Spektrum der Woche Aufsätze Notizen FEUILLETON Weihnachten: zwischen Hoffnung und Resignation Joachim Ruf Daß Weihnachten nicht nur zum Feiern da ist, darüber sollte gesprochen werden. Vor allem in unserer Zeit, in der das Fest nicht nur in Freude, sondern im Gegenteil häufig in Depression begangen wird. Es gibt ja auch schon den Ausdruck „Weihnachtsdepression", darunter leiden besonders diejenigen, die durch ein festes Verhaltensmuster überfordert werden. Steht man außerhalb, so ist man verdrossen, steht man mittendrin, so ist man gehetzt, und steht man zwischen beiden, so ist man innerlich gespalten. Oft fühle ich eine Art Ohnmacht an Weihnachten. Unbefangen kann ich schon lange nicht mehr feiern. Was zu Weihnachten ratlos macht, ist nicht Hilflosigkeit gegenüber den Formen, sondern gegenüber dem Leben. Alles, was das Jahr über zu schaffen macht: die Wunden, die man erlitten und bereitet hat, die Voreingenommenheit im Umgang miteinander, die auf inneren unbewältigten Konflikten beruht, die Unfähigkeit, sich so zu geben, wie man ist und sein will, die Entfremdung, die eingetreten ist, dieses Ungleichgewicht zwischen Hoffnung und Resignation — dies läßt sich durch Kerzenschimmer nicht lösen. Geschenke und gutgemeinte Worte decken bei weitem nicht Wünsche und Sehnsüchte. Was ich eigentlich brauche, stellt sich auf diese Weise nicht ein. Oft bin ich an Weihnachen enttäuscht. Ich merke, daß ich mit leeren Händen dastehe. Die Rolle, die man zu Weihnachten spielt, ist schwer durchzuhalten: die Szene ist gestellt. Manchmal betrachte ich die Weihnachtstage als eine Art Waffenstillstand. Es hat schon seinen Sinn, jetzt Atem zu holen. Leider bleibt es dann nur bei 2986 Heft 50 vom 15. Dezember 1977 dem Versuch, für ein paar Stunden oder Tage im Jahr allumfassende Herzlichkeit zu zeigen. Weihnachten bedeutet nicht Vergangenheit, sondern Zukunft, in der die Weichen neu zu stellen sind. Diese Wende geschieht nicht von selbst, sie erfordert Kraft, Hingabe und Entschlossenheit. Weihnachten hat etwas mit Anteilnehmen und Anteilgeben zu tun: Leben kann man nicht allein und für sich allein finden. Darum feiert man in Gemeinschaft. Und die Einsamen sehnen sich danach. Man sollte so feiern, daß Weihnachten in unsere hektische und desillusionierte Welt paßt. Weihnachten ist keine Idylle, kein Traum, sondern eine Aufforderung zum Überdenken und zur Umkehr. Ich habe etwas dagegen, wenn man Weihnachten nur mit christlichen Worten von Liebe und Frieden auf der Erde verklärt. Mich stören die sentimentalen Weihnachtslieder und die obligate stimmungsvolle Verlesung der Weihnachtsgeschichte. Gewiß, die Weihnachtssitte lebt weiter. Die Zeit schreitet über Idyllen hinweg. Besonders an Weihnachten sehne ich mich in die weniger bedrohte Welt der Kindheit zurück. Wir können aber nun mal keine Kinder mehr sein. Das Erwachsensein ist mit Problemen verbunden — es ist unser Schicksal. Es liegt bei uns, ob wir uns dem Glauben zuwenden, der uns als Erwachsenen zukommt, dem Glauben an einen Gott, der inmitten unserer widerspruchsvollen Welt ist. Dieser Glaube ist das zentrale Thema zu Weihnachten. Was zu Weihnachten symbolhaft geschieht, können wir im Alltag unse- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT res Lebens verwirklichen. Christus nimmt Menschengestalt an und kommt so in unsere Gegenwart, okne Weihnachtsglanz, ganz alltäglich, aktuell . . . Dieser Christus, der in unser Menschsein eingegangen und den Bedingungen des Menschseins unterworfen ist, erfuhr als leibhaftiger Mensch die Grenzen menschlicher Möglichkeiten: er konnte nicht für alle dasein. Da waren Menschen, denen er Hilfe schuldig blieb. Und auch er fühlte sich in seinem irdischen Leben zeitweise von Gott und der Welt verlassen. Wir müssen ausfindig machen, wo die Krippe heute steht. Dorthin sollten wir uns bald begeben. Dort braucht das Kind unsere Hilfe, unsere Gabe und unser Opfer. Dort sollten wir uns vor diesem Kind — wie die Hirten es taten — beugen, um das Zeichen des Friedens zu erkennen. Wir müssen den Stolz ablegen, als seien wir des Friedens nicht bedürftig, als würden nur andere den inneren und äußeren Frieden durch Angst, Ohnmacht und Unzufriedenheit stören. Weihnachten signalisiert Hoffnung, Erfüllung, formulierte Wünsche und Erwartungen. Weihnachten feiern heißt, an der Vision einer gerechteren und freieren Welt festhalten. Jahr fürJahr tut es mir weh, mitzuerleben, was mit diesem Fest geschieht oder auch nicht und wie Hoffnungen verraten werden .. . Diese Gedanken von Dr. med. Joachim Ruf sind der Anthologie „Weihnachtsgeschichten deutscher Ärzte" entnommen, herausgegeben von Dr. med. Armin Jüngling. Die „Weihnachtsgeschichten deutscher Ärzte" sind im Verlag Th. Breit, Marquartstein, erschienen; sie können bei der Buchhandlung Franz Steiner, 8211 Unterwössen, oder bei der .Medizinischen Fachbuchhandlung und Versandbuchhandlung des Deutschen Ärzte-Verlages, Postfach 40 04 40, 5000 Köln 40, bestellt werden. Der kartonierte Band, 121 Seiten, kostet 12 DM. Der Autor der auf diesen Seiten wiedergegebenen Weihnachtsgeschichte ist den Lesern des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES bereits in der Rubrik „Arzt — und Poet dazu", Heft 2/1972 und Heft 49/1976, von Edith Engelke, vorgestellt worden.
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