Psychologie aktuell: Geteiltes Denken ist doppeltes Denken

Psychologie aktuell: Geteiltes Denken ist doppeltes Denken
20-01-17
Geteiltes Denken ist doppeltes Denken
Wenn das Gehirn im höheren Lebensalter besonders gefordert ist, mobilisiert es zusätzliche
Kapazitäten. Nach bisheriger Lehrmeinung soll das alternde Gehirn dafür Areale in beiden
Gehirnhälften nutzen, während sich diese Areale in jungen Jahren für jede Aufgabe oftmals auf
nur eine Seite beschränken. Ein Forscherteam aus der Abt. Kognitive Neurologie des
Hertie-Instituts für Klinische Hirnforschung (HIH) um PD Dr. Axel Lindner hat nun genauer
untersucht, wann dieser Mechanismus zum Einsatz kommt. Mit Hilfe funktioneller
Magnetresonanztomographie (fMRT) beobachteten sie ein für Gedächtnisaufgaben
zuständiges Hirnareal, den dorsolateralen Präfrontalcortex (dlPFC). Ihr Ergebnis: Der dlPFC
wird bei besonders schwierigen Aufgaben immer in beiden Gehirnhälften aktiv nicht nur im
Alter, sondern auch bei jungen Menschen.
Hirnaktivität einer jungen
Testperson bei räumlichen
Gedächtnisaufgaben links beim
Lösen einer einfachen Aufgabe,
rechts bei einer sehr schwierigen
(Copyright: Axel Lindner)
Bei jeder Denkaufgabe sind im Gehirn charakteristische, besonders auf die jeweilige Aufgabe
spezialisierte Areale aktiv. Diese spezialisierten Areale sind in vielen Fällen in einer Hemisphäre
(Gehirnhälfte) stärker aktiv, für die Sprachverarbeitung z.B. ist das die linke. Neurowissenschaftler
nennen diese hemisphärische Aufgabenteilung die Lateralisation von Gehirnfunktionen. Bei älteren
Menschen ist diese Lateralisation bei Gedächtnisaufgaben nach bisherigen Studien teilweise
aufgehoben: Gedächtnisaufgaben, die bei Jüngeren nur in einer Hemisphäre Aktivität hervorrufen,
lassen bei Älteren beide Seiten aktiv werden. Indem die andere Hemisphäre zusätzlich zur
Leistungssteigerung herangezogen wird so die bisherige Vermutung wirkt das Gehirn seiner
eigenen, altersbedingten Erosion entgegen.
Wann das jeweils geschieht, wollten die Forscher des HIH unterstützt durch das Werner Reichardt
Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen und das Deutsche
Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) nun genauer wissen. Frühere Studien hatten
allen Versuchspersonen dieselben Aufgaben gestellt. Waren junge Probanden vielleicht einfach
weniger stark gefordert? Die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses ist ja individuell verschieden
und nimmt mit dem Alter ab. Die Tübinger Forscher stellten daher erstmals sicher, dass junge wie alte
Probanden Aufgaben bekamen, die für sie subjektiv gleich schwer zu lösen waren, bis an die Grenzen
ihrer Leistungsfähigkeit: Wiederholtes Einprägen einer wechselnden Buchstabenfolge, räumlichen
Positionen oder komplexen Figuren. Dabei wurde mittels fMRT die Gedächtnisaktivität in beiden
Hemisphären im dlPFC verglichen.
Das Ergebnis überraschte die Neurowissenschaftler: Leichte Aufgaben konnten die Probanden
erwartungsgemäß mit links lösen die Forscher registrierten höhere Aktivität in der linken
Hemisphäre. Bei schwierigen Aufgaben zeigte sich in beiden Hemisphären erhöhte Aktivität, jedoch
nicht nur in älteren, sondern auch in jüngeren Probanden. Die vorübergehende Erhöhung der
Rechenkapazität durch die beidseitige Nutzung von ansonsten einseitig aktiven Gehirnarealen ist
also kein im Alter entwickelter Kompensationsmechanismus.
Seite 1 von 2
Psychologie aktuell: Geteiltes Denken ist doppeltes Denken
Die Aufhebung der Lateralisation ist zwar zuerst bei älteren Menschen beobachtet worden, aber nur
weil das Arbeitsgedächtnis im Alter weniger leistungsfähig wird. Warum das so ist, ist immer noch
eine offene Frage. Eventuell lässt das Gedächtnis im Alter gar nicht nach, sondern hat nur mehr und
mehr Erinnerungen zu verarbeiten und wird dadurch weniger belastbar, wie es der Tübinger Linguist
Michael Ramscar postuliert. Dazu passen unsere Ergebnisse ganz gut , meint Melanie
Höller-Wallscheid, die die Studie im Rahmen ihrer Doktorarbeit durchführte. Uns war nie ganz klar,
wie das Gehirn im Alter eigentlich noch einen ganz neuen Mechanismus entwickeln soll, auch wenn
das schon praktisch Lehrbuchmeinung war. Unser Befund zeigt nun aber, dass der Mechanismus
schon immer da ist. Bei jungen Leuten wird er nur seltener gebraucht: Wann geht man im Alltag schon
kognitiv an seine Grenzen? Wenn es sein muss, hat aber jeder diese zusätzlichen Denkressourcen.
Adaptiv ist unser Gehirn nämlich ganz grundsätzlich.
Originalpublikation:
Melanie S. Höller-Wallscheid, Peter Thier, Joern K. Pomper, Axel Lindner: Bilateral Recruitment of Prefrontal Cortex in Working Memory Is
Associated with Task Demand but Not with Age. Proceedings of the National Academy of Sciences (online-Publikation).
doi: 10.1073/pnas.1601983114
https://idw-online.de/de/news666620
Seite 2 von 2