Von den Verletzungen erholte sich meine Mutter nie wieder

leben
Die Mutter von Fotografin Hannah Kozak
verließ die Familie für
Hannah Kozak
schenkt ihrer
Mutter Puppen
und Stofftiere
gegen die
Einsamkeit
im Heim
ENDLICH
FRIEDEN
einen anderen Mann.
Er schlug sie, und sie
wurde zum Pflegefall.
Die Tochter verzeiht
ihr erst Jahre später
Protokoll Jana Felgenhauer Foto Hannah Kozak
E
s wäre schön, wenn ich
mich genauer an die Zeit
erinnern könnte, als ich
ein kleines Mädchen war,
aber vieles ist leider verblasst. Ich
hatte immer eine gute Beziehung zu
meiner Mutter. Sie war so fürsorglich, nachsichtig und leidenschaftlich, manchmal vielleicht ein bisschen launisch. An eine Situation
denke ich gern zurück. Es war an
einem Elternabend bei mir an der
Schule. Ich sehe noch die bunten
Als sie unsere Familie für einen
anderen Mann verließ, war ich neun
Jahre alt. Ich und meine vier Geschwister blieben bei unserem Vater.
Meine Oma mütterlicherseits zog
aus Guatemala zu uns, um uns zu
unterstützen. Das hat sehr geholfen.
Ich flüchtete mich in Bücher, um
mich nicht mit meinen Gefühlen
auseinandersetzen zu müssen. Kontakt zu meiner Mutter hatte ich
nach wie vor. Sie holte mich an den
Wochen­enden oft ab, und wir verbrachten Zeit miteinander. Doch
wenn wir bei ihr und ihrem neuen
Mann zu Hause waren, musste ich
mit ansehen, wie er sie misshandelte.
Fünf Jahre lang ging das so.
EINES NACHTS SCHLUG ER SIE so
hart, dass sie auf die Intensivstation
musste. Von den Verletzungen
­erholte sie sich nie. Ihr Gehirn ist
seitdem geschädigt, sie sitzt im
Rollstuhl, kann nicht allein duschen,
essen oder sich anziehen. Auch ihre
Sprache ist betroffen, man muss sich
sehr konzentrieren, um sie zu verstehen. Sich nicht klar ausdrücken zu
können macht meine Mutter oft
Von den Verletzungen erholte
sich meine Mutter nie wieder
Bilder an den Wänden, die kleinen
Tische. Der Geruch von Kreide
lag in der Luft, und der Raum war
erfüllt von Stimmengewirr. Ich
sprach gerade mit ein paar Klassenkameraden, als meine Mutter
den Raum betrat. Sie war schlank,
hatte wunderschönes, mittellanges
­braunes Haar und trug ein orangefarbenes Kleid. Ich war so stolz und
dachte: „Das ist meine Mutter!“
Seitdem liebe ich die Farbe Orange.
sehr wütend. An manchen Tagen
denkt sie sehr klar, an manchen
weniger, aber sie weiß, was um sie
herum geschieht. Einmal saßen wir
zusammen in der Synagoge, und da
sagte sie zu mir: „Ich habe immer
gedacht, dass mich niemand liebt.“
Ich weiß noch genau, wie verzweifelt ich war, als ich sie das erste
Mal so sah. Ich war 14 Jahre alt und
mit der Situation komplett überfordert. Ich war besorgt und unendlich
traurig. Mit ihrem zweiten Ehemann
habe ich nie über die Tat gesprochen.
Er hätte sowieso gelogen. Mein
Vater schaltete damals einen Anwalt
ein, doch meine Mutter wollte die
Papiere nicht unterschreiben.
Die ersten sieben Jahre kümmerte sich mein Vater um meine
kranke Mutter. Und das, nachdem
sie ihn für einen anderen verlassen
hatte! Das war meine erste Lektion
in Sachen Vergebung. 1980 musste
meine Mutter in eine Pflegeeinrichtung, weil mein Vater, der bereits
wieder verheiratet war, sich nicht
weiter um sie kümmern konnte.
Als er einige Jahre später im
Sterben lag, brachte ich sie zu ihm
ins Krankenhaus. Dort saß sie in
einem Rollstuhl neben seinem Bett
und zog mit ihrer gesunden Hand
einen Teil der Decke auf sich. Dann
sagte sie: „Alles ist schiefgegangen.“
WIE SIE UNSERE FAMILIE verlassen
konnte, darüber habe ich nie mit ihr
geredet. Erst nach Gesprächen mit
meinem Vater, Jahrzehnte später,
habe ich etwas mehr über die Gründe
erfahren. Es war ihr wohl nicht leicht
gefallen, die Familie zurückzulassen,
sie litt sehr darunter. Sicher hing es
mit ihrer Vergangenheit zusammen.
Als junge Frau zog sie mit ihrer
Schwester von Guatemala in die
USA, ihre Familie lebte überall auf
der Welt verstreut. Im Alter von
22 Jahren hatte sie bereits fünf
Kinder – alle mit einem Jahr
­Abstand. In Guatemala tanzte sie
Flamenco, trug ausgestellte Kleider,
war bei Männern begehrt. Zu Hause
fühlte sie sich eingesperrt, wusste
nicht, wohin. Mit ihrem neuen
Mann wollte sie eine gute Ehe führen, nachdem die mit meinem Vater
gescheitert war.
BARBARA 55
SIE
TRAGT
VIEL
GUTES
IN SICH
Ich hatte das Gefühl, meine Mutter
immer und immer wieder verloren
zu haben. Als sie unsere Familie
verließ, als sie auf die Intensiv­
station musste und als sie ins Heim
kam. Am Anfang besuchte ich sie
noch, aber ich hörte bald auf, weil es
einfach zu wehtat. Wenn ich sie sah,
war ich überwältigt von Wut, Trauer
und Mitgefühl, wenn ich nicht
hinging, hatte ich Schuldgefühle.
Als ich bei einem Dreh in L. A. aus
einem Helikopter sprang und mir
dabei beide Füße brach, änderte sich
alles. Da ich eine Weile nicht laufen
konnte, war ich gezwungen, in mich
hineinzuhören, und erkannte: Nur
weil man Schmerz ignoriert, geht er
nicht weg. Ich entschied mich dazu,
mit einem Heiler zu arbeiten und
mich für einen Master in „Spiritueller
Psychologie“ einzuschreiben. Das
Ich habe ihr das, was sie uns und
letztendlich sich selbst angetan hat,
lange sehr übel genommen. Wie
hatte sie nur so selbstgerecht und
verantwortungslos sein können? Ich
floh für eine Weile nach Israel und
versuchte, mit meiner Vergangen­
heit abzuschließen.
Als ich in die USA zurückkehrte,
begann ich als Stuntfrau zu arbei­
ten – und blieb 25 Jahre dabei. Ich
drehte mit Regisseuren wie David
Lynch oder Tim Burton, doubelte
Stars wie Angelina Jolie und Isabella
Rossellini. Hinter den Kulissen hatte
ich immer meine Kamera dabei.
Programm setzte voraus, sich mit
der kompliziertesten Beziehung in
seinem Leben zu beschäftigen
und sie zu reparieren. Ich wählte
meine Mutter. Ich dachte, erst wenn
ich ihr vergebe, können wir wieder
zueinanderfinden. Ich hatte sie
jahrzehntelang nicht besucht.
Zuerst fühlte ich mich unwohl,
so intime Aufnahmen von ihr zu ma­
chen. Aber es war die einzige Mög­
lichkeit, die Geschichte authentisch
zu erzählen. Durch meine Kamera
hatte ich die nötige Distanz und
konnte gleichzeitig eine Verbindung
zu ihr herstellen. Aus meiner Foto­
Es ist, als ob meine Mutter
seit 36 Jahren meditiert
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serie ist ein Buch entstanden, weil
ich möchte, dass Leute an ihrem
Leben Anteil nehmen können. Mein
Vater ist Jude, und in seiner Religion
sagt man: „Wer nur ein einziges
Leben rettet, rettet die ganze Welt.“
Wenn mein Fotobuch eine Person
dazu bringt, einer gewaltsamen
Beziehung zu entfliehen, dann habe
ich mein Ziel erreicht.
Meine Mutter ist jetzt in ihren
Siebzigern und lebt ein sehr mono­
tones Leben. Den Großteil ihres
Erwachsenendaseins hat sie in
Heimen verbracht. Außer den Besu­
chen von meinen Geschwistern und
mir hat sie nicht viel Ablenkung.
Wahrscheinlich steht sie das nur
durch, indem sie sich in sich selbst
zurückzieht – es ist, als ob sie seit
36 Jahren meditiert.
SIE KANN NICHT SPAZIEREN GEHEN,
ein Buch lesen oder den Telefon­
hörer abheben, um jemanden anzu­
rufen, wenn sie sich allein fühlt. Sie
hat sich mit der Einsamkeit ange­
freundet. Jeden Tag bekommt sie
Physiotherapie und versucht zu
laufen, was sie hinbekommt, wenn
zwei Menschen sie stützen. Sie liebt
Musik und alte Filme, also sorge ich
dafür, dass sie am Abend den rich­
tigen Sender eingestellt hat. Meine
Mutter ist sehr nachdenklich, freut
sich aber über kleine Momente, zum
Beispiel, wenn sie im Garten einen
Kolibri oder eine Katze sieht.
Ich besuche sie täglich, je nach­
dem, wie viel ich arbeiten muss.
Dann fahre ich sie im Garten herum,
creme ihre Hände ein, höre mit ihr
Musik. Wir reden über banale Dinge,
etwa wie wir den Tag verbracht
haben. Mit ihr Zeit zu verbringen ist,
wie frische Luft zu atmen. Leute, die
nicht vergeben können, sind häufig
verbittert. Für meine Mutter gilt das
nicht. Früher war sie oft frustriert
und wütend, mittlerweile ist sie
sanft und freundlich, trägt viel Gutes
in sich. Ich denke, dass sie sich auch
selbst verziehen hat.
HANNAH KOZAK porträtiert ihre
Mutter seit 2009. Zu sehen auf ihrem
Blog hannahkozak.wordpress.com.