Deutsches Ärzteblatt 1977: A-2986

Spektrum der Woche
Aufsätze Notizen
FEUILLETON
Weihnachten: zwischen
Hoffnung und Resignation
Joachim Ruf
Daß Weihnachten nicht nur zum Feiern da ist, darüber sollte gesprochen
werden. Vor allem in unserer Zeit, in
der das Fest nicht nur in Freude,
sondern im Gegenteil häufig in Depression begangen wird. Es gibt ja
auch schon den Ausdruck „Weihnachtsdepression", darunter leiden
besonders diejenigen, die durch ein
festes Verhaltensmuster überfordert
werden. Steht man außerhalb, so ist
man verdrossen, steht man mittendrin, so ist man gehetzt, und steht
man zwischen beiden, so ist man
innerlich gespalten.
Oft fühle ich eine Art Ohnmacht an
Weihnachten. Unbefangen kann ich
schon lange nicht mehr feiern. Was
zu Weihnachten ratlos macht, ist
nicht Hilflosigkeit gegenüber den
Formen, sondern gegenüber dem
Leben. Alles, was das Jahr über zu
schaffen macht: die Wunden, die
man erlitten und bereitet hat, die
Voreingenommenheit im Umgang
miteinander, die auf inneren unbewältigten Konflikten beruht, die Unfähigkeit, sich so zu geben, wie man
ist und sein will, die Entfremdung,
die eingetreten ist, dieses Ungleichgewicht zwischen Hoffnung und Resignation — dies läßt sich durch Kerzenschimmer nicht lösen.
Geschenke und gutgemeinte Worte
decken bei weitem nicht Wünsche
und Sehnsüchte. Was ich eigentlich
brauche, stellt sich auf diese Weise
nicht ein. Oft bin ich an Weihnachen
enttäuscht. Ich merke, daß ich mit
leeren Händen dastehe.
Die Rolle, die man zu Weihnachten
spielt, ist schwer durchzuhalten: die
Szene ist gestellt. Manchmal betrachte ich die Weihnachtstage als
eine Art Waffenstillstand. Es hat
schon seinen Sinn, jetzt Atem zu holen. Leider bleibt es dann nur bei
2986
Heft 50 vom 15. Dezember 1977
dem Versuch, für ein paar Stunden
oder Tage im Jahr allumfassende
Herzlichkeit zu zeigen. Weihnachten
bedeutet nicht Vergangenheit, sondern Zukunft, in der die Weichen
neu zu stellen sind. Diese Wende
geschieht nicht von selbst, sie erfordert Kraft, Hingabe und Entschlossenheit.
Weihnachten hat etwas mit Anteilnehmen und Anteilgeben zu tun: Leben kann man nicht allein und für
sich allein finden. Darum feiert man
in Gemeinschaft. Und die Einsamen
sehnen sich danach. Man sollte so
feiern, daß Weihnachten in unsere
hektische und desillusionierte Welt
paßt.
Weihnachten ist keine Idylle, kein
Traum, sondern eine Aufforderung
zum Überdenken und zur Umkehr.
Ich habe etwas dagegen, wenn man
Weihnachten nur mit christlichen
Worten von Liebe und Frieden auf
der Erde verklärt. Mich stören die
sentimentalen Weihnachtslieder
und die obligate stimmungsvolle
Verlesung der Weihnachtsgeschichte. Gewiß, die Weihnachtssitte lebt
weiter. Die Zeit schreitet über Idyllen
hinweg.
Besonders an Weihnachten sehne
ich mich in die weniger bedrohte
Welt der Kindheit zurück. Wir können aber nun mal keine Kinder mehr
sein. Das Erwachsensein ist mit Problemen verbunden — es ist unser
Schicksal. Es liegt bei uns, ob wir
uns dem Glauben zuwenden, der
uns als Erwachsenen zukommt, dem
Glauben an einen Gott, der inmitten
unserer widerspruchsvollen Welt ist.
Dieser Glaube ist das zentrale Thema zu Weihnachten.
Was zu Weihnachten symbolhaft geschieht, können wir im Alltag unse-
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
res Lebens verwirklichen. Christus
nimmt Menschengestalt an und
kommt so in unsere Gegenwart, okne Weihnachtsglanz, ganz alltäglich,
aktuell . . . Dieser Christus, der in
unser Menschsein eingegangen und
den Bedingungen des Menschseins
unterworfen ist, erfuhr als leibhaftiger Mensch die Grenzen menschlicher Möglichkeiten: er konnte nicht
für alle dasein. Da waren Menschen,
denen er Hilfe schuldig blieb. Und
auch er fühlte sich in seinem irdischen Leben zeitweise von Gott und
der Welt verlassen.
Wir müssen ausfindig machen, wo
die Krippe heute steht. Dorthin sollten wir uns bald begeben. Dort
braucht das Kind unsere Hilfe, unsere Gabe und unser Opfer. Dort sollten wir uns vor diesem Kind — wie die
Hirten es taten — beugen, um das
Zeichen des Friedens zu erkennen.
Wir müssen den Stolz ablegen, als
seien wir des Friedens nicht bedürftig, als würden nur andere den inneren und äußeren Frieden durch
Angst, Ohnmacht und Unzufriedenheit stören. Weihnachten signalisiert
Hoffnung, Erfüllung, formulierte
Wünsche und Erwartungen. Weihnachten feiern heißt, an der Vision
einer gerechteren und freieren Welt
festhalten.
Jahr fürJahr tut es mir weh, mitzuerleben, was mit diesem Fest geschieht oder auch nicht und wie
Hoffnungen verraten werden .. .
Diese Gedanken von Dr. med. Joachim
Ruf sind der Anthologie „Weihnachtsgeschichten deutscher Ärzte" entnommen,
herausgegeben von Dr. med. Armin
Jüngling. Die „Weihnachtsgeschichten
deutscher Ärzte" sind im Verlag
Th. Breit, Marquartstein, erschienen; sie
können bei der Buchhandlung Franz
Steiner, 8211 Unterwössen, oder bei der
.Medizinischen Fachbuchhandlung und
Versandbuchhandlung des Deutschen
Ärzte-Verlages, Postfach 40 04 40, 5000
Köln 40, bestellt werden. Der kartonierte
Band, 121 Seiten, kostet 12 DM. Der Autor der auf diesen Seiten wiedergegebenen Weihnachtsgeschichte ist den Lesern des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES
bereits in der Rubrik „Arzt — und Poet
dazu", Heft 2/1972 und Heft 49/1976, von
Edith Engelke, vorgestellt worden.