Die Trumps: Während sein Papa eine Mauer baut … … reden alle über die Mimik von Barron Trump. Wir auch. Was soll das? ▶ Seite 10, 12, 14 AUSGABE BERLIN | NR. 11235 | 4. WOCHE | 39. JAHRGANG DONNERSTAG, 26. JANUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ TERRORVERDACHT Razzia bei Reichsbürgern: Sie sollen Anschläge geplant haben ▶ SEITE 6 40 Jahre ABSCHIEBEZIEL Wie die Willy Brandt, zeitlos Helmut Schmidt, Kanzler 1974–1982 Behörden mit Geflüchteten aus Afghanistan umgehen ▶ SEITE 7, 12 ESSENSRESTE Warum so viele Schulspeisen im Müll landen ▶ SEITE 9, 12 KINOSPASS Die surre- ale Komödie „Die feine Gesellschaft“ ▶ SEITE 15 Björn Engholm, Parteichef 1991–1993 Johannes Rau, Kanzlerkandidat 1987, Parteichef 1993 Rudolf Scharping, Kanzlerkandidat 1994, Parteichef 1993–1995 Oskar Lafontaine, Kanzlerkandidat 1990, Parteichef 1995–1999 Franz Müntefering, Parteichef 2004–2005 und 2008–2009 Matthias Platzeck, Parteichef 2005–2006 Peer Steinbrück, Kanzlerkandidat 2013 Martin Schulz, Kanzlerkandidat und Parteichef 2017–? GLÜCKWUNSCH Die kriegt ihr geschenkt: KREUZBERG Streit über Sämtliche Vorsitzenden, Kanzler und Kanzlerkandidaten der SPD seit Gründung der feministischen Zeitschrift „Emma“ 1977 geplante Flüchtlingsunterkunft auf einem Friedhofsgelände ▶ SEITE 21 Alles über den neuen SPD-Mann ▶ SEITE 2, 3, 12 Alles über die gute alte „Emma“ ▶ SEITE 4, 5 Foto: reuters VERBOTEN Gerhard Schröder, Kanzler 1998–2005, Parteichef 1999–2004 verboten freut sich über die Nominierung von „Toni Erd mann“ für den Oscar in der Ka tegorie „Bester ausländischer Film“. Völlig verdient! Noch nie hat sich Deutschland interna tional so überzeugend präsen tiert. Wir können wirklich stolz sein. Schade nur, dass dieses Meisterwerk jetzt niemanden mehr interessiert und die Deut schen in Hollywood wieder leer ausgehen. Denn der Oscar für den besten ausländischen Film geht natürlich eindeutig und völlig verdient an Arjen Lubach für „America first, Netherlands second“. It’s true. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.656 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40604 Fotos: ap, reuters Guten Tag, meine Damen und Herren! 4 190254 801600 Hans-Jochen Vogel, Kanzlerkandidat 1983, Parteichef 1987–1991 Kurt Beck, Parteichef 2006–2008 Sigmar Gabriel, Parteichef 2009–2017 Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerkandidat 2009 ANZEIGE KOMMENTAR VON LUKAS WALLRAFF ZUM SPITZENPERSONAL LINKS VON DER AFD G Die Angst-Gegner ut, es ist wieder keine Frau. Und wieder kein Linker. Auch ökologisches Interesse ist von Martin Schulz bisher nicht überliefert. Aber bleiben wir realistisch: Man kann bei einer SPD-Kanzlerkandidatur nicht alles haben. Diese 20-Prozent-Partei kann und soll ja auch in Zukunft nicht allein regieren. Unter den aktuellen Umständen ist die Nominierung von Martin Schulz das bestmögliche Signal zur richtigen Zeit. Weil der redegewandte Würselener ein überzeugter und überzeugender Europäer ist. In einem Wahljahr, in dem die Europäische Union so heftig wie nie angegriffen wird, vor allem von rechts, aber auch von ganz links, stellt die SPD den denkbar prominentesten Repräsentanten genau dieser Europäischen Union auf, den sie in Deutschland auftreiben konnte. Dazu gehört schon etwas. Ob diese Entscheidung nun lange geplant oder aus Sigmar Gabriels Not geboren wurde, ist dabei unerheblich. Ob Schulz als EUParlamentspräsident immer glücklich agiert hat, auch. Das Ergebnis ist ein glasklares Bekenntnis zum vereinten Europa, wie es keine andere Partei bietet und wie es die Innenpolitiker Sigmar Gabriel oder Olaf Scholz nie hätten verkörpern können. Das Risiko ist klar: Die AfD versucht schon lange, den Vorzeige-Europäer Schulz als VorzeigeBösewicht darzustellen, der Deutschlands endgül- tigen Untergang in einer „EU-Diktatur“ herbeiführen würde. Es macht Mut, dass die SPD auf diese absurden Angriffe nicht mit einem ängstlichen Ausweichmanöver, sondern mit einem beherzten „jetzt erst recht“ reagiert. So wie vorher bereits CDU und Grüne. Mit Schulz ist das Personalangebot der Parteien komplett, die bei der Bundestagswahl links von der AfD antreten. Und siehe da, keine ist eingeknickt vor den Panikmachern. Keine hat extra Hardliner nominiert, um unterwürfig nach rechts zu blinken. Auch die Linke nicht – Sahra Wagenknecht wurde aufgestellt, weil sie nach Meinung vieler Linker einfach die beste Kandidatin ist. Die Demokraten lassen sich bisher nicht treiben. Furchtlosigkeit: Dieses Gefühl strahlt der angriffslustige Europäer Schulz ebenso aus wie Angela Merkel, die sich weiter stoisch für ihre Flüchtlingspolitik beschimpfen lässt, und der Grüne Cem Özdemir, der am meisten Routine im Beschimpftwerden hat. Die Startblöcke sind richtig besetzt, nun kommt es darauf an, was die KandidatInnen daraus machen. Natürlich müssen sie Menschen, die frustriert sind oder Abstiegsängste haben, endlich ernster nehmen – aber ohne dabei den Rechten nachzuplappern und die eigenen Werte zu verraten. Das bleibt eine schwierige Aufgabe. Aber immerhin, das Personal dafür ist gut gewählt. BESTE HAUPTDARSTELLERIN BESTE FILMMUSIK BESTES KOSTÜMDESIGN NOMINIERT FÜR „Ein großartiger Spielfilm.“ „Natalie Portman spielt brillant.“ DER SPIEGEL ZDF heute journal E I N F I L M V O N P A B L O L A R R A Í N W W W . J A C K I E - F I L M . D E 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DON N ERSTAG, 26. JAN UAR 2017 SPD PORTRAIT Martin Schulz stellt sich als neue sozialdemokratische Nr. 1 seiner Fraktion im Bundestag vor. Die jubelt Aufatmen bei der SPD SCHULZ I Die Partei erhofft sich vom Spitzen- und Kanzlerkandidaten neuen Schwung für den Will den Bundestag bald verlassen: Brigitte Zypries Foto: dpa Die ÜbergangsMinisterin B rigitte Zypries wird als Nachfolgerin von Sigmar Gabriel neue Wirtschaftsministerin. Das ist eine pragmatische Lösung ohne Signalcharakter. Zypries ist bereits seit 2013 Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, sie kennt also das Haus. Außerdem ist Zypries eine erfahrene Ministerin. Von 2002 bis 2009 war sie Justizministerin, zunächst im rot-grünen Kabinett Schröder, dann in der Großen Koalition. Öffentlich bekannt wurde sie vor allem als mäßigende Gegenspielerin der Innenminister Otto Schily (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU). Als Pragmatikern stand sie aber auch für einschneidende Verschärfungen des Strafrechts. In ihrer Amtszeit wurde die Strafbarkeit terroristischer Vorbereitungshandlungen eingeführt. Als ihr wichtigstes Projekt gilt aber die Reform des Unterhaltsrechts, bei dem die Ansprüche von Kindern gestärkt und die der geschiedenen Ehegatten geschwächt wurden. Zypries sprach von „nachehelicher Eigenverantwortung“. Als Wirtschaftsministerin wird Zypries vermutlich nur bis zum Ende der Wahlperiode amtieren, also ein knappes Jahr. Denn eigentlich ist sie auf dem Rückzug. Im Juni kündigte die 63-Jährige an, sie wolle nicht erneut für den Bundestag kandidieren, es „sollten Jüngere ran“. Ihr Lokalblatt, das Darmstädter Echo, schrieb, dass Zypries zuletzt „müde“ gewirkt habe. Zypries hatte ihre Karriere als Ministerialbeamtin in der niedersächsischen Staatskanzlei begonnen. Als der Hannoveraner Gerhard Schröder 1998 Kanzler wurde, holte er Zypries in die Bundesregierung zunächst als Staatssekretärin im Innenministerium. Eng vertraut ist Zypries auch mit Noch-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, den sie aus gemeinsamer Gießener Studienzeit kennt. Zypries könnte heute Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts sein. 2007 war sie gefragt worden, ob sie die Nachfolge von Winfried Hassemer übernehmen wollte. Doch sie blieb lieber in Berlin. Ein Platz in der ersten Reihe ist ihr kein Bedürfnis. Deshalb gab sie sich in der aktuellen Großen Koalition uneitel mit einem Posten als Staatssekretärin zufrieden. Und wird nun, pflichtbewusst, eben Wirtschaftsministerin. CHRISTIAN RATH Wahlkampf. Über ganz praktische politische Vorhaben sagt Martin Schulz bislang noch wenig AUS BERLIN PASCAL BEUCKER UND PATRICIA HECHT An Selbstbewusstsein mangelt es Martin Schulz jedenfalls nicht. „Die SPD will dieses Land führen“, verkündete der sozialdemokratische Hoffnungsträger am Mittwochmittag im Berliner Reichstag. „Wir wollen, in welcher Konstellation auch immer, den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland stellen.“ Kein bescheidener Anspruch für eine Partei, die derzeit in den Umfragen zwischen 20 und 22 Prozent gehandelt wird. In der SPD sorgt die Personalie Schulz für geradezu euphorische Gefühle. Die Bundestagsfraktion begrüßte den designierten Kanzlerkandidaten am Mittwoch bei ihrer Sondersitzung mit überschwänglichem Jubel. „Aufbruchstimmung“ – kein Wort kam den Abgeordne- ten häufiger über die Lippen. „Wir glauben, dass wir jetzt mit Martin Schulz etwas bewegen können“, sagte Fraktionschef Thomas Oppermann. Am Tag nach dem überraschenden Verzicht Sigmar Gabriels auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz sprach die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig von einem Befreiungsschlag: „Wir waren einfach ziemlich festgefahren.“ Schulz könne „die Herzen der Menschen erreichen“, schwärmte sie. „Der große Vorteil ist: Nicht jeder in der Partei hätte Sigmar Gabriel unterstützt, aber ich kenne keinen, der nicht Martin Schulz unterstützt“, sagte Johannes Kahrs, Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, der taz. Die Parteilinke und Juso-Chefin Johanna Uekermann nannte es „die absolut richtige Entschei- dung, die der Partei viel Motivation gibt“. Schulz sei „der richtige Kandidat zum jetzigen Zeitpunkt“. Die Jusos hätten ihn bereits eingeladen und würden sich nun darauf konzentrieren, dass „die richtigen Themen“ Einzug ins Wahlprogramm finden würden. Doch was will der angehende Kanzlerkandidat Schulz – außer Kanzler werden? Sowohl nach der Präsidiumssitzung am Dienstag als auch nach seinem Auftritt vor der Fraktion am Mittwoch blieben seine Aussagen dazu weitgehend vage: „Wir wollen, dass die hart arbeitenden Menschen in diesem Land, die sich an die Regeln halten, sicher und gut leben können.“ Wer wollte das nicht? „Wir wollen, dass es gerecht und fair zugeht.“ Auch das hat bisher noch jeder Spitzengenosse behauptet, selbst Gerhard Schröder, der „Genosse der Bosse“. Was folgt daraus für die praktische Politik? Für den Tag seiner offiziellen Nominierung durch den Parteivorstand am Sonntag hat Schulz eine programmatische Rede angekündigt. Vielleicht lichten sich dann die Schleier. Auf eine Koalitionsaussage dürfte er sich dann aber kaum festlegen. Offenkundig will Schulz keinen rot-rot-grünen Lagerwahlkampf führen, sondern sich alle Optionen offenlassen. Klare Ansagen machte er allerdings bereits in zwei Punkten, die ihm eindeutig am Herzen liegen. Mit ihm werde es weder ein „Bashing gegen Europa“ noch eine „Hatz gegen Minderheiten“ geben. „Die Fliehkräfte der Demokratie setzen die Kräfte der Demokratiefeinde frei“, warnte Schulz vor dem erstarkenden Rechtspopulismus. Demgegenüber sei die SPD „das Bollwerk der Demokratie“. Gruppenbild mit Herr: Martin Schulz am Mittwoch im Bundestag Foto: Michael Sohn/ap Die SPD und die Frauen ■■Jubel: „Wir freuen uns auf einen engagierten Wahlkampf für mehr Gleichstellung und Vielfalt in Deutschland und Europa mit Martin Schulz.“ So twitterte am Mittwoch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF). Die Frauenorganisation ist zuständig für Geschlechtergleichstellung in der Partei. ■■Realität I: Gleichstellung in der SPD zeigt sich gerade mit einem Kanzlerkandidaten, einem alten und einem neuen Parteichef, einem alten und einem neuen Außenminister, einem abgedankten Wirtschaftsminister. Alles klar? Alles Männer. ■■Realität II: Die SPD und die Frauen – eigentlich eine Erfolgsstory. 44 Prozent der SPDBundestagsabgeordneten und 32 Prozent der Parteimitglieder sind heute Frauen. Es gibt SPDMinisterinnen und SPD-Ministerpräsidentinnen. Nur Nummer eins ist bislang keine SPD-Frau geworden. ■■Machos: „Mackerpartei“, so der Tenor innerhalb der Partei. Das traditionelle Recht des Parteichefs auf Personalvorschläge sei wie in Stein gemeißelt. ■■Kungelei: Davon, dass Männer jetzt die Posten unter sich gedealt hätten, kann aber keine Rede sein. Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin in NordrheinWestfalen, war nach eigenen Aussagen eingeweiht. Auch Generalsekretärin Katarina Barley und Frauenministerin Manuela Schwesig dürften „Mitwisserinnen“ gewesen sein. „Es gibt mittlerweile zu viele wichtige Frauen, die man nicht einfach übergehen kann“, sagt ASF-Chefin Elke Ferner. ■■Kandidatinnen: Könnten SPDFrauen Kanzlerin? Klar. Eine sollte es versuchen: Hannelore Kraft. Sie hat abgelehnt. Wer könnte noch? Zum Beispiel Schwesig und Arbeitsministerin Andrea Nahles. Schwesig wird immer mal wieder hinter den Kulissen für höhere Posten gehandelt. Beide Frauen wollten aber nicht. Schwesig hat zwei kleine Kinder. Nahles wird zu wenig Mut nachgesagt. ■■Immerhin: Brigitte Zypries ist erste Wirtschaftsministerin der Republik. Und SPD. SIMONE SCHMOLLACK Der rot-rot-grüne Aufbruch muss warten REAKTIONEN Sahra Wagenknecht (Linke) wie Katrin Göring-Eckardt (Grüne) halten demonstrativ Distanz zum SPD-Spitzenmann BERLIN taz | Rot-Rot-Grün steht – zumindest was die SpitzenkandidatInnen anbelangt. Nach Linkspartei und Grünen haben sich nun auch die Sozialdemokraten festgelegt – auf Martin Schulz. Die beiden Spitzenfrauen von Grünen und Linken, Katrin Göring-Eckardt und Sahra Wagenknecht, stehen Schulz erst einmal abwartend gegenüber. „So wie ich ihn in Brüssel kennengelernt habe, würde ich sagen, er ist ein guter Kandidat für die sozialdemokratische Kernklientel, die Gewerkschafts-SPD“, sagte Göring-Eckardt der taz. Ein anderes Milieu als die grüne Stammwählerschaft also. „Bei der SPD geht es in der Arbeits- marktpolitik um den männlichen Arbeitnehmer mit 45 Jahren Arbeitserfahrung. Wir nehmen alle Biografien in den Blick: Arbeiter, Geringverdiener, Studierende, Selbstständige und vor allem auch Frauen. Ob Martin Schulz ausgreifen kann, wird man erst noch sehen.“ Auch die Frontfrau der Linken, Wagenknecht, äußert sich zum designierten SPD-Spitzenmann zurückhaltend bis distanziert. „Ich will nicht die Türen zuschlagen, bevor er überhaupt gewählt ist, aber ausgeprägt optimistisch, dass es besser wird, bin ich nicht“, meinte Wagenknecht am Mittwoch vor Journalisten. Wagenknecht ist skeptisch, ob die SPD mit Martin Schulz auch ein sozialeres Profil bekommt. „Ich habe die Sorge, dass ein neues Gesicht nicht mit neuen Inhalten einhergeht“, sagte sie. Schulz habe sich nie kritisch zur Agenda 2010 geäußert. Doch während Schulz bei Göring-Eckardt zumindest europapolitisch punkten kann – „Er hat eine proeuropäische Grundhaltung, die ich teile“ –, geht Wagenknecht in diesem Punkt ebenfalls deutlich auf Distanz: Sie kritisiert den langjährigen EU-Parlamentspräsidenten dafür, dass er Europa „unreflektiert“ verteidige. Während Schulz mehr Kompetenzen an die EU übertragen möchte, hält Wagenknecht genau das Gegenteil für richtig. Allerdings ist sie mit dieser Meinung auch in ihrer eigenen Partei umstritten. Wagenknecht wie GöringEckardt taxieren Schulz also, sehen allerdings nicht, dass die Chancen für eine rot-rotgrüne Bundesregierung mit seinem Antritt steigen. Ohnehin gilt: Für einen auf eine solche Koalition zugeschnittenen Wahlkampf sind beide nicht zu haben. „Es bleibt bei unserer Positionierung. Wir werden ohnehin keinen Lagerwahlkampf führen“, meinte Wagenknecht. Göring-Eckardt betonte: „Ich ziehe in den Wahlkampf mit einem grünen Programm und mit dem Versprechen, dass wir davon zentrale Punkte in einer Koalition umsetzen werden.“Egal in welcher – diese Option wollen sich die Grünen bewusst offenhalten. Axel Schäfer, SPD-Gastgeber des Trialogs, eines rot-rot-grünen Treffens von Abgeordneten, ist dagegen verhalten optimistisch, dass mit Schulz frischer Wind in das Projekt Rot-RotGrün kommt. „Martin Schulz hat im EU-Parlament Erfahrungen gesammelt, welche Mehrheiten jenseits konservativer möglich sind“, sagte Schäfer der taz. Für das abgesagte Trialogtreffen vom Dienstag, für das neben Schulz auch Bodo Ramelow (Linke) zugesagt hatte, gab es 151 Anmeldungen – Rekord. Die Begegnung soll bald nachgeholt werden. ANNA LEHMANN Schwerpunkt SPD DON N ERSTAG, 26. JAN UAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Martin Schulz will Bundeskanzler werden. Wie er Politik begreift, lässt sich an seiner Karriere im Europaparlament erkennen Der Europäer auf Abruf SCHULZ II Er startete als Provinzpolitiker. Seine Karriere in Brüssel beendete Schulz als machtbewusster Präsident des Europäischen Parlaments. Nicht jeder fand das prima AUS BRÜSSEL ERIC BONSE Der Abschied aus Brüssel ist ihm nicht leicht gefallen. Aber er war typisch für Martin Schulz. Nicht wie gewöhnliche Abgeordnete im Pressesaal des Europaparlaments, sondern auf dem Podium für hohe Staatsgäste verkündete Schulz im letzten November seinen Abschied von der europäischen Bühne. Auf Deutsch, Englisch und Französisch trug der Präsident sein „Adieu“ vor – damit es auch alle Europäer mitbekommen. Es war eine Inszenierung, die nicht bloß einen Ortswechsel, sondern das Ende einer Ära markieren sollte. 22 Jahre lang hat sich der heute 61-Jährige für die EU ins Zeug gelegt, fünf Jahre hat er die Straßburger Kammer geführt. „Mehr Sichtbarkeit und mehr Glaubwürdigkeit“ – das sind die Stichworte, mit denen Schulz seine Leistung an der Spitze der Volksvertretung beschreibt. Ein wenig Stolz klingt da mit, aber auch eine gehörige Portion Wehmut. Schließlich war es hier, wo sich Schulz seine Statur erarbeitet hat – und nicht in Berlin, wo er nun für die SPD die Kanzlerin herausfordert. Schulz ist Deutschlands bekanntester Europapolitiker, bundespolitisch ist er ein Anfänger. Als Hinterbänkler gestartet Von all dem war nichts zu ahnen, als Schulz 1994 zum ersten Mal ins Europaparlament gewählt wurde. Als Hinterbänkler ist er gestartet – politische Erfahrung hatte er zuvor nur als Bürgermeister der Kleinstadt Würselen bei Aachen gesammelt. Eigentlich wollte er kein Politiker werden, sondern Fußballprofi. Doch das klappte nicht und der junge Schulz tröstete sich im Alkohol. Schulz: „Irgendwann sagte ich mir: Entweder mache ich einen radikalen Schnitt oder ich gehe kaputt. Ich wollte mein Leben nicht weg- Immer nah am roten Teppich und den Mikrofonen: Martin Schulz beim EU-Gipfel im April 2015. Rechts spaziert unbeachtet Spaniens Premier Rajoy Foto: P. Huguen/afp werfen: Mit 27 hatte ich dann meine eigene Buchhandlung, von da an ging’s bergauf“. In Straßburg stieg der Genosse aus der Provinz schnell zum Fraktionschef der Sozialdemokraten auf. Vor allem sein lockeres Mundwerk und seine kumpelhafte Art machten ihn bekannt und beliebt. International war er aber immer noch ein Nobody – bis 2003, als Silvio Berlusconi kam. Der italienische Ministerpräsident hielt eine Rede im Parlament und wurde von Schulz unterbrochen. Da platzte Berlusconi der Kragen: „In Italien wird gerade ein Film über die NaziKonzentrationslager gedreht, ich schlage Sie für die Rolle des Lagerchefs vor“, fuhr er Schulz an. Der Eklat war perfekt, die Attacke machte weltweit Schlagzeilen. Seitdem ist Schulz ein Star. Doch hat er sich erst später, 2012, selbst erfunden. Da wurde er zum ersten Mal zum Präsidenten des Parlaments gewählt. Schulz versprach, die Straßburger Kammer zu einem Ort der „demokratischen Debatte“ zu machen. Bisher dämmerte sie vor sich hin, nun wurde es richtig munter. Allerdings weniger für die Abgeordneten, umso mehr aber für ihren neuen Präsidenten. Schulz lud sich selbst zu den EU-Gipfeln ein und präsentierte sich so, als stehe er selbst einem Staat vor – der Europäischen Union. Bei der Europawahl 2014 landete Schulz dann seinen größten Coup: Er übernahm das bisher auf EU-Ebene völlig unbekannte Konzept des „Spitzenkandidaten“ – und ließ sich selbst zum ersten Frontrunner der Sozialdemokraten küren. Das handelte ihm Hohn und Spott ein, zeigte aber Wirkung: Auch die konservative Europäische Volkspartei – in der CDU und CSU mitarbeiten – nominierte einen Spitzenkandidaten. Dass die Wahl auf JeanClaude Juncker fiel, war Pech für Schulz, aber irgendwie auch ein Glücksfall. Denn die beiden kannten und verstanden sich gut. Fortan konnten sie gemeinsam zur besten Fernsehsendezeit um die Gunst der Wähler streiten. Wobei der Streit eher langweilig ausfiel – in den meisten Fragen waren sich Schulz und Juncker Wieder kungelte er mit den Schwarzen, um seine Wiederwahl zu sichern. Schulz habe sich als „Türsteher der Großen Koalition“ verstanden, schimpfte Fabio de Masi, Finanzexperte der Linken im Europaparlament. Der SPD-Mann habe dafür gesorgt, dass zwischen der Großen Koalition in Berlin und der heimlichen Allianz in Brüssel alles wie geschmiert lief. Für Ärger sorgte auch die „G 5“, die Schulz mit Juncker aus der Taufe hob. Bis ins Detail wurden in dieser fünfköpfigen Kungelrunde in einem feinen Brüsseler Restaurant europäische Initiativen abgesprochen. Sitze, Populisten und Natio nalisten legten massiv zu. Die Schulz-Show hatte nicht verfangen, Juncker wurde zum neuen Präsidenten der EU-Kommission gewählt. Danach wurde es eine Zeit lang still um den ehemaligen Buchhändler. Wenn schon nicht Kommissionschef, so wollte er nun wenigstens EUKommissar werden – doch Merkel sagte Nein. Dem SPD-Mann blieb nichts anderes übrig, als erneut das EU-Parlament zu übernehmen. Mit Macht, ohne sozial demokratische Handschrift Unter Schulz’ Ägide zogen Brüssel, Berlin und Straßburg an einem Strang. Doch Grüne und Linke, die nicht in die Große Koalition eingebunden waren, hatten dabei nichts zu lachen. Selbst die Sozialdemokraten mussten zurückstecken. Unter der Führung ihres machtbewussten Genossen konnten sie kaum eigene Akzente setzen. Im Schuldendrama um Griechenland 2015 ging die so- zialdemokratische Handschrift völlig unter. Im Wahlkampf hatte die SPD noch einen „Marshallplan für Griechenland“ gefordert. Nun trat Schulz in deutschen Talkshows auf und forderte, Pre mierminister Alexis Tsipras zu entmachten und eine Technokratenregierung einzusetzen. Hinterher lud Schulz Tsipras zwar zur Aussprache ein. Doch der Bruch mit der Linken ist bis heute nicht gekittet. Profitiert hat davon ausgerechnet die EUfeindliche Rechte. Nigel Farage und Marine Le Pen haben das Parlament als Bühne genutzt – und einen Erfolg nach dem anderen eingefahren. Genau das hat Schulz eigentlich verhindern wollen. Und dass am Ende auch noch ausgerechnet mit dem Italiener Antonio Tajani ein Berlusconi-Buddy seine Nachfolge antritt, dürfte ihn zusätzlich wurmen. Tajani wurde mit den Stimmen von Konservativen, Liberalen und EU-Skeptikern zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Die Sozialdemokraten finden sich nach Schulz’ Abgang allein und machtlos wieder. Ein bitteres Erbe. Die SPD sieht das selbstverständlich anders. „Das hilft der AfD nicht, das bekämpft sie“, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, der auch Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der Partei ist. Schulz könne Menschen überzeugen und ihnen klarmachen, dass Europa mit Freiheit zu tun habe – mit der deutschen Exportwirtschaft, der Sicherung von Arbeitsplätzen und der Möglichkeit, überall studieren zu können. Ähnlich sieht es die Parteilinke Johanna Ue- kermann. Mit dieser Entscheidung spiele man der AfD auf keinen Fall in die Hände, so die Juso-Vorsitzende. Gegen die AfD müsse man „klare Kante zeigen und als SPD Themen besetzen, die die Menschen umtreiben, also etwa bezahlbarer Wohnraum, eine bessere Vergütung für Azubis und eine Bürgerversicherung“. Das könne Schulz. Doch so leicht wird das nicht werden, meint der Berliner Politikwissenschaftlers Oskar Niedermayer. „Der AfD konnte leider nichts Besseres passieren, als dass neben der Kanzlerin auch noch Martin Schulz antritt“, so seine Einschätzung. Es könne gut sein, dass die Griechenland-Rettung während des Wahlkampfs zu einem relevanten Thema werde. Mit Schulz, der als Anwalt der Südeuropäer gelte, könne die AfD viel stärker polarisieren und damit ihre Anhänger mobilisieren. Bei den Sozialdemokraten aber sei das nicht der Fall. „Die SPD-Wähler sind bei der Eurorettung doch selbst gespalten.“ SAM, PAT schon damals einig, nach dem lahmen „Duell“ lagen sie sich in den Armen. Die Nähe nutzte allerdings vor allem dem Christsozialen Juncker. Bei der Europawahl 2014 fuhr Schulz’ „Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten“ (S&D) mit 25,4 Prozent ein miserables Ergebnis ein. Die Fraktion verlor vier „Mehr Sichtbarkeit und mehr Glaub würdigkeit“ CREDO VON MARTIN SCHULZ Unerwünschter Beifall von rechts BERLIN taz | Treibt der beken- nende Europäer Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat der AfD weitere WählerInnen zu? Oder kann die SPD gerade mit einem überzeugten Europäer WählerInnen der Rechtspopulisten zurückgewinnen? Diese Frage wurde am Mittwoch in Berlin heftig diskutiert. Nach Ansicht der AfD ist die Antwort klar: „Aus unserer Sicht hätte die SPD kaum einen Besseren zum Kandidaten küren können. Ein Glückfall für die AfD, wenn man so will“, sagte ERWARTUNGEN Die rechten EUGegnerInnen bei der AfD hoffen, dass der aus Brüssel herübergewechselte SPD-Mann ihnen neue WählerInnen zutreibt. In der SPD sieht man das allerdings ganz anders AfD-Vizechef Alexander Gauland am Mittwoch. Seine Begründung: Schulz sei ein Sinnbild für eine gescheiterte Europäische Union. Er stehe für die „Überheblichkeit des Brüsseler EU-Establishments und die Bürgerferne der Eurokraten“. Martin Schulz werde weitere Wähler zur AfD treiben, meint auch Beatrix von Storch, Vizechefin der AfD und Europaabgeordnete. „Schulz ist die personalisierte EU, verkörpert die Arroganz der Institutionen und den EU-Zentralstaat.“
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