1 Freitag, 27.01.2017 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 27.01.2017
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Eleonore Büning
Rasant und emphatisch
C. P. E. Bach
4 Symphonies Wq 183
6 Sonatas Wq 184
Ensemble Resonanz
Riccardo Minasi
Es-Dur 2070
Spezialist für historische Tasteninstrumente
FRIEDRICH
WILHELM
RUST
Der Clavierpoet
THE PIANO POET
KEYBOARD WORKS
Jermaine Sprosse
dhm 889853 692729
Rettung aus dem Orkus des Vergessens
Mieczysłav Weinberg Kremerata Baltica
Chamber Symphonies
Piano Quintet
ECM 2538/39-4814604
Gidon Kremer
Betörend schön
Sacred
Duets
NURIA RIAL
VALER SABADUS
KAMMERORCHESTER BASEL
SONY CLASSICAL 889853 23612
Hinreißend
Rostropovich
ENCORES
Alban Gerhardt
Markus Becker
hyperíon CDA 68136
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Eleonore Büning, ich grüße Sie!
Anfang Januar, da ging das Jahr diesmal richtig gut los. Jubelstürme und Shitstorms
erschütterten die Welt der Musik. Mehr als 11.000 Artikel wurden geschrieben über die
Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie, zehn Millionen Euro hat die Stadt Hamburg
ausgegeben fürs Event-Marketing, aber das ist nur ein Klacks, bedenkt man, was der Bau
dieses Musiktraumhauses gekostet hat. Allein schon diese gewaltige Summe lenke das
öffentliche Augenmerk auf die Musik, behauptet die Werbeagentur. Sogar Leute, die das
Wort Beethoven nicht buchstabieren können, seien jetzt ergriffen und gerührt – weshalb
auch gleich die „Einstürzenden Neubauten“ in der Elbphilharmonie auftraten, was sicher
auch nicht billig war.
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Zugaben gibt es aber (auch an der Elbe) immer umsonst. Damit fangen wir jetzt an. Alban
Gerhardt (Violoncello) und Markus Becker (Klavier) spielen eine Lieblingszugabe von
Mstislaw Rostropowitsch: Presto!
David Popper: „Elfentanz“ op. 39
2:30
Eine Teufels-Etüde! Schneller geht es nicht! Oder doch? Der große Cellist Mstislaw
Rostropowitsch, der dieses Stück namens „Elfentanz“ von David Popper oft als Zugabe
gespielt hat, sagte einmal:
„Ich fand heraus, dass das Publikum sehr laut applaudierte, wenn ich den „Elfentanz“ sehr
schnell spielte. Also spielte ich ihn das nächste Mal noch schneller, und sie klatschten noch
lauter und so weiter, bis ich in einem lächerlichen Tempo spielte, das mit der Musik nichts
mehr zu tun hatte!“
Dafür sind Zugaben da: Als kleines Dankeschön, als Rausschmeißer. Alban Gerhardt spielte
soeben den „Elfentanz“ – zum Auftakt unserer Sendung und zugleich als Teil eines großen
Dankeschöns an sein großes Vorbild Rostropowitsch, dem er einmal vorgespielt, der in
ermuntert hat; und von dem er 18 der schönsten Cello-Zugaben zusammen suchte, für sein
neues Album. Es heißt „ENCORES – as performed by Mstislav Rostropovich“. Demonstriert
wird hier, wie selig ein Cello singen, wie irre es rasen kann, ein staunenswertes Potpourri
unterschiedlichster Farben und Formen, Höhen und Tiefen. Und es zeigt auch und vor allem,
was für ein fantastisch ausdrucksstarker Cellist dieser Alban Gerhardt ist. Er wird begleitet
bei diesem Abenteuer von Markus Becker. Mehr davon gibt es am Ende unserer Sendung zu
hören, wenn die Zugaben-Zeit gekommen ist.
Außerdem habe ich folgende neue CDs mitgebracht: Sonaten für Tasteninstrumente von
Friedrich Wilhelm Rust; Konzertantes von Mieczysław Weinberg mit der Kremerata Baltica;
Duette aus italienischen Oratorien des Seicento mit Valer Sabadus und Nuria Rial; sowie
Sinfonien von Carl Philipp Emanuel Bach, der 20 Jahre lang in Hamburg als Musikdirektor
wirkte und jährlich mehr als 200 Hamburger Konzerte veranstaltet hat. Von der Plaza, der
Aussichtsterrasse der Hamburger Elbphilharmonie, kann man den Ort sehen, wo Carl Philipp
Emanuel Bach begraben liegt, nämlich in der Stadtkirche, dem Hamburger Michel. Doch bei
den Eröffnungsfeierlichkeiten von „Elphi“ kam dieser Hamburger Bach überhaupt nicht vor.
Er wurde nicht mal erwähnt, geschweige denn gespielt! Das müssen wir hier in „Treffpunkt
Klassik – Neue CDs“ sofort gleich ändern! Es spielt das Hamburger Ensemble Resonanz,
eine Kostprobe aus dem neuen fetzigen Carl Philipp Emanuel Bach-Album.
Carl Philipp Emanuel Bach: Sinfonia G-Dur Wq. 183 Nr. 4,
1. und 2. Satz
10:30
Viel Licht und Schatten, Sturm und Drang, so endet diese Sinfonie G-Dur aus dem Jahr
1776, komponiert von Carl Philipp Emanuel Bach, dem sogenannten „Hamburger Bach“,
zweitältester Sohn des großen Johann Sebastian. Es spielte das Ensemble Resonanz unter
Leitung von Alte Musik-Spezialist Riccardo Minasi.
Dieses Ensemble Resonanz, ansässig in Hamburg, Sankt Pauli, ist kein
Originalklangensemble – obgleich man das glauben könnte, wenn man diese scharf
angerissenen Akzente hört, diesen kantigen Klang, diese rappelnden Pralltriller. Resonanz
ist ein Ensemble neuen Typs: ohne Leiter, ohne Lager, ohne special interest, flexibel und
genreübergreifend. Die Musiker spielen auf allen „Hochzeiten“: Alte Musik, Neue Musik,
klassische Musik, Musik des Sturm und Drang – an sich ein reines Streicherensemble, das
sich dann projektweise jeweils weitere Instrumente und spezialisierte Dirigenten dazu lädt.
Zurzeit ist der Neue Musik-Spezialist Emilio Pomàrico „Artist in Residence“ beim Ensemble
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Resonanz. Deshalb eröffneten sie neulich mit Pomárico am Pult den Kleinen Saal der
Elbphilharmonie mit einer Uraufführung mit Neuer Musik von Georg Friedrich Haas.
Hier, auf ihrem neuen Album, spielen sie rasant und emphatisch Musik des Sturm und
Drang – und zwar stilecht, weil sie sich dazu den Barockgeiger Riccardo Minasi vom
Ensemble Pomo d’Oro ausgeliehen haben und außerdem ein paar Bläsersolisten: Flöten,
Hörner, Fagotte. Und die wiederum dürfen auf diesem Konzeptalbum zwischen die vier
Orchestersinfonien von Carl Philipp Emanuel Bach ein paar Kontrastmittel einstreuen – quasi
als Pausenclowns tröten sie dazwischen, und zwar spielen sie kurze Bläsersonaten vom
Hamburger Bach. Hier die in G-Dur:
Carl Philipp Emanuel Bach: Sonata G-Dur Wq. 184 Nr. 3
2:00
Von Carl Philipp Emanuel Bach stammt diese kesse kleine Bläsersonate G-Dur, entstanden
1775, als Vorstudie zu seinen Orchestersinfonien. Sie wirkt wie eine kollektive Fingerübung –
stilecht gespielt von unbekannten Hamburger Flötistensolisten und Hornisten – wer das
genau war, das kann ich leider nicht sagen. Die Namen der Gäste dieser Edition hat das
Hamburger Ensemble Resonanz nicht verraten. Wo dieses ambitionierte und interessante
Konzeptalbum aber erschienen ist, das steht auf der CD drauf: Es ist das Hamburger Label
Es Dur, im Vertrieb der Firma edel classics.
Wir bleiben im „Sturm und Drang“ auch mit der nächsten CD-Neuheit. In diesem bewegten
Zeitalter, kurz vor der Französischen Revolution, hatte es in der Musiksprache schon
ordentlich gewetterleuchtet; und es sind offenbar immer noch etliche Entdeckungen zu
machen. Hier ist es ein Komponist, Geiger und Pianist. Er heißt Friedrich Wilhelm Rust,
stammt aus Wörlitz bei Dessau, aus einer Musikerfamilie, und ging mit 23 Jahren in
Festanstellung, als Kapellmeister am Dessauer Hof, wo er 30 Jahre lang treu diente. Sein
Handwerk hatte Friedrich Wilhelm Rust zuvor bei den Bach-Söhnen gelernt: Erst bei Wilhelm
Friedemann Bach in Halle, dann bei Carl Philipp Emanuel Bach. Und das hört man. Diese
schnellen Affektwechsel, die rhetorischen Ausrufezeichen, die Generalpausen, der Wechsel
von Licht und Schatten, von Dur und Moll: Das ist lupenrein der galante Stil der
Empfindsamkeit: Aus jedem Ton spricht die Leidenschaft des jungen Werther:
Friedrich Wilhelm Rust: Sonate g-Moll, 1. Satz
6:05
Pausen! Ausrufezeichen! Affektwechsel! Und noch etwas ist in diesem Allegro Brillante von
Friedrich Wilhelm Rust sofort zu hören: Wie den jungen Goethe, der ein echter Fan von Rust
gewesen war, so hatte es auch den jungen Komponisten auf Bildungsreise nach Italien
geführt, in das Land, wo die Zitronen und die Oper blühen und Tartini, Martini und Scarlatti
wirkten.
Jermaine Sprosse spielte diesen ersten Satz aus der Klaviersonate g-Moll von Friedrich
Wilhelm Rust – stilecht auf einem zweichörigen, bundfreien Clavichord, genauer: auf der
Kopie eines historischen Clavichords von Christian Gottlob Hubert, Baujahr ungefähr 1772.
Dieses Clavichord ist beschrieben und abgebildet im Beiheft dieser CD, es spielt ja auch
eine Hauptrolle auf diesem Album: Mit seinem feinen Klang, den modulationsfähigen Farben
und der Möglichkeit, jeden einzelnen Ton beben zu lassen, war es das probate Instrument
des Sturm und Drang.
Insgesamt hat Jermaine Sprosse drei Sonaten dieses weithin unbekannten Friedrich Wilhelm
Rust neu aufgenommen, eine davon als Erstaufnahme – dazu einen Variationenzyklus,
wofür er ein anderes Mode-Instrument jener Zeit benutzt: den ungleich kräftigeren,
Hammerflügel. Der ist ebenfalls im Beiheft abgebildet: ein Originalinstrument, Baujahr 1792,
aus der Werkstatt des berühmten Augsburger Klavierbauers Johann Andreas Stein, dessen
Instrumente auch Mozart hoch geschätzt hat. „Blühe, liebes Veilchen“ heißt das Lied im
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Volkston, das hier von Rust nach allen Kunstregeln durchdekliniert wird. Eine Variation
versetzt er nach Moll, eine andere in den Tanzrythmus, dazu kommen etliche verzierte
Bravourvariationen und eine zweistimmige Charaktervariation im breitesten, empfindsamen
Largo.
Friedrich Wilhelm Rust: „Blühe, liebes Veilchen“, vier Variationen
3:40
Sie hörten vier Klaviervariationen über das Thema „Blühe, liebes Veilchen“, ein Lied im
Volkston von Johann Abraham Peter Schulz, der übrigens auch jenes andere Lied im
Volkston komponiert hat, das heute noch in aller Munde ist: „Der Mond ist aufgegangen“. Der
Komponist dieser Klaviervariationen indes (auf einem Hammerflügel gespielt von Jermaine
Sprosse) – der ist vergessen wie ein Grab: Von Friedrich Wilhelm Rust kennt man allenfalls
noch den Namen, als Fußnote, in Büchern über die Bachs oder über Goethe.
Es gibt überhaupt nur zwei ältere Aufnahmen von Rusts Sonaten, und die sind beide
vergriffen. Hier liegt jetzt der dritte Versuch vor, diesen Musikschatz zu heben. Unternommen
hat ihn besagter Pianist Jermaine Sprosse, ein noch junger, aber schon charismatischer
Spezialist für historische Tasteninstrumente. Sprosse studierte in Berlin, er ging dann 2011
nach Basel an die Schola Basiliensis, um selbst zu lehren. Und er hat sein Album „Der
Clavierpoet“ genannt – vielleicht, weil „Friedrich Wilhelm Rust“ für die Promotion nicht ganz
so günstig ist. Aber der Titel passt gut, er ist nicht aus der Luft gegriffen. Ediert wurden diese
Aufnahmen mit Musik des „Klavierpoeten“ Friedrich Wilhelm Rust, denen man nur
Nachahmer und weiteste Verbreitung wünschen kann, vom Label deutsche harmonia mundi,
im Vertrieb von SONY.
SWR2, Sie hören „Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, heute mit Eleonore Büning.
Manchmal glückt die Rettung aus dem Orkus des Vergessens. Nicht oft, aber es kommt vor,
dass Künstler, die von der Geschichte aus irgendwelchen außermusikalischen Gründen
untergepflügt wurden, plötzlich wieder da sind und in Mode kommen. So geschah es mit
Mieczysław Weinberg, dem genialen polnischen Komponisten, der als junger Mensch vor
den Nazis in die Sowjetunion floh, und dort, weiterhin als Jude diskriminiert, aber auch von
den Stalinisten des Formalismus verdächtigt, in den Schutz und zugleich hinter den Schatten
seines Freundes Dmitri Schostakowitsch zurücktrat. Schostakowitsch und andere Freunde
halfen ihm. Eine Zeit lang wurden die Werke von Mieczysław Weinberg aufgeführt, dann
vergessen. Erst vor sechs Jahren, 2010, änderte sich das. Da kam bei den Bregenzer
Festspielen, mit 42 Jahren Verspätung, die Oper „Passaschirka“ (Die Passagierin) von
Mieczysław Weinberg zur Uraufführung. Es war ein Schock. Bald befasste sich die Zeitschrift
„Osteuropa“ mit dem Fall, es kamen Aufsätze, Bücher, CDs über Weinberg heraus, 2015
gründete der Dirigent Thomas Sanderling, zusammen mit dem Geiger Linus Roth, die
„Mieczysław Weinberg Gesellschaft“ zur Verbreitung von dessen Werken. Und seit 2013
setzt sich auch der Geiger Gidon Kremer ein für diesen Komponisten. Ja, es ist so, als habe
er geradezu auf Weinberg gewartet! Kremer schreibt über Weinberg:
„Seine Werke folgen nicht einem Kompositionsprinzip, einer Schule oder einem Stil. Für mich
bedeutete die Entdeckung vor einigen Jahren eine Quelle unbegrenzter Inspiration … Kein
anderer hat mit vergleichbarer Intensität Aufnahme in mein eigenes Repertoire und das der
Kremerata Baltica gefunden!“
Miecysław Weinberg: Kammersinfonie Nr. 1 op. 145, 3. Satz
4:15
„Allegretto“ – das heißt so viel wie: Heiterkeit. Und doch steckt eine tiefe Trauer in dieser
leicht harmonisch verrutschten Tanzmusik aus der ersten Kammersinfonie op. 145 von
Miecysław Weinberg, die so dunkel im tiefen Register verlischt und sich auflöst, in Pausen.
Die Kremerata Baltica spielte, unter Leitung von Gidon Kremer.
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Hinter diesem Allegretto steckt eine Geschichte, die man auch dann mithört, wenn man sie
nicht kennt. Ursprünglich war die Sinfonie nämlich als Streichquartett komponiert worden –
das zweite von insgesamt 17 Quartetten, die Weinberg im Laufe seines Lebens komponiert
hat: Ja, die intime Form der Kammermusik, das war recht eigentlich seine Domäne! Der
junge Weinberg widmete dieses Quartett also im weißrussischen Exil seiner Mutter und
seiner Schwester Esther, in dem Glauben, dass er die beiden bald wiedersehen würde. Mehr
als 40 Jahre später, als er wusste, dass sie tot waren, ermordet, wie sein Vater auch im
Warschauer Ghetto, und wie seine ganze Familie Opfer des Holocaust, da instrumentierte er
das Werk um, er verbreiterte und verallgemeinerte das Streichquartett für Streichorchester.
Und er komponierte den dritten Satz neu. Sie haben ihn soeben gehört. Es ist ein Requiem
à la Weinberg, eine musikalische Trauerarbeit.
Gidon Kremer hat sich, gemeinsam mit der Kremerata Baltica, für sein zweites WeinbergPlattenprojekt alle vier Kammersinfonien Weinbergs vorgenommen, von denen drei
hochkomplexe Bearbeitungen von Streichquartetten sind, mit dem Schein der Einfachheit.
Kremer tat sich dazu mit einigen anderen Künstlern zusammen – darunter die junge
litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla. Die machte im letzten Frühjahr international
Furore, weil sie als Nachfolgerin von Andris Nelsons zum City of Birmingham Symphony
Orchestra berufen wurde – wie es aussieht, bewegt sich da plötzlich wieder etwas, an dieser
alten Gender-Front. Sofort haben einige Festivals, darunter das in Luzern, das Thema Frau
und Musik neu diskutiert – und die junge Dirigentin, Shootingstar Mirga Gražinytė-Tyla,
gerade 31 Jahre alt, bildet da die neue Galionsfigur.
Gražinytė-Tyla dirigiert jetzt das pausendurchwehte Finale aus der vierten Kammersinfonie
von Miecysław Weinberg, die einzige der Weinbergschen Kammersinfonien mit zwei seltsam
disparaten obligaten Solo-Instrumenten: Klarinette und Triangel:
Miecysław Weinberg: Kammersinfonie Nr. 4 op. 153, 4. Satz
8:55
Dieses Orchesterlied hört nicht auf, es verlischt, wie in einem Fade-out: Das ist häufig so bei
den Musiken von Miecysław Weinberg. Die Kremerata Baltica unter Leitung von Mirga
Gražinytė-Tyla spielte den letzten Satz aus Weinbergs Kammersinfonie Nr. 4 op. 153. Die
Solisten waren: Mate Bekavac (Klarinette) und Andrei Pushkarev (Triangel).
Eines der bekanntesten Werke von Miecysław Weinberg ist sein kraftvoll komplexes
Klavierquintett op. 18; er hat es bereits 1944 komponiert, als Reflex auf das Klavierquintett
von Dmitri Schostakowitsch. Davon gibt es einige Aufnahmen. Kremer hat nun eine weitere
hinzugefügt, er präsentiert das Quintett mit der folkloristischen Schlussfuge aber in einer
Bearbeitung für Kammerorchester mit Schlagzeug, wodurch die Klavierpartie aufgewertet
erscheint und stärker ins Zentrum rückt, wie bei einem veritablen Klavierkonzert. Hierfür
holte sich Kremer eine prominente junge Kollegin ins Team, die russische Pianistin Yulianna
Avdeeva – sie war es, die 2010 den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen hatte.
Miecysław Weinberg: Klavierquintett op. 18, 1. Satz (Ausschnitt)
arrangiert von Andrei Pushkarev und Gidon Kremer
2:55
Bearbeiter dieses Klavierquintetts op. 18 von Miecysław Weinberg sind Gidon Kremer und
Andrej Pushkarev. Es spielte die Kremerata Baltica, mit den Solisten Yulianna Avdeeva
(Klavier), Džeraldas Bidva und Dainius Puodžiukas (Violine), Santa Vižine (Viola), Giedrė
Dirvanauskaitė (Violoncello) sowie Andrej Pushkarev (Schlagzeug). Herausgekommen ist
dieses Doppelalbum mit Werken von Miecysław Weinberg beim Label ECM, im Vertrieb von
Universal.
Der Komponist Miecysław Weinberg ist und bleibt aber ein Sonderfall, eine Ausnahme. Sein
Verschwinden war quasi ein Kollateralschaden der politischen Geschichte des 20. Jahr-
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hunderts, sein Wiederauftauchen ein Zufall und ein großes Glück. Was dagegen die
Barockmusik angeht, da hat uns die Blüte der historischen Aufführungspraxis inzwischen
schon dreidutzendfach Wiederentdeckungen beschert, jährlich kommen neue dazu, und
vieles klingt da ähnlich oder gleich, freilich, vieles auch gleich schön. Zum Beispiel bei
Porpora.
Seit vor sieben Jahren die charismatische Cecilia Bartoli mit der ihr eigentümlichen theatralischen Durchschlagskraft eine Hosenrollen-Lanze brach für den neapolitanischen OpernGuru, Komponisten und Kastratenlehrer Nicola Antonio Porpora, sind nicht nur stapelweise
Porpora-Arien-Platten eingesungen worden, auch das Fach der Countertenöre hat damit
noch einmal einen neuen Aufschwung genommen: Zur Eröffnung der Elbphilharmonie sang
Philippe Jaroussky, einer der besten Falsettisten, die wir haben, mit seiner starken,
süßströmenden Stimme vom zweiten Balkon herab Caccini-Madrigale – ein Ereignis, das so
noch vor wenigen Jahren ganz undenkbar gewesen.
Inzwischen ist es gang und gäbe, dass im Konzert und auf CD geradezu Sängerwettbewerbe
stattfinden zwischen den Sopranen, den Mezzosopranen und den Countertenören, was die
Interpretation von Kastratenmusik angeht. Anfang Januar brachten jetzt Valer Sabadus und
Nuria Rial gemeinsam ein Album mit geistlichen Duetten aus Oratorien des Seicento heraus.
Ihre Stimmen klingen nicht gleich, sie sind individuell. Man kann Sopran und Counter sehr
gut auseinanderhalten. Der Reiz des Androgynen jedoch, der erscheint in diesen Duetten
wundersam potenziert. Und wer hat diese Musiken komponiert? Nun, lauter Wiederauferstandene, Wiederzuentdeckende: Pasquini, Colonna, Torelli, Bononcini, Lotti, Caldara –
und: Nicola Porpora:
Nicola Porpora: „Il verbo in carne“, „Lascia ch‟io veda almeno“
6:35
Der Countertenor Valer Sabadus und die Sopranistin Nuria Rial sangen das Duett der
Gerechtigkeit und des Friedens aus dem Oratorium „Il verbo in carne“ von Nicola Porpora.
Darin geht es, wie leicht zu hören war, um die vollkommene Harmonie dieser beiden
Allegorien: „Solch heller Nacht beugen sich die Strahlen der Sonne, der niederen Erde beugt
sich der Himmel, mit seinem Glanz“. Begleitet wurden Nuria Rial und Valer Sabadus vom
Kammerorchester Basel.
Betörend schön verschmelzen diese Stimmen, in freier Konkurrenz um Virtuosität und
Süßigkeit umschlingen sie einander in den Terzgängen. Das hat etwas! Kommt allerdings
auf diesem Album, das doch im Titel ausdrücklich „Sacred Duets“ (also: „Geistliche Duette“)
ankündigt, bei insgesamt 15 Musiktiteln nur siebenmal vor. Der Grund dafür ist, dass Duette
für zwei Solostimmen in den Oratorien der Gesangsschulen in Bologna, Rom und Neapel
sehr viel seltener vorkamen, als in den Opern jener Zeit. Also wurde das Programm der CD
aufgefüllt mit sechs virtuosen Solo-Arien, in die sich Sabadus und Rial redlich teilen – und
das Kammerorchester Basel steuert außerdem auch noch ein Instrumentalkonzert dazu, ein
Concerto grosso von Giuseppe Torelli, mit der Geigensolistin: Julia Schröder. Das ist
Füllmaterial! Eigentlich ist das Etikettenschwindel. Aber auch das, perfekt gespielt, lässt man
sich gern gefallen in diesem Kontext. Und genau so ist dieses Album auch wohl konzipiert:
als ein Potpourri aus kulinarischen Schmankerln. Halten wir uns an die vokalen
Köstlichkeiten.
Alessandro Scarlatti: „San Casimiro, re di Polonia”, „Al serto le rose”
2:55
Alessandro Scarlatti komponierte dieses traumhaft tänzerisch beschwingte Duett, es stammt
aus dem Oratorium „San Casimiro, re di Polonia“, uraufgeführt in Florenz, anno 1705. Hier
verkörpern die beiden Sänger die Allegorien von königlichem Prunk einerseits und weltlicher
Liebe andererseits. Kein Wunder, dass Prunk und Liebe einander so gut verstehen! In aller
Regel wurden diese Partien in geistlichen Konzerten von Kastraten gesungen, weil
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Frauenstimmen in der Kirche nicht zugelassen waren. Hier indes sangen Mann und Frau –
Valer Sabadus und Nuria Rial – begleitet vom Kammerorchester Basel. Wie köstliche Perlen
an einer Kette reihen sich die Arien auf diesem Album, Loriot würde sagen: „Eine wie die
andere: Das ist Qualität!“ Erschienen ist die Aufnahme beim Label SONY.
Und jetzt wird es Zeit für die Zugabe!
CD-Alben, die nur Zugaben präsentieren, sind keine Seltenheit. Musiker lieben so etwas, sie
können sich da von ihren besten Seiten zeigen: Köstliche Perlen, aber keine ist wie die
andere! Das ist wie eine Liebeserklärung an das eigene Instrument! Der Cellist Alban
Gerhardt hat schon einmal, vor ein paar Jahren, so eine Zugaben-CD eingespielt. Das
Besondere daran: Gerhardt machte damit zugleich auch dem großen Cellisten Pablo Casals
eine Liebeserklärung. Er spielte alle möglichen Zugaben, die Casals gern gespielt hatte, und
das erforderte aufwendige Recherchen, denn die Noten dazu gibt es nicht im Internet, und
vieles ist verschollen.
Jetzt hat Gerhardt eine weitere Zugaben-CD herausgebracht, eine Hommage an den
Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, und da war die Quellenlage ähnlich kompliziert. Aber die
Mühen haben sich gelohnt! Das Ergebnis ist köstlich, es gibt da Rasantes und Schmalziges
und ein paar echte Überraschungen. Viele Zugaben sind Bearbeitungen von bekannten
Lieblingsschlagern. Einige sind sportliche Fingerbrecher, die hat Rostropowitsch für sich
selbst komponiert. Und er transkribierte selbst, was ihm gefiel. Zum Beispiel Paraschas Arie
aus der Oper „Mavra“ von Igor Strawinsky. Bekannt als: Lied eines russischen Mädchens:
Igor Strawinsky: „Mavra“, „Russian Maiden„s Song“
3:35
Lied eines russischen Mädchens: So heißt dieses Stück, das Mstislaw Rostropowitsch als
Zugabe für sich selbst bearbeitet hat, nach einer Vorlage Igor Strawinskys. Den warmen,
dunklen, farbenreich bewegten, sprechenden Celloton dazu, den spendete der Cellist Alban
Gerhardt. Die kongeniale Klavierbegleitung lieferte Markus Becker. Eine Zugabe auf diesem
hinreißenden Album ist ein Fundstück: auferstanden aus Archiven. Erst in den 70er Jahren
wurde eine Originalkomposition für Cello vom jungen Claude Debussy aufgefunden –
Mstislaw Rostropowitsch selbst hat das Scherzo uraufgeführt. Eine der schönsten
Liebeserklärungen an das Violoncello ist vielleicht aber doch die Etüde cis-Moll op. 25 Nr. 7
von Frédéric Chopin, in der Bearbeitung von Alexander Glasunow!
Frédéric Chopin: Etüde c-Moll op. 25 Nr. 7, arrangiert von Alexander Glasunow
6:15
Alban Gerhardt spielte, begleitet von Markus Becker die Etüde cis-Moll op. 25 Nr. 7 von
Frédéric Chopin, bearbeitet für Cello und Klavier von Alexander Glasunow. Sie finden dieses
Stück auf dem Album „Rostropovich – ENCORES“, erschienen beim Label hyperíon, im
Vertrieb von Note 1.
Die Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ geht damit für heute zu Ende. Am
Mikrophon verabschiedet sich Eleonore Büning. Danke fürs Zuhören und – auf Wiederhören!
Nähere Angaben zu den vorgestellten neuen CDs finden Sie im Internet unter www.swr2.de
Dort steht die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Hier in SWR2 geht es
jetzt weiter mit dem Kulturservice, danach folgt „Aktuell“ mit den Nachrichten.