depressiven Patienten nach einem halben Jahr gesundet, 7% befanden sich aber nach zehn Jahren immer noch in der Depression.“ (Bschor, 2014, S. 766) Depressionen gehören zu den schweren und gefährlichen Erkrankungen. „Depressionen stellen mit ca. 50% die häufigste Ursache für Suizide dar. Abhängig von den Behandlungsmodalitäten sterben 10-15% der Patienten mit wiederkehrenden Erkrankungen auf diese Art.“ (Berger, 2011, S.554) Psychotische Depressionen gehen einher mit Realitätswahrnehmungsstörungen (hypochondrischer Wahn, nihilistischer Wahn, Verarmungswahn, Versündigungs,-Verschuldungs und Skrupulantenwahn, Verkleinerungswahn), ohne Krankheitseinsicht, auch mit akustischen Halluzinationen bei 30% der schweren Depressionen. 80% der Depressionen haben komorbide Angststörungen, was die hohe Irritabilität begründet. Eine beeindruckende Schilderung einer schweren depressiven Episode findet sich bei Kuiper, der als Psychiater/Psychoanalytiker lange Jahre auf der anderen Seite gearbeitet hat. (Kuiper, 1988) Die S3-Leitlinien/Nationale Versorgungsleitlinie (AWMF-Register – Nr.:nvl005), und die S3-Praxisleitlinie in Psychiatrie und Psychotherapie in der Fassung als Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen 61 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn Erkrankungen (AWMF-Register Nr. 038-020) versuchen auf die Optimierung der Versorgungsvernetzung einzuwirken, und die Diagnostik und Therapie mit Algorithmen vergleichbarer zu machen unter Berücksichtigung der Kriterien der Evidenzbasierten Medizin. Es werden die unipolaren depressiven Störungen (depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störungen (F33), anhaltende depressive Störungen (F34, DSM-V) und sonstige affektive Störungen (F38.1) ab einem Lebensalter von 18 Jahren erfasst. Nach den ICD -10 Kriterien für depressive Episoden (Major Depression, MD) werden die Symptome in Haupt und Zusatzsymptome unterteilt. (ICDL – Checkliste für ICD-10, Hiller,W,Zaudig,M, Mombour,W., 1995) Hauptsymptome Depressionssymptome Gedrückte, depressive Stimmung Interessenverlust, Freudlosigkeit Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit 2 2 3 Zusatzsymptome + + + Defizite Konzentration-Aufmerksamkeit Vermindert Selbstwert, Selbstvertrauen Schuldgefühl, Wertlosigkeit Negative, pessimist.Zukungsperspektive Suizidgedanken, /-handlungen Schlafstörungen Verminderter Appetit 2 3-4 >4 Symptome > 2 Wochen Depressive Episode leicht mittel schwer Die Diagnose wird mit einer eingehenden psychiatrischen Exploration und Anamneseerhebung, sowie den Skalen der WHO-5-Fragebogen zum Wohlbefinden, dem Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D), sowie der Allgemeinen Depressionsskala (ADS), Beck-Depressions-Test II, ermöglicht.48 Ohne erneut auf die Medikation mit den Nebenwirkungen einzelner Substanzen (30 Medikamente sind in Deutschland für die Depressionen zugelassen) einzugehen (siehe dazu das Kapitel zu den Zwangsstörungen) ist festzustellen, dass der „Schlüssel für eine erfolgreiche Depressionsbehandlung ein Vorgehen nach einem klaren Konzept, ein angemessener Zeitraum der Behandlung, sowie eine wirksame Überprüfung der Wirksamkeit zu vorher festgelegten Zeitpunkten 48 Zwei-Fragen-Test: 1. Fühlen Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig bedrückt oder hoffnungslos? 2. Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, sie Sie sonst gerne tun? S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie, 2009, gültig bis 2015 S.11) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 62 erfordert.“(Bschor, 2014,S.767) Es wird ein gestuftes Behandlungskonzept (Behandlungsalgorithmen) empfohlen mit Monotherapie für 4 – 6 Wochen und einer Eskalation mit Dosiserhöhung (nicht bei SSRI), sowie bei Nichtansprechen eine Augmentation (Lithium, atypische Neuroleptika). Die Kombination mit einer effektiven Psychotherapie (KVT, IPT,tpPT, GPT, CBASP)49 ist angezeigt. Eine Erhaltungstherapie ist bei Wirksamkeit erforderlich, und sollte, je nach der Anzahl von vorausgegangenen Rezidiven individuell durchgeführt werden. „Mit einer Responserate zwischen 50 und 85 % und von immer noch 50% bis 75 % bei Patienten, die zuvor auf eine Antidepressivabehandlung nicht angesprochen hatten, ist die Elektrokrampfbehandlung das wirksamste antidepressive Behandlungsverfahren.“(Bschor, 2014, S. 772) 50 Das Problem der EKT stellt die Frührezidivrate von 80% dar, so dass eine Pharmakotherapie angeschlossen werden muss (NortriptylinLithiumbehandlung), die Kurzzeitgedächtnisstörungen sind meist vorübergehend. (Baghai, 2012) Zu unterscheiden ist eine Pseudotherapieresistenz, die auf einer inadäquat durchgeführten antidepressiven Behandlung, einer Non-Com-pliance des Patienten, psychosozialen Faktoren (Rentenbegehrung u.a., unbekannten Komorbiditäten (Demenz, Sucht) oder einer nicht bekannten Begleitmedikation beruhen kann, von einer „Therapieresistenz“. „Therapieresistenz“ bedeutet nicht unbehandelbare Depression, sondern eine auf Standardtherapieverfahren nicht unmittelbar ansprechende Depression.“(Bschor, 2014, S. 767) Hierzu muss auf die S3-Praxisleitlinie in Psychiatrie und Psychotherapie in der Fassung als Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (AWMF-Register Nr. 038-020) verwiesen werden, wo eine Vielzahl von therapeutischen Hilfestellungen aufgeführt werden, die neben den fachärztlichen und fachpsychologischen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden können. Risikofaktoren für ein erhöhtes Risiko (Vulnerabilität) für eine ungünstige Prognose: ein früher Krankheitsbeginn, eine unvollständige Remission bei der ersten Episode, ausgeprägte familiäre genetische Belastung, fehlende soziale Unterstützung, Defizite sozialer Anpassung, chronische psychosoziale ungelöste Konfliktkonstellationen, Stress Komorbidität mit somatischen Erkrankungen, Komorbidität mit seelischen Erkrankungen. (Berger, 2011, S. 546f) 49 KVT-Kognitive Verhaltenstherapie, IPT-interpresonelle Psychotherapie, tpPT-tiefenpsychologisch fundierte Pth, GPT-Gesprächtstherapie, CBASP-cognitive behavioral analysis system of psychotherapy; Das Prinzip einer effektiven Psychotherapie besteht in einer Aktivierung und Verbesserung der Ressourcen, so dass die unterschiedlichen Psychotherapieformen differentielle Möglichkeiten bei unterschiedlichen Depressionsformen haben. (Grave, 2004) 50 Die EKT wird in Vollnarkose mit medikamentöser Muskelrelaxation und mit Sauerstoffbeatmung durchgeführt, mit anästhesistischer Mitbehandlung, durch elektrische Auslösung eines generalisierten zerebralen Krampfanfalles (Behandlungsserie) zu therapeutischen Zwecken. (Baghai, 2012, S.720) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 63 Neurobiologische Untersuchungen bei Depressionen betonen sowohl strukturelle, als auch funktionelle Veränderungen. Morphologisch werden bei Major Depressionen ein verringertes Frontallappenvolumen (subgenuale präfrontale Anteile, orbitofrontale Region) , eine verringerte cerebrale Asymmetrie, eine Vergrößerung der Liquorräume bei Patienten mit psychotischen Symptomen, sowie vermehrte white matter lesions frontal periventrikulär bei spätem Beginn gefunden. Es werden Korrelationen zwischen läsionellen Veränderungen der Basalganglien mit einem erhöhten Suizidrisiko postuliert. Weiter Auffälligkeiten werden in den für die Emotionsregulation relevanten Bereichen der HippokampusAmygdala-Formation beschrieben. Weiterhin werden eine verminderte ATP-Konzentration im Frontallappen, Auffälligkeiten in der CholinKonzentration, als Hinweis auf eine gestörte Neuroplastizität (Normalisierung unter antidepressiver Medikation) nachgewiesen. Die Untersuchungsmethoden mit PET, SPECT, fMRT, MR-Spektroskopie, Diffusionstraktotomie sind mit kleinen Studiengruppen, mit und erheblichen Artefaktproblemen erhoben, mit einer sehr begrenzten Generalisierbarkeit. Die Frage ob die strukturellen Veränderungen vor oder unter der Krankheit aufgetreten sind, bleibt offen. Neuropsychologisch findet sich weitgehend übereinstimmend eine wesentliche Beeinträchtigung der kognitiven Flexibilität (fluency) Leistungen bei Depressiven, was mit den klinischen Beobachtungen der Entscheidungserschwerung bis ,-unfähigkeit korreliert. (Vollmert, 2005) Grawe (2004) weist daraufhin, dass „solche prädisponierenden Merkmale immer schon Ergebnis einer zuvor erfolgten Genexpression (sind), und bei dieser haben wiederum Lebenserfahrungen eine gewichtige Rolle gespielt ... (wobei) spezifische Lebenserfahrungen auch das potenteste Mittel sind, um das Gehirn von Depressiven aus seinem geschädigten Zustand wieder in einen gesünderen Zustand zu überführen.“(S.155) Eine medikamentöse Behandlung depressiver Störungen erfolgt in der Praxis unter syndromalen Aspekten, wobei die serotoninerg und noradrenerg sowie die melatoninergen wirkenden Substanzen, individuell fachärztlich eingesetzt werden. Die Behandlung depressiver Patienten ist in der Praxis weitestgehend polypragmatisch, wobei die S3 – Leitlinen (NationalLeitlinien) unipolarer Depressionen, und zur Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen ein evidenzbasiertes Behandlungskonzept favorisieren. Die Beurteilung einer Therapie -Effektivität ist oft durch fehlende Operationalisierung und Transparenz erschwert, bei sehr unterschiedlichen Versorgungsstrukturen und ,-Angeboten (u.a. Stadt/Land) Insbesondere muss die Lebensqualität und die soziale Teilhabe beachtet werden. Die Bestimmung einer Therapieresistenz setzt eine individuelle fachärztliche Abwägung, unter Berücksichtigung des subjektiven Leidens depressiv Erkrankter, den Belastungsfaktoren der Angehörigen, und der Therapiebeteiligten, im jeweiligen psychosozialen Kontext, mit den in Anspruch genommenen Versorgungsangeboten, und der vitalen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 64 Gefährdung, voraus.51 Eine empathisch gewirkte Mitwirkung der Patienten und deren caregiveres bei der Diagnose und der Auswahl der Therapiealternativen ist dabei Grundvoraussetzung. In den Nationalen VersorgungsLeitlinien Unipolare Depression, und in den Behandlungsempfehlungen für Ärzte für chronische und therapieresistente Depression (Bschor, 2014) wird die Therapieoption einer THS nicht erwähnt. Die Behandlung therapieresistenter Depressionen mit chirurgischen Eingriffen in das Gehirn ist in einem experimentellen (Forschungsstudien) Stadium und basiert auf kleinen Studiengruppen, Fallstudien, die Basalganglienregion und deren Unterteilungen sind klein und kompakt, und trotz der „sophisticated imaging and electrophysiology techniques, localizations often remain less than exact.“ (Lakhan, 2010) Eine Zusammenstellung von sieben DBS – Studien (Kohortengröße 1 Patient bis 21 Patienten) mit einem Beobachtungszeitraum von sechs bis 24 Monaten, drei mit PET Kontrolle, zeigten keine „adverse effects“ mit 35% bis 66% „recovered patients“ bei Therapieresistenz.52 Das bisher überzeugendste neuronale Netzwerk–Erklärungsmodell von Depressionen (biochemisch, elektrophysiologisch, neuroimaging, Tierstudien) von Mayberg (1997) und von Drevets u. Raichle (1992) basiert auf der Annahmen, dass den Depressionen eine Dysregulation limbischer und corticaler Netzwerkstrukturen unter Kontrolle des rostralen cingulären Cortex (BA24a) zugrunde liegt. Funktionell neuroanatomische Veränderungen bei Depressionen: dorsale Hirnregionen (dorsolateraler präfrontaler Cortex, inferiorer parietaler Cortex, Striatum) o mit kognitiven Störungen (Apathie, Anhedonismus, Hoffnungslosigkeit, Aufmerkamkeitsstörungen, dysexekutiven Störungen) korreliert; ventrale Hirnregionen (Hypothalamus-Epiphyse-Adreale – Achse; Inselregion, das subgenuale Cingulum, Hirnstamm) o mit vegetativen Störungen (Schlafstörungen, Appetit, endokrine Dysregulation) korreliert; das subgenuale Cingulum (Brodmann Area cg25) mit dysfunktionalen Verbindungen zum dorsal und ventralen Kompartment, o Emotionsregulation bei negativen Gefühlen – Traurigkeit o Zielregion zur Bestimmung der Therapieeffekte (Verhaltenstherapie, Antidepressiva identisch); 51 Zur Beurteilung die beiden Skalen: GAF (Global Assessment of Functioning aus Schäfer, S. Immer öfter eine gute Wahl. Lizenzfreie Testverfahren. Psychotherapie Aktuell 3/2010, S. 12-16); Mini-ICF-Rating für Aktivität – und Partizipationsstörungen bei psychischen Erkrankungen in Anlehnung an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO von Linden,M, Baron,S, Muschalla,B. Hans Huber Hogrefe Verlag, Bern, 2009, 52 „As more studies are done, and if DBS becomes covered by insurance, then random selction oft subjects for alternative DBS targets may become practical and parametric statistical power calculations will be feasiable.“LAKHAN, S., CALLAWAY,E 2010. Deep brain stimulation for obsessive-compulsive disorder and treatment-resistant depression: systematic review. BMC Reswearch Notes http://www.biomedcentral.com/17560500/3/60, 3:60, 1-9. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 65 Nucleus accumbens o zentrale Schaltstelle zwischen emotionalen, limbischen und motorischen Regelkreisen o Erfahrung von Belohnung und hedonistischen Reizen der rostrale cingulären Cortex (BA24a) o Schlüsselstellung bei der Modulation des neuronalen Depressionsnetzwerks (Grawe, 2004, Lakhan, 2010, Kuhn, 2010, Schläpfer, 2011) Weiterhin werden der Hippocampus (Gedächtnisdefizite); Nucleus accumbens (Anhedonie, Motivationsdefizit); Amygdala (Processierung aversiver Stimuli und Vermeidung) bei der neuronalen Netzwerkstörung bei Depressionen berücksichtigt. (Schlaepfer, 2011) „Alle Hirnregionen, die bei einer Depression negativ betroffen sind, haben zentrale Funktionen bei der Auseinandersetzung mit der Umgebung. Weil sie so stark betroffen sind, ist es angemessen, bei der Depression von einer schweren Krankheit zu sprechen ... (weiterhin) kann ihr Zustand nicht losgelöst von den Interaktionen dieses spezifischen Gehirns mit seiner spezifischen Lebensumgebung betrachtet werden.“ (Grawe, 2004, S. 154) Die Behandlung mit TSH (DBS) bei Depressionen ist bisher in keinen Therapiealgorithmus eingebunden und ohne Zulassung, ist demnach in einem experimentellen, vorwiegend Forschungsinteressen folgenden Stadium, und bedarf eines sehr verantwortungsvollen Nutzen/Risiko – Abwägungsprozesses. Von Schläpfer (2011) werden als Nebenwirkungen der THS bei Depressionen lokale Blutungen und Infektionen, und als Stimulationseffekte eine Stimmungsaufhellung, Angst, motorische Verlangsamung, aufgeführt. Nähere Beschreibungen sind der Studie nicht zu entnehmen. Die positiven Effekte der DBS: (Schlaepfer, 2011) Reversibilität, Elektrodenentfernung jederzeit möglich, Hirnaktivitätsänderungen können direkt und kontrolliert gesteuert werden, Stimulationparameter können kontinuierlich individuell angepasst werden, Patienten können die Stimulation ausschalten wenn Nebenwirkungen auftreten, keine extrapyramidalen Nebenwirkungen, keine Gewichtszunahme, keine Langzeitnebenwirkungen wie bei Antidepressiva Medikation. Von der Kölner Arbeitsgruppe (Sturm und Schläpfer) wurde bei einer bilateralen Stimulation des Nucleus accumbens (zentrale Schaltstelle zwischen emotionalen, limbischen und motorischen Regelkreisen – Erfahrung von Belohnung und hedonistischen Reizen) bei drei Patienten (mit doppelblinder Unterbrechung) eine Reduktion der HAM-D-Punktwerte von 42 % und bei der Hälfte von 10 Patienten konnte eine Reduktion der HAM-D-Punktwerte um 50 % (nach einjähriger Beobachtung eine Anxiolyse Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 66 - Hamilton Anxiety Scales)53 beobachtet werden. Mit einer Kontroll – PET Untersuchung wurde eine Modulation fronto-striataler Netzwerke unter der THS dokumentiert. Nebenwirkungen fanden sich nicht. (Kuhn, 2010) Fazit: Trotz einer evidenzbasierten Leitlinientherapie bei depressiven Störungen mit Antidepressiva und Psychotherapie, EKT, Soziotherapie, wird bei (ca 10%) Patienten Therapieresistenz beobachtet. Als alternative somatische Behandlung ist die THS in den NationalLeitlinien (gültig bis 2015) nicht aufgeführt. Als plausible neuronale Netzwerkstörung bei Depressionen wird eine Dysregulation limbischer und corticaler Netzwerkstrukturen unter Kontrolle des rostralen cingulären Cortex (BA24a) angenommen, ohne dass die theoretischen und nachweisbaren funktionellen und strukturellen Gehirnparameter durch Studien bereits hinreichend belegt sind. Die Studienlage ist nicht geeignet eine vertretbar kommunizierbare Effektstärke der THS bei Depressionen zu ermitteln. Eine Zulassung für die Behandlung von Depressionen mit der THS gibt es nicht. Eine psychiatrische Indikation zur THS bei therapieresistenter Depression kann nur individuell mit dem Betroffenen und den Angehörigen, unter Berücksichtigung der sozialen Situation, und dem Zugang zu einem Stereotaxie - Zentrum mit interdisziplinärem Team und Erfahrungen mit zentrenübergreifenden Studien, sowie der Gewährleistung einer langjährigen Nachsorge, gestellt werden. Forschungsinteressen stehen bei der neurochirurgischen Intervention in das Gehirn bei Depressiven im Vordergrund. 53 Hamilton Depressions und Angstskalen sind Sceening Skalen zur Beurteilung von Therapie Verlauf und Gruppenunterschieden. http://www.psy-world.com/online_hamd.htm Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 67 2.6 Die THS bei Abhängigkeitserkrankungen (SUD )54 Wie bereits ausgeführt werden bei der Behandlung von neurologischen Bewegungsstörungen mit der THS, und bei der Behandlung mit dopaminergen Substanzen Suchtverhalten (Substanzmissbrauch, Impulskontrollstörungen) als „stimulationsbedingte“ Nebenwirkungen beobachtet. Kuhn (2010) schreibt unter der Überschrift „Ausblick“ von „bemerkenswerten Veränderungen im Suchtverhalten bei stoffgebundenen Abhängigkeiten im Rahmen der THS des Nucleus accumbens.“ (S. 5) Er bezieht sich dabei auf eine Kasuistik aus dem Kölner Arbeitskreis. (Kuhn, 2007) Als Nebeneffekt wurde bei einem an Panikattacken und Depressionen erkrankten 54-jährigen Patienten, der mit THS behandelt wurde, ohne das motivationsverstärkende Interventionen eingesetzt wurden, ein signifikanter Effekt auf die Alkoholabhängigkeit, erreicht. „Subjectively speaking, the patient claims to have lost the desire to drink and further professes that the pressing need to consume alcohol hat almost completely disappeared unter stimulation.“ (Kuhn, 2007, S. 1153) In den westlichen Industrieländern stehen ca 25% der Todesfälle in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Einnahme von psychotropen Substanzen.(Kuhn,2007) Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden durch alkoholassoziierte Krankheiten, die den größten Teil der Ausgaben ausmachen, wurde 2002 vom Robert-Koch-Institut auf ca 5080 Mrd. DM geschätzt.55 Die DG-Sucht (Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V.) publiziert zu folgenden Substanzen Leitlinien (S2Leitlinien): Alkohol, Opioide, Cannabis, Kokain, Amphetamine, Ecstasy und Halluzinogene, Tabak, Medikamentenabhängigkeit. (Schmidt, 2006) Am Beispiel der Alkoholabhängigkeit sollen die für SUDs grundlegenden Begriffe dargestellt werden. (zitiert wird aus der S2-Leitlinie Riskanter schädlicher und abhängiger Alkoholkonsum: Screening, Diagnostik, Kurzintervention. AWMF-Leitlinien-Register Nr.076/003, 04.05.2005) Ein „riskanter Alkoholkonsum (hazardous trinking) erhöht die Wahrscheinlichkeit , aufgrund eines fortgesetzten exzessiven Konsums künftig Schaden zu nehmen. ( > Tageskonsum von 60g reinen Alkohol bei Männern, >30 g bei Frauen) Ein „schädlicher Konsum von Alkohol (harmful alcohol use)“ geht mit nachweisbaren Schädigungen der körperlichen oder psychischen 54 Substance use disorders im Unterschied zu Impulskontrollstörungen (Esssucht, Spielsucht etc.) Moum,SJ, Price,CC, Limotai,N. u.a. Effects of STN and GPi Deep Brain Stimulation on Impulse Control Disorders and Dopamine Dysregulation Syndrom. PLoS One Jan 2012, www.plosone.org. Der Begriff „Sucht“ wird etymologisch aus dem Altgermanischen („suht“= Krankheit; „siech“ ) abgeleitet, ursprünglich auf körperliche Krankheiten bezogen. (Berger, 2011) 55 https://www.gbe-bund.de/pdf/alkoholassoziierte_krankheiten.pdf#SEARCH=%22Suchterkrankungen%22 aufgerufen Nov.2014 Zu den Prävalenzraten werden folgende Angaben gemacht: Kokain 0,5-3% der europ Erw., Amphetamine 1-4% der europ. Erw., Ecstasy 0,5-4% der europ.Erw., LSD 1-2% der europ.Erw.; meist polyvalenter Konsum; abhängige Tabakraucher in Deutschland 8,2% (ca. 22% der Raucher) (= 3,8-5,8 Mill. Abhängige Raucher in Deutschland , siehe S2-Leitlinien dg-sucht.de, suchtbeauftragte.de). Entscheidend sind die präventiven Maßnahmen da in der Pubertät erste Kontakte mit den illegalen Drogen und dem Tabak,-Alkoholkonsum erfolgen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 68 Gesundheit einher. (z.B.Leberzirrhose, Depressionen, Eheprobleme, berufliche Probleme) Ein „Alkoholmissbrauch (alcohol abuse) nach DSM-IV-TR geht mit der Vernachlässigung bedeutender Verpflichtungen, rechtlichen und sozialen Problemen sowie einer Gefährdung der physischen Gesundheit bzw. Unversehrtheit einher.“ (entspricht dem dysfunktionalen Konsum) „Eine Abhängigkeit von Alkohol oder einer anderen psychotropen Substanz ist ein hinsichtlich der Ausprägung des klinischen Bildes variierendes Syndrom, das durch den Vorgang des Substanzkonsums gegenüber anderen Verhaltensweisen sowie die Fortsetzung des Konsums trotz schädlicher Folgen gekennzeichnet ist.“ (S2-Leitlinie, 2005, S.4) Die DSM-IV und ICD-10 Kriterien des Kapitels F 10 – 19) als „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ gefasst orientieren sich an den folgenden diagnostischen Leitlinien: Die Diagnose Abhängigkeit sollte nur gestellt werden bei einem starken Wunsche oder Zwang die Substanz zu konsumieren einer verminderten Kontrollfähigkeit bzg. Beginn, Beendigung und Menge des Substanzkonsums einem körperlichen Entzugssyndrom beim Nachweis einer Toleranz. Zunehmend höhere Dosen zur Wirkungserreichung notwendig. Einer fortschreitenden Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums Anhaltender Substanzkonsum trägt zum Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher, sozialer, psychischer Art bei. (Berger, 2011) Somit sind entscheidenden Charakteristika von SUDs die Entwicklung von Toleranz (Gewöhnung), die physische und psychische Abhängigkeit (craving). Als biologische Hintergründe der Gewöhnung wird ein verstärkter Abbau der Substanz, oder ein neuronaler Anpassungsprozess auf der Übertragungsebene (Synapsen) der beeinflussten Hirnbotenstoffe (Transmitter) oder der nachgeschalteten Netzwerkverbindungen gesehen. Die körperliche Abhängigkeit ist an dem Entzugssyndrom zu erkennen (Schwitzen, Angst, Herzbeschleunigung etc.) infolge eines neuronalen Anpassungsprozesses bei chronischer Substanzzufuhr und einer Fehlfunktion nach Absetzen der Substanz, unter Mitreaktion anderer Organsysteme. Das „starke, unwiderstehliche Verlangen nach einer Droge“ (craving) entwickelt sich wenn aktiv zur Droge gegriffen wird. „Wird bei fortgesetztem Substanzkonsum ein „point of no return“ überschritten, kommt es zu einem Verlust der Eigenkontrolle und über die Substanzzufuhr, einem wesentlichen Merkmal für die Diagnose „Abhängigkeit.“ (Berger, 2011, S.391) Insbesondere klassisches und operantes Lernen (Konditionieren) spielen beim „drug seeking“ und „drug taking“ eine entscheidende Rolle. Am Belohnungssysteme wirken die suchterzeugenden Substanzen, wobei sich substanzspezifische Aktivierungen in Tierversuchen nachweisen lassen. Alkohol führt zu einem Anstieg des -Endorphinsystems, wobei das dopaminerge System des ventralen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 69 Tegmentums des Mittelhirns zum Nucleus accumbens des Vorderhirns projezierend in der Transmission gesteigert wird. („gemeinsame Endstrecke von Drogenwirkungen“ Berger, 2011, S.392) Die Frage nach der Vulnaribilität zur Suchtentwicklung wird mit der Dopamindefizit-Hypothese, einer verminderten Ansprechbarkeit der zum Belohnungssystem gehörenden mesolimbischen dopaminergen Neurone postuliert. Der Beitrag genetischer Faktoren bei der Entstehung von Abhängigkeit wird gleichwertig mit den individuellen sozialökonomischen Faktoren gewichtet. Zum Screening werden Skalen wie der Lübecker Alkoholabhängigkeits,und missbrauchs –Screening-Test (LAST, Rumpf u.a., 1997), das AUDIT und AUDITC zu dem es keinen deutschen cut-off-Werte gibt, eingesetzt. (S2-Leitlinien, 2005, S. 6); Laborindikatoren stehen zur Verfügung zur Nachweisbestimmung. Zur Therapie der einzelnen Substanzabhängigkeiten stehen für die Intervention bei Entgiftungsbehandlung und Stabilisierung (Entwöhnungsbehandlung, Adaption) Psychopharmaka zur Verfügung, die sowohl ambulant, wie auch unter stationären Bedingungen eingesetzt werden, wobei diese Behandlung nur im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes erfolgen sollte, der unter suchttherapeutischen Aspekten multiprofessionell individualisiert erstellt werden muss. (dgsucht.de, Leitlinien für sozialmedizinische Begutachtung, Sozialmedizinische Beurteilung bei Abhängigkeitserkrankungen, April 2010, Deutsche Rentenversicherung)(Burucker, 2012) Es liegt nahe, dass bei der Therapie von substanzinduzierten Erkrankungen mit einem Ansprechen der beteiligten Hirnbereiche und den veränderten biochemischem Prozessen in den neuronalen Netwerken, Gehirneingriffe versucht werden. Die Wirkung suchterzeugender Substanzen wird allgemein darin gesehen, dass sie große und vorübergehende Aktivitätsverstärkungen im dopamnergen System des ventralen Tegmentum - Bereichs auslösen, der primär mit dem Nucleus accumbens, als Anteil des ventralen Striatums verbunden ist, aber auch mit dem dorsalen Striatum, der Amygdala, dem Hippokampus und dem präfrontalen Kortex. Die chronische Einnahme suchterzeugender Sub-stanzen führt zu einer morphologischen Gehirnveränderung in den Netzwerkstrukturen, andererseits finden sich auch bei gefährdeten Personengruppen bereits Modulationen in den angesprochenen Hirnare-alen, ohne dass hiermit ein ursächlicher Zusammenhang impliziert werden kann. Erklärungsversuche für die Phänomenologie abhängigen Verhaltens wurden vielfältiger Art versucht, wobei Volkow einen interessantes Modell zur Erklärung von Verhaltensabweichungen bei SUDs beschreibt, und die Gleichgewichtsstörung in den beteiligten neuronalen Netzwerkstrukturen in Zusammenhang mit Selbststeuerungsdefiziten setzt.(Volkow, 2013) „The evidence suggests that the observable behavior that characterize the addiction phenotype (compulsive drug consumptopn, impaired self-control and behavioral inflexibility) represent unbalanced interactions between complex networks (that form functional circuits) implicated in goal directed behavior.“(ebd.,S.639) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 70 Dabei sind durch Tierversuche und durch die verbesserten bildgebenden Verfahren, sowie durch die molekularbiologischen Analysen, inzwischen Forschungsbeiträge vorhanden, die ein besseres Verständnis der neuronalen Netzwerkstörung im Gehirn bei Abhängigkeitserkrankungen ermöglichen. Eine Literaturübersicht zur DBS bei Suchterkrankungen mit deiner Diskussion der neuropsychologischen und neurofunktionellen Zusammenhänge findet bei Bauer. (Bauer, 2008). Zusammenfassend wird angenommen, dass die Langzeiteffekte wie Toleranzentwicklung, craving, Abhängigkeit und Entzugssymptomatik auf zellularer Ebene auf einer modifizierten Genexpression und eine Rezeptordownregulation beruhen. (Kuhn, 2007) Neuropathophysiologisch handelt es sich bei der Abhängigkeits-erkrankung um ein chronisch wiederkehrendes Krankheitsbild, welches auf einer Dysregulation neuronaler Netzwerkstrukturen im Gehirn beruht, an der die neuronalen Verbindungen der mesocorticolimbischen Struk-turen, einschließlich des Nucleus accumbens, einem Teil des Vorderhirns, beteiligt sind. Unbekannt sind die spezifischen Wirkorte (cellulär) der Substanzen, und wie ein stabilisierender Effekt durch Stimulation oder Medikation hergestellt werden kann. Aus den bisherigen Stimulationsinterventionen (DBS) wird angenommen, dass insbesondere die Modulation der dopaminergen Transmission (D1 Rezeptoren als Plastizitätsinduktoren, NMDA Rezeptoren) eine entscheidende Rolle spielt, und sich die Wirkung auf die D2 Rezeptoren im präfrontalen Cortex bei Abhängigkeitserkrankungen (Dopamindysregulations-Syndrom) balancierend auswirkt, so dass damit eine Normalisierung der synaptischen Transmission, und damit eine günstige Beeinflussung des eingeengten Verhaltensrepertoirs bei den Erkrankten erreicht werden kann. Pharmakologische Einflussmöglichkeiten sind zurzeit wenig effektiv. (Kuhn, 2012, S.1) Der Nucleus accumbens ist der ventrale Teil des Striatums, wo die Information aus dem limbischen System prozessiert wird, und damit in das Belohnungssystem bei SUDs eingrieft. Der Nucleus accumbens wird anatomisch in den Kern,- und den Mantel-Bereich unterteilt mit unterschiedlichen funktionellen Bedeutungen, was sich bei Untersuchungen mit Cocain,- und Alkohol,- Heroinabhängigen zeigte (Pierce, 2013)56 Volkov (2013) spricht demzufolge von aus dem Gleichgewicht geratenen neuronalen Netzwerken bei der Abhängigkeitserkrankung, die gezielt über die Zeit ausbalanciert werden sollten. (Volkow, 2013) Eine Spezifizierung der neuronalen Zielstrukturen bei Gehirninterven-tionen lässt sich aus tierexperimentellen Studien und aufgrund der bildgebenden Verfahren gewinnen(Kienast, 2008), mit einem weiteren Forschungsbedarf. Dementsprechend wird zu neuronalen Netzwerkstörungen bei Abhängigkeitserkrankungen zusammenfassend formuliert: (Volkow, 2013, S. 14): 56 „Surprisingly, the mechanism of action of DBS that is responsible for ist therapeutic effects remains unclear.“ (Pierce, 2013,S.4) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 71 Addiction is a spectrum disorder that pertubs the balance within a network of circuits Addiction entails a progressive dysfunction that erodes the foundations of selfcontrol Addiction circuits overlap with the circuits of other impulsivity disorders (e.g.,obesity) Better understanding of these circuits ist he key to better prevention and treatment.“ Fallstudien zur Alkoholabhängigkeit, Tabakabhängigkeit, sind publiziert (Kuhn, 2010a), wobei die „vielversprechenden Ergebnisse, die unter anderem auf eine Modulation des „Craving“ zurückgeführt werden und es den Betroffenen offensichtlich erleichtern, abstinent zu bleiben, allerdings bislang nicht durch Studien untermauert (sind).“ (ebd. S.5) Über Nebenwirkungen liegen keine hinreichenden Berichte vor. Das Risiko des chirurgischen Eingriffs muss gegenüber dem zu erwartenden Erfolg abgewogen werden. Zu den Therapiezielen werden bei den SUDs übergeordnet in den S2Leitlinien der DG-Sucht formuliert, „den Patienten darin zu unterstützen, eine seinen Fähigkeiten angemessene, nicht durch Drogenkonsum gekennzeichnete, eine möglichst autonom, kompetent und handlungsfähige Lebensführung zu erreichen.“ (S.18) Vordringlich geht es um die Sicherung des Überlebens, die Abwendung langfristiger Gesundheitsschäden, und die Abstinenz von illegalen Drogen. Neben der Entgiftung und Entwöhnungsbehandlung (craving, Suchtdruck, Triggerkontrolle, Motivation), steht die Rückfallprophylaxe mit einer Adaptionsphase in einem Gesamtplan, flankiert von Psychotherapie und Soziotherapie, im Vordergrund der Interventionsstrategien. Der zeitliche Rahmen liegt bei der Rehabilitation bei 18–20 Monaten als Minimum, wobei mit wiederholten Rückfällen zu rechnen ist. Bei der Behandlung mit DBS handelt es sich im Vergleich zu den bisherigen Erkrankten um durchschnittlich jüngere Patienten,57 so dass eine Therapie immer mit einer Langzeitbegleitung und Nachsorge verbunden sein muss. Fazit: Zur TSH bei Abhängigkeitserkrankungen liegen erste Fallberichte vor, wobei eine Beurteilung der Effektivität und der Langzeiteffekte bisher nicht möglich ist. Ein plausibles neurofunktionelles und neurobiochemisches Netzwerk-Dysbalance–Modell bei SUDs kann die Zielstrukturen im Gehirn besser definieren. Die Einbindung therapeutischer Interventionen in einen individuellen Gesamtbehandlungs-plan mit einer Langzeitnachsorgemöglichkeit (manualisierte Programme zur Rückfallprophylaxe) ist zwingend notwendig. Da der Erstkontakt mit den Drogen in einer frühen Lebensspanne erfolgt sind Präventionsprogramme erforderlich. Die Finanzierung der institutionellen Interventionsmöglichkeiten mit gleichberechtigten Zugangsmöglichkeiten zu den medizinischen und suchttherapeutischen Angeboten stellt die Therapie der substanzgebunden Abhängigkeitserkrankungen in einen gesundheitspolitischen 57 siehe hierzu das Epidemiologische Suchtsurvey (ESA) 2009 auf der homepage dogenbeauftragte.de Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 72 Zusammenhang. Die Behandlung von SUDs mit THS (DBS) ist einzelnen Spezialtherapiezentren vorbehalten. 2.7 Die THS bei Morbus Alzheimer58 Die Demenzen werden den körperlichen Psychosen (Schneider, 1946; Lipowski, 1975) (Berger, 2011)zugeordnet, und nach den DSM-IV, ICD-10 Kriterien klassifiziert. Unterschieden werden die Demenzen bei Alzheimer Krankeit (F00, G30,-), vaskuläre Demenz (F01), Demenz bei andernorts klassifizierten Erkrankungen z.B. fokale kortikale Degeneration, Chorea Huntington, Morbus Parkinson, HIV-induzierte Demenz, u.a.). Demenzen sind neurodegenerative Erkrankungen mit Störungen des Gedächtnisses, Beeinträchtigungen zumindest eines weiteren neuropsychologischen Teilbereichs, und einer damit verbundenen alltagsrelevanten Einschränkung der Lebensführung. Differentialdiagnostisch kommt es im Vergleich zu den Minderbegabungen bei den Demenzen zu einem Verlust bereits erworbener kognitiver Fähigkeiten, ohne Veränderung des Bewusstseins. Bei ca. 10% der Demenzen liegt eine behandelbare, reversibel Ursache vor. Die exakte Erfassung einer progredienten neurodegenerativen Erkrankung ist deshalb von entscheidender praktischer Bedeutung, sodass entsprechende Kriterien erarbeitet werden.(Berger, 2011,S.302) Mischformen stellen die häufigsten klinischen Krankheitsbilder dar. Eine syndromale und ätiologische Diagnostik ist im Praxisalltag vor einer Therapieeinleitung erforderlich. Eine prognostische Aussage kann nicht gestellt werden. Epidemiologisch werden die Demenzerkrankungen mit steigender Lebenserwartung der Bevölkerung einen zunehmend größeren Anteil einnehmen. Die Prävalenzrate „nimmt von etwas mehr als 1% in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen auf rund 40% unter den über 90Jährigen zu ... In Deutschland muss man von knapp 300.000 Neuerkrankungen pro Jahr ausgehen.“(Gutzmann, 2014,S.54) Neuropathologisch werden interneurale Amyloidplaques und intraneurale neurofibrilläre Tangels (Alois Alzheimer, 1907) nachgewiesen.(Lyketsos, 2012) „Mit der Kombination des beta-Amyloid-1-42-Wertes und Gesamt– Tau-Wertes bzw. des beta-Amyloid-1-42-Wertes und Phospho-Tau-Werts gelingt eine Abgrenzung von Demenzkranken mit Alzheimer-Demenz gegenüber gesunden Personen mit einer Sensitivität 86-92% und einer Spezifität von 89%“.“(S3-Leitlinien Demenzen, 2009,S.17) Diese Liquorbefunde eignen sich nicht zu einer Verlaufskontrolle. Es wird eine Bildgebung mit einem CCT, MRT zur Differentialdiagnose empfohlen. Eine FDG-PET, und SPECT, EEG, dienen der weiteren Ausdifferenzierung der Demenzformen. Familiäre Alzheimer – Krankheiten liegen unter 5%, 5-10% 58 S3-Leitlinie „Demenzen“ (Kurzversion) AWMF-Registrier-Nr. 053-021 November 2009 – Neufassung angemeldet zur Überarbeitung – awmf.org Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 73 der frontotemporalen Demenzen (Förstl, 2003)haben eine positive Familienanamnese (früher Beginn und molekulargenetische Beratung). Die isolierte Bestimmung des Apolipoprotein-E-Genotyps als genetischer Risikofaktor wird nach den Leitlinien aufgrund der mangelnden Trennschärfe und dem geringen prädigtieven Wert nicht empfohlen. In Studien und zum Screening wird der Mini-Mental-State-Test (Folstein, 1975) eingesetzt, womit eine Einteilung der Schweregrade der Demenzen bei Alzheimer-Demenz, als Orientierungshilfen erfolgt. MMST 20 bis 26 Punkte: leichte Alzheimer-Erkrankung MMST 10 bis 19 Punkte: moderate/mittelschwere AlzheimerErkrankung MMST weniger als 10 Punkte. Schwere Alzheimer-Erkrankung (S3-Leitlinien Demenzen, 2009, S. 12) Die Einteilung ist beim Einsatz von zugelassenen Antidementiva wichtig. Acetylcholinesterase-Hemmer (Donezepil, Galantamin, Rivastigmin) leichte bis mittelschwere AD o Nebenwirkungen Gastrointestinal Bronchial Kardial Erhöhte Mortalität wegen bradykardisierendem Anti-Atropin-Effekt) Memantine (NMDA –Antagonist) mittelschwere bis schwere AD o Nebenwirkungen Agitiertheit Halluzinationen Kontraindikationen: zerebrale Anfälle, Hypertonuns, Myokardinfarkt, dekompensierte Herzinsuffizienz (Guthmann, 2014) Die allgemeinen Therapieziele bei progredient verlaufenden Demenzen umfassen eine Linderung der kognitiven Leistungseinbußen und eine Verbesserung der Lebensqualität der Patienten und ihrer Angehörigen. Kognitive Verschlimmerungen und pflegerische Interventionen können nur bei ca 25% der Alzheimer Erkrankten mit den zugelassenen Medikamenten für 1-2 Jahre erreicht werden. Im Vordergrund stehen individualisierte Gesamtbehandlungsansätze, wobei die medizinische Rehabilitation zu einer Verbesserung des Krankheitsverständnises, zu einer Entlastung der Angehörigen, und zu einer besseren Alltagsadaption beitragen kann. Die Behandlung mit der THS als ein „circuitry-based treatment“ (Lyketsos, 2012, S. 11) stellt bisher eine auf wenige Studienergebnisse und Tiermodelle Bezug nehmende experimentelle Therapieoption dar. (Hardenacke, 2013) (Pereira, 2014) Neuroanatomisch wird bei der Alzheimer Erkrankung das limbische System (Papez-Kreis) am deutlichsten mit Amyloidablagerungen und molekularen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 74 Abnormalitäten betroffen. Die neurodegenerativen Prozesse schädigen neuronale Netzwerkaktivitäten, synaptische Überträger-aktivitäten mit den neuronalen Abbau.59 Als Zielstrukturen werden der Fornix (nervale Verbindungen zum Hippokampus), Entorinaler Cortex, Nucleus basalis Meynert in den Studien angegeben, wobei es sich um Einzelfallbeobachtungen oder Phase I Studien (off-lable, ohne Kontrollgruppe) handelt. Der Nucleus basalis Meynert wurde von der Kölner Arbeitsgruppe (2009) bei einem ParkinsonDemenz Kranken als Zielort publiziert.60 Dabei wurde der Nucleus subthalamicus und der Nucleus basalis Meynert (STN Stimulation alleine, kombinierte Stimulation STN und NBM, STN Stimulation mit NBM Scheinstimulation) verglichen, wobei lediglich die kombinierte Stimulation einen deutlichen kognitiven Verbesserungseffekt zeigte. Verbesserungen zeigten sich auch bei der Aufmerksamkeit, Konzentration, Wachheit, Antrieb, Spontaneität, sowie bei apraktischen Störungen. Nebenwirkungen wurden lediglich in der Studie von Laxton u.a. (2010) mit 6 Alzheimerpatienten mit mildem bis moderatem Schweregrad (Verbesserungen des Glucosemetabolismus, kein Abfall der kognitiven Funktionsniveaus) angegeben, mit Wärmesensationen, flushing, Herzschlaganstieg und Blutdruckanstieg. Eine Generalisierung der Ergebnisse i.S. einer verbessernden Beeinflussung kognitiver Funktionen bei der Alzheimer Erkrankung ist wegen der geringen Patientenzahl, dem open-lable-design, ohne Kontrollgruppe, nicht möglich. (Hardenacke, 2013,S.3) Die bisher vorliegenden Publikationen umfassen eine Verlaufskontrolle bis 52 Monate. Fazit: Während die medikamentösen Therapien (Immuntherapien bisher ohne Effekt) bei nur ca ¼ der Alzheimer–Kranken einen kurzfristigen, mit teilweise schweren Nebenwirkungen behafteten, den Verlauf verzögernden Effekt, nachweisen konnten, richtet sich die THS auf eine Modulation des neuronalen Gedächtnis–Netwerks. Der Wirkmechanismus ist nicht bekannt. Eine allgemeine Aussage zu einer symptomatischen Verbesserung neuropsychologischer Funktionen oder Verbesserung der Lebensqualität bei Alzheimer Erkrankung mit der THS kann nicht gemacht werden. Die Mitbehandlung kognitiver Störungen bei schweren Bewegungsstörungen (M.Parkinson) ist mit einer Zunahme der operativen Komplikationen (Anstieg der Blutungsgefahr mit der Anazahl der implantierten Elektroden) verbunden. Die Behandlung von Alzheimerkranken in einem schweren Stadium mit THS ist nach einer Literaturrecherche (Pubmed) bisher nicht publiziert worden. 59 Der im „Ruhezustand“ aktive Gehirnbereich wird als „default mode network“(Raichle, 2001) bezeichnet: medialer temporaler Bereich – Gedächtnisfunktion; medial präfrontaler Bereich – Therory of mind; posterior cingulate cortex, inferiorer parietales precunium - Informationsintegration ; LYKETSOS, C., TARGUM,S, PENDERGRASS,JC, LOZANO,AM, 2012. Deep Brain Stimulation: A Novel Strategy for Treating Alzheimer´s Disease. Innov Clin Neurosci, 9, 10-17. 60 „A unique feature in the course of both AD and Parkinson´s dementia (PDD) is basal forebrain degeneration includiung the latter´s chiolinergic projections to the cortex ... The relevance of the cholinergic forbrain for brain plasticity has. For instance, been illustrated by the reshaping of auditory receptive fields during and after stimulation of the NBM in the adualt brain.“(Hardenacke, 2013,S.4) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 75 2.8 Zusammenfassung der empirischen Befunde zur THS bei neuropsychiatrischen Erkrankungen Zusammenfassend lässt sich zum Wirkmechanismus der THS festhalten, dass durch die Implantation von Elektroden in bestimmte Gehirnregionen verschiedenartige neuronale Komponenten beeinflusst werden (Zellkörper, Axone, Nervenfaserbündel) mit einem inhibitorischen synaptischen Effekt auf Zellstrukturen und einem wechselweisen Hochfrequenz - Effekt auf efferente Axone und Faserverbindungen. Ein nachgewiesener Effekt ist die Beeinflussung der „firing rate and pattern of individual neurons in the basal ganglia.“ (Chen, 2012, S. 201) Weiterhin werden durch die elektrische Stimulation eine Ausschüttung von Calcium (Astrozyten) mit einer Neurotransmitter - Freisetzung (Glutamat, Adenosin) erreicht. Der allgemeine Effekt der DBS wird mit einem globalen Anstieg des cerebralen Blutflusses, einer Stimulation der Neurogenese, abhängig von der Amplitude und den zeitlichen Stimulationsparametern, den physiologischen Verhältnissen und den Zielstrukturen, der geometrischen Konfiguration der Elektroden und dem umgebenden Gewebe, beschrieben. „However, it still remains unclear exactly how these influences lead to changes in the symptoms of a certain neurological disease. Therefore, the foundation of this therapy has been more or less empirical.“ (Chen, 2012, Williams, 2014) Seit den späten 1980iger Jahren wird die Sterotaxie als neurochirurgischer Eingriff bei neurodegenerativen Erkrankungen mit Zulassung der Technik für schwere Bewegungsstörungen (DBS) (M. Parkinson, Tremor, Dystonien) erfolgversprechend bei inzwischen ca. 100.000 Patienten eingesetzt. Seit den 1990iger Jahren wurden schwerste neuropsychiatrische Erkrankungen (Zwangserkrankung mit einer europäischen technischen Zulassung, Tourette-Syndrom mit Einzelfallstudien) mit THS behandelt, ohne dass bereits eine globale Effektstärke angegeben werden kann. Einzelfallstudien mit THS wurden für schwere Depressionen, substanzgebundene Abhängigkeitserkrankungen, und erste Fallstudien für Alzheimer Erkrankungen (leichte bis moderate Schwere), aus Universitätskliniken mit Stereotaxie-Zentren publiziert. Langzeituntersuchungen über ein bis zwei Jahre hinausgehend gibt es nicht. Die Auswahl der Zielstrukturen bei den speziellen Erkrankungen ist weiterhin in der Diskussion, wobei Fortschritte der physikalischen Medizin (Bildgebende Verfahren, Neurophysiologische Techniken, Nanotechnik, Gentechniken) zu erwarten sind. Der Vorteil der THS gegenüber den läsionellen neurochirurgischen Eingriffen besteht in deren Reversibilität, der minimaleren Invasivität, der Durchführung in wachem Zustand, der individuellen Steuerung (Abbruch, Nebenwirkungskontrolle), der gezielten krankheitsspezifischen Gehirnintervention (im Vergleich zur Psychopharmakotherapie), wobei die Programmierung und die Nachkontrolle eine kontinuierliche ärztliche Überwachung erfordert. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 76 Die Hauptnebenwirkung des neurochirurgischen Eingriffs stellt die intrakranielle Blutung dar. Bei ca 5% der Interventionen (DBS) kommt es zu Blutungen, mit symptomatischen Blutungen von 2,1% und einem permanenten neurologischen Defizit infolge der Blutung oder einem tödlichen Ausgang von 1,1%. Die Gefahr von intrakraniellen Blutungen steigt mit der Anzahl der implantierten Elektroden. Hirnorganische Anfälle treten bei der THS in ca 2,4% auf (innerhalb von 48 Stunden nach dem Eingriff). Hardware Probleme mit Infektionen (am häufigsten), Elektrodenmigration und -,Fehlplatzierung, Elektrodenbrüche, Hautveränderungen, Regelungsprobleme werden mit 4,3% bis 17,8% berichtet. (Chen, 2012) Stimulus bedingte Nebenwirkungen sind Muskelkontraktionen, Dysarthrie (Sprechstörungen, Artikulationsprobleme), Augenbewegungen Zittern, Dyskinesien (unwillkürliche Bewegungsabläufe), Kopfschmerzen, Schmerzen, Parästhesien (Kribbelmissempfindungen), Wärmeempfindungen, flushs, Blutdruckanstieg. Persönlichkeitsbezogene Nebenwirkungen der THS betreffen vorwiegend die verbale Flüssigkeit (verbal fluency) bei der Stimulation des Nucleus subthalamicus (STN) aufgrund der Elektrodenplazierung, sowie eine Exacerbation suizidaler Tendenzen. Chronische Persönlichkeitsänderungen können als postinterventionelle (THS) Folgewirkungen auch zeitverzögert auftreten. Beobachtet wurden manische Syndrome, Depression, Apathie, Panik, Angst, Halluzinationen und Impulskontrollstörungen, sowie dramatische sozial-familiäre Anpassungsschwierigkeiten. Die Gewährleistung einer institutionalisierten interdisziplinären Nachsorge über einen langjährigen Zeitraum ist deshalb bei der THS erforderlich. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 77 III. Ethische Problemstellungen bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn 1. Einige grundlegende medizinethische Aspekte Neuropsychiatrische Erkrankungen (MNSD)61 gehören weltweit zu den häufigsten und global das Gesundheitswesen am meisten belastenden Erkrankungen. Die Erkrankungen stellen eine enorme Belastung für die Betroffenen (Stigmatisierung, Institutionalisierung), die Angehörigen (Pflege, verfügter Wille), sowie das öffentliche Gesundheitswesen dar. Die Prävalenzraten liegen weltweit für die MNSDs für Erwachsene bei 12.248.6%, und die 12-Monatsprävalenz bei 8.4-29.1%, wobei ¾ der Erkrankten zu den Ärmsten der Gesellschaft gehören. Sie umfassen 30% der „non-communicable diseases“62 weltweit. Die depressiven Erkrankungen, als Risikofaktor für Schlaganfälle, Herzinfarkte und Diabetes Typ 2, haben eine herausragende Bedeutung. Die Möglichkeiten zur Teilhabe an den gesundheitsmedizinischen Versorgungsangeboten sind für diese Erkrankungen im ländlichen und städtischen Bereich ungleich verteilt, wobei eine zweckmäßige psychiatrische Behandlung in der Gruppe mit sehr hohem und hohem Einkommen von 60%, gegenüber 10% in den unteren Einkommensbereichen wahrgenommen wird. Die Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen mit neurochirurgischen Eingriffen, als somatische Behandlungsform, steht wegen des menschenverachtend brutalen und massenhaften Einsatzes zur Zeit der „Psychochirurgie“ (Moniz, Freemann u.a.) weiterhin in der öffentlichen Diskussion. Dass eine „biologistisch-asoziale Krankheitsideologie mit der bereitgestellten Technik der Medizin umstandslos zur Deckung kommt“ (Sigusch, 1977), und eine Ausweitung der Indikationen auf Sexualstörungen und seelische Reaktionen, (Adler, 1979), Essstörungen, Abhängigkeitserkrankungen, Demenz (Chen, 2012)) bis hin zu Eingriffen bei frühen Krankheitsstadien (M. Parkinson) (Erasmi, 2014), welche mit einer Verbesserung der „sozialen Anpassung“(Meier, 2009) begründet werden kann, widerspricht den medizinethischen Prinzipien.63 Was hat sich seit den 1970iger Jahren bei der Behandlung von neuropsychiatrischen Erkrankungen (MNSDs) mit chirurgischen Gehirninterventionen verändert? 61 Mental, Neurological, Substance use Disorders - siehe hierzu insbesondere mhGAP: WHO Library (Satyanand,T (Hrsg.): Mental Health Gap Action Programme: scaling up care for mental, neurological and substance use disorders. Genf, 2008: „14% of the global burden of disease, measured in disability-adjusted life years (DALYs), can be attributed to MNS disorders. The stima and violations of human rights directed towards people with these disorders compounds the problem.“ (S.4) ... „The resources that have been provided to tackle the huge burden of MNS disorders are insufficient, inequitably distributed, and inefficiently used, which leads to a treatment gab of more than 75% in many countries with low and lower middle incomes.“ 62 chronische Erkrankungen, nicht übertragbar, nicht infektiös (nicht unbedingt korrekt, wenn HIV zu den chronischen Erkrankungen hinzugerechnet wird), die 60% aller Todesursachen weltweit beinhalten. 63 Zur medizinrechtlichen und einer neuroethischen Diskussion im Fach Psychiatrie wird auf die Ausführungen in HILGENDORF, E. 2013. Menschwürde und Neuromodulation. In: JOERDEN, J. C., HILGENDORF, E., THIELE, F. (ed.) Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. . Berlin: Duncker & HumblotGmbH, JOX, R., SCHÖNE-SEIFERT,B, BRUKAMP,K 2013. Aktuelle Kontroversen der Neuroethik. Der Nervenarzt, 10, 1163-1164. verwiesen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 78 Welche medizinethischen Kriterien sollten für neurochirurgische Eingriffe in das Gehirn bei neuropsychiatrischen Erkrankungen zum Schutz der Patienten und zur Rechtfertigung der medizinischen Behandlungen berücksichtigt werden? Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich für die Handlungsregulierung bei der Aufklärung der Kranken, bei der Indikationsstellung, und bei der Durchführung der THS bei neuro-psychiatrischen Erkrankungen? Seit den 1970iger Jahren kam es zu einem bemerkenswerten technischen Innovationsschub im Bereich der Neurowissenschaften, der Neurophysiologie, dem funktionellen Neuroimaging (physikalische Medizin)(Williams, 2014) und im Bereich der Neurochirurgischen Behandlungstechniken (Stereotaxie), so dass sich Verbesserungen der Lokalisation von Gehirnstrukturen, mit reversiblen Stimulationstechniken, minimal läsionellen Eingriffen, sowie Verbesserungen der neuronalen Netzwerk - Theorienbildung, erreichen ließen. (Schläpfer, 2014) Forderungen nach mehr Transparenz und Infragestellung hierarchisch organisierter gesellschaftlicher Strukturen, einschließlich gesellschaftlich hochfinanzierter akademischer Insitutionen mit Verfügungsgewalt über die Bereitstellung technisch hoch spezialisierter Therapieoptionen, sowie eine Solidarisierung mit der Stärkung der Patientenrechte, haben seit den 1970iger Jahren zur „Humanisierung“ (Stärkung der Menschrechte) bei dem Umgang mit Behinderten und neuropsychiatrisch Kranken geweckt. (Dörner, 1969, Klee, 1983) Zusammenfassend werden von Schöne-Seifert (2005)64 als 65 Voraussetzungen der gegenwärtigen „westlichen“ Medizinethik“ drei Bereiche angeführt: „erstens die Verfügbarkeit zunehmend vieler medizinischer Eingriffsmöglichkeiten; zweitens eine wachsende Pluralität der Lebensstile und Moralauffassungen innerhalb der Gesellschaften; drittens der Verlust moralischer Autoritäten und Unanfechtbarkeit von Ärzten und Forschern allein kraft ihrer Profession.“ (S.5) Zur Entwicklung der Medizinethik in den USA und in Europa findet sich bei der Autorin ein ausführlicher Überblick. (Schöne-Seifert, 2007) Höffe (2008) stellt für die medizinische Ethik die Aufgabe heraus „gegen die Neigung zu einer vorschnellen Moralisierung oder aber Entmoralisierung ... gewisse Grundregeln zu bekräftigen: (a) das Prinzip der Unverletzlichkeit fremden Lebens ... (b) das (freilich nachgeordnete) Recht des Menschen auf Entscheidungsfreiheit; sowie (c) das (noch weiter nachgeordnete) Recht auf Forschung. Auch sollte die Medizin (d) weder die wirtschaftlichen Möglichkeiten noch das Ordnungsgefüge einer 64 Schöne-Seifert,B . Arbeitsheft Medizinethik im Weitebildenden Masterstudiengang Medizinethik Universitätsmedizin Mainz, 10/2005 65 Die Medizinethik ist ein Teilbereich der angewandten Ethik. „Ethik (gr.éthos: gewohnter Ort des Lebens, Sitte, Cahrakter) geht als philosophische Disziplin u. als Disziplintitel auf Aristoteles zurpück, der freilich ältere Ansätze (Sophisten, Sokrates,Platon= aufgreift. Dort, wo überkommene Lebensweisen u. Institutionen ihre selbstverständliche Geltung verlieren, sucht die philosophische E, von der Idee eines sinnvollen menschlichen Lebens geleitet, auf methodischem Weg u. ohne letzte Berufung auf politische u. religiöse Autoritäten oder auf das von alters her Gewohnte u. Bewärte allgemeingültige Aussagen über das gute u. gerechte Handeln.“ (Höffe,2008, S. 71f) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 79 Gesellschaft überbeanspruchen ..., weiterhin hat die medizinische Ethik „die Aufgabe, den Begriff menschlichen Lebens zu präzisieren und zu differenzieren“ mit dem Blick auf neue Problemfelder. „Auf einer mittleren Ebene“ sollen hiermit „normative Gesichtspunkte, vielleicht sogar praktische Regeln“ (ebd. S.194f) gewonnen werden, welche die Einzelfallbeurteilung leiten können. (Höffe, 2008) Die einflussreichste Ausarbeitung medizinethischer Prinzipien im Bereich der Biomedizin wurde in den 1970iger Jahren von Beauchamp und Childress u.a. geleistet. (Beauchamp, 2009) Unter dem Eindruck zunehmend beanspruchter Deutungsgewalt von Neurowissenschaftlern66 in allen Gesellschaftsbereichen etablierte sich zu Beginn des 21.Jahrunderts die „Neuroethik“ (Glannon, 2006, Jox, 2013) zur ethischen Einordnung von Forschungs,- und Behandlungsfeldern (Woopen, 2009). Roskies unterscheidet zwischen der „neuroscience of ethics“ und der „ethics of neuroscience.“ (Roskies, 2002) Im Sinne einer „informierten Ethik“ (Huber, 2009a) geht es um die Ermöglichung eines interdisziplinären Diskurses um naturalistische Fehlschlüsse zu vermeiden, und die Deutung der empirischen Daten hinsichtlich einer normativen Argumentation diskursfähig zu machen. (Shook, 2014) Technikfolgenabschätzungen (Galert, 2005) in einer „fragilen Welt,“ (Bora, 2005) im Sinne eines besseren Verständnisses und gesellschaftlich verantwortbaren Risikomanagements hochriskanter Techniken(Taleb, 2013), müssen in den interdisziplinären Diskurs eingebracht werden (Karafyllis, 2005). Bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn werden die Vorannahmen zum Leib-Seele-Konzept (mind-body-interface) und, zur Gehirnkonzeption (Fuchs, 2013) dargelegt, um medizinethische Rahmenbedingungen zu konzipieren. Der Besitz eines Gehirns ist eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung um ein vernünftiges und ein zu moralischen Urteilen fähiges Leben zu führen. Das Gehirn repräsentiert den speziell Status menschlicher Wesen in der Natur, sodass Eingriffe spezielle bei psychiatrischen Störungen, intuitiv die Identität und die „Seele“ des Menschen betreffen. Hieraus ergeben sich bei den psychiatrischen Erkrankungen für die THS besonders zu beachtenden Herausforderungen der Therapiezielbestimmung (Persönlichkeitsänderungen), wenn die Krankheiten nicht nur als Dysfunktionen gestörter Gehirn-Netzwerke betrachtet werden, sondern als Störungen des erkrankten Menschen mit seinen individuellen geistigen, emotionalen und sozialen Einbettungen. (Woopen, 2012, Woopen, 2013) Die THS ist eine riskante Behandlungstechnik wobei die Effekte bei neurologischen Bewegungsstörungen zwar inzwischen überzeugend 66 „Das Gehirn scheint, wenn es um Narrationen geht, die letzte Provinz des Theoretiker-Scharlartans zu sein. Wenn man Neuro-Wasauchimmer mit einem beliebigen Thema zusammenbringt, wird es plötzlich ungleich viel respektabler und überzeugender - den Leuten wird die Illusion einer schlüssigen kausalen Verknüpfung vermittelt, dabei ist das Gehirn für so etwas viel zu komplex; es ist einerseits der komplexeste Bestandteil der menschlichen Anatomie, andererseits derjenige, der für Dummkopf-Kausalitäten am anfälligsten ist.“ (Taleb, 2013, S.479); Einen Begriff von Jaspers hat Hasler aufgegriffen in dem Buch HASLER, F. 2012. Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript Verlag. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 80 anerkannt werden müssen, wobei aber weder die Wirkungs-mechanismen, noch die Langzeiteffekte noch nicht hinreichend bekannt sind, und die Effekte bei psychiatrischen Erkrankungen bisher weitestgehend unerforscht sind. Es können krankheitsspezifische neuronale Arbeitshypothesen für die Gehirneingriffe dargestellt werden, welche die noch strittigen Lokalisationsziele bestimmen können. Die THS muss weiterhin mit einem nicht hinreichend bestimmbaren individuellen Gehirn-Modulations–Risiko behaftet beurteilt werden, mit teilweise unerwarteten kurz,- und langfristigen Folgewirkungen auf der Verhaltens,– und Erlebens,- Persönlichkeits,- und sozialen Beziehungsebene. „Even when the FDA approved DBS for OCD patients under the HDE 67program, DBS is still an investigational therapeutic approach in severe mental disorders.“ (Kuhn, 2009, S. 140) Während die THS für die neurologische Erkrankung M. Parkinson als alternative Therapieoption im schweren Krankheitsstadium mit Fluktuationen und Dyskinesien (neben der Dopadurapumpe, Apomorphinpumpe) inzwischen international anerkannt ist (Neurological Disorders public health chalanges, WHO, 2006, S.40ff) (Oertel, 2012) wird die THS bei psychiatrischen Erkrankungen vorerst in innovativen kontrollierten Studien erforscht. Hans Jonas (1989) stellt zu dem Themenbereich „Humanexperimente“ den Unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen experimentellen Methode, die sich mit „leblosen Objekten“ beschäftigt, und der medizinischen Forschung, bei der diese „bei der Suche nach Erkenntnis diese Unschuld (verliert) und Gewissensfragen ergeben sich.“(S.232) Es geht um den superlativen Zweck Gesundheit als individuelles und soziales Gut, dessen Erforschung an Normalen und Kranken den Prinzipien Identifikation (das Forschungsziel wird von dem Forscher und den Betroffenen geteilt), der Motivation („bona fides“ des Arztes) und dem „Verständnis seitens des Subjekts“ unterworfen werden sollten. Das „Prinzip der Präferenzordnung“ für die Aufnahme der Teilnehmer wird von Jonas als eine absteigende Skala der Zulässigkeit vorangestellt: „je ärmer an Wissen, Motivation und Entscheidungsfreiheit der Subjektgruppe (und das bedeutet leider auch der immer breitere und verfügbarerer), desto bedeutsamer, ja widerstrebender sollte das Reservoir benutzt werden, und „Humanitarian Device Exemption. An Humanitarian Use Device (HUD) is a device that is intended to benefit patients by treating or diagnosing a disease or condition that affects or is manifested in fewer than 4,000 individuals in the United States per year. A device manufacturer`s research and development costs could exceed its market returns for diseases or conditions affecting small patient populations. The HUD provision of the regulation provides an incentive for the development of devices for use in the treatment or diagnosis of diseases affecting these populations. To obtain approval for an HUD, an humanitarian device exemption (HDE) application is submitted to FDA. An HDE is similar in both form and content to a premarket approval (PMA) application, but is exempt from the effectiveness requirements of a PMA. An HDE application is not required to contain the results of scientifically valid clinical investigations demonstrating that the device is effective for its intended purpose. The application, however, must contain sufficient information for FDA to determine that the device does not pose an unreasonable or significant risk of illness or injury, and that the probable benefit to health outweighs the risk of injury or illness from its use, taking into account the probable risks and benefits of currently available devices or alternative forms of treatment. Additionally, the applicant must demonstrate that no comparable devices are available to treat or diagnose the disease or condition, and that they could not otherwise bring the device to market.“ http://www.fda.gov/MedicalDevices/DeviceRegulationandGuidance/HowtoMarketYourDevice/PremarketSubmissions/HumanitarianDeviceExemption/ aufgerufen am 14.11.2014 67 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 81 desto zwingender muß deshalb die aufwiegende Recht-fertigung durch den Zweck sein.“(Jonas, 1989,S.245) Versuche an Patienten rührt an den „Kern des Arzt-Patienten-Verhältnis,“ das nach dem „einfachen Gesetz des bilateralen Vertrages“ zu regeln ist, mit der Ausnahme bei der Isolierung des ansteckenden Kranken (Schutz des Individuums und der Gemeinschaft). Jonas stellt das Instrumentali-sierungsverbot in den Mittelpunkt seiner Argumentation und formuliert für den sogenannten „hoffnungslosen Fall,“ das der Arzt immer zu „seinem erhofften Besten“ zu handelt hat, „war es doch ein Versuch für den Patienten und nicht bloß an ihm.“ (S.251) Eine hierdurch bewirkte Verlangsamung des Fortschritts der Krankheitserforschung stelle keine Bedrohung für die Gesellschaft dar. (Jonas, 1989)68 Zur Ethik der medizinischen Forschung werden die Begriffe „Standardbehandlung als state of the art,“ von dem „Heilversuch“ abgegrenzt, wobei die Grenzen fließend sind. Bei dem Heilversuch, der gesetzlich nicht definiert ist, handelt es sich um die Erprobung einer Behandlungsmethode, die nicht gänzlich neuartig ist, „und bei der zumindest die Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit besteht.“ (Fangerau, 2006,S.287) Mit einem Studiendesign (Protokoll, Studienplan) werden viele Heilversuche zusammenarrangiert und als „klinischer Versuch“ oder „klinische Studie“ ein Nutzen für die Allgemeinheit oder für eine Patientengruppe verfolgt, „denn das Ziel der Erkenntnis steht mindestens gleichrangig neben dem Ziel des Heilerfolgs.“ (Fangerau, 2006, S.287) Es gilt zwischen dem individuellen, wissenschaftlichen und sozialen Wert einer Studie abzuwägen. Der „Goldstandard“ ist die kontrollierte randomisierte Doppelblindstudie, mit den in der Deklaration von Helsinki (2000) zum Schutz der Patienten dargelegten Kriterien. Insbesondere bei der „Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Probanden“ ist eine Abwägung zwischen der Beachtung der Selbstzwecklichkeit (Instrumentalisierungsverbot) und dem Prinzip der Freiheit der Forschung, sowie der Risikoabschätzung mit differenzierten und speziellen Einschluss-, oder Ausschlusskriterien (minimaler Schaden) zu beachten. Es wird unterschieden zwischen „1.Studien, von denen die Probanden selbst profitieren könnten, 2. Studien, von denen der Proband nicht selbst, aber seine Altersgruppe (Kinder) oder ähnlich erkrankte bzw. betroffene Patienten einen Nutzen haben können, und 3. ausschließlich fremdnütziger Forschung.“ (Fangerau, 2006, S.289f) Bei der Studiendurchführung wird das Votum einer Ethikkommission eingeholt, die beratende Funktion bei Risiko-Nutzen-Abwägungen, und bei der Aufklärung der potentiellen Probanden, sowie bei der Interessenkonfliktabwägung der beteiligten Ärzte haben sollten. Eine besondere Bedeutung kommt der Transparenz der Studiendarstellung und der Veröffentlichung, sowie der Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu. (Fangerau, 2006) Die ethischen und rechtlichen Grundpfleiler bei klinischen Studien mit der THS bei neuropsychiatrischen Patienten sind die Gesundheit, die Lebens68 siehe hierzu auch in Wiesing,U(Hrsg.) Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch, Stuttgart, 2012 die Kapitel Brandt,K. Menschversuche (S.68 ff, und das Kapitel 8 Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 82 qualität, und die Persönlichkeitsrechte der Patienten. (Schmitz-Luhn, 2012) Hieraus ergeben sich spezielle Anforderungen an die Operationalisierung und Vergleichbarkeit der Ergebnisdarstellung , wobei die empirische Datengewinnung in normativ ethische Rahmen-bedingungen einbezogen werden muss. Medizinethische Prinzipienbestimmungen bei neurochirurgischen Eingriffen in das Gehirn lassen sich traditionell in zwei Ansätze einteilen. Einerseits handelt es sich um den europäisch medizinethischen Ansatz, mit dem „Ausgang bei verfassungsimplementierten Normen und auf den Gedanken einer unverletzlichen und unverlierbaren Menschenwürde“ (Joerden, 2013) verweisend, und andererseits den angloamerikanischen Ansatz des Principlism („Four-principle-way“) nach Beauchamp und Childress. (Schmidt, 2008, S.81). Bezug nehmen beide Ansätze auf den Medizinmissbrauch während der NS-Zeit (Nürnberger Kodex (1947) und die hieraus entwickelten Kriterien der Selbstbestimmung des Patienten und des informed consent als prägende und leitende Forderung bei der Gestaltung der Arzt-Patienten-Interaktion. Unter Berücksichtigung der Interdisziplinarität der Neurowissenschaften und des Wertepluralismus in der medizinischen Forschung und der Therapie besitzt eine Prinzipienethik auf einer „mittleren Ebene“ eine hohe Plausibilität und Praxisrelevanz. (Raupich, 2005) „Diese vier Prinzipienkomplexe gelten als Prima-facie- Pflichte sie spiegeln Kernaussagen der gesellschaftlich allgemein akzeptierten Moral wieder, sie unterliegen keiner strengen hierarchischen Ordnung. Beim Transfer auf konkrete Entscheidungsfragen erfahren die Prinzipien eine kontextbezogene inhaltliche Spezifizierung; Prinzipien und Normen, die im konkreten Fall miteinander konfligieren, müssen gegeneinander abgewogen werden.“ (Hildt, 2005, S.315)69 69 Zur Kritik des Beauchamp und Childress Ansatzes werden von Schmidt,MC, 2008 vier F ragen genannt: 1. Wie können die Prinzipien im Konflikt miteinander abgewogen werden? 2. Wie ist die Geltung der Prinzipien zu beurteilen? 3. Wie ist der Status des Ansatzes als ethische Theorie zu begründen? 4. Welche Methoden sind bei der Anwendung der Prinzipien auf den Einzelfall einzusetzen? (S.129) Schmidt versucht dieser Kritik zu begegnen indem er auf das Prinzip der Menschwürde und den Personbegriff Bezug nimmt und auf die Natur des Menschen bezieht. Die Problematik eines moralistischen Fehlschlusses, sowie einer perspektivischen Einengung mit derart unbestimmten Begrifflichkeiten kann nur erwähnt werden. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 83 2. Orientierungspunkte ärztlichen Handelns (BeneficiensNonmaleficiens) Das Prinzip des Wohltuns wird als das Fürsorgeprinzip (beneficiens) von dem Prinzip der Schadensvermeidung (Nichtschaden) unterschieden. In anderen Konzepten wird das Prinzip des Wohltuns und das Prinzip des Nicht-Schadens unter das Fürsorgeprinzip subsumiert um die Abwägungsproblematik an der medizinischen Praxis zu erleichtern.(Hildt, 2005) Zusammengefasst werden die beiden Prinzipien ärztlichen Handelns als Orientierungspunkte vorangestellt. Beneficiens als Akte der Nächstenliebe, Barmherzigkeit, wird von Beauchamp und Childress mit der Parabel des guten Samariters (Neues Testament) unterlegt, um zu verdeutlichen, dass Einstellung (Motivation) und Handlungsumsetzung pflichtentheoretisch zu unterscheiden sind. Die Hilfspflicht (Fürsorgepflicht) stellt als positive Tugendpflicht eine unvollkommene Pflicht dar mit einer in der Regel geringen Bindungskraft. Lediglich die Rettung von Menschenleben stellt eine allgemeine Rechtspflicht dar, wobei keine Verpflichtung zur Aufopferung oder zum Altruismus als Ideale besteht. Der Fürsorgepflicht wird im Allgemeinen auf Anforderung nachgekommen oder angesichts eines menschlichen Elends (Armut) einer Gruppe gegenüber mittelbar erledigt. Bei der Hilfspflicht wird von dem Handelnden eine Abwägung gefordert zwischen Risiken, einzusetzenden Kosten und Mitteln, und dem zu erwartenden Wohl, um das beste Resultat zu erreichen. Kann man in einem schlechten Kontext Gutes tun? (Theodor W. Adorno 1903-1969) Kann man mit dem Guten schlechtes Tun? (siehe Paul Watzlawiks Kommunikationsparadoxe, 1967) Das Wohltun im medizinischen Kontext kann nicht allein pflichtenethisch und tugendethisch bestimmt werden, es bedarf vielmehr einer Einbindung in ein solidarisches Gesundheitssystem oder in eine kommunitaristische Ethik und eine mitfühlende Professionalität (Care–Ethik). Die Versorgung der schwer verlaufenden neuropsychiatrischen Erkrankungen kann nicht nur mit einer hochtechnisierten Medizin erreicht werden, sondern bedarf einer sozialmedizinischen und sozialethischen Einbettung, die über die Versorgung durch medizinische Fachkräfte hinausgeht. Die Kontextabhängigkeit und die Richtung der Fürsorge (auf Person oder alle Personen), sowie die einzusetzenden Ressourcen (Kosten) um einen Benefit (den zu erwartenden Nutzen) zu erreichen, müssen von dem Risiko (bezieht sich auf den Schaden und dessen Ausmaß als probabilistische Aussage) abgegrenzt werden. Ein Benefit ist nur dann zu erwarten, wenn durch eine Reduzierung der Kosten und der Schadens-Risiken ein positiver Wert (Leben, Gesundheit) zu erreichen ist (risk-benefit – ratio). Bei hochkomplexen medizinischen Entscheidungssituation sollten durch vorsorgende Maßnahmen unerwartete Risiken und Schäden erfasst werden können. Dazu gehören die Gewährleistung von Transparenz, Öffentlichkeit, und die Beteiligung eines Expertenteams. (principle of process: precaution, „anti-catastrophy principle“). Die Operationalisierung und Bestimmung von Lebensqualitätsparametern ist bei chronischen Erkrankungen von entscheidender Bedeutung. Außer Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 84 bei der Notfallrettung werden in den Kennziffern zur Lebensqualität (QUALYS) die Verlängerung der gewonnenen Lebensjahre über die der individuellen Lebensqualität gestellt, was sich ethisch nicht rechtfertigen lässt. Die individuelle Lebensqualität umfasst insbesondere die physische Mobilität, die Schmerzfreiheit, die Stressfreiheit, die Vitalität zur Alltagserledigung, sowie die soziale Teilhabe. Die vorherigen Ausführungen sind an die Darstellung bei (Beauchamp, 2009) angelehnt. Die Pflicht nicht zu schaden muss bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn besondere Beachtung finden, da eine Schädigung der körperlichen Integrität in Kauf genommen werden muss um die Elektroden und die Programmierungseinheit platzieren zu können, und die Stimulation durchzuführen. Bei der TSH bei neuropsychiatrischen Erkrankungen wird in anatomisch intakte Gehirne eingegriffen, außer bei der Alzheimer Demenz. Das Prinzip des Nicht-Schadens unterscheidet sich wesentlich von der Hilfspflicht. Es handelt sich um eine negative Pflicht (Anerkennungspflicht) mit einer hohen Bindungskraft. Von Beachamp und Childress (2009) wurde die folgende Unterscheidungsklassifikation vorgeschalgen: „I. Nicht – Schaden: Man soll niemandem Übel oder Schaden zufügen. II. Fürsorge: Man soll Übel und Schaden verhindern; Man soll Übel und Schaden beseitigen; Man soll Gutes tun und Gutes fordern.“ (Maio, 2012, S. 127) Es geht darum keinen Schaden (harm) zu setzten, was auch die Rechte von jemand nicht zu beschädigen (wronging) beinhaltet, und keine Schädigung (injury) durch einen medizinischen Eingriff zu bewirkten. Die medizinische Indikationsstellung muss mit Sorgfalt (standard of due care) gestellt werden, um fahrlässiges Handeln auszuschließen. Diagnose und Indikation können bei den neuropsychiatrischen Erkrankungen nur von einem interdisziplinären Fachärzteteam gestellt werden, um eine Abwägung zwischen alternativen Behandlungen vornehmen zu können. Eine alternative Behandlung, die technisch möglich ist, nicht zu starten, ist moralisch mit einem höheren Rechtfertigungsdruck verbunden, als wenn eine einmal begonnene Behandlung beendet werden soll. Bei chronisch schwer Kranken bedeutet dies, dass eine Therapie grundsätzlich reversibel sein sollte. Dies gilt insbesondere für Heilbehandlungen, bei denen die Vorteile für die Lebensqualität gegen die Belastungen abgewogen werden müssen. Entscheidend ist, ob es sich um eine relative Indikation (optional) mit Behandlungsalternativen, oder um eine zwingend notwendige Behandlungsindikation als Notfalleingriff, oder als mögliche Therapiealternative bei einer schweren Beeinträchtigung der Lebensqualität handelt. Bei der letzteren Option werden zwei Übel (das Stigma der Erkrankung und die Lebensqualitätsbeeinträchtigung gegenüber der physisch-psychisch schädigenden Behandlung) gegeneinander abgewogen (minus-malum–Regel) und nicht ein relativer Nutzen gegenüber einem möglichen Übel. Hier wird eine Gesamtbilanz (Belastungen durch die Therapie, Belastungen durch den Krankheitsprogress, Belastungen für die Familie, für die Angehörigen, für die Pflege) zu bestimmen sein, in dem der therapeutische Eingriff gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt werden kann. (Schmidt, 2008, S. 332) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 85 Sind bei komplexen riskanten Eingriffen beabsichtige Wirkungen (Bewegungsverbesserungen) und nicht beabsichtigte (merely foreseen effects) Wirkungen (Apathie, Impulskontrollstörungen, Manie, Authentizitätsstörungen) eines Eingriffs voneinander zu unterscheiden, so könnte das Prinzip der Doppelwirkung (Thoma von Aquin 1251-1274) in Ansatz kommen, um den Eingriff moralisch nicht zu verbieten. Bei einer beabsichtigten Handlung ist eine Anleitung, ein Plan, hier die Verbesserung der L-Dopa abhängigen Motorik, vorher ausgearbeitet worden, der Eintritt von Wesensänderungen kann aber nicht wahrscheinlich vorhergesagt werden, und wird deshalb in Kauf genommen. Nur bei einer Reversibilität des Stimulationseffektes und der Neurochirurgischen Einwirkung, sowie bei einer vor- und nachsorgenden fachärztlichen und psychosozialen Mitbehandlung, läßt sich der Eingriff in das Gehirn (TSH) rechtfertigen. Medizinethisch sollte das Prinzip der Autonomie (informed consent), das Fürsorgeprinzip, und das Nicht-Schadens Prinzip, in einen wohlüberlegten Abwägungsprozess einbezogen werden. (Hildt, 2005) Die je aktuelle Situation bei der fachärztlichen Indikationsstellung zur THS macht die asymmetrische Rollenverteilung von Arzt und Patient deutlich. Der Arzt ist in Kenntnis eines technisch schwer durchschaubaren und entsprechend schwierig zu beschreibenden know hows. Die Folgenbelastung liegt auf Seiten des Patienten und der Angehörigen und des Pflegepersonals, wobei die Operationalisierung des individuellen outcomes nur vage bestimmt werden kann (bei Bewegungsstörungen noch am ehesten). Das Therapieziel ist bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen unterschiedlich. Bei einer Bewegungsverbesserung ist die Verbesserung der Lebensqualität entscheidend, bei psychiatrischen Erkrankungen ist das Therapieziel die Gewinnung einer Psychotherapiefähigkeit, entscheidungsfähig zu werden, die Identität wieder zu gewinnen oder zu verändern. Das Wissen über die eigenen Werte und Lebensziele (Präferenzen) liegt ganz beim Kranken oder dessen Stellvertreter. Das Stimulationsrisiko der TSH besteht in einer möglichen Identitätsänderung, die nur ex post beurteilt werden kann. Die Entscheidung über einen eventuellen Abbruch der Stimulation bei einer nicht akzeptierten Identitätsänderung, oder über die Fortsetzung der Stimulation bei veränderter Identität, bedarf einer Vorwegregelung. Eine Beeinflussung des Krankheitsverlaufs ist mit der symptomatischen Behandlung nicht möglich. Während die THS Interventionen bei den neurologischen Erkrankungen im schweren Stadium (M. Parkinson) anerkennenswerte positive Effekte bei ausgeschöpfter Medikamentenbehandlung (ca 50 – 70 %), bei einem standard of due care, bei der Mobilität und der Lebensqualität nachweislich erreichen können, liegen für eine Abschätzung der generellen Effektstärke bei den neuropsychiatrischen (TS) und psychiatrischen Erkrankungen (OCD, Depression, AD) bisher keine hinreichenden Daten vor. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 86 Immerhin wurde in Europa 2012 eine 7 – Tage - Mortalität von 4% bei chirurgischen Eingriffen dokumentiert.70 Wie bereits weiter oben in der Arbeit aufgelistet wird die Letalität oder schwere Morbidität bei der THS bei Bewegungsstörungen zwischen 0,5–3 % (Leitlinien M. Parkinson, 2012) mit einer Gesamtmortalität von 0,1%-0,4% (Erasmi, 2014) dokumentiert. Intraoperativ werden die Komplikationen mit ca 5 % (Blutung 1,3-4%, Infektionen 2,8-6.1%, Elektrodenkomplikationen 5,1%) dokumentiert. Die neuropsychologischen Komplikationen werden ange-geben mit bis zu 33% (Sprachdefizite, Gedächtnisdefizite), und die Stimuluskomplikationen (Fehlplatzierung, Spreading-Effekte) als Impuls-kontrollstörungen (0,8-2%), manische Störungen (2-8%), depressive Störungen (1,5-25%), mit einem signifikant erhöhten Suizidrisiko während des ersten postoperativen Jahres, belegt. (Schermer, 2011) Insbesondere werden nichterfüllte Heilserwartungen angeschuldigt, was Anlass zur Etablierung eines verbesserten Qualitätsmanagements bei der Aufklärung der Kranken gibt. (Maier, 2013) Die Stimulations-Reversibilität ist bei der TSH gegeben, wobei hinsichtlich der nicht unmittelbar vorhersehbar induzierten Veränderungen der Identität (Authentizität, Persönlichkeit) die institutionelle Einrichtung spezieller Vorsichtsmaßnahmen notwendig ist. Von Woopen werden fünf Aspekte angeführt, denen besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Es sollte die Art der Veränderung (Persönlichkeitszug, Selbst-Wahrnehmung), das Ausmaß der Veränderung, der Progress der Verän-derung, das Hervortreten von neuen ggf. verdeckten Verhaltens-änderungen, und deren Kontrollierbarkeit, bei der TSH bei psychiatrischen Erkrankungen erfasst werden. (Woopen, 2012) 3. Der Respekt vor der Autonomie der Patienten und Informed Consent Unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse (1947) erhielt in den folgen Jahrzehnten die Förderung der Selbstbestimmung des Patienten im weitgehend paternalistisch geprägten Arzt-Patienten-Verhältnis, in den westlichen Ländern, zunehmendes Gewicht, und der informed consent wurde zum Goldstandard der Interaktion im medizinischen Bereich. In der klinischen Psychologie wurde die „humanistische Bewegung“ (Karl Rogers 1902 -1987), in Deutschland für die Erziehungswissenschaften von Anne Marie Tausch und Reinhard Tausch (1971) und viele andere Mitstreiter (Ruth Cohen), in verschiedenen Lebensbereichen etabliert, um 70 Mortality after surgery in Europe: a 7 day cohort study Rupert M Pearse, Rui P Moreno, Peter Bauer, Paolo Pelosi, Philipp Metnitz, Claudia Spies, Benoit Vallet, Jean-Louis Vincent, Andreas Hoeft, Andrew Rhodes, for the European Surgical Outcomes Study (EuSOS) group for the Trials groups of the European Society of Intensive Care Medicine and the European Society of Anaesthesiology* Lancet 2012, 380 S. 59-65 Findings We included 46 539 patients, of whom 1855 (4%) died before hospital discharge. Interpretation The mortality rate for patients undergoing inpatient non-cardiac surgery was higher than anticipated. Variations in mortality between countries suggest the need for national and international strategies to improve care for this group of patients. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 87 die Beziehung zwischen Therapeut und Klient mit Empathie und Reversibilität, sowie Echtheit zu gestalten, und zum empowernment der Patienten beizutragen. Im psychosomatisch orientierten ärztlichen Bereich werden die Balint–Gruppen (Michael Balint 1896-1970) als „Persönlichkeitsarbeit des Arztes“ in der Ausbildung etabliert. Den allgemeingesellschaftlichen Bezugsrahmen stellen die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die europäische Bewegung der 68er Jahre, sowie die Feminismusbewegung, dar. Es wird auf ein verändert gestaltetes Arzt-Patienten-Interaktions Modell hin gearbeitet bei dem die Kenntnisse über die Mittel (Arzt) und die Werte und Ziele (Patient) zwischen den Akteuren auf gleicher Augenhöhe ausgehandelt werden sollen. „Die ethischen Leitprinzipien für Behandlungen mit dem Ziel oder dem Risiko von Persönlichkeitsveränderungen können dabei keine anderen sein als die, die auch für Behandlungen mit dem Risiko oder dem Ziel schwerwiegender physischer Veränderungen gelten, nämlich das Prinzip der Autonomiewahrung (die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten), das Prinzip der Fürsorge (die Behandlung des Patienten in seinem besten Interesse), in dem Sonderfall der Behandlung von Trieb- und Gewalttätern zusätzlich noch das Prinzip der Schadensverhinderung (der Schutz der Öffentlichkeit vor antisozialen Persönlichkeitsanteilen). Das Prinzip der Autonomiewahrung hat dabei einen klaren Primat...“ (Birnbacher, 2006, S.288) Der normative Begründungshintergrund des Respekts vor dem Autonomieprinzip71 ist in den westlichen Ländern in die utilitaristische Ethik (Mills – 1806 -1873 eingebunden. Zusammen mit der kantischen Pflichtenethik (Kant,I Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 1788) bildet sich hieraus die Grundlage des in der Medizin geltenden Respekts vor der grundsätzlichen Freiheit des Menschen (Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung) und dem Instrumentalisierungsverbot. Zur Geltung gebracht wird dies paradigmatisch in der (aufgeklärten, wirksamen) Einwilligung des Patienten, ohne die eine ärztliche Handlung nicht legitimiert werden kann. Von Beauchamp und Childress (2009) werden zwei Bedingungen für eine autonome Handlung als Ideal (natural autonomy) angeführt. Liberty als Unabhängigkeit von kontrollierendem Einfluss oder Zwang, und agency als Fähigkeit zur Intentionalität. Die Autoren unterscheiden diese von einer relationalen Autonomie bei der eine Graduierung abhängig vom Kontext erfolgt (S.103)72 was für die Beurteilung der Kompetenz (als Schwellenkonzept) bei Kranken entscheidend ist, und von Müller und 71 In der Antike war mit Autonomie die Selbstgesetzgebung des Staates gemeint (auo= Selbst; nomos= Gesetz), was in dem „mündigen Bürger“ Ausdruck findet. (Maio, 2012, S. 120) ; Mill stellt die Freiheit zur individuellen Lebensgestaltung heraus, wenn damit nicht die Freiheit eines anderen eingeengt wird; Kant stellt die Selbstgesetzlichkeit heraus, die Anerkennung des Menschen als sittliches Subjekt, die Unverfügbarkeit des Menschen (Instrumentalisierungsverbot), die Universalisierbarkeit der Maximen (Kategorischer Imperativ) ist die Richtlinie, die bei der Ausgestaltung der Menschenwürde als Ensemble der Menschrechte grundgelegt werden. 72 „Beauchamp and Childress analyze autonomous actions in terms of normal chossers who act (1) intentionally, (2) with understandign, and (3) without controlling influences (coercion, persuasion, and manipulation) that determine their actions.“ (Müller,S, Walter,H, 2010, S. 1) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 88 Walter (2010) im Rahmen deren neurowissenschaftlichen Implikationen zur Willensfreiheit dargestellt wird. (Müller, 2010) Von Huber (2011) wird ein kontextsensibles „aktuales Autonomiekonzept“ mit der „systematischen Trias“ Unabhängigkeit, Intelligibiliät und Urheberschaft bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens herausbearbeitet (S.89), welches für die ethische Beurteilung des mutmaßlichen Willens dienlich. Die Zuerkennung von aktualer Autonomie ist unter Beachtung des sozialen Kontexts, und die hierin stattfindenden Anerkennungsprozesse (relationale Autonomie) zu betrachten. (Quante, 2002) Als „einflussreichstes Modell von Autonomie“ in der Medizinethik wird von Thiele (2012) das „sogenannte hierarchische Modell“ von Harry Frankfurt (1988) angeführt, da es neben einer deskriptiven Bestimmung eine handlungsorientierte normative Bewertung ergänzend ermöglicht. Dies lässt sich entwickeln, je nach dem „welches Maß an Wunsch-Kohärenz eine Person aufweisen soll, damit man sie als autonom bezeichnen darf...“(S.89) Von Frankfurter werden Wünsche erster Ordnung als Wille bezeichnet, wenn sie realisiert werden, in Abgrenzung von Wünschen, die „bloß Wünsche bleiben.“ Wünsche erster Ordnung, die in eine Handlung umgesetzt werden sind „second-order volitions“ und für eine Person charakterisierend. Hierdurch wird es möglich die zeitliche Dimension bei der Bestimmung von Autonomie („diachroner“ oder „synchroner“ Zusammenhang“ von Wünschen erster und zweiter Ordnung) zu berücksichtigen. Wenn die Wünsche erster Ordnung durch eine THS sich zu einer völlig anderen Ordnung zusammenordnen (Entscheidungen vorsichtig und abwägend zu fällen zu einem riskanten Entscheidungsverhalten bei finanziellen Engagements), dann wird der biographische Zusammenhalt (Lebensplan) über die Zeit in Frage gestellt. Die Praxistauglichkeit des Konzeptes wird von Thiele (2012) mangels praktischer Anwendbarkeit in Frage gestellt. (S.90) Aus handlungstheoretischer Sicht wird der Begriff der Kohärenz durch den der Stimmigkeit bei Thiele ersetzt um den normativen Anteil bei „synchronen und diachronen Defiziten in der Stimmigkeit einer Präfenzordnung“ zu betonen (S.94), und somit die „Autonomie mit Hilfe des Modells stimmiger Präferenzordnung (zu) definieren.“ (S.94)73 Um eine Beurteilung der autonomen Handlungsfähigkeit vorzunehmen muss es gute Gründe dafür geben, dass der Akteur diese nicht besitzt. Dies kann mit seiner geistig– seelisch-emotionalen defizitären Fähigkeit in Zusammenhang gebracht werden, Präferenzen nicht in eine Ordnung bringen zu können. Von Müller und Walter (2010) wird bei der klinisch psychiatrischen Anwendung des Autonomiebegriffs auf den inneren Widerstand (Zwangsimpuls, Sucht) bei psychiatrischen Krankheiten hingewiesen, im Gegensatz zum äußeren Zwang (Nötigung, Täusch, Manipulation). Sie versucht dies bei einer Körperidentitätsstörung oder einer Zwangsstörung, bei denen die Wahlfreiheit zwischen alternativen Handlungen, und bei Depressionen mit schweren Entscheidungsdefiziten (kognitiv, Antrieb) „Ein Akteur soll autonom heißen, wenn er die Fähigkeit besitzt, seine Zwecke in eine stimmige Präfenzordnung zu ordnen und diese Ordnung über die Zeit aufrecht zu erhalten.“ (Thiele, 2012, S.95) 73 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 89 eingeschränkt ist, zu verdeutlichen. Bei den Fähigkeiten, die eine autonome Handlung ermöglichen können, sind es die kognitiven und die emotiven Fähigkeiten, die mehr oder weniger ausgebildet, zur Handlungsregulierung und zum informed consent beitragen (Supady, 2011) Die von Beauchamp und Childress vorgegebene Norm ist, dass es nicht nur um den Respekt der Autonomie geht, sondern es geht darum diese durch entsprechende Interventionen zu fördern. Bei der Formulierung eines Therapieziels bei chronischen neuropsychiatrischen Krankheiten geht es somit insbesondere um die Wiedergewinnung oder die Gewinnung, bzw. den Erhalt der Steuerungs,- und Entscheidungsfähigkeit. Der informed consent dient vor allem als „Schutzwall für das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung.“ Aufbauend auf den vertraglichen und medizinethischen Grundlagen geht es bei der aufgeklärten Einwilligung um die Bestimmung einer Kooperation („Verteilung von Verantwortlichkeiten“) zwischen Arzt und Patient. Es werden die Berechtigungen und Verpflichtungen der beteiligten Akteure festgelegt. „Durch die Einwilligung werden nicht nur einseitig die Berechtigung des Patienten geschützt, sondern die Berechtigungen und Verpflichtungen des Patienten und die Berechtigung und Verpflichtung des Arztes festgelegt.“ (Thiele, 2012, S. 120) Die Verrechtlichung der Arzt-Patienten-Interaktion trägt zu einer Standardisierung und Verbesserung der Nachprüfbarkeit wesentlich bei. Als Standardinstrument zur Bestimmung des informed consent wird in Studien das „MacArthur Competence Assessment Tool-Treatment (Mac CAT-T)“ eingesetzt. (Appelbaum, 1995) Die Pflicht das Prinzip der Autonomie zu respektieren soll nach Beauchamp und Childress nicht auf Personen angewendet werden, die nur eingeschränkt autonom handeln können. Dazu werden aufgelistet: unreife Personen, nicht geschäftsfähige Personen, Minderbegabte, genötigte, ausgebeutete Personen, Kinder, Personen mit irrationalen Suizidtendenzen, drogenabhängige Personen. (Beauchamp, 2009) Dies bezieht sich auf die Autonomie als Fähigkeit (deskriptiv) und deren Relativierung im Kontext einer komplexen Entscheidungssituation (medizinische Situationen). Von besonderer praktischer Bedeutung ist hierbei die stellvertretende Ermittlung des (mutmaßlichen) Willens, als Entscheidung im besten Interesse der Kranken mit eingeschränkter, aufgehobener, oder nicht vorhandener Einwilligungsfähigkeit. (Steger, 2014) Zu differenzieren ist dabei eine diachrone Relativierung der Autonomie „bezogen auf die Bestimmung der Fähigkeit eines Individuums zur autonomen Entscheidungsfindung in einer bestimmten Situation/zu einem bestimmten Zeitpunkt,“ von einer synchronen bzw. systematischen Relativierung „bezogen auf die Bestimmung essenzieller Parameter personaler Autonomie.“ (Huber, 2011,S.83) Hieraus ergeben sich in der Praxis Dilemmata wenn eine Vorausverfügung abgefasst wird, die sich auf die TSH induzierten Persönlichkeitsveränderungen (Manie, Suchtverhalten, Aggressionen, Partnerschaftskonflikte) beziehen soll, bei deren Eintritt stellvertretend im als mutmaßlicher Wille im besten Interesse zu entscheiden ist („Ullyses– Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 90 Pakt“). Die Anfälligkeit derartiger Entscheidungen für konventionelle Regelungen oder adaptive Zwangsbehandlungen muss dabei jeweils mitbeachtet werden. Die „autonome Lebensgestaltung von Individuen gegenüber jeglicher Form gesellschaftlicher Rationalität“ durch sogenannte Sachzwänge (Pflege, Gesundheitssystem) zu verteidigen sollte als eine der Forderungen aus den normativen Authentizitäts-konzepten zur Autonomie aktualisiert zur Geltung gebracht werden. (Huber, 2011) Es geht aus medizinethischer Sicht nicht um die Frage der Geschäftfähigkeit (Schwellenfestlegung), sondern um die Frage ob eine Einwilligungsfähigkeit, auch Einsichts- und Steuerungsfähigkeit besteht, (rechtlicher Begriff) der die Fähigkeit eines Betroffenen beschreibt in die Verletzung eines ihm zuzurechnenden Rechtsgutes einzuwilligen (bundesanzeiger-verlag.de). Kann der Betroffene in eine spezielle Diagnostik oder Therapie einwilligen, unter Beachtung der empirischnormativen Eingriffstiefe (,-schwere), auf der Grundlage einer medizinischen Indikation und unter Bezug auf den je individuellen Lebensplan. Bei der THS entspricht dies der praktischen Frage, wie viel Veränderung (Stimulation) der Gehirnfunktion mit dem „authentischen Selbst“74 vereinbar ist, oder welche neuropsychologischen (kognitiv, emotional) Funktionen, in welchem Ausmaß verändert werden dürfen, und ob es zulässig und gerechtfertigt ist hierdurch die Identität (Person) zu verändern. Verliert die Einwilligung nach einer THS mit Veränderung des authentischen Selbst seine Gültigkeit und rechtfertigende Wirkung? Eine gültige Einwilligung muss folgendes beinhalten: 1. Eine ausreichende hinreichende und angemessene Sachaufklärung und Informationsvermittlung über die eingesetzten Mittel; 2. Ein ausreichendes Informationsverständnis; 3. Eine freiwillige (frei von äußeren und inneren Zwängen) Entscheidungsfindung; 4. Eine Einwilligungsfähigkeit des Patienten. (Vollmann, 2000, Bauer, 2002) Vernachlässigt wird bei dieser Aufzählung die Verbundenheit mit Angehörigen, Bekannten, und professionellen Helfern, die eine Einwilligung mittragen müssen. Die Einwilligungsunfähigkeit wird bei psychisch Kranken gefasst als: „1. Der Patient verhält sich so, als könne er die Wahlmöglichkeit nicht nutzen. Der Patient versteht nicht wirklich die gegebenen Informationen. 3. Der Patient versteht zwar die gegebene Information, kann sie aber für eine angemessene Entscheidung nicht nutzen. 4. Der Patient hat keine Einsicht in die Natur seiner Erkrankung. 5. Der Patient ist nicht mehr authentisch, also nicht mehr in Übereinstimmung mit seinen Werten, Zielen etc., die er vor seiner Erkrankung hatte.“ (Bauer, 2002, S. 1031f) Bei einer formalisierten Einwilligung können sich nur 30% der Patienten daran erinnern ein Formular ausgefüllt zu haben. Nur 8% einer großen Untersuchungsstichprobe psychiatrischer Patienten in der Klinik konnten den Nutzen, den Namen oder die Dosierung der eingenommenen Medikation angeben. „Die meisten Studien zeigen übereinstimmend, dass 74 „normativ-empirische Ambiguität des Authentizitätskonzeptes“ ...die Echtheit einer Entscheidung bzw. Handlung“...“Die Orientierung am individuellen Wertesystem“ ... als normatives Ideal des modernen Individualismus einerseits sowie als empirische Ermessensgrundlage des individuellen ... Lebensentwurfs andererseits...“ (Huber, 2011, S.85) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 91 psychisch kranke Patienten, vor allem diejenigen mit akuten Psychosen und demenziellen Erkrankungen, überdurchschnittlich häufig Defizite in ihrer Einwilligungsfähigkeit ausweisen.“(Bauer, 2002, S.1033) Die besondere ärztliche Verantwortung bei der medizinischen Indikationsstellung („als Vermittlung zwischen einer Erkrankung und dem zu Heilung führenden Verfahren“) liegt somit darin, dass (Salloch, 2011) die Autonomie des Kranken respektiert und gefördert wird, damit ein „shared-decision-making“ überhaupt erst möglich ist. Bei der Indikationsstellung zur TSH werden chronische neuropsychiatrische Erkrankungen berücksichtigt bei denen die Beeinträchtigung der Kognition und Emotion störungsspezifische Symptome sind und die Einwilligungsfähigkeit (Verständnis, Verarbeitung, Bewertung, Bestimmbarkeit des Willens) aufgehoben ist. Demnach kommt der Vorsorgevollmacht, bei der ein Dritter ermächtigt wird an der Stelle des Einwilligungsunfähigen zu entscheiden, eine praktische Bedeutung zu.(Breitsameter, 2011) Medizinethisch bedeutet dies, dass das Beziehungsverhältnis von Fürsorgeprinzip und dem Respekt vor der Autonomie des Patienten sowie der Forschungsfreiheit abzuwägen ist, da es bei den chronischen neuropsychiatrischen Krankheit zu einem Verlust der Einwilligungsfähigkeit gekommen ist. Die Alzheimer Kranken können die Implikationen und die Handlungszusammenhänge nicht verstehen. Schwer depressiv Kranke leiden unter kognitiven Defiziten mit Aufmerksamkeitsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Konzentrations-störungen und Gedächtnisstörungen, wodurch die Entscheidungsfähigkeit aufgehoben ist, auf dem Hintergrund einer postulierten Dysfunktion der Interaktion zwischen präfrontalem Cortex und subcortikaler Strukturen. Bei substanzabhängig Kranke (SUD) ist das zielgerichtete Verhalten defizitär oder aufgehoben und somit die freie Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt, infolge eine eines dysfunktionalen postulierten Hypokretin Systems im lateralen Thalamus. (Skuban, 2011b)Bei den schwer Zwangskranken ist die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit durch die Zwangsimpulse und deren Abwehr mit völliger kognitiver und behavioraler Eingeengtheit, und der Zweifelsucht, auf dem Hintergrund einer neuronaler Schaltkreisstörung, mit Beteiligung des orbitofrontalen Cortex, der Basalganglien und des Thalamus, aufgehoben. Es ist somit geboten eine „partizipative Behandlungsgestaltung“ mit den Instrumenten einer Vorsorgevollmacht, einem Krisenplan, einem psychiatrischen Testament, mit der medizinischen Indikationstellung zu verbinden, um der Vulnerabilität der Kranken gerecht werden zu können. (Borbe´, 2012) Bekanntlich werden die wohnortnahen Therapiemöglichkeiten bei neuropsychiatrischen und psychiatrischen Erkrankungen bei bis zu der Hälfte der Erkrankten, oder sogar bei noch mehr, nicht hinreichend wahrgenommen, bzw. durch die behandelnden Ärzte nicht angeboten. (Medikation, sozialpsychiatrische Angebote, Psychotherapie, Selbsthilfegruppe). Die Aufklärung durch den Therapeuten/die Therapeutin bestimmt den Informationsstand und die Entscheidung des Kranken. Je nach der Art Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 92 und Weise der Aufklärung kann es zu Heilsversprechungen kommen, die nicht eingehalten werden können, oder auch dazu, dass Kranke die alternativen Therapiemöglichkeiten zu ihrem Besten nicht wahrnehmen. Dazu wird von Breitsamer (2011, S.65ff) auf die manipulativen Möglichkeiten ärztlicher Aufklärung eingehend hingewiesen, wobei auf eine Missachtung der Autonomie der Betroffenen besonders aufmerksam gemacht wird. (Breitsameter, 2011) Fazit: Bei neuropsychiatrisch schwer Kranken ist die Einwilligungsfähigkeit störungsbedingt aufgehoben, so dass eine partizipative Indikations,- und Behandlungsgestaltung erforderlich ist. Das Fürsorgeprinzip (Hilfsprinzip) und das Nicht-Schadens Prinzip muss mit dem Respekt vor der Autonomie, und ggf der Forschungsfreiheit, abgewogen werden. Neben der Förderung der Steuerungs,- und Entscheidungsfähigkeit der Kranken (informed consent) ist die Einbeziehung der Angehörigen und der care givers bei der Aufklärung zwingend geboten. Die Grenzen der Forschungsfreiheit werden durch die spezifische Vulnerabilität der schwer Kranken gesetzt. Die Abwägung von Forschungsinteressen mit dem zu erwartenden aggregierten Nutzen für zukünftig Kranke, mit dem individuellen Heilsversprechen, erfordert die Etablierung von medizinethischen Rahmenbedingungen und Handlungsregulierungen (klinische Ethikkommission mit beratender Aufgabe). Die institutionalisierte Einrichtung einer Ethikkommission ein Expertengremium ohne unmittelbare Beteiligung an der zu beurteilenden THS Studie, sowie die institutionalisierte Zweitmeinungsbildung, sind zur Gewährleistung der Transparenz bei der Studienplanung und Durchführung zum Schutz der Akteure zwingend geboten. 4. Zum Konzept der Vulnerabilität 4.1 Einige Theoretische Hintergründe zum Vulnerabilitätskonzept Da die Verwirklichung des informed consent auf der Annahme eines Competence Konzepts75 als kontextualisierte Realisierung des Respekts vor der Achtung der Autonomie des Kranken basiert, könnte nur ein sehr begrenzter Personenkreis von Kranken in THS Studien und in therapeutische Interventionen mit der THS eingeschlossen werden. Die Erweiterung des idealen Autonomiekonzeptes, welches die Beachtung des jeweiligen Kontextes (aktuale Autonomie) beinhaltet, und somit eine diachrone und synchrone Relativierung ermöglicht, kann eine stellvertretenden (mutmaßlichen) Willensbekundung triftig rechtfertigend begründen, und zu einer gerechteren Praxis beitragen. 75 Als Kompetenz wird bei Beauchamp und Childress (2009) die Kompetenz als eine Fähigkeit verstanden, relativ zu einer jeweiligen Entscheidungs-situation die materiellen Informationen zu verstehen, sich ein Urteil auf dem Hintergrund der Werte bilden zu können, ein Ziel erreichen zu können, die Wünsche gegenüber den Beratern und caregivern frei äußern zu können. Im medizinischen Kontext beinhaltet dies dien therapeutischen Ablauf oder den Studienablauf verstehen zu können, die größten Risiken und Vorteile (Nutzen) gegeneinander abwägen zu können, und anschließend eine Entscheidung fällen zu könne. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 93 Beim Einschluss von Kindern oder Minderjährigen muss das Schutzprinzip vor Ausbeutung und Manipulation auf dem Hintergrund einer relationalen Autonomiekonzeption erweitert werden. Dies ist bei an einem Tourette Syndrom (TS) von praktischer Relevanz, da die Erkrankung meistens sehr früh auftritt und im Einzelfall zur Indikationsstellung führen kann. Die vulnerable Position von Kindern ist durch die Abhängigkeit vom Kontext der Eltern-(Erziehungsberechtigten)–Kind–Interaktion wesens-mäßig gekennzeichnet. Die Abwägung zwischen dem größtmöglichen Interesseschutz des Kindes „ohne die Freiheit unnötig einzuengen“ und dem Wohl des Kindes muss die besondere „Verletzlichkeit“ einschließen, d.h. deren Manipulierbarkeit, Verführbarkeit, und Ausnutzungsmöglichkeit (Schutz vor Ausbeutung). Besonders zu beachten ist dies bei den Entscheidungen, die mit hohem Risiko behaftetet sind, bei Interventionen, die nicht in den Krankeitsverlauf eingreifen könnne, und bei denen die individuelle Prognose nicht gestellt werden kann. Eine stellvertretende Willensbildung erfordert, dass eine Vorsorgevollmacht nur dann gültig sein kann, wenn der Krankheitsverlauf bereits absehbar ist. Bei den neurologischen, degenerativen Erkrankungen (M. Parkinson, Morbus Alzheimer) ist im Vergleich zu den funktionellen Erkrankungen (TS, OCD, Depression, Substanzabhängigkeit) eine prognostische Aussage mit größerer Wahrscheinlichkeit möglich. Je jünger die Kranken sind, umso mehr müssen entwicklungsbedingte Veränderungsmöglichkeiten mit berücksichtigt werden, so dass die Vagheit einer Prognose steigt. Am Beispiel von experimentellen Hirnstamm Implantaten bei gehörlosen Kindern verdeutlicht Maio (2012) die Abwägung zwischen dem Risikoprofil des gehirnchirurgischen Eingriffs und der zu erwartenden Lebensform als gehörloser Mensch in der Gesellschaft. Im Hinblick auf eine Kinderethik formuliert Maio, dass die „Achtung der Vulnerabilität nur (gewahrt) werden kann, wenn das Kind in seinem sozialen Gefüge wahrgenommen, und sein Umfeld als Teil seiner eigenen Identität und seines Wohlergehens, betrachtet wird. (Maio, 2012, S.273) Bei der Bestimmung des Autonomieprinzips und des Fürsorgeprinzips, unter Beachtung der speziellen Vulnerabilität neuropsychiatrisch schwer Kranker, bei denen die Therapieoptionen ausgeschöpft sind, ergibt sich die Notwendigkeit, auf ethisch-anthropologische Merkmale menschlichen Lebens Bezug zu nehmen. Die heraus zu begründenen Anrechte auf einen fairen, gerechten Umgang (Schutz vor Ausbeutung), und auf fürsorgende Hilfe, mit Respekt vor der Autonomie, stellen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar. Das Konzept der Vulnerabilität umfasst neben dem universalen (ontologischen) Aspekt (Leiblichkeit), den situativen Bereich menschlicher Wesensbestimmung. „Vulnerability is seen both as an ontological feature of embodied existence (universal vulnerability) and a chracteristic that arises in specific contexts, affecting some more than others. (Rogers, 2014, S.64) Dass der Mensch endlich und verletzlich den „Widerfahrnissen“ (Kamlah, 1972) des Lebens körperlich, seelisch und geistig ausgesetzt wird gehört zu den unausweichlichen Bedingungen des (menschlichen) Lebens. Der Mythos eines unabhängigen, selbstbestimmten und selbstgesetz- Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 94 gebenden menschlichen Lebensvollzugs vernachlässigt die Hilfsbedürftigkeit und die Unfertigkeit des Menschen bei der Geburt (Portmann) und bei Krankheiten, bei Behinderungen, beim Sterben und die Angewiesenheit auf den Dienst des Mitmenschen unter Achtung der Autonomie des Anderen. Die philosophische Anthropologie von Kamlah lässt einer deskriptiven Anthropologie eine normative und eudämonistische Anthropologie folgen, und kann damit einen ganz-heitlichen Ansatz darstellen. Die Deutungshoheit über eigenes Handeln und Wollen bleibt bei dem Menschen in seiner je eigenen „Bedürftigkeit“ und den „Widerfahrnissen“, wobei diese in einer >praktischen Grundnorm< formuliert wird. „Beachte, dass die Anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß.“ (ebd.,S.95) „Es ist jedermann jederzeit geboten zu beachten, dass seine Mitmenschen bedürftig sind wie er, und demgemäß zu handeln.“ (ebd.,S.96) Kamlah benennt als „Lebensbedingungen“ „unentbehrliche Güter“ (Nahrung, Kleidung, Wohnung), weiterhin die Vitalität, eine Aufgabe, und „die Geborgenheit im Miteinanderleben mit anderen“, Achtung und Vertrauen, „mit denen wir insbesondere durch die Institutionen der Familie, der Arbeitsorganisation und dergleichen verbunden sind.“ (Kamlah, 1972,S.174) Die Rolle der Vulnerabilität in I.Kants Ethik wird von Paul Formosa (2014) mit Verweis auf die Würde und die Achtung der Autonomie des Anderen beleuchtet. Er unterscheidet zwischen einem breiten Vulnerabilitäts– Konzept (alle Personen sind vulnerabel) „refer to the general fragility of human life,“ und einem engen Vulnerabilitäts–Konzept „that we count as a vulnerable person or group only if we are more or much more susceptible than others to certain harms, injuries, failures, or misuses.“ (ebd.,S.91) Das breite Konzept ist unpraktisch, da die speziellen Schutzbedürfnisse nicht identifiziert werden können, und das enge Konzept trägt die Gefahr einer Pathologisierung der vulnerablen Personen in sich, übersieht, dass einige Personen der Gruppe nicht vulnerabel sind, und macht die Gruppe als Ganzes zu bemitleidenswerten Opfern. Die Würde des Menschen, die auf der moralischen Urteilsfähigkeit beruht, ist eingebunden in die Leiblichkeit, beim Erwerb dieser Fähigkeit, bei deren Ausübung und deren Aufrechterhaltung. Sie ist damit fragil, kann jederzeit verloren gehen (relationale Würde). Die Achtung der Selbstzwecklichkeit des Menschen (Instrumentalisierungsverbot) gebietet die Beachtung von besonderen Gegebenheiten bei der freien und aufgeklärten Einwilligung bei besonders vulnerablen Personen. (Formosa, 2014) Die „Mitleidsethik“ von Schopenhauer (1788-1860) geht einen Schritt weiter und gründet ethisches Handeln in der Leiblichkeit und der Identifikation mit dem Anderen, und stellt die Rationalität zur Klärung ethischer Herausforderungen in Frage. Die Intuition zum mitmenschlichen Handeln gründet im Mitleid, „etwas, wovon die diskursive Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft gegen kann.“ Die Mitleidshandlung schließt alle Lebewesen mit ein. „Aus der unmittelbaren und intuitiven Erkenntniss der metaphysischen Identität aller Wesen geht ... alle ächte Tugend hervor ... Auf dieser metaphysischen Identität des Willens, als des Dinges an sich, bei der zahllosen Vielheit seiner Erscheinungen, beruhen überhaupt Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 95 drei Phänomene, welche man unter den gemeinsamen Begriff der Sympathie bringen kann: 1) das Mitleid, welches, wie ich dargethan habe, die Basis der Gerechtigkeit und Menschenliebe, caritas, ist; 2) die Geschlechtsliebe mit eigensinniger Auswahl, amor, welche das Leben der Gattung ist, das seinen Vorrang vor dem der Individuen geltend macht; 3) die Magie...“ Als Prinzip aller Moral wird von Schopenhauer angeführt. „Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst.“ (Schopenhauer, 2012) Quietismus und Asketismus führen zum „Bewußt-sein der Identität des eigenen Wesens mit dem aller Dinge.“ (siehe hierzu Wolfgang Schirmacher (New York) Tägliche Ethik: Schopenhauers Mystik aus Erfahrung http://www.egs.edu/faculty/wolfgangschirmacher/articles/taegliche-ethik-schopenhauers-mystik-aus-erfahrung/ aufgerufen am 28.12.2014). Schopenhauer setzt sich polemisierend mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807) auseinander, insbesondere mit dessen „Weltgeist“-Konzeption. Neben die Marterialismus Konzeptionen von La Mettrie (1750) und d´Holbach (1770) mit deren mechanistischen und determinstischen Weltbildern, wird von Jean-Jaques Rousseau (1712-1778), auch im Gegensatz zu Thomas Hobbes (1588-1679), der ursprünglich gute und freie, unverbildete Mensch, mit der Forderung nach einer natürlichen, der Natur des Menschen entsprechenden Erziehung, gesetzt. Das bürgerlich subjektivistisch idealisierte Weltbild zeigte sich zunehmend in seiner Unfähigkeit auf die anstehenden gesellschaftlichen Fragen wirklichkeits-bezogen Antworten zu finden. Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war jedoch von einer bisher nicht gekannten gesellschaft-lichen Entwicklung, mit der Ansammlung von Kapital in wenigen Händen, und einer massenhaften Verelendung der Arbeiter, bestimmt. In der Enzyklika Deus Caritas Est von Papst Benedikt XVI. (2006, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; 171) wird auf die Begriffe Nächstenliebe (agape) und Caritas (das Liebestun, der Liebesdienst) unter der Konzeption des Menschen als Ebenbild Gottes (Schöpfungs-gedanke) formuliert: „Die Frage der gerechten Ordnung des Gemein-wesens ist – historisch betrachtet – mit der Ausbildung der Industrie-gesellschaft im 19. Jahrhundert in eine neue Situation eingetreten. Das Entstehen der modernen Industrie hat die alte Gesellschaftsstruktur aufgelöst und mit der Masse der lohnabhängigen Arbeiter eine radikale Veränderung im Aufbau der Gesellschaft bewirkt, in der das Verhältnis von Kapital und Arbeit zur bestimmenden Frage wurde.“( S. 35) „Gegen die kirchliche Liebestätigkeit erhebt sich seit dem 19. Jahrhundert ein Einwand der dann vor allem vom marxistischen Denken nachdrücklich entwickelt wurde. Die Armen, heißt es bräuchten nicht Liebeswerke, sonder Gerechtigkeit.“ (S. 34) Unter kritischer Sicht ist anzumerken, dass es bei dem Konzept der Vulnerabilität in guter Absicht darum geht, die spezifische Vulnerabilität einer Personengruppe im Hinblick auf deren Schutzwürdigkeit, besser bestimmen zu können. Gleichzeitig bedeutet dies aber, dass damit zur Pathologisierung dieser Gruppe beigetragen wird. Wer vor wem geschützt werden soll mut durch zusätzliche Annahmen bestimmt werden. Soll mit dem Konzept der Vulnerabilität die „bürgerliche Wertegemeinschaft“ vor Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 96 den „Außenseitern“ besser geschützt werden? Ist das Konzept zu breit und zu vage, und mit dem der „Sünde“ („Erbsünde“) begrifflich nur schwer zu trennen? Das Konzept der menschlichen Vulnerabilität kann nur unter Bezug auf die unterschiedlichen Suppositionen zur „Natur des Menschen“ und dem hieraus entstehenden Anspruch auf eine mitmenschliche Grundhaltung zu verstehen. Die Gefahr moralistischer Fehlschlüsse und begrifflicher Unschärfen sollte dabei beachtete und vermieden werden. Mit Bezug auf die philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner (1892-1985), und dessen Werk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ wird von Honnefelder (2009, 2011) auf die Analyse der „exzentrischen Positionalität“ und der hieraus abgeleiteten „anthropologischen Gesetze“ eingegangen, und die ethische Dimension der Hirnforschung, im Verhältnis von „Ich“ und organischem Leib, bestimmt. Plessners anthropologische Gesetze umfassen das Gesetz von der natürlichen Künstlichkeit, das Gesetz von der vermittelten Unmittelbarkeit, das Gesetz vom utopischen Standort. Die Rechtfertigung von Eingriffen in das menschliche Gehirn, als höchstes Gut, „geht von einem Selbstverständnis des Menschen aus, das den Menschen als das Wesen versteht, das sein Leib ist und ihn zugleich als Körper hat.“ ... „Eine Natur, die sich so zu sich selbst verhalten kann, ist von Natur aus künstlich.“ (Honnefelder, 2009) Die Natur ist dem Menschen nicht vorgegeben sondern aufgegeben. Die Natur wird von dem Menschen bewertet, interpretiert und sie erkennt den anderen Menschen in seiner Vorstellung als gleich und Hilfsbedürftig an, woraus sich die Forderungen nach Gerechtigkeit und die Hilfspflicht ergeben. Der Mensch „macht seine geistig–seelische Seite gleichzeitig zugänglich und er verbirgt diese“, was sein Selbstverständnis, seine Authentizität ausmacht, und ihn dadurch verletzlich macht, da die Grenzen immer neu zu bestimmen sind. An dieser Grenze bemisst sich auch die Grenze eines GehirnEingriffs. Die Grenzziehung wird durch den Zugriff auf die je eigenen Gedanken und Wünsche, auf die personale Identität, (Schutz der Privatsphäre, Recht auf informationelle Selbst-bestimmung), unverhandelbar bestimmt. (Honnefelder, 2011) Die aus der menschlichen Vulnerabilität erwachsenen Ansprüche und Rechte nach institutionell zu gewährender Bereitstellung von Fördermitteln zur Ermöglichung eines gelingenden (guten) Lebens, unter Einsatz der individuellen Fähigkeiten („cababilities“) wird in den moral-philosophischen Darstellungen (bezugnehmend auf Aristoteles und Marx) von Nussbaum (Nussbaum, 2000, Nussbaum, 2012) überzeugend dargestellt. Nussbaum (2012) formuliert aus einer „Enttäuschung über die unzulängliche Kontextsensitivität grundsatzorientierter Moraltheorien“ (ebd.,S.15) eine ethisch-politische Tugendethik (Eudämonismus, aristotelischer Sozialdemokratismus), und geht auf die These ein, dass „eine für partikulare Besonderheiten offene Ethik nicht ohne Einbeziehung der Gefühle (Achtung und Mitgefühl) auskommt.“(ebd.,S.22) Nussbaum stellt unter der „Priorität des Guten“ eine Liste von zehn „miteinander zusammen-hängenden Fähigkeiten (cababilities) als gesetzgeberische Ziele auf, zur Etablierung von institutionellen Rahmenbedingungen, damit diese in einem erfüllten, Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 97 guten Leben, individuell verwirklicht werden können. Die typisch menschliche Ausformung der Fähigkeiten und Tätigkeiten wird durch die „praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen“ organisiert und strukturiert. (ebd.,S.59) Die Biologie fordert uns auf die Komponenten menschlichen Lebens zu bewerten. Die gebotenen Tätigkeiten sind nicht die gesollten Tätigkeiten, gesollt ist nur deren Achtung und die mitmenschliche Anteilnahme. Die selbstbestimmte Verwirklichung der Grundbedürfnisse des Menschen („needs“) durch das ins Spiel bringen können der eigenen Fähigkeiten, bedarf der Anerkenn-ung des anderen als autonome Person, und einer solidarischen Unter-stützung bei der Ermöglichung einer erfüllenden sozialen Teilhabe. Solidarität als Bürgertugend zwischen der geschuldeten Moral, der Gerechtigkeit und der freiwilligen Mehrleistung, der Wohltätigkeit wird dabei als verbindende Kraft vorausgesetzt. (Höffe, 2008) Die kommunitaristischen Ethikansätze, die Fürsorge (Care)–Ethik und die „Feminist Philosophy“ geht den praktisch ethischen Belangen bei medizinethischen Entscheidungssituationen nach, wobei ein sozialpolitischer Bereich folgerichtig mitbedacht wird. (Mackenzie, 2014) Es geht in einer pluralistischen Gesellschaft darum, die Moralphilosophie für individuelle und kollektive Moralen in der jeweiligen Kontingenz sensibler zu machen.(Huster, 2011) Hieraus folgt auch, dass das Selbstbestimmungsrecht auch das Recht Hilfe ohne Begründung abzulehnen umfasst, auch wenn diese Entscheidung unvernünftig erscheint. Es ist vielmehr Aufgabe der ärztlichen Fürsorge und mitmenschlicher Empathie und Solidarität die soziale Zuwendung so zu gestalten, dass das Selbstbestimmungsrecht des Kranken sich frei entfalten kann, ohne dass hierdurch Dritte in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. (Sen, 2009) Die Charakterisierung von vulnerablen gesellschaftlichen Gruppen und Kranken aus der Beobachterperspektive ist mit dem Paradox verbunden, dass ein verbessertes Labeling mit einer vermehrten Gefahr für die Betroffenen verbunden ist, unzulässiger paternalistischer76 Fürsorge ausgeliefert zu sein. Die Gefahren des Labeling - Ansatzes bestehen in einer Vernachlässigung der spezifischen Belange der Betroffenen, und dies führt zur Diskriminierung und Stereotypbildung. Rogers versucht eine Verbindung zwischen dem Principlism von Beauchamp und Childress, dem Fürsorgeprinzip (Beneficience und 76 „Grundlage der Definition des ärztlichen Paternalismus ist – kurz gesagt – die Vorstellung, dass der Arzt besser wisse, was für den Patienten gut ist, als dieser selbst. So bedeutet Paternalismus, das absichtliche Hinweggehen über die Präferenzen einer Person, mit dem Ziel, zum Wohle dieser Person zu handeln. ... Beim milden Paternalismus wird mit Sanktionen, Überredungen oder Warnungen umzustimmen versucht; beim harten Paternalismus ergreift der Arzt direkte Maßnahmen, die den Patienten bei der Ausführung seiner Entscheidungen hindern. Beim schwachen Paternalismus setzt sich der Arzt über den Willen eines nicht urteilsfähigen Patienten hinweg. Ein starker Paternalismus liegt vor, wenn sich der Arzt über den Willen eines einsichtfähigen Patienten hinwegsetzt. (Maio, 2012,S. 156ff) Nach Beaucham und Childress gibt es Situationen, in denen ein „starker Paternalismus gerechtfertigt ist: „1. Es besteht keine Alternative zur Abwendung des Schadens. 2. Es handelt sich um einen ernsthaften abzuwendenden Schaden. 3. Durch den paternalistischen Akt entsteht kein ernsthafter Schaden. 4. Die zu erwartenden positiven Folgen des paternalistischen Aktes sind gewichtiger als der durch den paternalistischen Akt auferlegten Schaden. 5. Die Einschränkung des Respekts vor der Freiheit des anderen ist minimal.“ (Beauchamp and Childress, 2009, S. 212f, Maio, 2012, S. 159f) Als Kritik ist anzumerken, dass bei dieser Aufzählung das Prinzip der Achtung der Autonomie und das Fürsorgeprinzip abgewogen werden, der Norm zur Rücksichtnahme auf dem Schutz der Vulnerabilität von schwer Kranken und deren Anspruch auf Förderung der Autonomie zu wenig Beachtung geschenkt wird. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 98 Nonmaleficience), und dem Respekt vor der Autonomie, sowie der Gerechtigkeit (public health) (Rogers, 2014) herzustellen. Die Gruppe von vulnerablen Personen wird von ihr gefasst als: „the vulnerable are those who are at increased risk of harms, either because they are in hazardous situations or because they have a decreased capacity, for whatever reason, to safeguard their own interests ... premature babies in intensive care units, adults with dementia, patients on the operating table, disempowered research populations such als prisoners or refugees, or those desperate for medical care. (S. 62) Anhand des Nürnberger Codex (1947)77 und des Belmont Reports (1979) werden die Kriterien zur Bestimmung von vulnerablen Personen herausgearbeitet, mit deren begrenzten Fähigkeit (Kompetenz) zu einer wirksamen Einwilligung, wodurch sich ein besonderes Schutzbedürfnis vor möglicher Ausbeutung ableitet. Bei diesem Konzept wird der „Würde – Begriff“ supponiert, wobei hierzu auf die kritischen Ausarbeitungen bei Frey (Frey, 2012) und Birnbacher (Birnbacher, 2006), sowie Paul (Paul, 2013)78 und Mittelstraß (Mittelstrass, 1996) verwiesen wird. Dieser Personenkreis bedarf in klinischen Studien eines besonderen Schutzes gegenüber unzulässigen Anreizen (Ausbeutung), bedarf ein günstigeren Nutzen-Risiko–Verhältnises, und diese Personengruppe sollte aus experimentellen Forschungsstudien ausgeschlossen werden. (Beauchamp, 2009) Wenn nur der informed consent bei klinischen Studien beachtet wird, werden die „gefährlichen“ Studienprotokolle, die Interessenkonflikte der forschenden Ärzte und anderer beteiligter Berufsgruppen, die dysfunktionalen Institutionen (hierarchische Strukturen mit autokratischer Führung; Karriereschmiede versus Haus für kranke Menschen in Not) nicht berücksichtigt, wobei diese Kontexte alle Studienteilnehmer vulnerabel für ein erhöhtes Schadensrisiko machen. 77 Die Problematik der Begründung der normativen Kraft des kantischen Würdebegriffs liegt in der Ansiedelung des Modells in der "Zwischenebene zwischen der deskriptiven Eigenschaft der rationalen Handlungsfähigkeit und der normativen Eigenschaft, Rechtssubjekt zu sein".(Mittelstraß, 1996, Bd 4, S.786) Die Gefahr von Sein-Sollen Fehlschlüssen (naturalistischer Fehlschluss) sowie der Einwand, den Begriff als "conversation stopps" (Birnbacher) zu verwenden, einschließlich einer ungebührlichen inhaltlichen Ausweitung, ist zu beachten. Frey unterscheidet beim Würdebegriff zwischen einem „Begriffskern“, dem “fundamentalen Sinngehalt” als unantastbarem Schutzbereich der Menschenwürde, und einem „Begriffshof“, d.h. den für Abwägungen zugänglichen weiteren Schutzbereich, der insbesondere beim Lebensende auf den Freiheitsgedanken, den Gleichheitsgedanken und den Schutzaspekt (Achtung des Selbstzwecks, Schutz des Lebens) rekurriert. Die ethische Bedeutung stellt den Begriff der Menschenwürde als das Fundament der Menschenrechte heraus. Der Kerngedanke, dass Normen einer Moral triftig begründet sind, wenn sie dazu dienen, bestimmte Werte – anthropologische Konstanten – zu schützen und zu befördern, wird inhaltlich darin gesehen, dem Begriff „Menschenwürde“ einen „eigenen Gehalt zuzuschreiben, und zwar einen, der einem Ensembel bestimmter grundlegender Rechte gleichgesetzt werden kann.“ An Bedeutungskomponenten werden „im starken Sinn“ (Birnbacher, 2006) impliziert, dass ihr Träger eine Reihe von moralischen Rechten besitzt, die anderen bestimmte negative (Unterlassungs-) und positive (Handlungs-) Pflichten auferlegt.“ Dazu gehören die Rechte von Demütigung und Verachtung verschont zu werden, das Recht auf ein Minimum an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, das Recht auf mitmenschliche Hilfe in Notlagen, das Recht auf ein „Minimum an Lebensqualität im Sinne von Leidensfreiheit und das Recht, nicht ohne Einwilligung und in schwerwiegender Weise zu fremden Zwecken instrumentalisiert zu werden.“ (S. 86f.) 78 Eine Annäherung an den Würdebegriff, wie er für medizinethischen Belage fruchtbar gemacht werden kann, rekurriert auf eine Differenzierung in die Aspekte der ontischen, phänomenologischen, reflexiven, und relationalen Verwendung. Die relationale Würde, die sich aus der gegenseitigen Anerkennung von Subjektiven ergibt, kann jederzeit verloren gehen. (Paul, 2013) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 99 Es werden zwei Gesichtspunkte für die Vulnerabilität von Personen als Patienten von Rogers herausgestellt. Die allgemein geteilte biologische Fragilität, die Lebewesen verletzlich macht (Schmerz, Krankheit, Tod). Diese macht uns Menschen inhärent vulnerabel und potentiell schadensgefährdet durch die medizinische Praxis, sodass Schutz geboten ist. Zweitens ist diese biologische Vulnerabilität eingebunden in die je andere kontextualisierte Vulnerabiltät (Diskriminierung, Armut, Abhängigkeit, Bildungsmangel). Rogers stellt die aufgeklärte Einwilligung als Grundlage für die Realisierung des Respekts für die Autonomie heraus, wobei dieser Ansatz eine ganze Reihe von Patienten ausschließt und diskriminiert, die dazu nicht in der Lage sind. Ein relationales Autonomiekonzept stellt demgegenüber die Förderung von individueller Autonomie in den Focus und vermeidet ein alles – oder – nichts Schwellenkonzept des informed consent. In dem europäischen „Basic Ethical Principles in Bioethics and Biolaw project“ (Rendtorff, 2002)“ wird die Vulnerabilität (als Ausdruck der Fragilität des Lebens und als adressiertes Objekt moralischer Prinzipien) zusammen mit der Autonomie, der Würde und der Integrität gefasst und mit den Idealen der Solidarität, dem Diskriminierungsverbot und der Gemeinschaft verbunden. Vulnerabilität begründet die negative Pflicht der Schadensverhinderung und der Unterlassung einer Intervention, und die positive Pflicht die sozialen Bedingungen zu verbessern, sowie die Pflicht zur Förderung der menschlichen Fähigkeiten. (Rogers, 2014, S.74f) Ein vielversprechender Ansatz, der in eine gesamtgesellschaftliche public health Konzeption eingebunden werden muss, um die Chance zur Realisierung zu bekommen. 4.2 Zur Vulnerabilität bei neurochirurgischen Eingriffen Auf diesem Hintergrund sind chirurgische Eingriffe in das Gehirn bei neuropsychiatrischen Krankheiten nur dann zu rechtfertigen, wenn sie die Bedingung erfüllen können die krankheitsbedingte Einschränkung der Autonomie zu verbessern, und die Beschädigungen der personalen Identität durch die schwere neuropsychiatrische Krankheit zu lindern oder zu beseitigen. Gibt es eine prämorbide personale Identität, auf die bei einem schwer psychisch Kranken (Depression, COD, SUD, Demenz) lebensgeschichtlich authentisch Bezug genommen werden kann? Wie lässt sich diese bestimmen? „Authentizität“ bezieht sich auf die Orientierung des Einzelnen an einer sich selbst verständlichen und erzählbaren Lebensgeschichte und an der fühlbaren Kongruenz mit sich selbst.“ (Honnefelder,2009,S.93) Glannon (2014) sieht die THS als „a form of extended or expended embodiment.“(S.2). „By modulating dysfunctional neural circuits associated with neurological and psychiatric disorders, DBS can restore the motor and mental functions necessary for autonomous agency and the mental states with which ohne would want to identify.“(S.2) Glannon sieht hierin einen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 100 Beweis dafür, dass die höheren Bewußtseinszustände geändert werden können „by a millivolt of electrical current.“ Weiterhin sieht Glannon es damit als bewiesen an, dass „neurological and psychiatric disorders are disorders of neurological circuits.“ (Glannon, 2014) Mentale Prozesse werden identisch mit neuralen Prozessen gesetzt (Kategorienfehler) und nicht weiter problematisiert. Neben dem (naturalistisch, merologisch) Fehlschluss, der bei derartigen Argumenten, wie von Glannon (2014) vorgetragen, transportiert wird (Fuchs, 2013), ergeben sich durch Falschinformationen (u.a. auch durch die Massenmedien) für die Patienten Heilserwartungen, die einen schwerwiegenden Schaden (erhöhte Suizidalität, Destruktion sozialer Bindungen, Verlust der Glaubwürdigkeit des Neurochirurgen) bewirken können. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der Urheberschaft von Handlungen und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Verantwortungszusprechung für eine Handlung in „human-interfaceinteractions“ (Limerick, 2014) muss auf den Unterschied zwischen dem Gefühl für die Urheberschaft und dessen Bewertung eingehen.(Walde, 2006) Wenn die beiden epistemischen Perspektiven (Akteurskausalität/ verantwortliches Subjekt) „sich als unhintergehbar erweisen und der epistemischen Perspektive der Akteurskausalität die Priorität zukommt, kann auch die „ethische Dimension“ und mit ihr die Verantwortung nicht zur Disposition stehen, die dem Menschen als Urheber seiner Taten zukommt.“(Honnefelder,2009,S.86) Bei Mensch-Maschine-Interface Systemen muss die Frage neu gestellt werden: Wer ist verantwortlich und wer handelt eigentlich, wenn das Hybrid-System zu nicht vorhersehbaren Erlebens- und Verhaltensweisen führt. Von klinischer Bedeutung ist das Auftreten von Manie oder Impulskontrollstörungen bei der THS mit Parkinsonkranken. Die Diskussion führt zum „Transhumanismus“ und der „Cyborg“ Debatte (cybernetic organism), was hier nicht intendiert ist, da die Arbeit sich auf die klinischen Aspekte der THS begrenzt. (siehe dazu das 18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung am 4.6.2014) Einige Patienten, die mit THS behandelt wurden haben nach längerer Zeit der Stimulation das „Gefühl gesteuert zu werden,“ was mit dem spreading der Stimulation in benachbarte Hirnstrukturen zusammen hängen soll. (Clausen, 2009) Insbesondere bei jüngeren Kranken (Tourette Syndrom) oder bei einer Ausweitung der Indikation auf frühere Krankheitsstadien beim M. Parkinson dürfte dies für die ärztliche Begleitung wichtig werden. Von Limerick wird darauf hingewiesen, dass „the potential reduction in human responsibility as a consequence of increased interaction with intelligent interfaces is an important subjekt for further investigation.“(S.9) Eine Ausweitung der THS Indikation auf sogenannte leichtere Krankheitsstadien erhöht das Risiko einer beeinträchtigten personalen Identität, da die Behandlung unter der Bedingung des informed consent begonnen wurde, durch den degenerativen Krankheitsverlauf aber neue ethische und rechtliche Herausforderungen entstehen. Die Vulnerabilität erfährt durch die Stimulation im zeitlichen Ablauf (Persönlichkeitsänderung, Personänderung) eine Bedingungsänderung, deren Operationalisierung und Erfassung mangels sensitiver Messinstrumente zurzeit nur Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 101 begrenzt möglich ist.(Witt, 2013b) Die daraufhin anstehende Entscheidung zur Beibehaltung der THS trotz eines Identitätswechsels (Persönlichkeitsänderungen), oder deren Revision, stellen eine besondere Herausforderung dar, da ggf. eine zivilrechtliche und strafrechtliche Bewertung der entstandenen Schäden (finanziell, schädliche Übergriffe) erfolgen muss. Eine besondere Herausforderung bei der THS ergibt sich, da die neurochirurgischen Eingriffe in wachem Zustand durchgeführt werden, sodass eine Revision des informed Consent, somit auch ein Abbruch der Intervention durch den Kranken, jederzeit möglich ist. Die THS ist eine symptomatische und keine ursächlich wirkende Behandlung, kann den Verlauf der Grunderkrankung nicht beeinflussen, und muss bei der Schwere der Erkrankung dem veränderten sozialen Gefüge des Patienten Rechnung tragen. 4.3 Zur Vulnerabilität neurochirurgischer Eingriffe in das Gehirn Neuropsychiatrische Krankheiten verändern die Plastizität der Hirnfunktionen und heben bei schwerer Ausprägung die Kompetenz zur Abgabe einer informierten Einwilligung auf. Die Not der Kranken, und deren Hoffnung auf eine Leidensminderung nach Ausschöpfung aller Therapiemöglichkeiten durch den neurochirurgischen Eingriff stellen den Arzt vor besondere ethische Herausforderungen. Mit den Psychopharmaka werden schrotschussartige Hirnwirkungen in Kauf genommen, wobei der neurochirurgische Eingriff eine gezieltere Einwirkung auf gestörte Hirnregionen verspricht. Andererseits werden durch die chirurgischen Eingriffe in das Gehirn unbeteiligte Strukturen zerstört um an die Zielregion zu gelangen. Wenn die Standardtherapie nicht ausreichende Effekte liefern kann werden innovative oder forschungsbezogene Interventionen erwogen. Zum Schutz der Vulnerabilität des Kranken und um die Reputation des Neurochirurgen nicht zu gefährden ist die Etablierung von praktikablen ethischen Rahmenbedingungen angezeigt. (Ford, 2009) Es geht dabei um die Abwägung von Schutzbarrieren, Fortschritt der Technik der Begrenzung von und heroischen Eingriffen bei neurochirurgischen Interventionen. Ford (2009) listet sieben Richtlinien als ethische Rahmenbedingung bei neurochirurgischen Interventionen auf: I. Achtung vor der Vulnerabilität und multidisziplinäre Behandlungsteams. Neurochirurgische Eingriffe als „non-standard“ Therapien mit möglichen Schädigungen bei psychiatrisch Kranken. Multidisziplinäre Teams können die Unsicherheiten der Kranken besser ins Spiel bringen und vor heroischen Eingriffen schützen. II. Achtung vor der Vulnerabilität und die Einholung von Zweitmeinungen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 102 Das Neurochirurgische Team sollte die Initiative ergreifen und eine Zweitmeinung einholen bei einem ungewöhnlichen Vorgehen. Schutzbarriere um die Unsicherheit des Kranken zu achten und Schutz vor Kompetenzüberschreitungen. Förderung der Argumentation auf Augenhöhe. III. Situationale Vulnerabilität und die Behandlungsbedingungen. Berücksichtigung des Lebensstils, der sozialen Situation und der Wohnumgebung des Kranken. Die Inkaufnahme einer funktionellen Schädigung um das Leiden zu mindern oder das Sterberisiko zu vermindern. a) bekanntes Risiko – z.B. THS beim M.Parkinson – Beschädigung kognitiver Funktionen, die den Bewegungsgewinn nicht mehr rechtfertigen; b) nichtvorhersehbares Risiko – Beschädigung der personalen Identität. Zum Schutz des Kranken (Forschung und Therapie) ist eine vorsorgende Kontrolle der neuropsycho-logischen Fähigkeiten und eine multidisziplinäre Nachsorge transparent und verpflichtend zu vereinbaren. IV. Medizinische Vulnerabilität und hoffnungslose Patienten. Kranke ohne Standardtherapiemöglichkeiten für Studien zu rekrutieren ist unklug und unethisch. a) Symptome sind sowohl bei der Standardtherapie als auch bei der experimentellen (innovativen) Therapie refraktär; Phase I neurochirurgische Studien sollten nur mit Kranken durchgeführt werden, die noch eine andere chirurgische oder medikamentöse Therapieoption haben. b) Kranke sollten nicht gering effektiven Therapien ausgesetzt werden nur um Zugang zu neurochirurgisch innovativen Behandlungen zu erhalten. Die Forderung nach Ausschöpfung der Standardtherapien vor einem neurochirurgischen Eingriff in das Gehirn als „last line therapy“ richtet sich nach deren Zumutbarkeit. V. Medizinische/Kognitive Vulnerabilität und vorsorgende Therapieplanung Schwer Kranke mit einer lebensbedrohlichen Krankheit haben die Erfahrung der Therapieresistenz und sind eher bereit sich einer innovativen neurochirurgischen Behandlung zu unterziehen. Bei neurodegenerativen Krankheiten ist das Risiko einer Verschlimmerung der Erkrankung und Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten durch Gehirneingriffe erhöht. Vorausbestimmung durch Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung ist verpflichtend. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 103 Therapiezieländerungen sollten vorausbestimmt werden, die Nachsorge vor dem Eingriff geregelt werden. VI. Situationale Vulnerabilität und Intraoperativer Widerruf der Einwilligung Neurochirurgischer Eingriff mit Kraniotomie mit funktionellem Mapping bei wachem interaktivem Patienten (das Gehirn ist der Umgebung unmittelbar ausgesetzt, der Schädel in dem Stereotaxie-Rahmen fixiert) - THS. Therapieplanung (Studienprotokoll) muss Unterscheidung zwischen Forschungsinteresse und unmittelbar therapeutischem Interesse vorher festlegen. a) Zu jedem Zeitpunkt Widerruf der Einwilligung möglich; b) Widerruf der vorher gegebenen Einwilligung vereinbart. Sorgfaltspflichtverletzung wenn über das therapeutische Privileg („im besten Interesse des Kranken“) nicht aufgeklärt wurde (Ausweitung der Operation; zum Unterschied zwischen Innovation, Forschung, Therapie aufklären). Intraoperative Stopps zur Überprüfung der Einwilligung müssen einplant werden. Schutz vor Ausbeutung des Altruismus, vor ungerechtfertigtem Respekt vor der Arzt – Autorität. VII. Edukative Vulnerabilität und Medien/Industrie – Einflussnahme Die Massenmedien und die Industrieinformationen sind an den unrealistisch hohen Heilserwartungen mitbeteiligt. a) Verpflichtend sollen neben den „Wunder“ Heilungen auch suboptimale Verläufe von neurochirurgischen Eingriffen von dem Operationsteam präsentiert werden; b) bei der Aufklärung müssen die wahrscheinlichsten Risiken und die schlechten Ergebnisse aufgezeigt werden. Die eingehende Darstellung zur Gewichtung und Interpretation der medizinethischen Prinzipien Nicht-Schaden, Respekt vor der Autonomie, verantwortungsvoller Respekt vor der Vulnerabilität schwer Kranker (Schutz der Privatsphäre), verdeutlicht, dass bei einer deliberativen Aufklärung die Gestaltung der Arzt-Patienten-Interaktion. Hinzu kommt, bei einer Ausweitung der Indikation (Enhancement) und bei einer zu erwartenden Verbesserung des brain-recording (Speicherung der Modulationen und der Verhaltensänderungen als „brain-radio“), dass dem Recht auf Schutz der informationellen Selbstbestimmung stärkeres Gewicht beigelegt werden muss. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 104 Fazit: Die medizinethische Abwägung des Autonomieprinzips mit dem Fürsorgeprinzip und Nicht-Schadens-Prinzip, mit Gewichtung der Vulnerabilität von schwer neuropsychiatrisch kranken Menschen als principle of precaution, stellt die Akteure sowohl bei der Auswahl von Teilnehmern an klinischen THS – Studien, wie auch bei der medizinischen Indikation zur Therapie, vor kontextspezifische ethische Herausforderungen. Während die deontologische Begründung der informierten Einwilligung das Autonomie-Prinzip mit der Selbstbestimmung über die zu erfolgenden Maßnahmen als unverhandelbar betrachtet, betont die konsequentialistische Begründung die Förderung des Wohls des Patienten, unter Berücksichtigung der Wertungen des Patienten. Mit der Etablierung von ethischen Rahmenbedingungen bei neurochirurgischen Eingriffen in das Gehirn wird die Vulnerabilität der schwer kranken Menschen vor nicht zu rechtfertigenden Übergriffen geschützt, und der Ausbeutung des Altruismus der Kranken in jeder Phase der Intervention entgegen gewirkt. IV. Spezifische ethische Herausforderungen bei der Neuromodulation (TSH) bei Neuropsychiatrischen Erkrankungen 1. Die rechtlichen Rahmenbedingungen Die Charta der Patientenrechte steht unter dem Motto „Wer seine Rechte als Patient kennt, kann sie auch nutzen.“79 Die ärztliche Behandlung mit der THS muß nach dem Stand der Wissenschaft und der lex artis im Allgemeinen geeignet sein und angewendet werden um Krankheiten oder Leiden zu verhüten, zu 79 Die Charta der Patientenrechte – „Eine gesetzliche Regelung, die die Rechte des Patienten normiert, gibt es in Deutschland nicht ... eine vom Bundesgesundheitsministerium und Bundesjustizministerium eingerichtete Arbeitsgruppe im Oktober 2003 ... soll den Patienten einen Überblick über die wesentlichen Rechte und Pflichten im Rahmen der ärztlichen Behandlung (geben). ... Der Patient hat Anspruch auf eine qualifizierte und sorgfältige medizinische Behandlung nach den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst ... Der Patient hat das Recht, Art und Umfang der medizinischen Behandlung selbst zu bestimmen ...Alle medizinischen Maßnahmen setzten eine wirksame Einwilligung des Patienten voraus ... wer die nötige Einsichtsfähigkeit besitzt (bei Minderjährigen und Betreuten wird die Zustimmung eines gesetzlichen Vertreters, insbesondere bei schweren Eingriffen eingesetzt um den mutmaßlichen Willen zu bestimmen) ... Die Bestellung eines Betreuers ist entbehrlich, wenn der Patient rechtzeitig eine Person seines Vertrauens für die Zustimmung in Gesundheitsangelegenheiten bevollmächtigt hat (Vorsorgevollmacht). Bei besonders schwerwiegenden Eingriffen bedarf die Einwilligung durch den Betreuer oder Bevollmächtigten der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ... Eine wirksame Einwilligung setzt eine so umfassende und rechtzeitige Aufklärung des Patienten voraus, dass dieser aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten in der Lage ist, Art, Umfang und Tragweite der Maßnahme und der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ohne psychischen Druck zu ermessen und sich entsprechend zu entscheiden. Zu unterrichten ist auch über Art und Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Risiken im Verhältnis zu den Heilungschancen und über alternative Behandlungsmöglichkeiten ... Der Patient hat das Recht, auf die ärztliche Aufklärung zu verzichten und zu bestimmen, wen der Arzt außer ihm oder statt seiner informieren darf oder soll ... Vor einer möglichen Teilnahme an sog. Versuchsbedingungen, deren Wirksamkeit und Sicherheit wissenschaftlich noch nicht abgesichert sind, muss der Patient umfassend über die Durchführungsbedingungen, über Nutzen und Risiken sowie über Behandlungsalternativen aufgeklärt werden ... In Fällen einer fehlerhaften Behandlung oder unzureichenden Aufklärung stehen dem Patienten Schadensersartz- und Schmerzensgeldansprüche zu. „http://www.krankenkassen.de/gesundheit/arzt-patient/TODO-29/ aufgerufen am 30.12.2014 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 105 erkennen, zu heilen oder zu lindern. Unter strafrechtlichem Blickwinkel werden die Straftatbestände der vorsätzlichen und fahrlässigen Körperverletzung oder Tötung als Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Haftung relevant (§223,§224,§226,§212 StGB). Schadenersatz und Schmerzensgeldregelungen (§823 Abs. 2 BGB) werden hierdurch regelmäßig begründet. „Der Patient kann kraft seiner Entscheidungsautonomie das vorläufig als Unrecht bewertete Verhalten des Arztes mit Hilfe des Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung wieder ausgleichen. Subsidiär kommt zudem der sog. mutmaßlichen Einwilligung Relevanz zu.“ „Die vorsätzliche Missachtung des Patientenwillens wird unter dem Aspekt der Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit oder Ehre geprüft..“ „Unabhängig davon, ob die Einhaltung der lex artis und die Beachtung des Selbststimmungsrechtes bereits den Tatbestand oder erst die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung ausschließen, kann festgehalten werden, dass der lege artis durchgeführte und von der wirksamen Einwilligung des Patienten getragene ärztliche Eingriff nicht strafbar ist- und zwar unabhängig vom tatsächlichen Gelingen des Eingriffs.“(Bundesärztekammer, 2010,S.109f) Der Dokumentation zur Mitarbeit des Patienten ist somit eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. (Prütting, 2014) „Für die THS ist juristisch-normativ die Anforderungen des §10 Abs.2 MPBetriebVA zu beachten, da es sich bei der Elektrode und deren Kontrollierbarkeit um aktiv implantierbare Medizinprodukte im Sinne des §3 Nr.1 MPG handelt.“ (Prütting,2014,S.45) Die rechtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen zwei Themenkreise: Die Anwendung der THS im Rahmen rein therapeutischer Situationen (als Heilbehandlung, ultima ratio Behandlung) und der Einsatz der THS im Rahmen der Forschung. Forschungsinteressen und therapeutisches Interessen überschneiden sich im Rahmen von Wirksamkeitsstudien wenn die Ergebnisse von Heilbehandlungen im Hinblick auf den Gesamtnutzen (Wirksamkeitsvergleich, Nebenwirkungsabschätzung) im Nachhinein zusammengefasst werden. Gehören Heilverfahren nicht zum Standard (TS, Depression, Substanzabhängigkeit, Demenz), und die herkömmlichen Therapien versagen, dürfen diese als ultima ratio zum Einsatz kommen, wenn die Art oder Schwere der Erkrankung dies erfordern. Eine Zulassung wird nur erteilt, wenn eine therapeutische Wirksamkeitsüberlegenheit (Zusatznutzen entsprechend §5 Arzneimittelgesetzt) nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse (evidenzbasierte Auswertung) nachgewiesen werden kann. Es werden Evidenzstufen Ia-V berücksichtigt, je nach Studienlage. Einzelfallberichte, pathophysiologische Überlegungen, Expertenkommitees (V) als unterste Evidenzstufe, und systematische Übersichtsarbeiten von randomisierten klinischen Studien (Ia) als Bewertungs - Eckpunkte. Der Zusatznutzen wird quantifiziert mit: a) erheblicher Zusatznutzen, bei nachhaltiger und gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie bisher nicht erreichter großen Verbesserung des therapierelevanten Nutzens (Heilung, Lebenszeit- Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 106 verlängerung, langfristige Freiheit von schwerwiegenden Symptome, Vermeidung schwerwiegender Nebenwirkungen); b) ein beträchtlicher Zusatznutzen, bei einer deutlichen Verbesserung des therapierelevanten Nutzens gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (Abschwächung schwerwiegender Symptome, moderate Lebenszeitverlängerung, spürbare Linderung der Erkrankung, relevante Vermeidung schwerwiegender Nebenwirkungen, bedeutsame Vermeidung anderer Nebenwirkungen); c) geringer Zusatznutzen, wenn eine bisher nicht erreichte moderate und nicht nur geringfügige Verbesserung des therapierelevanten Nutzens im zweckmäßigen Therapie-Vergleich erreicht wird (Verringerung von nicht schwerwiegenden Symptomen, relevante Vermeidung von Nebenwirkungen); d) ein nicht quantifizierbarere Zusatznutzen (wissenschaftliche Datenlage lässt dies nicht zu); e) es liegt kein Zusatznutzen vor; f) der Nutzen ist geringer als der Nutzen der vergleichbaren zweckmäßigen Vergleichstherapie. (analog AM-Nutzen – Einzelnormen, http://www.gesetzte-im-internet.de/am-nutzenv/_5.html aufgerufen 30.12.2014) Die Garantenpflicht des Arztes verpflichtet zur Einhaltung der lex artis und das Vorliegen der wirksamen Einwilligung bei der Diagnose, der Therapieentscheidung und der Nachsorge. Dies ist bei einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit Technikern, Sozialberufen aus verschiedenen Sparten (Suchttherapie, Sozialarbeit, Ergotherapie, Krankengymnastik, Ethikberater) von praktischer Bedeutung, unter Berücksichtigung des Rechts des Patienten auf informationelle Selbstbestimmung und auf Wahrung der Privatsphäre bei der Einrichtung von Datenbanken im Rahmen von Multizenterstudien. 2. Die partizipative Behandlungsgestaltung Die Aufklärung muss demnach die Diagnose, die Behandlungsmöglichkeiten, einschließlich der alternativen Therapieoptionen, die Chancen und die Risiken in einer angemessenen Informationsmenge, verständlich und anschaulich transportieren, wobei der Kranke den Informationsfluss selbst bestimmen sollte. Die Rolle des Arztes trägt zu einer partizipativen Entscheidungssituation wesentlich bei, in der die Pluralisierung der Lebensstile und die Wertüberzeugungen zur Geltung kommen können, und insbesondere bei chronischen Erkrankungen die Bedeutung des Eingriffs für die individuelle Lebensgestaltung herausgearbeitet werden kann. (Wiesing, 2010) Die beiden Prinzipen Autonomie und Fürsorge müssen bei der Aufklärung, bei der nicht nur um das worüber aufgeklärt wird, sondern auch über das wie aufgeklärt wird, geht, gegeneinander abgewogen werden. Bei komplexen Eingriffen mit hohen Risiken und Nebenwirkungen, die unbeabsichtigt auftreten können, muss die Aufklärung besonders sorgfältig Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 107 gestaltet werden. „Gerechtfertigt ist ein Eingriff in eine Maßnahme oder deren Unterlassung dann, wenn sich eine Person durch deren nicht gewusste bzw. nicht beabsichtigte Folgen selbst schädigt.“ (Breitsamer, 2011, S. 67) Sowohl die Ziele, wie auch die Mittel, und die Werte des Patienten gilt es zu berücksichtigen, damit die Kranken (oder Stellvertreter) nicht nur wohl informiert sind, sondern auch eine wohlbegründete Entscheidung authentisch treffen können.(Breitsamer, 2011) In der Regel handelt es sich bei den schwer neuropsychiatrisch Kranken um nichteinwilligungsfähige Patienten, sodass die Einrichtung einer Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung zur Begleitung des diagnostischen und therapeutischen Entscheidungsprozesses, im besten Interesse der Kranken, zwingend erforderlich ist. Da es zu einem Persönlichkeitswechsel infolge einer THS kommen kann, gebietet es die Sorgfaltspflicht eine Vorsorgevollmacht abzufassen (mit den Angehörigen, Betreuer, Bevollmächtigten, BetrRÄG seit 01.09.09 in Kraft). Diese dient dem Schutz vor „unfreien Willensäußerungen“ nach einer Persönlichkeitsänderung (Manie, Sucht) zur Abwehr schädigender Folgen (Ulysses Pakt). (Vollmann, 2000) Die partizipative Entscheidungsfindung beinhaltet die Rollenklärung und die Formulierung der Gleichberechtigung der Partner (auf gleicher Augenhöhe), mit dem Angebot, eine partizipative Entscheidung für die medizinische Intervention zu finden. Hierzu sollte institutionell durch eine multidisziplinäre Expertenbeteiligung Sorge getragen werden. Weiterhin werden Aussagen über das Vorliegen verschiedener Therapieoptionen, unter deutlicher Relativierung der THS als „letzte Chance“, zu treffen sein. Die Informationen zu den Wahlmöglichkeiten beinhalten Aussagen zu den Vor- und Nachteilen evtl. mit Entscheidungshilfen. Zum Umgang mit Irrtumsmöglichkeiten und die Art der Aufklärung werden von Breitsamer detaillierte, praxisnahe Darstellungen vorgelegt. (ebd.,2011, S. 64ff) Dabei ist es wichtig wiederholt Rückmeldungen über das Verständnis und die Sicht der Kranken einzuholen. Hierbei sollten die Bedenken, Erwartungen, Vorinformationen und Präferenzen von beiden Seiten (Arzt und Patient) auf den Tisch kommen. Das Aushandeln sollte in einem fairen Miteinander, unter Berücksichtigung der situativen und medizinischen Vulnerabilität der Kranken, erfolgen. Die partizipative (gemeinsame) Entscheidung sollte schriftlich dokumentiert werden. Rechtlich ist eine Unterschrift unter eine formalisierte Einwilligung notwendig, aber nicht hinreichend, da die Sorgfaltspflicht ein Gespräch gebietet. (Wiesing, 2012) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 108 3. Zur kontextualiserten Bewertung der THS Unterstellt wird, dass eine Güterabwägung von Zwecken, Zielen und Mitteln für medizinische Handlungen mit Verfahren möglich ist, die nach allgemeinen Regeln eine Graduierung der Schutzansprüche (geboten, verboten, erlaubt) schwer kranker Menschen ermöglichen. Die allgemeinen Regeln werden von den ethischen Paradigmen (Tugendethik: Klugheit, Maßhalten, Tapferkeit, Gerechtigkeit; Verpflichtungsethik: nicht alles ist abwägbar; Nutzenethik: alle Zwecke sind abwägbar) vorgegeben, und situationsabhängig nach den medizinethischen Handlungskontexten rekonstruiert. Bei der THS werden in wachem Zustand Elektroden (ca 1,27 mm Durchmesser) durch die geöffnete Schädeldecke, assistiert durch bildgebende und neurophysiologische Verfahren, in anatomisch vernetzte Zielstrukturen platziert, die nach einer Eingewöhnungsphase elektrischer Stimulation ausgesetzt werden. Die individuelle Programmierung der Hirnstimulation erfolgt über einen externen Generator, der unter die Haut eingepflanzt wird. Die gezielte Modulation tief im Gehirn liegender vernetzter Hirnstrukturen wird an einem veränderten Funktionsmuster im Gehirn nachvollzogen, sowie an einem veränderten Bewegungsmuster, an verändertem Denken, Erleben und Empfinden, ablesbar. Die Gehirn – Modulation kann jederzeit angepasst und beendet werden, ist demnach reversibel. Die Regelungshoheit liegt bei dem Träger des THS – Systems, wobei die Programmierung und Revision nur durch den Arzt erfolgen kann. Bei einer Langzeitbehandlung ist eine Einpassung in die Lebensspanne anzustreben. Die Hybridisierungseffekte (Empfinden und Bewerten der Mitsteuerung der Person durch die THS, Fehlplatzierung der Elektroden, Ausbreitungseffekte der Stimulation im Gehirn) bedürfen einer sorgfältigen interdisziplinären Erfassung und Bewertung, unter Beachtung der personalen Identität. Mit der Stimulation wird eine symptomatische Wirkung erzielt. Auf den ursprünglichen Krankheitsverlauf hat die THS keinen Einfluss. Der Wirkmechanismus der THS ist nicht bekannt. Arbeitshypothesen zu den pathophysiologischen Grundlagen und Wirkmechanismen liegen auf dem Niveau der funktionellen neuronalen Netzwerkkonzeption und daran beteiligter Neurotransmittersysteme. Der Einsatz der THS erfolgt bei schweren neuropsychiatrischen Erkrankungen nach zumutbarer Ausschöpfung der zweckmäßigen Standardtherapien. Es lassen sich keine triftigen Gründe dafür finden, die THS unter den derzeitig vorhandenen technischen und fachärztlichen Einsatzmöglichkeiten, zu verbieten. Vielmehr geht es darum, die Grenzen der THS, die spezifischen Risiken und die zu erwartenden und nicht vorhersehbaren Nebenwirkungen, insbesondere die Risiken und Chancen für Lebensqualität und die der sozialen Teilhabe, in die Entscheidungsfindungsprozesse mit einzubeziehen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 109 3.1 Die ethischen Richtlinien zur innovativen THS - Forschung Die Ethischen Richtlinien zur klinischen Forschung mit der THS werden im Überblick bei Schermer (2011), Woopen (2012), Witt (2013), dargestellt, wobei auf die THS als innovative Therapieoption bei psychiatrischen Krankheiten und bei deren Erweiterung auf „leichtere neurologische Erkrankungen“ besonders eingegangen wird. A: Schutz der Studieneilnehmer: Forschungsziel ist die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Zur Gewährleistung der Kontrolle über das Studiendesign und zur Einbindung der Patienten auf Augenhöhe ist ein multidisziplinäres Expertenteam erforderlich. Langzeitige Nachsorge muss gewährleistet sein Strikte Beachtung von Einschlusskriterien B: Schutz der Autonomie der Studienteilnehmer Kompetenz – Assesssment Nachweis wirksamer Einwilligungen unter Beachtung der Vulnerabilität Regularien zum Schutz der Privatsphähre der Studienteilnehmer Keine unfairen Anreize zur Studienteilnahme Achtung des Schutzes vor Ausbeutung des Altruismus C: Forschungsqualitätsmanagement Mit der THS erfahrene Studienorte Unabhängige Begutachtung der Studienprotokolle Gewährleistung einer Langzeitnachsorge Nachvollziehbare Outcome – Messungen: Lebensqualität, psychosoziale Parameter; sensitive, reliable, valide Bestimmung von Persönlichkeitsmerkmalen und von neuropsychologischen Merkmalen Langzeitmessungen (>48 Monate) zur Erfassung von Hybridisierungseffekten Erfassung der Nebenwirkungen (intraoperativ, stimulationsbedingt) und Wechselwirkungen mit vergleichbaren zweckmäßigen Therapien Einbindung rechtlicher und ethischer Beratung der Studienteilnehmer und der Studienleitung D: Transparenz Nachvollziehbare Rekrutierung der einzelnen Studienteilnehmer Darlegung von Interessenkonflikten und Interessen Intraoperative Trennung von Forschungsinteresse und therapeutischem Vorgehen muss nachvollziehbar sein Verbot von Schein – THS - Operationen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 110 Schutz der informationellen Freiheit der Studienteilnehmer (Unantastbarkeit der Selbstbestimmung über die persönlichen Daten) bei der Einrichtung von Studienregistern E: Nutzen für spätere Patienten Alle Heilversuche müssen in klinische Studien inkludiert werden Vergleichbarkeit der Studiendesigns sollte hergestellt werden F: Schutzbarrieren für vulnerable Patientengruppen Ausschluss von Heimbewohnern, Gefängnisinsassen, Minderjährigen, Langzeitbehandelten in Kliniken, Ausschluss von schweren Hirnatrophien. 3.2 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS im therapeutischen Kontext 3.2.1 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS beim M. Parkinson (iPS) Nach den vorliegenden Studien kann der THS ein beträchtlicher Zusatznutzen beim fortgeschrittenen idiopathischen Morbus Parkinson als potente Behandlungsmethode bei Fluktuationen, Dyskinesien, Tremor, auf die Bewegungsverbesserung und die Lebensqualität, zugesprochen werden. Zu den alternativen Behandlungsmethoden in dem fortgeschrittenen Stadium des iPS (Duodopapumpe, Apomorphinpumpe) sind eingehende Informationen mit Risiken und Nebenwirkungen, sowie Vorteilen (kann von Angehörigen und Pflegepersonal oder selbständig appliziert werden) darzulegen. Das biologische Alter sollte nicht über 70 Jahre liegen (Beachtung der Plastizität). Bildgebende Verfahren (NMR, PET, CCT) sind präoperativ und postoperativ obligat. Fortgeschrittene Hirnatrophie als Kontraindikation. Es sollte eine partizipative Behandlungsplanung (Angehörige, medizinisches Fachpersonal) angestrebt werden. Die Erstellung einer Vorausverfügung (Odysseus Pakt) im Hinblick auf nicht vorhersehbare personale Änderungen (Manie, Impulskontrollstörung, Depression), mögliche Verschlimmerungen der Erkrankung mit einer höherstufigen Pflegebedürftigkeit, sollten berücksichtigt werden, und bei einer eingeschränkten oder Einwilligungsunfähigkeit eine Pflegschaft mit dem Wirkungsbereich der Gesundheitsfürsorge eingerichtet werden. Die Risiken der THS sind eingehend darzulegen und Vorinformationen (Medien, Internet) berücksichtigt werden um realistische Erwartungen zu erarbeiten. Die THS ist beim idiopathischen Morbus Parkinson als ultima ratio den Kranken und den caregivers vorzustellen. Wegen der postoperativen psychosozialen Anpassungsstörungen und der psychiatrischen Nebenwirkungen ist die Auswahl der Patienten sorgfältig zu treffen. Anamnestisch bekannte Suizidversuche, schwere depressive Episoden, bipolare Störungen sind Ausschlusskriterien. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 111 Mit Narrationen (Erfassung des Wertesystems) und psychologischen Testverfahren in der voroperativen Phase soll die Authentizität der Lebensführung, und die spezifischen Persönlichkeitsmerkmale erfasst werden. Die Erfassung der Lebensqualität ist obligat. Morphometrische und funktionelle Bildgebung des Gehirns ist vor und nach dem Eingriff zur Zielortbestimmung und Folgenabschätzung, sowie zur Therapieziel-bestimmung durchzuführen. Ein eingehendes neuropsychologisches Assessment sollte zur Erfassung der Kognition und der Emotionalität erfolgen. Der im wachen Zustand durchgeführte neurochirurgische Eingriff sollte wiederholte Prüfungen zum informed consent vorsehen. Intraoperatives Mapping sollte mit Abgrenzung von therapeutischem, innovativem/forschungsbedingtem Interesse vor der Operation festgelegt werden. Die Anzahl und der Ort der eingepflanzten Elektroden sollte vorher festgelegt werden, eine Minimalisierung ist anzustreben, da die Komplikationsrate (Blutungen, Infektionen) mit der Anzahl der implantierten Elektroden signifikant ansteigt, und die Nebenwirkungen von der Lokalisation abhängt. Eine aktive interdisziplinäre Nachsorge (mindestens 24 Monate) mit festen Konsultationsintervallen in der neurochirurgischen Klinik (THS-SystemTechnikprüfung, bildgebende Verfahren) mit einer psychiatrischen/psychologischen Konsultation (Partnerschaftssituation aktiv ansprechen) sollte verpflichtend sein. Notfallkonsultationen sind voraus zu indizieren mit konkreten Verhaltensaufforderungen. Die Aufnahme in ein Studienregister ist zu empfehlen. Ab Elektrodenimplantation bestimmt der/die Kranke das Abschalten/Aufrechterhalten der THS (off/on-Phasen). Beachtung der Revidierbarkeit: Der Kranke schädigt andere oder sich selbst. Therapieziel konnte nicht erreicht werden; Schaden überwiegt signifikant die Vorteile. Es wird entsprechend der Vorausverfügung verfahren oder eine Pflegschaft (Vormundschaftsgericht) eingerichtet falls keine Entscheidung möglich ist. 3.2.2 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS beim Tourette Syndrom Bei der Behandlung des TS kann ein quantifizierbarerer Zusatznutzen mit der THS nicht angegeben werden. Die THS wird an einem anatomisch nicht veränderten (normalen) Gehirn vorgenommen. Die Schwere der Erkrankung ist nicht standardisiert festzulegen. Häufigkeit und Intensität der Symptome, sowie Stigmatisierung und Defiziten der sozialen Teilhabe mit Lebensqualitätsdefiziten, Beeinträchtigungen der Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 112 selbständigen Lebensführung, sind zu bestimmen. Die Erfassung der personalen Identität vor dem Krankheitsbeginn ist meistens nicht hinreichend möglich. Die medikamentösen Behandlungsalternativen haben teilweise schwere Nebenwirkungen, und sind nicht grundsätzlich zumutbar (Klärung der Therapieresistenz). Die neuronale Netzwerkbestimmung, die THS Zielorte, sind für das TS strittig. Eine hohe Komorbiditätsrate (Zwang, Depression, Angst, Autoaggression) mit psychiatrischen Erkrankungen ist die Regel, eine Mitbehandlung ist anzustreben. Prognostische Aussagen zum Verlauf bis zur späten Pubertät sind nur vage zu treffen. Die Durchführung eines Therapiealgorithmus mit Psychoedukation, Verhaltenstherapie, zumutbarer Psychopharmaka Behandlung, Selbsthilfeteilnahme, ist vor einer THS zumutbar. Bei schwerer therapierefraktärer TS Krankheit ist die partizipative Behandlungsplanung in einem multidisziplinären Behandlungsteam mit Therapie - Erfahrung obligat. Videodokumentation der Störung vor und nach dem THS Eingriff ist zu empfehlen. Stimulationsbedingte Nebenwirkungen mit Müdigkeit, Energieverlust und Schwindel, Sehstörungen, sind darzulegen. Die Aufnahme in ein Studienregister ist zu empfehlen. Intraoperatives Mapping, Ausweitung der Zielorte (Komorbidität mit Zwang) vorauszuplanen, einschließlich intraoperativem Stopp zum informed consent rating. Eine Langzeit - Nachsorge (meist junge Patienten) ist obligat wegen der Gewebe-Elektroden-Interaktion, einer komplexen Neurorehabilitation zur Ermöglichung einer selbständigen Lebensführung. Ab Elektrodenimplantation bestimmt der/die Kranke das Abschalten/Aufrechterhalten der THS (off/on-Phasen). Beachtung der Revidierbarkeit: Der Kranke schädigt andere oder sich selbst. Das Therapiezil wurde nicht erreicht. Es wird entsprechend der Vorausverfügung verfahren oder eine Pflegschaft (Vormundschaftsgericht) eingerichtet falls keine Entscheidung möglich ist. Die Richtlinien wie unter 3.1. dargestellt sind zu beachten. 3.2.3 Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei der schweren Zwangserkrankung (OCD) Zur Behandlung von Zwangsstörungen stehen effektive Behandlungsoptionen (Medikation, Verhaltenstherapie) zur Verfügung, deren neurobiologische Zielstrukturen zu einem besseren Verständnis der pathophysiologischen Veränderungen beigetragen haben. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 113 Trotzdem dauert es im Durchschnitt mehr als 10 Jahren bis eine zweckmäßige Therapie aufgenommen wird. Dazu tragen einerseits krankheitsbedingte Abwehr (Scham, Zweifel) und Diskriminierungsbefürchtungen bei, andererseits ist die Unkenntnis der Ärzte und die ungenügende Versorgung mit ausgebildeten Verhaltenstherapeuten zu beklagen. Die globale Effektivität einer kombinierten Behandlung von Zwangserkrankungen mit Medikation (SSRI) und Verhaltensexposition von 70-80% bei einer Standardtherapie wird somit nur von relativ wenigen Kranken erreicht. Die Behandlungsdauer von mindestens 12-24 Monaten, die Einbindung der Angehörigen in die Zwangsrituale, tragen meistens zu einer insuffizienten Behandlung bei. Die Bestimmung der Therapieresistenz muss deshalb die individuelle Belastung und die Belastung der Angehörigen, sowie die Einschränkungen der sozialen Teilhabe (ICF) mit einbeziehen. Seit knapp 20 Jahren wird die TSH bei schwersten Krankheitsstadien der OCD mit einer Responserate von fast 40% mit beträchtlichem Zusatznutzen (seit 2009 europäische Zulassung) als innovative Methode eingesetzt. Die routinemäßige Implementierung der THS bei neuropsychiatrischen Erkrankungen sollte in dem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem, neben einer technischen Sicherheitsprüfung, die Hinzuziehung einer multidisziplinären Expertenkommission (bei der Indikationsstellung und der Verlaufskontrolle), mit der Begutachtung durch unabhängige Fachvertreter, analog der Richtlinienpsychotherapie, zur obligaten Voraussetzung machen. Die THS wird an einem anatomisch nicht veränderten (normalen) Gehirn vorgenommen. Therapieziel ist die Verbesserung der sozialen Teilhabe (ICF) und die Ermöglichung einer selbstbestimmten Lebensplanung, neben einer Reduzierung der Symptomatik. Der meist langjährige Verlust einer selbstbestimmten Lebensführung durch die Zwänge, die Stigmatisierung und Diskriminierung, erfordert eine partizipative Behandlungsplanung. Eine individuelle Therapiezielbestimmung ist geboten, da der Stimulationsort verfehlt werden kann und unbeabsichtigte Wirkungen induziert werden können. Vor und nach einer THS und im weiteren Verlauf der Nachsorge sind PET Untersuchen, CCT–Kontrollen, nach einem festen Zeitplan, und im Notfall, einzuplanen. Transiente neurologische Nebenwirkungen durch Blutungen, Infektionen mit einem Halbseitensyndrom, sowie Wesenänderungen mit Apathie (Manie), lassen sich nicht individuell vorhersagen, sind Bestandteil der Aufklärung. Die Aufnahme in ein Studienregister ist zu empfehlen. Intraoperatives Mapping, Ausweitung der Zielorte (Komorbidität mit Zwang) ist vorauszuplanen, einschließlich intraoperativen Stopps zum informed consent rating. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 114 Eine Langzeit - Nachsorge ist wegen der Ausbreitungseffekte der Dauerstimulation, und der Förderung der selbständigen Lebensführung, bei veränderten Beziehungsstrukturen, obligat. Ab Elektrodenimplantation bestimmt der/die Kranke das Abschalten/Aufrechterhalten der THS (off/on-Phasen). Beachtung der Revidierbarkeit: Der Kranke schädigt andere oder sich selbst. Es wird entsprechend der Vorausverfügung verfahren oder eine Pflegschaft (Vormundschaftsgericht) eingerichtet falls keine Entscheidung möglich ist. Therapiezielverfehlung und Revision der THS. Hierzu diskutiert Schermer (2013) die Problematik von Gesundheitskonzeptionen und dem Human Enhancement (Schöne.-Seifert, 2009)am Beispiel einer schweren Zwangsbehandlung mit THS (Humanitarian Device Exemption program) bei der es zu einem dissoziativen Erleben (Parathymie) von „Glücksgefühl“ ohne Veränderung der Zwangssymptomatik gekommen ist. Der behandelnde Psychiater hat zum Entfernen der Elektroden geraten, dem die Patientin nicht zugestimmt hat („To treat, not to Enhance“). Schermer diskutiert ob das induzierte Glücksgefühl, da es nicht stimmig mit der Lebenswelt der Patientin ist, und ein Induktionseffekt der THS ist, nicht als autonome Entscheidung zu bewerten ist. Andererseits wird das Argument angeführt, dass die Entscheidung der Kranken für den veränderten Persönlichkeitszug unter rationaler Abwägung zu deren Genese und den Konsequenzen für die weitere Lebensführung durchaus als autonom und authentisch bewertet werden könnte. Letztlich ist es die Frage ob der behandelnde Arzt bereit ist die Entscheidung dafür mit zu übernehmen, oder ob er sich entsprechend seinem ärztlichen Auftrag anders entscheidet.80(Schermer, 2013) Die Richtlinien wie unter 3.1. dargestellt sind zu beachten. 3.2.4 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei therapieresistenten depressiven Erkrankungen Bei depressiven Erkrankungen stehen die Behandlungsalgorithmen in Form von nationalen Versorgungsleitlinien, einschließlich der schweren Verlaufsformen, als psychosoziale multidisziplinäre Intervention zur Verfügung. Die Versorgungsstrukturen und die Kenntnis diagnostischer und therapeutischer Behandlungsoptionen werden nur von knapp der Hälfte der Kranken zweckmäßig (leitliniengerecht) wahrgenommen. 80 Moreover, the goals of medicine do not function as a static set of aims and limits, but as a normative framework for discussing what we as a society want and expect doctors to do ... but there are some good reasons for limiting the kind of things doctors are required or allowed to do. Zhese include moral reasons such as the best interest of the patient, and justice with regard to the use of scarce medical resources, but also more pragmatic reasons such as the limits of medical knowledge and expertise.“(Schermer,2013,S.444) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 115 Die Bestimmung der Therapieresistenz richtet sich somit nach den zumutbaren Interventionsangeboten in der Region und muss individuell erfolgen. Die depressive Erkrankung sollte mindestens 2 Jahre als schwere Form anhalten, und eine EKT (falls akzeptiert) ohne Effekt durchgeführt worden sein. Die THS wird an einem anatomisch nicht veränderten (normalen) Gehirn vorgenommen. Ein positiver Effekt wurde zufällig bei der Anwendung der THS gefunden. Bei der Bestimmung der Therapieziele ist die partizipative Behandlungsplanung (multidisziplinär) obligat um die selbstbestimmte Kontrolle über jeden Therapieabschnitt für die Kranken zu garantieren. Dem Druck nach Anpassung des Kranken an „vorgegebene Verhaltensnormen“ (Familie, Klinik, Heim) muss besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, insbesondere ist auf die Förderung einer autonomen Lebensführung mit authentischen Präferenzstrukturen zu achten. Bei Therapieresistenz ist der Einsatz der THS mit den Kranken und den caregivers als ultima ratio zu besprechen. Therapieziel bei therapieresistenten depressiven Erkrankungen ist die Förderung der selbstbestimmten Lebensführung (Ermöglichung einer personalen Identität), und die Förderung der sozialen Teilhabe (ICF), sowie eine signifikante Reduzierung der Kardinalsymptome (Antrieb, Interesse, Stimmung). Die Orientierung an den Präferenzen und Werten der Kranken sollte bei der Graduierung der Autonomie und der Authentizität normativ bestimmend sein, was nur in einem interdisziplinären Expertenteam erreicht werden kann. Die Bildgebung (fNMRI, PET Kontrollen) soll bei der Therapiezielklärung die anteriore cinguläre Cortexfunktion (Verbesserung der Selbstkontrolle) berücksichtigen. (Schenhav, 2013) Entscheidungs-fähigkeit als Basis der Kompetenz zu einer gültigen Einwilligung ist als Therapieziel voran zu stellen. Bei der Langzeitnachsorge steht die nachreifende Entwicklung der Persönlichkeit, das empowerment zur sozialen Teilhabe, im Vordergrund, so dass ein Zeitraum von 2 – 5 Jahren einzuplanen ist. Die Aufnahme in ein Studienregister ist zu empfehlen. Ein intraoperatives Mapping, eine Ausweitung der Zielorte (Komorbidität mit Zwang, Beeinflussung der Kognition) ist vorauszuplanen, einschließlich intraoperativem Stopp zum informed consent rating. Vor und nach einer THS und im weiteren Verlauf der Nachsorge sind PET Kontrollen, CCT Kontrollen, ggf. fNMRI, nach einem festen Zeitplan, und im Notfall, einzuplanen. Eine Langzeit - Nachsorge ist wegen der Ausbreitungseffekte bei der Dauerstimulation, wegen der Förderung der selbstbestimmten Lebensführung, bei veränderten sozialen Beziehungsstrukturen, obligat. Ab Elektrodenimplantation bestimmt der/die Kranke das Abschalten/Aufrechterhalten der THS (off/on-Phasen). Beachtung: Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 116 Der Kranke schädigt andere oder sich selbst. Es wird entsprechend der Vorausverfügung verfahren oder eine Pflegschaft (Vormundschaftsgericht) eingerichtet falls keine Entscheidung (mutmaßlicher Wille) möglich ist. Bei einer Indikationsausweitung auf leichtere depressive Syndrome sind die Ziele und Risiken eines Neuroenhancements gegenüber therapeutischen Zielen zur Gesundheitsverbesserung, unter Berücksich-tigung des ärztlichen Ethos der Behandler, abzuwägen. Die Richtlinien wie unter 3.1. dargestellt sind zu beachten. 3.2.5 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei Abhängigkeitserkrankungen Erkrankungen (SUD) Bei langjähriger Substanzabhängigkeit kommt es zu einer funktionellen Veränderung der Gehirnfunktionen mit einer Einengung der Lebensführung (Verlust der Steuerungsfähigkeit) und einem Verlust der sozialen Teilhabe. Der Beginn der Abhängigkeit liegt regelmäßig in frühen Lebensspannen (Pubertät), wobei die individuelle Gesamtbehandlungsplanung eine suchtherapeutische Konzeption (Motivationsphase, Therapiephase, Adaptionsphase, Rehabilitationsphase) beinhaltet, und sozialmedizinisch (gesundheitspolitisch) von einer Präventionshaltung getragen werden muss. Eine positive Wirkung auf die Substanzabhängigkeit wurde zufällig festgestellt (Alkohol, Tabak) wobei eine längere Latenzzeit bis zur Änderung der Sucht. Eine Sucht-Therapie, die auf motivationsfördernde Interventionen verzichtet stellt eine besondere ethische Herausforderung dar, da die Beachtung volitionaler Anteile anders bewertet werden muss (Birbaumer, 2014), und die Selbststeuerung nicht bewusst in einem authentischen Lebensplan (Präferenzstruktur) erfolgt. Von Glannon werden keine theoretischen Probleme darin gesehen ob die Steuerung durch eine THS unbewußt erfolgt oder durch einen bewussten Akteur. (Glannon, 2014) Hierzu wird bei der Diskussion zum pharmakologischen Neuroenhancement von Kipke u.a. (2010) vermerkt, dass „die abrupte Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen durch Neuroenhancement, die biographische Kohärenz zu beschädigen (droht), die bei allmählichen Selbstformungsprozessen eher gewahrt bleibt. Schließlich verhindert die pharmakologische Stärkung von Eigenschaften die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, die bei der mentalen Arbeit an sich selbst in besonderem Maße auftritt.“(ebd.,S.4) Die für pharmakologisches Neuroenhancement angeführten ethischen Argumente lassen sich problemlos auf die THS Einwirkungen bei Substanzabhängigkeit übertragen. Bei einer Unbestimmtheit des Akteurs verstärkt sich die Gefahr einer Anpassung an externe Verhaltensnormen, so dass eine multidisziplinäre Expertenkommission wiederholt die Erlebens,- und Verhaltensänderungen Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 117 begutachten sollte. „Es sind empirisch überprüfbare Kriterien dafür zu entwickeln, wann der Patient als autonom anzusehen ist und wann nicht.“(Breitsamer,2011,S. 74) Wegen der Gefahr der Kontrolle durch gesundheitspolitische (juristische) Instanzen mit externen Therapiezielen (Anpassung, Anreiz zur Strafmilderung) verbietet sich der Einsatz der THS bei Gefängnisinsassen (Forensische Kliniken).81 Völlig offen ist bisher der Zeitpunkt der Indikationsstellung (Krankheitsschwere, Folgekrankheiten) für eine THS. Die zu stimulierenden Zielstrukturen sind strittig. Die notwendige Dauer der Stimulation zur Veränderung suchtrelevanter Erlebens,- Verhaltensmerkmale ist ungeklärt. Die Aufrechterhaltung einer medikamentösen Begleittherapie ist ungeklärt. Langjährige Substanz-Abhängigkeitserkrankungen induzieren regelmäßig morphologische Hirnveränderungen und redzieren die Plastizität der Hirnfunktion. Die Auswirkung der Veränderungen auf die Effektivität der THS ist ungeklärt. Therapiezielbestimmungen sind in einem Gesamtbehandlungsplan individuell und substanzspezifisch festzulegen. Eine nicht durch Drogen bestimmte Lebensgestaltung ist anzustreben. Die Förderung einer selbstbestimmten Lebensführung (Ermöglichung einer personalen Identität), und die Förderung der sozialen Teilhabe (ICF), sowie eine signifikante Reduzierung der psychologischen Suchtmerkmale ist anzustreben. Die Orientierung an den Präferenzen und Werten der Kranken sollte bei der Graduierung der Autonomie und der Authentizität normativ bestimmend sein. Bei der Langzeitnachsorge steht die nachreifende Entwicklung der Persönlichkeit, das empowerment zur sozialen Teilhabe im Vordergrund, so dass ein Zeitraum von mindestens 5 Jahren einzuplanen ist. Die Aufnahme in ein Studienregister ist zu empfehlen. Ein intraoperatives Mapping, eine Ausweitung der Zielorte (Komorbidität mit Zwang, Beeinflussung der Kognition) ist vorauszuplanen, einschließlich intraoperativen Stopps zum informed consent rating. Vor und nach einer THS und im weiteren Verlauf der Nachsorge sind PET Untersuchen, CCT–Kontrollen, nach einem festen Zeitplan, und im Notfall, einzuplanen. Nach der Elektrodenimplantation sollte der/die Kranke das Abschalten/Aufrechterhalten der THS (off/on-Phasen) bis zur Konsolidierungsphase (ca einem Jahr) in Abstimmung mit mindestens zwei nichtoperativ tätigen Experten zu festgelegten Zeitpunkten, abstimmen; es sei denn es ist eine neurochirurgisch bedingte und zu klärende Komplikation zu beachten. Beachtung der Reversibilität: Der Kranke schädigt andere oder sich selbst. Es wird entsprechend der Vorausverfügung verfahren oder eine Pflegschaft (Vormundschaftsgericht) eingerichtet falls keine Entscheidung möglich ist. 81 Siehe auch die Diskussion zur Therapie psychopathischer Persönlichkeiten mit neurotherapeutischen Interventionen bei Birbaumer,N, Zittlau,J Dein Gehirn weiss mehr, als du denkst. Neuste Erkenntnisse aus der Gehirnforschung. Ullstein Buchverlage, Berlin, 2014 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 118 Die Richtlinien wie unter 3.1. dargestellt sind zu beachten. 3.2.6 Die Umsetzung ethischer Leitlinien zur THS bei Morbus Alzheimer Demenzielle Erkrankungen bedrohen die Rationalität und die Unabhängigkeit von Menschen und stellen uns vor spezielle Herausforderungen für die Bewertung der Lebensqualität. Mit einem verlängerten Leben erhöht sich die Wahrscheinlichkeit an Morbus Alzheimer zu erkranken. Die Hoffnungen der molekularen Genetik und der Medikation haben sich nicht erfüllt um notwendige Hilfen zur Bewältigung der Krankheitslasten zu verbessern. Der Verbesserung der Pflege von Demenzkranken gilt somit die erste gesundheitspolitische Priorität. Ethische Herausforderungen ergeben sich entsprechend der Schwere der Demenz für die klinische Forschung und die Therapie, unter Berücksichtigung der Prinzipen der Autonomie, der Fürsorge, des NichtSchadens, und der Gerechtigkeit (Fairness bei gesundheitspolitischen Entscheidungen). Kasuistische und narrativ ethische Konzeptionen müssen ergänzend berücksichtigt werden um der Komplexität der medizinethischen Aufgabe gerecht werden zu können. (Whitehouse, 2000) Die Diagnose Aufklärung von Menschen mit einer „leichten kognitiven Funktionsstörung“ (ICD-10:F06.7) (Mild Cognitive Impairment, MCI) bedarf besonderer Sorgfalt wenn prädiktive Tests eingeschlossen werden sollen. Die psychologischen Testverfahren ergeben in diesem Stadium normale Werte, ein subjektiver Leidensdruck ist bestimmend. Ausschluss der autosomal dominanten Form der Erkrankung (Mutationen der Chromosomen 1,14,21), Testung mit apo E, und die Bildgebung (Hippocampus- NMR, PET-Amyloid). Die Übermittlung der Information und die sich hieraus ergebenden psycho-sozialen (Suizidalität, Diskriminierung, kulturspezifische Informationsübermittlung, familiäre Belastungen) Handlungsspezifitäten sind individuell im Dialog zu bedenken. Ebenso ist die Frage einer Prävention (Vitamin E, Nonsteroidale Antientzündliche Medikamente, Neuroenhancement–Medikation) zu besprechen. Die Einrichtung einer Vorsorgevollmacht, eines Patiententestaments, die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe sind zu bedenken. Standardtherapien für die MCI gibt es nicht. Einschränkungen der Kompetenz für eine wirksame Einwilligung sind in diesem Stadium nicht zu begründen. Wegen der Unsicherheit der Prognose, dem Risiko eines neurochirurgischen Eingriffs, sowie fehlender neuronaler Konzepte und fehlendem Rationale für eine neuronale Stimulierungsindikation, lässt sich die THS in diesem Stadium (MCI) nicht rechtfertigen. Das Konsensuspapier europäischer und amerikanischer Medizinethiker fasst die Herausforderungen für die zukünftige öffentliche Debatte in Form von Schlüsselfragen für die „late onset Alzheimer´s Forschung“ nach Stadien der Erkrankung zusammen. (Schicktanz, 2014) Dazu wird in dem folgenden Kapitel ausführlicher Stellung bezogen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 119 Bei der Auseinandersetzung mit den ethischen und psychiatrischen Implikationen des „Hirn-Doping“,(„Cognitiven Enhancement“, „Brainbuster“) (Galert, 2009, Soyka, 2009, Hinterhuber, 2010) wird von Galert,T u.a. (2009) argumentiert, dass dies „im Sinne eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mitteln“ zu rechtfertigen ist. Aus suchtmedizinischer und psychiatrischer Sicht wird angeführt, dass einige der Substanzen nicht die „Denkleistung“ steigern, sondern „zu einer Überschätzung der kognitiven Fähigkeiten“ führen. (Soyka, 2009) Kipke u.a. (2010) weisen in diesem Zusammenhang auf das revidierte neurobiologische Suchtkonzept hin, und problematisieren die Abhängigkeitsgefährdung aus psychiatrischer und ethischer Sicht. Es stellt sich unter anderem auch die Frage, “warum das Sport-Doping weiterhin verboten bleibt, während das „Hirn-Doping“ unter dem Namen „Cognitives Enhancement“ oder „Brainbuster“ liberalisiert werden sollte,“ zumal suchtmedizinische Risiken und Fragen zur Chancengleichheit die öffentliche Debatte zu wenig berührt haben. (Hinterhuber,2010,S.277) Fragen zum Neuroenhancement sind somit weiterhin strittig. (Kipke, 2010) Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Risiken einer THS zum Neuroinhancement sicher noch zu riskant, wobei zukünftige technische Entwicklungen mit neurophysiologischen Minimalisierungstechniken und Nanostrukturen („Elektoceuticals“) neue Herausforderungen in diesem Bereich erwarten lassen. Im moderaten (mittleren) Stadium einer Demenzerkrankung ist bei der Diagnose Aufklärung sorgfältig die Frage zu klären ob die Kompetenz zur wirksamen Einwilligung eingeschränkt oder aufgehoben ist (hypothetische Vignetten). Die psychologischen Tests und die Alltagsbewältigung lassen signifikante Defizite konstant nachweisen. Bildgebende Verfahren sind signifikant verändert. Die für dieses Demenzstadium zugelassenen Medikamente (Donepezin als Referenz) sind mit vertretbaren Nebenwirkungen verbunden, müssen individuell indiziert werden, haben nur geringen Nutzen. Therapieziel ist der Erhalt und die Förderung sowie die Rehabilitation der Selbstständigkeit, die Verhinderung von schädigenden Handlungen, die Stabilisierung der Lebensqualität. Im moderaten Stadium stellen sich komplexe ethische Herausforderungen der Teilnahme an klinischer Forschung, sodass die Beteiligung einer klinischen Ethikkomission beratend notwendig ist. Die Entnahme von Blut und die molekulargenetische Analyse, die Bildgebung, die Teilnahme an riskanten invasiven Eingriffen (THS) betreffen das Recht auf Privatheit, auf informationelle Selbstbestimmung, den Schutz vor Ausbeutung des Altruismus, die Forschungsfreiheit und das Recht auf Schutz der Autonomie und den Anspruch auf eine menschenwürdige Teilhabe (Wohnung, Ernährung, Kommunikation, Pflege, Therapie). Ein intraoperatives Mapping, eine Ausweitung der Zielorte (Komorbidität mit Zwang, Beeinflussung der Kognition) ist vorauszuplanen, einschließlich intraoperativen Stopps zum informed consent rating (Stellvertreterentscheidung berücksichtigen). Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 120 Vor und nach einer THS und im weiteren Verlauf der Nachsorge sind PET Untersuchen, CCT–Kontrollen, psychologische Testungen, nach einem festen Zeitplan, und im Notfall, einzuplanen. Beachtung der Reversibilität: Die Krankheit verschlechtert sich signifikant. Der Kranke schädigt andere oder sich selbst. Es wird entsprechend der Vorausverfügung verfahren oder eine Pflegschaft (Vormundschaftsgericht) eingerichtet falls keine Entscheidung möglich ist. Die Richtlinien wie unter 3.1. dargestellt sind zu beachten. Im schweren (end-stage) Stadium der Demenz werden die ethischen Herausforderungen der Langzeitpflege, der Behandlung von Akutkrankheiten (Familien, -Gemeindezentriert), dem Anspruch auf solidarische Finanzierung von Wohnung und Pflegeassistenz zur Geltung zu verhelfen, die Regelung von Sterbehilfe, vorrangig. Die Durchführung einer THS ist (aufgehobene Plastizität) schweren und individuell beurteilt im moderaten Demenzkrankenstadium verboten. 3.2.7 Die Schutzpflichten gegenüber den Neuropsychiatrisch Kranken: Zur Public Health Ethik - Geht es gerecht zu? Als Bereich der angewandten Ethik ist die Public Health Ethik mit dem Gegenstand der Gesundheit von Bevölkerungsgruppen, insbesondere vulnerablen Personengruppen befasst. In der Ottawa Charta der WHO zur Gesundheitsförderung (1986) wurde bereits die „Bedeutung der Gesundheit für Wohlergehen, Selbstbestimmung und Chancengleichheit der Menschen“ betont, und dass „die Verantwortung für Gesundheitsförderung nicht nur beim Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen“ liegt. (Wiesing,2012,S.509) Die ethischen Konzeptionen und die Rahmenbedingungen der Public Health Ethik werden von Petrini (2010) überblickartig dargestellt. Er definiert die Zukunft des Public health Konzepts „in which public health is defined as „what we, as a society, do collectively to assure the conditions for people to be healthy.“(ebd., S.189) Es wird auf den Public Health Code of Ethics (American Public Health Association, Euro Public Health Ethic Network) Bezug genommen und die hieraus entwickelten zwölf Prinzipien dargestellt, insbesondere die „lighthouse values“ nach Raymond Massé aufgelistet als: „respect for life, beneficience, the common good, responsibility, solidarity, nonmaleficience, autonomy, privacy, utility, and precaution,“ welche die Grundlage einer Legalisierung des Public Health Ansatzes ermöglichen. (Petrini, 2010) Das biopsychosoziale Gesundheitskonzept betont die Bedeutung von sozialen Gesundheitsbedingungen und die Vulnerabilitäten von denjenigen, die Diskriminierung und Stigmatisierung in verstärktem Ausmaß erfahren. Wenn Gesundheit die „Grundvoraussetzung für die Verwirklichung von Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 121 Lebenszielen und damit für eine Chancengleichheit in der Gesellschaft“ bedeutet, (Wiesinger,2012,S.511) dann ist es aus sozialstaatlichen Grundsätzen geboten den Zugang zur medizinischen Versorgung ohne diskriminierende Einschränkungen allgemein zu gewährleisten. Die einschlägigen WHO Studien weisen bei den chronischen neuropsychiatrischen Erkrankungen (NMSD) auf eine hohe Vulnerabilität hin, und dass diese bei der Allokation von Gesundheitsausgaben unverhältnismäßig geringe Beachtung erfahren. Während primärpräventive Maßnahmen hier nicht zur Diskussion stehen (Frühförderung der Selbstwirksamkeit, Konfliktverarbeitung, Stress-bewältigung) werden den somatischen Behandlungsverfahren (kurative Medizin) ein nicht zu rechtfertigendes Gewicht beigemessen. Der soziale Gradient bei der Morbidität (Krankenlast) und Mortalität (Depression als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Substanzabhängigkeit und Kriminalität), der schichtenspezifisch graduierte Zugang zu den Versorgungsstrukturen stellen überzeugende gerechtigkeitsethische Argumente für eine Verbesserung der Ermöglichung des Zugangs für neuropsychiatrische Standardtherapien dar. Die solidarische Finanzierung von sozialpsychiatrischen Interventionen mit einer kohärenten Einbindung der individuellen Lebensplanungen in institutionelle Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung und Verarmung (Wohnung, Grundfinanzierung, Zugang zu medizinischer Versorgung, soziale Kommunikation) schwer Kranker ist in einem Sozialstaat zum Schutz der Menschenwürde nicht verhandelbar. Wenn in Deutschland Depressionen nur in ca 50-60% eine Leitlinientherapie erhalten, wenn es bei Zwangskranken bis 10 Jahre und länger dauert bis zweckmäßige Therapien erfolgen, wenn zweckmäßige Suchttherapien nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen werden können, und das Abgleiten in die Illegalität vorprogrammiert ist, dann muss vor einer Implementierung einer somatischen Behandlung für diese Erkrankungen, die nur in wenigen Spezialzentren, mit einem hohen finanziellen Aufwand, nur wenigen Patienten zugänglich sind, eine sozialethische Bewertung, neben der medizinischen Indikation, zwingend implementiert werden.82 Die Identifizierung und Priorisierung von Kranken, deren beschädigte Gesundheit mit ein Resultat systematischer sozialer Diskriminierung ist (the worse off), ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. (Kersting, 2000, Schmücker, 2002, Sen, 2009) Der Focus liegt somit nicht auf der Gesundheit, sondern auf der Gesundheitsförderung als Gegenstand einer sozialen Gerechtigkeitstheorie. (Rogers,2014,S.77) Public Health orientiert sich an „Wertsetzungen und Grundordnungen der freiheitlich demokratisch verfassten Gesellschaften.“ (Wiesing,2012,S.510) Bei den Substanzabhängigkeitserkrankungen ist die Frage der Eigenverantwortung zu diskutieren. Unterschieden wird die prospektive (Gesundheitsvorsorge) von der retrospektiven Perspektive (Eigenver82 „The pojnt of identifying vulnerable groups in public health practice is because vulnerability tracks increased risk of ill health ... distinguish two different ways vulnerability to ill health is understood.“ Social vulnarbility – economic, educational, financial, pccupational, social; medical vulnarability – chronic illness, dependence on medication, increased need for health care, greater risk of morbidity (Rogers,2014, S.79) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 122 schulden) der Eigenverantwortung. Bei der ethischen Abwägung werden die Problembereich der kausalen Verursachung, der Entscheidungsautonomie, sowie der normativen Standards, berücksichtigt, wobei deren Anwendung, unter Beachtung der neurobiologischen Kenntnisse zur Substanzabhängigkeit, auf nicht zu lösende Anwendungsschwierigkeiten trifft. „Anstatt Menschen retrospektiv für gesundheitsschädliches Verhalten zu bestrafen, sollte man prospektiv die Gesundheitsmündigkeit der Versicherten stärken – nicht nur der Solidargemeinschaft zuliebe, sondern auch zum wohlverstandenen Eigeninteresse des Einzelnen.“ (Wiesing,2012,S.515) Während der idiopathische Morbus Parkinson sich zwanglos als neurologische Erkrankung mit einer Fehlsteuerung subcorticaler neuronaler Netzwerkstrukturen und Neurotransmitterfehlregulationen, sowie molekularbiologischer Fehlsteuerungen verstehen lässt, ergaben sich erst durch die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften für das Tourette– Syndrom hinreichend plausible neurobiologische Erklärungs-ansätze. Für das iPS stehen inzwischen für das schwere Stadium alternative Behandlungsmethoden zur Verfügung, so dass die THS mit einer wirksamen Einwilligung hinsichtlich Nutzen und Risiken individuell als Standardtherapie bei einer entsprechenden medizinischen Versorgungsstruktur (Stereotaxie), unter Einhaltung der Sorgfaltspflicht (Psychiatrische Konsultation, Schutz vor nicht zu beeinflussenden Nebenwirkungen, Nachsorge) indiziert werden kann. Die THS gilt als ultima ratio und ist bei einer flächendeckenden neurochirurgischen Versorgung für die Patienten zugänglich zu machen. Beim Tourette-Syndrom ist, bei unklarer individueller Prognose, bei einem frühen Krankheitsbeginn, für die Förderung der Selbstbestimmung, den Schutz vor Diskriminierung und Stigmatisierung, sowie für die Ermöglichung einer sozialen Teilhabe, einschließlich Hilfen für die Pflege in der Familie, durch Bereitstellung institutioneller Maßnahmen, zu sorgen. Pharmakologische Behandlungen sind auf Zumutbarkeit und Effektivität zu prüfen. Bei der Behandlung des TS kann ein quantifizierbarerer Zusatznutzen mit der THS nicht angegeben werden, sodass die Intervention nur einzelnen sehr schwer Kranken als Heilbehandlung zugänglich zu machen ist. Die schweren Zwangserkrankungen hindern die Kranken an einer sozialen Teilhabe und heben die Selbstbestimmung auf, so dass die Förderung der Selbstwirksamkeit und der Ermöglichung einer authentischen Lebensplanung oberste Priorität besitzt. Die verbesserte Aufklärung der Grundversorger (Hausärzte, Hautärzte), die Verbesserung der Früherkennung, die Zuführung der Kranken zu einer zweckmäßigen Behandlung (SSRI, Verhaltenstherapie), sind aus ethischer Sicht, dringend geboten. Effektive, zumutbare Behandlungsoptionen sind vorhanden, werden nicht hinreichend wahrgenommen, oder stehen regional nicht ausreichend zur Verfügung. Ein hinreichend plausibles neurobiologisches Erklärungsmodell zur Pathogenese ist rational nachvollziehbar wobei die psychologischen und somatischen Behandlungen auf neurobiologischer Beobachtungsebene konvergieren. Es besteht weiterer Forschungsbedarf Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 123 um die Risiken, Nebenwirkungen und die Langzeitwirkungen bei der THS besser abschätzen zu können. Analog den Psychotherapierichtlinien sollte vor einer THS ein Gutachterverfahren etabliert werden. Die Versorgungsleitlinien zu depressiven Erkrankungen berücksichtigen die THS nicht. Fast die Hälfte der Kranken wird in Deutschland keiner zweckmäßigen Behandlung zugeführt. Die psychopharmakologische Behandlung ist zunehmend einer strittigen Diskussion ausgesetzt.(Bundesärztekammer, 2010, Hasler, 2012) Aus ethischer Sicht fordert das bio-psycho-soziale Konzept der Depressionserkrankung eine gesundheitspolitisch gleichwertige Allokation von Forschungsmitteln und Behandlungsfinanzierungen im weitesten Sinne auf den drei Ebenen. Primärpräventive Maßnahmen in der Frühförderung, die sozialmedizinischen (arbeitsmedizinischen) Interventionen zur Verhütung psychosomatischer Krankheitslasten, sowie eine Gesundheitsaufklärung (Bewegung, Ernährung, soziale Kommunikation) als Risikoprophylaxe (Herz-Kreislauf-Erkrankungen) sind aus der public health Perspektive vorrangig zu finanzieren. Die Kranken sind vor unlauteren Heilsversprechungen zu schützen, sowie vor Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine positive Wirkung der THS wurde bisher nur zufällig beobachtet, wobei wegen der Komplexität der Erkrankung und der damit verbundenen Beschädigungen der Selbstwirksamkeit, die Therapiezielbestimmung in einer Ermöglichung der Psycho - Therapiefähigkeit, und der sozialen Teilhabe besteht. Die Einpassung der THS in einen individuellen Gesamtbehandlungsplan mit fester Einplanung einer Nachsorge muss an speziellen Zentren gewährleistet sein. Inwieweit die THS zur Aufklärung hinsichtlich Therapiealternativen bei schweren depressiven Erkrankungen lege artis gehört ist strittig. (Garantenpflicht des Arztes). Bei den schweren Erkrankungen mit Substanzabhängigkeit (SUD) werden die gesamtgesellschaftlichen Wertsysteme und die Anforderungen an eine solidarische Finanzierung von präventiven und rehabilitativen Maßnahmen, sowie einer Verbesserung der Versorgungsstrukturen in einer öffentlichen Diskussion besonders angesprochen. Die Legalisierung von Drogen, die Priorisierung von Therapie und Rehabilitation vor Strafverfolgung, das medizinische Interesse an suchtmedizinischer Forschung sind nur einige der Themenschwerpunkte der öffentlichen Diskussion. Aus ethischer Sicht sind insbesondere die neurobiologisch fundierten Suchtkonzepte unter Berücksichtigung von Autonomie und Authentizität zu bewerten. Neurowissenschaftliche Konzeptionen zur Dopaminwirkung und neurostrukturelle sowie neurofunktionelle Veränderungen einschließlich molekulargenetische Dysregulationen beim „Greifen nach Substanzen“ mit Suchtwirkung, sollten in ethische Konzeptionen einfließen. Zufallsbeobachtungen bei der THS haben sowohl bei der SUD, wie auch bei den Impulskontrollstörungen (Essstörungen, Spielsucht, Sexsucht) bereits zur Beschreibung von Einzelfallbeobachtungen geführt. Hier besteht ein weiterer Forschungsbedarf. Der Schutz der Kranken vor Übergriffen staatlicher Kontrolle und Ausbeutung steht bei den schwer Kranken neben dem Schutz der Gesellschaft aus ethischer Sicht im Abwägungsprozess. Hier bedarf es Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 124 insbesondere der Mitarbeit von Experten verschiedener Fachdisziplinen um im Einzelfall eine medizinische Indikation zur THS rechtfertigen zu können. Als Therapieziel wäre eine Verbesserung der Therapiefähigkeit, die Ermöglichung einer Adaption, mit einer langfristig verbesserten sozialen Teilhabe, individuell zu erwägen. Die Problematik des Neuroenhancements als gesamtgesellschaftlich politische und als ethische Herausforderung erhält in diesem Zusammenhang eine verschärfte diskursive Beachtung. Die gesellschaftliche Aufgabe den zunehmenden Bevölkerungsanteil von dementen Menschen medizinisch–pflegerisch zu versorgen stellt die Politik vor große Herausforderungen. Die THS ist im solidarisch finanzierten Versorgungssystem als alternative Behandlungsoption nicht aufgenommen worden. Es liegen keine fundierten wissenschaftlichen Befunde vor, die eine vertretbare Indikation als Routineverfahren bei Demenzerkrankungen rechtfertigen könnte. Es sind erste Einzelfallbeschreibungen zur THS aus klinischen Studien bekannt, die als Zufallsbeobachtungen gelten. Eingriffe in Gehirne deren Plastizitätskapazität nicht zu bestimmen ist, Eingriffe in gesunde Gehirne bei „prädiagnostizierter“ Demenz sind wegen der damit verbundenen Risken und der nicht zu bestimmenden Prognose nicht zu rechtfertigen. Eine hinreichende Rationale zur Bestimmung der Zielstrukturen ist bisher strittig. Es besteht Forschungsbedarf, bei dem internationale ethische und (nationale) juristische Standards zu beachten sind. Nicht zu begründende Heilsversprechungen (Massenmedienberichte) sind bei der Abwägung mit zu berücksichtigen. Das Konsensuspapier europäischer und amerikanischer Medizinethiker (Silke Schicktanz, Mark Schweda, Jesse F. Ballenger, Patrick J. Fox, Jodi Halpern, Joel H. Kramer, Guy Micco, Stephen G. Post, Charis Thompson, Robert T. Knight, William J. Jagust) fassen die Herausforderungen für die zukünftige öffentliche Debatte in Form von Schlüsselfragen für die „late onset Alzheiner´s Forschung“ „before it is too late“, nach Stadien der Erkrankung, zusammen. (Schicktanz, 2014) Hier sollen nur einige der Fragen angeführt werden. Worin besteht die professionelle Verantwortung eine (nationale) transnationale Strategie zur Pflege und Prävention von Demenzen zu organisieren? Bei der Komplexität und Unsicherheit an Information zu Biomarkern zur Diagnose einer zu erwartenden Demenz im Einzelfall, wie sollte mit den Ängsten der Betroffen umgegangen werden, und mit welchen Hilfen können diejenigen rechnen? Wie kann der enge Blickwinkel auf die individuelle Autonomie überwunden werden und die ethischen und legalen Rollenfunktionen der Angehörigen (Familie) besser bestimmt werden? Wie kann der interdisziplinäre Diskurs der Experten (Biomedizin, Pflege, Gerontologie, Ethik, Public Health) gefördert werden? „How can the dominance of one-sided negative images and metaphors of dementia (e.g., „threat“, „epidemic“, loss of self“,“public burden“,“living death“) be overcome?“(Schicktanz,2014,S.5) Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 125 V. Spezifische neuroethische Kriterien bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn mit der THS bei neuropsychiatrischen Erkrankungen Zusammenfassend lassen sich die folgenden Kriterien zur ethischen Beurteilung der Implementierung der THS als innovative Behandlungsoption bei schweren neuropsychiatrischen Erkrankungen formulieren: Transparenz: Kontrolle über jeden Schritt der Entscheidungsfindung: Aufklärung, Vorinformation, Diagnose, Durchführung der Operation, technisches System, Nachsorge. Dokumentation: Die Mitarbeit der Kranken, der Angehörigen und der professionellen Mitarbeiter muss bei der Aufklärung, der Therapie und Nachsorge dokumentiert nachvollziehbar sein. Schutz der Privatsphäre bei der Einrichtung von nationalen (internationalen) Studienregistern: Rechtlicher Schutz der informationellen Selbstbestimmung der Kranken ist nicht verhandelbar. Interdisziplinarität bei der Vorbereitung, der Diagnose und der Therapie, sowie der Nachsorge: Schutz vor Ausbeutung des Altruismus der Kranken; Schutz vor externer Kontrolle; Schutz und Förderung der Autonomie der Kranken. Partizipative Behandlungsgestaltung: Einbeziehung der Angehörigen (care givers) in den Entscheidungsprozess muss legitimiert werden. Einsatz von sensitiven, reliablen und validen Merkmalsbestimmungen (Neuropsychologische Tests, Lebensqualitätserfassung): Schutz vor nicht vorhersehbaren Neben,- und Folgewirkungen zur Persönlichkeit und personalen Identität. Reversibilität der THS zu jedem Zeitpunkt: Obligate intraoperative Stopps zum Rating des informed consent; Wirksame Einwilligungen sind jederzeit zu garantieren; Weiterführung oder Abbruch der THS muss jedem Zeitpunkt durch die Kranken gewährleistet sein, es sei denn der Kranke schädigt sich selbst oder andere; ein Expertengremium sollte eingesetzt werden. Empfehlung zur Einrichtung einer vorsorgenden Stellvertretung: Risikomanagement der nicht zu erwartenden Folge,Nebenwirkungen im Persönlichkeitsbereich; Individuelle Erarbeitung von Authentizitätskriterien zur Therapiezielbestimmung; Festlegung von Abbruchkriterien bei Therapiezielverfehlung. Institutionalisierungg einer Expertengruppe (Expert Board), eines Studienregisters zur Institutionalisierung international vergleichbarer klinischer Studiendesigns unter Beachtung der informationellen Selbstbestimmung der Kranken; Expertenteams zur Begutachtung der Patientenauswahl, der individuellen Therapiezielbestimmungen, der Zielortbestimmung, der Folgewirkungen, der Langzeitdurchführung, der Abbruchkriterien. 126 Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn VI. Zusammenfassung und Ausblick Neurochirurgische Technik (Stereotaxie) und Fortschritte der Neurowissenschaft ermöglichten in den vergangenen Jahrzehnten Eingriffe in das Gehirn bei neuropsychiatrischen Krankheiten mit elektrischer Stimulation von Hirnregionen mit Hilfe permanent implantierter Elektroden. Inzwischen ist die Tiefe Hirnstimulation (DBS) für neurologische Störungen (z.B. Morbus Parkinson) als vielversprechende Therapieoption etabliert und für schwere Verlaufsformen von Zwangsstörungen zugelassen. Die Ausweitung der Indikation auf leichtere Krankheitsstadien mit Bewegungsstörungen und andere psychiatrische Erkrankungen, sowie die Möglichkeit die THS jenseits therapeutischer Zwecke zur Optimierung kognitiver Fähigkeiten und emotionaler Befindlichkeiten einzusetzen, geben Anlass über ethische Rahmenbedingungen nachzudenken. In der vorliegenden Studie werden die medizinethischen Herausforderungen bei chirurgischen Eingriffen in das Gehirn mit der Tiefen Hirnstimulation aus deskriptiver, theoretischer und normativer Sicht beleuchtet. Dabei wurde den folgenden Fragestellungen historisierend mit einer eingehenden Aufarbeitung der neurowissen-schaftlichen und neurophilosophischen Literatur nachgegangen. Ist es richtig und gut in das Gehirn eines Menschen chirurgisch einzugreifen um die Steuerung zentraler Funktionen durch implantierte Stimulationssysteme zu verbessern? Wie lässt sich die Indikation zum Eingriff in neuropsychiatrischen Erkrankungen rechtfertigen? das Gehirn bei Finden sich triftige Argumente für eine normativ ethische Handlungsreglulierung für die Praxis der Tiefen Hirn Stimulation bei neuropsychiatrischen Erkrankungen? Die begriffliche Bestimmung des menschlichen Gehirns ist mit den jeweils vorherrschenden technischen Möglichkeiten und den philosophischen Konzeptionen der Zeit, sowie den sozialen und politischen Verhältnisse, auf entscheidende Weise verbunden. Mit der Einordnung des Gehirns als zentrales Steuerungsorgan, und Voraussetzung für ein menschliches Leben, werden Fragen zum guten und gelingenden Leben in die Neurowissenschaften eingebunden. Bei einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Gehirns werden die funktionalen neuronalen Strukturen unter experimentellen Bedingungen, mit speziellen Arbeitshypothesen, morphologisch und funktionell zu präzisieren versucht. Mathematische Modelle versuchen eine Annäherung an die Realität zu gewinnen. Mit hieraus entwickelten bild-gebenden Verfahren (MRT, PET, fMRTI, SPECT u.a.) und elaborierten psychologischen Experimenten können plausiblere Hirn-Netzwerk- Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 127 Funktionsmodelle für neuropsychiatrische Erkrankungen beschrieben, und als Erklärungsansätze für die modulierenden Eingriffe in das Gehirn formuliert werden. Die erkenntnistheoretischen Grenzen der naturwissenschaftlichen Hirnforschung werden in Auseinandersetzung mit dem Naturalismus und speziell dem Biologismus in Neurologie und Psychiatrie diskutiert. Die kategorialen, naturalistischen und merologischen Fehlschlüsse bei dem Anspruch der Neurowissenschaften auf eine Deutungshoheit für lebensweltlich entscheidende humane Lebens-, und Grenzsituationsgestaltungen werden historisierend und im Blick auf Eingriffe in das menschliche Gehirn kritisch dargestellt. Die Neuroethik als epistemisch-ethische Disziplin unterzieht die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse einer begrifflichen Analyse und ordnet die Forschungsergebnisse im Sinne einer informierten Ethik in den erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der bionischen Technik der THS und den induzierten Folge-, und Nebenwirkungen sowie den Langzeit-effekten erfordert eine Präzisierung des Risikomanagements und der Technikfolgenabschätzung. In Ermangelung von neuropsychologischen Untersuchungsmethoden bei der THS, die sensitiv, reliabel und valide Persönlichkeitsmerkmale erfassen können, ist weiterer interdisziplinärer Forschungsbedarf dringend geboten, zumal die personale Identität bei dem neurochirurg-ischen Eingriff jederzeit beschädigt werden kann. Neben den allgemeinen Risiken und Nebenwirkungen neurochirurgischer Eingriffe sind mit der THS spezielle stimulusbedingte Risiken und Nebenwirkungen verbunden, und insbesondere Folgewirkungen die Selbstbestimmung, die Persönlichkeit, und die personale Identität betreffend, sodass eine medizinethische Handlungsregulierung zwingend geboten ist. Exemplarisch erfolgt in der vorliegenden Studie eine Darstellung der Leitlinientherapie für die Krankheitsbilder Morbus Parkinson, Tourette Syndrom, Depression, Substanzabhängigkeit und Demenz, um damit den Zusatznutzen und den spezifischen Kontext der THS einordnen zu können. Die Ausarbeitung bewegt sich von der allgemeinen Darstellung der neuropsychiatrischen Krankheiten (NMSD) zu den Nöten und Bedürfnissen der Kranken und deren Schutz vor ungerechtfertigten medizinischen Eingriffen. Es wird angenommen, dass eine Güterabwägung von Zwecken, Zielen und Mitteln für die THS möglich ist, die nach allgemeinen Regeln eine Graduierung der Schutzansprüche (geboten, verboten, erlaubt) schwer kranker Menschen ermöglicht. Die allgemeinen Regeln werden von den ethischen Paradigmen vorgegeben, und situationsabhängig nach den medizinethischen Handlungskontexten rekonstruiert. Auf einer mittleren Prinzipienebene werden die Grundorientierungen ärztlichen Handelns (Nicht-Schaden, Fürsorge) mit der Autonomie und deren Realisierung als informed consent einem Abwägungsprozess unterworfen, und für eine Erweiterung des Autonomieprinzips mit Betonung relationaler und aktualer Gesichtspunkte plädiert. Unter Berücksichtigung Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 128 der besonderen Schutzwürdigkeit schwer Kranker wird das Vulnerabilitätskonzept in praktischer Hinsicht zur Formulierung von ethischen Kriterien zur Handlungsregulierung bei der THS überprüft. Eine partizipative Aufklärungs- und Behandlungsplanung ist Voraussetzung für den Respekt vor dem Schutz der Patientenautonomie und zur Ermöglichung einer Förderung der Patientenselbstbestimmung. Unter Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen ergeben sich für die Praxis des informed consent im Hinblick auf die Förderung der Selbstbestimmung vorsorgende Handlungsoptionen. Die ethischen Implikationen der THS als Heilbehandlung und als Forschungsmethode beinhalten Interdisziplinarität, Transparenz, Patientenautonomie, Schutz der Privatheit, Schutz vor Ausbeutung des Altruismus, Reversibilität des Eingriffes, und eine institutionalisierte Nachsorge, sowie eine Professionalität in demokratisch strukturierten Therapiezentren. Zur Einhaltung ethischer Standards ist die Institutionalisierung ethischer Beratung zwingend geboten. Bei der Auswahl der Patienten ist unter Beachtung der Vulnerabilität und dem Schutz vor Ausbeutung besondere Sorgfalt geboten. Bei der Vorbereitung, der Durchführung und der Evaluierung des Outcomes der THS muss die Patientenautonomie beschützt und gewahrt bleiben. Die THS wird am wachen Patienten/ an der wachen Patientin durchgeführt. Wiederholte Kontrollen zur je aktuellen Einwilligung sind zwingend geboten. Therapeutische und innovative Eingriffe sind klar voneinander zu trennen und bei der gültigen Einwilligung zu berück-sichtigen. Die THS ist eine symptomatische Behandlungsmethode. Eine individuelle Therapiezielbestimmung und Klärung der Therapieerwartungen ist obligat. Die Förderung der Selbstbestimmung, die Verbesserung der Beweglichkeit und der Lebensqualität, sowie die Ermöglichung einer Kompetenz für weitere Therapieoptionen sind bei neuropsychiatrischen Krankheiten anzustreben. Bei der Einrichtung von internationalen Studienregistern muss der Schutz der informationellen Selbstbestimmung gewährleistet sein. Wie kann die Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen unter sozialstaatlichen Bedingungen gerechter geregelt werden? Diskriminierungen und Stigmatisierungen bei der medizinischen Versorgung von psychiatrischen Kranken verhindern oder erschweren den Zugang zu effektiven Standardtherapien. Die Beurteilung der Therapieresistenz wird hiervon wesentlich mitbestimmt, so dass die Gefahr von kontrollierenden und adaptiven Übergriffen auf die Lebens-gestaltung der Kranken, sowie eine Gefährdung durch vorrangig finanzielle Entscheidungskriterien bei der Auswahl somatischer Therapieoptionen bei psychiatrischen Erkrankungen beachtet, und ggf. abgewehrt werden sollten. Es gibt triftige Gründe die THS im schweren Krankheitsstadium beim Morbus Parkinson (iPS) als ultima ratio, bei aufgehobener Lebensqualität und bei eine therapieresistenten Zwangserkrankung (OCD) als last line Therapieoption zu erlauben. Die THS ist im Einzelfall bei Fluktuationen und Dyskinesien beim iPS als ergänzende Therapieoption in einem früheren Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 129 Krankheitsstadium als Heilversuch zu empfehlen. Bei Schwerst-kranken mit Tourette-Syndrom sollte es im Einzelfall erlaubt sein die THS als Heilversuch in einen partizipativen Behandlungsplan mit einzube-ziehen. Bei schwersten depressiven Erkrankungen müssen alle zumutbaren Therapieoptionen über einen vertretbaren Zeitabschnitt lege artis ausgeschöpft werden. Es liegt in der Verantwortung des Arztes die THS, im Einzelfall als Heilversuch bei einem schweren anhaltenden depressiven Krankheitsverlauf mit umgrenztem Therapieziel (soziale Teilhabe an Psychotherapie und Soziotherapie), zu empfehlen. Bei schwer Demenzkranken und im moderaten Krankheitsstadium einer Demenz gibt es keine Indikation für die THS. Bei einer eingeschränkten oder aufgehobenen Einwilligungsfähigkeit, insbesondere beim Aufenthalt in einer Pflegeeinrichtung ist die Durchführung einer THS zu verbieten. Im Stadium des MCI und in einem sehr leichten Krankheitsstadium der Demenz können aus ärztlicher Sicht zurzeit keine Empfehlungen zur THS verantwortet werden. Ausweitungen der THS im Bereich des Neuroenhancements sind bei den technischen Fortschritten zu erwarten. Forschungen mit dem "Brain Radio" beinhalten eine online Registrierung und Speicherung der NetzwerkInformations-Prozesse zur Ermöglichung von Verhaltens-prognosen und einer gezielten externen Steuerung von "Gedanken" und "Emotionen." Die Neuroethik steht damit vor neuen Herausforderungen. Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn 130 VII: Literaturangaben: ADLER, M. 2004. Stereotaxie: Rückschau. Deutsches Ärzteblatt, 101(45), A-3020/ B-2551/ C-2434. ADLER, M., SAUPE,R. 1979. 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H&Y ICD ICF iPS MacCAT-T MNSD MRT MSA NEO-FFS NMD NMSQuest OCD PET PSB PPN SPECT STN SUD TAT THS TS TZA UPDRS Alzheimer Disease Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinische Fachgesellschaften Hirndurchblutungs-Studien Cortico basale Degeneration Craniale Computer Tomographie Deep Brain Stimulation Demenz vom Lewy Körper Typ Diagnostisches Statistisches Manual Editor Fluor – Desoxy – Glucose -PET funktionel nuclear magnetic resonance imaging Gamma Amino Base Acid Globus pallidus internus Hamburger Persönlichkeit Inventar Herausgeber Höhn & Yahr Stadien International Classification of Diseases International Classification of Functioning idiopathisches Parkinson Syndrom MAcArthur Competence Assessement Tool-Treatment Mental Neurological Substance Use Disorders Magnet Resonance Tomography Multi System Atrophie Neurotizismus,Extraversion,OffenheitFünf Factor Inventory Neurosurgery für Mental Disorders Non-Motor-Symptoms Assessment Scale Obsession Compulsion Disease Positronen Emissions Tomographie Progressive supranucleäre Blickparese Pedunculo-Pontinus-Nucleus Single Photon Emission Computed Tomography Subthalamischer Nucleus Substance Use Disease Thematischer Apperzetions Test Tiefe Hirnstimulation Tourette-Syndrom Trizyklische Antidepressiva Unified Parkinson´s Disease Rating Scale Reiner Dr.Dr.Beck : Eingriffe in das menschliche Gehirn VIM VTA ventraler intermediärer Kern des Thalamus Volume of tissue activated 144
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