WAHRER WOHLSTAND STATT BLINDES WACHSTUM Jahreswohlstandsbericht 2017 IMPRESSUM Herausgeberin: Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion Platz der Republik 1 11011 Berlin www.gruene-bundestag.de Verantwortlich: Kerstin Andreae MdB Stellv. Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion Platz der Republik 1 11011 Berlin E-Mail: [email protected] Autoren: Dipl.-Verw.Wiss. Roland Zieschank, Berlin Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Heidelberg Grafik Indikatoren: Dipl.-Wirtschaftskomm. Annika Mierke, Berlin Bezug: Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion Info-Dienst Platz der Republik 1 11011 Berlin Fax: 030 / 227 56566 E-Mail: [email protected] Schutzgebühr: € 1,50 1. Auflage Redaktionsschluss: Januar 2017 INHALT | JAHRESWOHLSTANDSBERICHT 2017 Vorwort ............................................................................................................3 1. Einleitung......................................................................................................5 2 3. 4 5. Konzeptioneller Hintergrund des Berichts...........................................................7 2.1. Anmerkungen zum Begriff Wohlstand und gesellschaftliche Wohlfahrt ...............7 2.2 Zum konzeptionellen Rahmen des Jahreswohlstandsberichts ...........................9 Aktuelle Berichtsformen in Deutschland .......................................................... 16 3.1 Aktivitäten der Bundesregierung jenseits der traditionellen Wirtschaftsberichterstattung ................................................................... 16 3.2 Der Jahreswirtschaftsbericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie 18 3.3. Zur Kritik am BIP – Der Nationale Wohlfahrtsindex....................................... 20 Die Indikatoren des Jahreswohlstandsberichts ................................................... 24 4.1. Systematik .......................................................................................... 24 4.2. Ökologische Dimension .......................................................................... 26 4.3. Soziale Dimension ................................................................................ 30 4.4. Ökonomische Dimension ........................................................................ 33 4.5. Gesellschaftliche Dimension ................................................................... 37 4.6. Aspekte und Probleme der subjektiven Seite von Wohlfahrt – Indikatoren zur Lebenszufriedenheit.............................................................................. 40 Ergebnisse und Schlussfolgerungen ................................................................ 45 5.1. Die Indikatoren – Überblick und Empfehlungen .......................................... 45 5.2. Zusammenfassung ................................................................................ 53 6. Kontrollindikator zur Problematik der Verschuldung............................................ 55 7. Der Jahreswohlstandsbericht im Kontext neuer gesellschaftlicher Berichtsmodelle ...... 60 8. Ausblick .................................................................................................. 62 9. Literaturverzeichnis .................................................................................... 63 Anlage: Indikatorenkennblätter ............................................................................ 71 I 1: Ökologischer Fußabdruck im Verhältnis zur Biokapazität ............................... 72 I 2: Index zur Artenvielfalt und Landschaftsqualität .......................................... 74 I 3: S 80 : S 20 - Relation der Einkommensverteilung ........................................ 76 I 4: Bildungsindex ..................................................................................... 78 I 5: Nettoinvestitionsquote .......................................................................... 79 I 6: Anteil von (potenziellen) Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung ...... 81 I 7: Gesunde Lebensjahre ............................................................................ 83 I 8: Governance Index ................................................................................ 85 VORWORT Liebe Leserinnen, liebe Leser, am 25. Januar werden Bundeskanzlerin Merkel und Wirtschaftsminister Gabriel den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung vorstellen. Wie seit Jahrzenten fokussiert der Bericht jedoch ausschließlich auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung. Wir finden: Diese Zahlen zeigen nur die halbe Wahrheit über unseren Wohlstand. Denn es ist nicht nur das Wachstum der Gesamtproduktion, das eine erfolgreiche Wirtschaft auszeichnet. Sie muss die Lebensqualität aller BürgerInnen nachweisbar verbessern, ohne dabei ihre eigenen Grundlagen zu zerstören, weder die sozialen noch die ökologischen. Wirtschaftswachstum auf Kosten von Mensch, Natur und Umwelt schafft keinen echten Wohlstand. Will man wissen, wie sich der Wohlstand in Deutschland entwickelt hat, muss man also genauer hinschauen. Unser Jahreswohlstandsbericht tut dies. Mit ihm präsentieren wir eine neue Form der Wirtschaftsberichterstattung. Wohlstand schließt hier auch die sozialen und die ökologischen Potenziale mit ein. Ergebnis: Unser materiell sehr hoher Wohlstand wird durch Umweltzerstörung, ungerechte Verteilung und unterlassene Investitionen untergraben. Wer nur auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) starrt, verfällt einer Illusion. In den vergangenen elf Jahren unter unionsgeführten Regierungen, haben sich wichtige ökologische, soziale und ökonomische Kennziffern verschlechtert. Der Wohlstandsbericht offenbart: 11 Jahre Schwarz-Rot-Gelbe Wirtschaftspolitik: Stillstand bei Umwelt, Gerechtigkeit und Investitionen Unser ökologischer Fußabdruck bleibt zu groß. Wir zerstören langfristig das, worin wir leben: unsere Umwelt. Die unionsgeführten Bundesregierungen haben an dieser Entwicklung nichts geändert, im Gegenteil: seit 2011 wird der Umweltverbrauch immer größer. Der Jahreswohlstandsbericht zeigt, wo wir stehen und dass wir dringend etwas ändern müssen. Der Index zur Artenvielfalt und Landschaftsqualität hat sich seit 2005 ebenfalls deutlich verschlechtert. Er bildet den Zustand und die Veränderungen von Natur und Landschaft in Deutschland ab. Die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung in Deutschland liegt seit 2007 auf konstant hohem Niveau und ist 2014 noch einmal auf ihren bisher höchsten Wert gestiegen. Unser Bericht misst sie am Verhältnis des Gesamteinkommens der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung zu dem der ärmsten 20 Prozent. Die Nettoinvestitionen – ein Maß des Produktionspotenzials der deutschen Volkswirtschaft – liegen seit 2005 auf niedrigem Niveau. Sowohl der Staat als auch Unternehmen investieren viel zu wenig. Nur unser Bildungsindikator zeigt Verbesserungen. Darin zahlt sich die oft engagierte Politik auf Landesebene aus. Mit unserem Wohlstandsbericht wollen wir neben ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen anhand messbarer Kriterien darstellen. So zeigen wir, wo Dinge falsch laufen, die in den offiziellen Berichten der Bundesregierung nicht vorkommen, die die Menschen aber täglich erleben. Denn nur mit einem umfassenden und ehrlichen Bild können wir wirklich etwas für mehr und echten Wohlstand für alle tun. Mit freundlichen Grüßen, Anton Hofreiter MdB (Fraktionsvorsitzender) Kerstin Andreae MdB (Stellv. Fraktionsvorsitzende) Oliver Krischer MdB (Stellv. Fraktionsvorsitzender) Berlin, Januar 2017 3 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Die Wohlstandsindikatoren im Überblick: 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 4 1. EINLEITUNG Diese Studie ist eine neue Form der Wirtschaftsberichterstattung. Der Bericht zeigt auf, wie sich der Wohlstand in Deutschland entwickelt hat. Durch die Wahl der Indizes und Indikatoren soll er die Diskussion darüber weiter anregen, welche Qualität und Richtung die Entwicklung der Wirtschaft zukünftig erhalten soll. Wohlstand schließt hier – im Unterschied zu den traditionellen Formen der Wirtschaftsberichterstattung – auch die sozialen und die ökologischen Potenziale mit ein: Es ist nicht nur die Wirtschaft, welche unsere Lebensqualität und unser Wohlergehen bestimmt. Vielmehr entsteht der „Reichtum“ einer Gesellschaft auch aus dem richtigen Umgang mit dem Human- und dem Sozialkapital sowie dem vorhandenen Naturkapital.1 Diese erweiterte Perspektive ist überfällig. Die Konzentration auf wirtschaftliches Wachstum in einem bereits wohlhabenden Land wie Deutschland entspricht eigentlich immer noch dem Denken, wie es nach Ende des Zweiten Weltkriegs vorherrschte, um mit einer quantitativen Ausweitung von Gütern und Dienstleistungen den Wiederaufbau zu meistern. Auch die sprichwörtliche „Tonnenideologie“ zu Zeiten der DDR entspricht diesem quantitativen Verständnis von Wirtschaften – und hat diese Phase der Geschichte sogar überlebt. Inzwischen wird den Kenntnissen und Fähigkeiten der Menschen, der Stabilität sozialer Strukturen, dem Vertrauen auch in Institutionen sowie den politischen Rahmenbedingungen eine große Bedeutung beigemessen. Genauso ist bei näherem Hinsehen der Zustand unserer natürlichen Umwelt einschließlich der Funktionsfähigkeit unserer unterschiedlichen Ökosysteme ein weiterer, entscheidender Faktor des Wohlstands „jenseits“ einer Fokussierung auf die wirtschaftlichen Prozesse. Aber auch, wenn man nur die Wirt- Wie später noch erläutert wird, verbindet sich mit dieser eher ökonomischen Terminologie eigentlich ein soziales und ökologisches Potenzial, das in einem kreativen Sinne zum gesellschaftlichen Wohlstand eines Landes beiträgt. 1 schaft betrachten würde, kann eine reine, auf Wirtschaftswachstum und andere traditionelle Kenngrößen fixierte Analyse in die Irre führen, da sie einem ökonomischen Leitbild folgt, das weder nachhaltig noch zukunftsverträglich ist. Auch dieser zweite Bericht will somit einen anderen Akzent setzen. Wie sich zeigen wird, sind die hier vorgeschlagene Perspektive einschließlich entsprechender Indikatoren durchaus kompatibel mit neueren Überlegungen und Innovationen auf internationaler Ebene. Dennoch wird Deutschland auf absehbare Zeit dabei keine Vorreiterrolle einnehmen können. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hatte sich 2014 zum Ziel gesetzt, einen Jahreswohlstandsbericht zu erstellen. Dieser Bericht sollte dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung gegenübergestellt werden und auch ökologische, soziale sowie sozio-ökonomische Aspekte und Perspektiven gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt mit einbeziehen. Als weiterer Impuls für diesen Bericht sei die Arbeit der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages 2013 erwähnt. Sie hat in ihrem Abschlussbericht gewissermaßen die Weichen mitgestellt, um diese zentralen Begriffe in neuer Weise miteinander zu verbinden.2 Dem jetzt vorliegenden Bericht für 2017 ging im Juli 2015 eine Machbarkeitsstudie voraus (siehe Zieschank/Diefenbacher 2015), welche bereits im Januar 2016 zu einem ersten Wohlstandsbericht führte. Das Ziel dieser Form der Berichterstattung besteht darin, die Diskussion über die Art und Weise des Wirtschaftens anhand einer konzeptionellen wie gleichermaßen empirischen Basis fortzuführen. Was soll zukünftig den gesellschaftlichen Wohlstand in Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlfahrt, Lebensqualität“ 2013. 2 5 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Deutschland einschließlich seiner immateriellen Komponenten – mithin der gesellschaftlichen Wohlfahrt – ausmachen? Die folgenden Argumentationslinien sollen hierfür eine Grundlage schaffen: In Kapitel 2 werden einige grundlegende Überlegungen vorgestellt, welche auch das Verhältnis von Wirtschaft und staatlicher Politik thematisieren. Es geht um die Bewältigung zentraler Risiken einer Gesellschaft, die zumindest im Prinzip über eine soziale Marktwirtschaft einerseits und eine „Green Economy“ andererseits sinnvoll angegangen werden können. Auf diesen Hintergrundinformationen baut das konzeptionelle Grundgerüst des Wohlstandsberichts auf, einschließlich der dann vorgeschlagenen vier Dimensionen der Berichterstattung und ihrer zugehörigen Indikatoren. Kapitel 3 erläutert zusätzlich einige aktuelle gesellschaftliche Berichtsformen in Deutschland. Dabei gibt es bereits interessante Ansätze jenseits tradi tioneller Wirtschaftsberichtserstattung. Anschließend wird der jährliche Wirtschaftsbericht der Bundesregierung kurz thematisiert, mithin der Jahreswirtschaftsbericht 2017. Diese Veröffentlichungen sind ja letztlich eine wesentliche Ursache für den Versuch, eine andere Perspektive mit Blick auf gesellschaftlichen Wohlstand einzuführen. Das Kapitel umreißt deshalb in knapper Weise wesentliche Kritikpunkte an der zentralen Kennziffer des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und der damit häufig verbundenen Wachstumsfixierung. Die Kritik mündet in eine Darstellung des „Nationalen Wohlfahrtsindexes“ und seiner Ergebnisse im Vergleich zur Entwicklung des BIP während der letzten Jahre. In Kapitel 4 wird mit Hilfe von vier zentralen Dimensionen, die jeweils mit zwei Kernindikatoren belegt sind, der gesellschaftliche Wohlstand in exemplarischer Form näherungsweise charakterisiert. Diesem Zweck dienen auch grafische Darstellungen des Verlaufs aller einzelnen Indikatoren während der letzten Jahre, sowie Erläuterungen zur Entwicklung. Kapitel 5 beinhaltet die wesentlichen Ergebnisse aller acht ausgewählten Indikatoren, welche die empirische Basis des Jahreswohlstandsberichts 2017 bilden, in grafischer Form. Durch symbolische Darstellungen werden dabei der jeweilige Zustand sowie die Entwicklungsrichtung jedes Indikators charakterisiert: Es gibt eine Ampeldarstellung einerseits, eine Darstellung der Entwicklung in Form eines Pfeils andererseits. Das Kapitel wird ergänzt um mögliche Schlussfolgerungen aus den Indikatoren und ihres Verlaufs. Kapitel 6 geht kurz auf das Thema der Verschuldung ein. Bereits in den vorausgegangenen Studien war überlegt worden, einen wichtigen aktuellen Bereich, der gesellschaftlichen Wohlstand tangiert, näher zu behandeln. Während die Schuldenaufnahme einerseits eine der treibenden Faktoren für die wirtschaftliche Entwicklung ist, kann sie unter Umständen das erzielte Wohlstandsniveau eines Landes gleichzeitig untergraben; mehr noch, Risikopotenziale können an beiden Polen entstehen: sowohl bei einer Austeritätspolitik als auch einer schuldeninduzierten Wachstumsstimulierung. In Kapitel 7 wird versucht, den Jahreswohlstandsbericht im Kontext neuer gesellschaftlicher Berichtsmodelle zu verorten: Die Kenntnis anderer nationaler und internationaler Diskurslinien sowie Messkonzepte soll außerdem helfen, die eigenen Bemühungen einzuordnen und voranzutreiben. Kapitel 8 gibt abschließend einen kurzen Ausblick auf die weiteren Arbeiten und spricht die Notwendigkeit einer institutionellen Absicherung der Datenerhebung für die ausgewählten Indikatoren an. Der Jahreswohlstandsbericht 2017 enthält wiederum einen ausführlichen Anhang, in welchem alle Indikatoren anhand von Kennblättern in systematisierter Weise dargestellt werden. Die Kennblätter erlauben ein vertieftes Verständnis der Indikatoren des Berichts. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 6 2 KONZEPTIONELLER HINTERGRUND DES BERICHTS 2.1. ANMERKUNGEN ZUM BEGRIFF WOHLSTAND UND GESELLSCHAFTLICHE WOHLFAHRT Der Begriff des Wohlstands hat eine lange Geschichte.3 Umgangssprachlich wird mit Wohlstand häufig ein Zustand beschrieben, in dem ein Individuum ausreichend oder sogar mehr Geld zur Verfügung hat, um sich seine Wünsche erfüllen zu können. Dieses Begriffsverständnis verweist auf die materielle Dimension des Wohlergehens, wobei in erweiterten Begriffsfassungen auch immaterielle Aspekte hinzugenommen werden.4 Wird nun nicht nur das einzelne Individuum betrachtet, sondern eine Gesellschaft insgesamt, stellt sich natürlich die Frage, wie sich dann der Wohlstand im Blick auf das Ganze bemisst. Damit kommen vor allem Fragen der Verteilung in den Blick. Ist es der Reichtum der Eliten in einem von Oligopolen geprägten Staat, der zum obersten Ziel erklärt wird, oder ist es das „größte Glück der größten Zahl“? Wohlfahrt wiederum kann in mindestens drei verschiedenen Kontexten verortet werden, in denen der Begriff jeweils eine unterschiedliche Bedeutung transportiert: (1) Am nächsten liegt zunächst der alltagssprachliche und politisch-technische Kontext, in dem Wohlfahrt ein Teilsystem der sozialen Sicherung bezeichnet. Hier spielen auch die Wohlfahrtsverbände als Träger sozialer Belange der Bevölkerung eine bedeutende Rolle. Der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ war zudem in den Anfängen der Bundesrepublik positiv besetzt, weil er Der folgende Abschnitt basiert auf Meyer/Ahlert/Diefenbacher/Zieschank/Nutzinger 2013. 3 4 Auf die Schnittstelle dieser beiden Begriffsaspekte hat schon Ludwig Erhard 1957 verwiesen. zur sozialen Existenzsicherung und Altersvorsorge vieler Menschen beitrug. Im Kontext dieser Studie wird aber von einem nachstehend beschriebenen, wesentlich weiteren Verständnis von Wohlfahrt ausgegangen. (2) Dann existiert der wissenschaftliche Kontext, in dem Wohlfahrt den Gesamtnutzen eines Individuums oder der Gesellschaft beschreibt, letzteres als Aggregation der jeweiligen Nutzenfunktionen der Individuen5 – wobei schon Kenneth Arrow gezeigt hat, dass es im Grunde unmöglich ist, unterschiedliche Nutzenfunktionen von Individuen zu einer gesamtgesellschaftlichen Nutzenfunktion sinnvoll zusammenzufassen.6 Zwischen den Begriffsfeldern (1) und (2) gibt es eine Schnittmenge dann, wenn Wohlfahrt fokussiert als Befriedigung der Grundbedürfnisse von Menschen verstanden wird. (3) Schließlich gibt es einen Kontext, in dem der Begriff als umfassende Bezeichnung für Wohlergehen verwendet wird, der neben materiellen auch immaterielle Komponenten enthält. Bereits die Definition der Weltgesundheitsorganisation setzt sich dabei vom BIP-Verständnis ab. Wohlergehen wird hier indessen noch primär auf der personalen Ebene verstanden als „… die subjektive Wahrnehmung einer Person in ihrer Stellung im Leben, in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen Zur Begründung des Konzepts der Wohlfahrtsfunktion vgl. Bergson 1938. 5 Vgl. Campbell & Kelly 2002; interessanterweise hat sich Arrow in jüngster Zeit mit einem stark formalisierten Vorschlag zur Messung von Nachhaltigkeit und Wohlstand zu Wort gemeldet, siehe Arrow/Dasgupta/ Goulder/Mumford/Oleson 2010. 6 7 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 sie lebt, in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen“ (WHO 1995). Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft hilft dieses Begriffsverständnis jedoch ebenfalls nicht weiter, da es bei gesellschaftlicher Wohlfahrt nicht allein um die Mikroebene („Well-being“) sondern um die Makroebene („Welfare“) geht, im Sinne des Wohlergehens eines Landes. Insofern würde der Begriff der Wohlfahrt also verstanden als Gesamtheit der materiellen und der immateriellen Komponenten von „Wohlstand“ und „Wohlergehen“. Dieses Verständnis beinhaltet sicherlich das ökonomische Kapital, aber es geht eben auch darüber hinaus und bezieht das „Naturkapital“ und das „soziale Kapital“ als Bestandteile gesellschaftlicher Wohlfahrt mit ein. Damit gemeint sind die Qualität und die Größe von Ökosystemen, etwa Wald- oder Gewässerökosysteme, auch die biologische Vielfalt etc. Genaugenommen müssten neben den jährlichen Stromgrößen somit auch Bestandsgrößen berücksichtigt werden. Dieses stellt indessen eine Zukunftsaufgabe dar, weil das Naturkapital eines Landes und auch teilweise das Sozialkapital in absoluten Größen bislang schwer erfasst 7 Mit sozialem Kapital lassen sich unter anderem persönliche Fähigkeiten, Bildung, sozialer Zusammenhalt und Engagement umschreiben (siehe u.a. Zieschank/Diefenbacher 2010). Wohlfahrt resultiert dann zum einen aus den Nutzenströmen, die einer Gesellschaft in einer bestimmten Periode aus den so umfassend betrachteten Kapitalarten zufließen, zum anderen aber aus der Erhaltung ihrer Kapitalbestände.7 Insofern würde es sich von der begrifflichen Seite her anbieten, in dieser Studie auch den Begriff der Wohlfahrt im Zusammenhang mit einem alternativen Jahreswirtschaftsbericht zu verwenden. Aus Gründen der sprachlichen Akzeptanz und öffentlichen Resonanz orientiert sich die Erstellung eines alternativen Jahreswirtschaftsberichtes gemäß der Vorgabe des Auftraggebers am Begriff „Jahreswohlstandsbericht“, wobei der Wohlstandsbegriff hier (gleichfalls) in einem inhaltlich weiter reichenden Sinne der Einbeziehung von materiellen und immateriellen Komponenten zu verstehen ist. werden kann (und solche Ökonomisierungsversuche auch aus ethischen und politischen Gründen nicht unproblematisch sind). Zu einem interessanten Ansatz siehe die Statistikbehörde in Großbritannien: ONS 2015. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 8 2.2 ZUM KONZEPTIONELLEN RAHMEN DES JAHRESWOHLSTANDSBERICHTS 2.2.1 Grundannahmen Auf den ersten Blick könnte es naheliegen, an dieser Stelle nun direkt die einzelnen Indikatoren des Berichts für 2017 darzustellen. Es ist aber erforderlich, hier zunächst den Gesamtkontext näher darzustellen. Wenn – was bei den meisten Indikatoren der Fall ist – auf vorhandene Indikatoren zurückgegriffen wird, bedeutet das, dass je nach Interesse und Hintergrund eines Nutzers der betreffende bisherige Kontext mitschwingt, mehr oder weniger stark. Somit bietet es sich an, zuerst die eigene Konzeption etwas näher vorzustellen und transparent zu machen; sie bildet den Rahmen oder Interpretationsraum für die verwendeten Kenngrößen. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Aussagen der acht Kernindikatoren einordnen und interpretieren. Ausgangspunkt ist die Intention, dem traditionellen ökonomischen Modell ein realistischeres Modell gegenüber zu stellen: Denn bislang wird das Wirtschaftswachstum häufig als Grundlage nicht nur für Wohlstand angesehen, sondern ebenso für Umverteilung, soziale Sicherung, Schuldendienst, Behebung von Umweltschäden, Rentenzahlungen oder Investitionen. Hier würde zum ersten akzeptiert, dass Wirtschaftswachstum in Europa – gemessen an der Rate des preisbereinigten BIP-Wachstums pro Kopf – gegenwärtig hauptsächlich von staatlichen Anschubprogrammen sowie einem vergleichsweise niedrigen Ölpreis getrieben wird; begleitet von unterstützenden Folgewirkungen, welche auf Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zurückgehen und historisch einzigartige Liquiditätsströme in Umlauf bringen. Zum zweiten wird die These zugrunde gelegt, dass das traditionelle wachstumszentrierte Modell gesellschaftliche Wohlfahrt teilweise untergräbt und somit faktisch einen illusionären Wohlstand signalisiert, weil wesentliche Komponenten für gesellschaftliche Wohlfahrt in den Bilanzierungen ignoriert werden, nämlich die Entwicklung von Human- und Sozialkapital sowie Naturkapital. Diese Grundannahmen sollen im Folgenden vertieft und ausgeführt werden. Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, als seien solche Überlegungen eher von theoretischer Bedeutung; dahinter steht aber die Überzeugung und auch die Erfahrung, dass die Indikatoren im Jahreswohlstandsbericht aus einem wissenschaftlich gestützten Konzept abgeleitet und ausgewählt werden sollten. Denn Indikatoren dienen (a) der Komplexitätsreduktion, (b) der empirischen und dauerhaften Verfolgung von Trends, welche ohne die Indikatoren nicht wahrgenommen werden könnten, und (c) der Kommunikation in die Politik, die Medien und die Öffentlichkeit. Diese wichtigen Funktionen implizieren zugleich, dass der Zusammenhang zwischen Indikator – der Messgröße – und Indikandum – dem eigentlich interessierenden ökologischen oder gesellschaftlichen Sachverhalt – bewusst hergestellt und sinnvoll nachvollziehbar ist. Häufig zeigt sich bei der Entwicklung von indikatorgestützten Berichten jedoch eine gewisse Beliebigkeit, was die Einbeziehung von Indikatoren anbelangt. Sie resultiert teilweise aus Unkenntnis geeigneter(er) Kenngrößen, relativ zufällig zustandegekommenen Diskursen und politisch oder interessensmäßig ausgehandelten Kompromissen. Dagegen ist in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft nicht prinzipiell etwas einzuwenden. Jedoch besteht die Gefahr, dass die Methode des Sammelns, Auswählens und Aushandelns auch zu einer ständig steigenden Anzahl immer neuer Indikatorensets führen kann, welche sich gegenseitig relativieren (vgl. Zieschank 2007). Oder es erfolgt ein permanenter, strittiger Dis- 9 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 kurs, der mangels konzeptioneller und „objektiverer“ Kriterien die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten eines Indikatorenberichts als politisches Instrument schwächt.8 2.2.2 Ausgangspunkt: Das doppelte Versagen des Marktes Im Zuge der Industrialisierung stellte sich zuerst die traditionelle, ursprüngliche Verteilungsfrage, wer an den hergestellten Gütern sowie dem damit produzierten Gewinn partizipiert. Die Verteilungsfrage war hier vorrangig und unmittelbar bezogen auf die gesellschaftlichen Fraktionen von Unternehmen und Arbeitnehmern, beziehungsweise von Kapital und Gewerkschaften. In den sich anschließenden Phasen der Verteilungskämpfe fand, zumindest in Deutschland, eine Entwicklung statt, welche mit den Sozialgesetzen von Bismarck begann und in deren Verlauf der Staat als zusätzlicher Akteur auftrat. Im Ergebnis übernahm der deutsche Staat sukzessive eine immer wichtigere Rolle und entwickelte sich – unterbrochen von der nationalsozialistischen Herrschaft – weiter bis zum „Sozialstaat“ in einem ordoliberalen Rahmen. Zumindest vom Prinzip her sind Probleme der sozialen Existenzsicherung, der sozialen Teilhabe, der (Um)Verteilung und somit der sozialen Gerechtigkeit als staatliche Aufgabe verstanden worden – nicht zuletzt, um den sozialen Frieden als eine wichtige Grundlage für die Wohlstandsentwicklung des Landes zu sichern. Aus der Logik der Zielsetzung und dem Verständnis des Staates als einem Sozial- und Im Sinne von Albert & Parker 1991, die beinahe zeitlos konstatierten: „The most important problem in Indicator development is the disagreement among experts.” schließlich einem Wohlfahrtsstaat hat sich das Spektrum staatlicher Regelungsbereiche wiederum nahezu zwangsläufig erweitert um die Aufgabe der Erhaltung der Umwelt und um eine Orientierung am Begriff der nachhaltigen Entwicklung, welcher durch mehrere Leitlinien ausdifferenziert wurde. In einer gewissermaßen zweiten Entwicklungsstufe des wechselseitigen Evolutionsprozesses zwischen „Markt“ und „Staat“ kamen zur genannten Herausforderung der sozialen Sicherung und der Verteilung des Reichtums zunehmend Probleme der Sicherung von natürlichen Ressourcen (einschließlich Wasser), der Abwasser- und Abfallentsorgung sowie generell die Erhaltung der Umweltqualität hinzu. Auch hier ging es um eine Sicherung der Lebensqualität, von Gesundheit einerseits und der Erhaltung der Produktionsgrundlagen andererseits.9 Seit den ersten Diskussionen um ein „Marktversagen“10 ist immer wieder offensichtlich geworden, dass der Umwelt- und Naturschutz eine wichtige Aufgabe staatlicher Institutionen geworden ist und weiter zu sein hat. In den letzten Jahren konnte sich dabei die Erkenntnis durchsetzen, dass es nicht allein um die Bewältigung der über ständig steigende Produktions- und Konsumprozesse ausgelösten Probleme des Umweltverbrauchs und der Umweltbelastung geht. Gerade vor dem Hintergrund eines übergreifenden, modernen Wohlfahrtsverständnisses wird erkennbar, dass man in die ökonomische Theorie und vor allem in die wirtschaftliche Praxis auch das Naturkapital einbeziehen muss,11 nämlich im So Jänicke bereits 1979 in seiner Theorie des Staatsversagens. 8 10 Erstaunlich ist dennoch, dass die „soziale Frage“ und die „Umweltfrage“ nicht zur selben Zeit Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Konflikte und Kämpfe wurden, zumal auch hier die Degradierung der natürlichen Umwelt die unteren Bevölkerungsschichten besonders traf: Während in Berlin auf der einen Seite hygienisch bedenkliche sowie umweltmäßig belastende Arbeitermilieus entstanden, wurden auf der anderen Seite aufwändige Landschaftsgärten und Parks realisiert, zunehmend auch von Industriellenfamilien (illustrierend und im Sinne einer Reaktion darauf sei auf Lennés Konzept von „Volkspark und Arkadien“ verwiesen). Mit Naturkapital sind, wie dargelegt, nicht nur die biotischen und abiotischen, erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen gemeint, sondern auch die Bestände an Ökosystemen, die Biodiversität, die Qualität von Naturräumen und Landschaften und insbesondere die hierin begründeten Ökosystemdienstleistungen. Für Deutschland ist Ende 2012 damit begonnen worden, eine nationale TEEB-Studie durchzuführen. „Naturkapital Deutschland – TEEB DE“ (2012-2016) wird vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung koordiniert und durch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) gefördert. Inzwischen liegen Teilergebnisse vor, siehe auch Hartje/Wüstemann/Bonn (2015). 9 11 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 10 Sinne einer wesentlichen Grundlage des gesellschaftlichen Wohlergehens und Fortschritts (vgl. Zieschank & Diefenbacher 2010; Worldbank 2011 mit ihrem „Total Wealth“-Konzept; SRU 2012; Worldbank 2014, Natural Capital Committee 2015, Zieschank 2015, sowie auch Barbier & Burges 2015). Wenn erneut der Staat die einzige Institution ist, die eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung – zumindest im Sinne eines Prozesses – übernehmen kann, dann ist hier der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen eine wichtige Staatsaufgabe. In Analogie zur Zielsetzung und dem Verständnis des Staates als einem Sozial- und Wohlfahrtsstaat lässt sich hier auf diesem Weg eine zweite normative Aufgabe des Staates begründen. In Anlehnung an Marschall (1992) kann nach der Entwicklung liberaler Grundrechte (18. Jahrhundert), politischer Partizipationsrechte (19. Jahrhundert) und sozialer Rechte (20. Jahrhundert) heute die Rechtsentwicklung am Übergang zu einer neuen Rechtsform hin zu ökologischen Grundrechten gesehen werden.12 Folgt man weiter den Überlegungen zur Staatszielbestimmung des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU 2012, S.23), so resultiert aus Artikel 20a des Grundgesetzes eine Langzeitverantwortung für künftige Generationen, unterstützt vom Vorsorgeprinzip der Umweltschutzpolitik und dem Nachhaltigkeitsprinzip, wie es seit der Brundtland-Kommission 1987 verstanden wird (vgl. Steinberg bereits 1998, im Detail: Appel 2005). Solchen Zielsetzungen kommt deshalb eine wichtige Orientierungsfunktion für alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure zu; sie sind inzwischen Teil eines modernen Verständnisses von staatlicher Politik. Als Fazit kann davon ausgegangen werden, dass sich der moderne Wohlfahrtsstaat auf der Regulierung und zumindest teilweisen Bewältigung ökologischer Risikolagen ebenso gründet, wie auf der Regulierung und zumindest 12 teilweisen Bewältigung sozialer Risikolagen. Teilt man diese Erkenntnis, dann muss sich auch ein gesellschaftliches Berichterstattungsund Monitoringsystem auf alle diese Dimensionen beziehen. Mit dem vorliegenden Jahreswohlstandsbericht soll auf diese Anforderung im Rahmen der bestehenden Kapazitäten reagiert werden. 2.2.3 Eine notwendige Ergänzung zum Sozialstaat: Grüne Wirtschaft Als Pendant zum Sozialstaat ist angesichts der ökologischen Entwicklung und der immer deutlicheren Folgen im ökonomischen Bereich die Umgestaltung der bisherigen, an quantitativem Wachstum ausgerichteten Wirtschaft in eine „Green Economy“ vorstellbar und erfolgversprechend. Zum Verständnis einer Green Economy sei eine Definition von UNEP (2011) angeführt: “UNEP defines a green economy as one that results in improved human well-being and social equity, while significantly reducing environmental risks and ecological scarcities. In a green economy, growth in income and employment should be driven by public and private investments that reduce carbon emissions and pollution, enhance energy and resource efficiency, and prevent the loss of biodiversity and ecosystem services.” In einem Jahreswohlstandsbericht sollte daher die Umstrukturierung der Wirtschaft in Richtung einer Green Economy als wichtiger Bereich zumindest aufgegriffen werden. Wie bei den anderen Dimensionen geht es um eine exemplarische, dennoch charakteristische Beschreibung mittels weniger Kernindikatoren. Denkbar ist außerdem, zu diesem Themenfeld ein Zusatzmodul zu entwickeln, das entweder in kommenden Ausgaben des Jahreswohlstandsberichts ständig oder aber als Sonderschwerpunkt aufgenommen werden könnte. Siehe auch Menke & Pollmann 2007; Philips & Düwell 2014, dort Kapitel 5: Ökologische Gerechtigkeit. 11 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Bemerkenswert ist hier, dass sich eine wechselseitige Weiterentwicklung von Staat und Wirtschaft abzeichnet, bei der nun aber ein (neuer) Impuls von der staatlichen Seite ausgeht.13 Es ist wichtig, bei der Identifizierung von geeigneten Indikatoren für eine Green Economy als Teil eines Wohlstandsberichts in Erinnerung zu behalten, dass der Transformationsprozess einer Wirtschaft in Richtung einer Green Economy mitnichten nur ein ökonomischer, sondern vielmehr ein primär politischer Prozess ist, zumindest in der Anfangsphase, bis sich neue Märkte und innovative Nachfrageschwerpunkte herausgebildet haben. Vergegenwärtigt man sich, dass die existierende Produktions- und Konsumweise bei einer Fortschreibung des modus vivendi an sich selbst zu Grunde gegangen wäre, so erscheint Umweltschutz in einem anderen Licht. Nur durch anspruchsvolle Umweltgesetzgebung und Förderung innovativer, Ressourcen sparender und umweltfreundlicher Technologien konnte das Belastungsniveau soweit gesenkt werden, dass an alten Industriestandorten weiter produziert werden kann.14 Mit anspruchsvollen Umweltzielen ist in vielen Staaten letztlich eine Modernisierung der Wirtschaft erfolgt, wie die Beispiele Deutschland aber auch Südkorea zeigen. Umweltbezogene Güter und Dienstleistungen, erneuerbare Energien und Ressourcen einsparende Strategien sind nicht nur Charakteristika einer neu entstandenen Umweltindustrie, vielmehr durchdringt das Ressourcenmanagement langsam, aber sicher die gesamte Wirtschaft. Beispiel Energiewende und Strukturwandel im Energiesektor: Unternehmen, welche diesen nicht nachvollziehen, verlieren Marktanteile und büßen an Wettbewerbsfähigkeit ein, wie die bislang großen Versorgungsunternehmen in Deutschland. 13 Die gegenwärtigen Umweltbelastungen insbesondere in Megastädten Asiens oder Lateinamerikas sowie von Flüssen und Seen etwa in China schlagen zunehmend auf die wirtschaftlichen Produktionsbedingungen durch. In China werden bis 2030 über 800 Tote je 1 Million Einwohner an vorzeitigen Todesfällen aufgrund der Luftverschmutzung durch Feinstaub erwartet (nach OECD 2011b). 14 Dieses „Mainstreaming“ im Sinne einer Integration von Umweltaspekten in das Wirtschafts- und Konsumsystem hat zu Effizienzgewinnen, neuen Arbeitsplätzen, Einkommen sowie Wettbewerbs- und Exporterfolgen geführt.15 Von dieser Tendenz profitiert Deutschland somit nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch und sozial. Mit einer Umorientierung in Richtung einer „Green Economy“ verbinden einige Staaten zudem die Erwartung, ihrem abschwächungsgefährdeten Wirtschaftswachstum wieder auf die Beine zu helfen. Eine Politik, die über lange Zeiträume als eine Gefährdung für Industriestandorte erachtet wurde, trägt mehreren Untersuchungen zufolge à la longue zu einer Gesundung bei; zumindest würden die wirtschaftlichen Abschwächungstendenzen ohne den Ausbau einer Green Economy wesentlich deutlicher ausfallen (OECD 2011a, UNEP 2011, Jänicke 2011, European Commission 2011). Schließlich erfordern die – absolut gesehen – zum Teil weiter steigenden Umweltbelastungen16 und die absehbaren Engpässe bei zentralen Ressourcen anhaltende Modernisierungsbestrebungen in den meisten industriell entwickelten oder aufstrebenden Staaten. Bislang erfolgte global keine absolute Entkopplung von ökologischen Belastungen, die mit dem wirtschaftlichen Wohlstand bis dato einhergehen.17 Man muss sich an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass selbst bei einem NullWachstum die mit den laufenden Produktionsund Konsumprozessen verbundenen Emissionen, Abfälle und Ressourcenverbräuche jedes Jahr neu entstehen. Dieser Prozess wirkt häufig Vgl. Jänicke/Zieschank 2011; Allianz Dresdner Economic Research 2011; Gehrke/Schasse/Ostertag/ Nebenführ /Leidmann 2014. 15 Ausführlicher hierzu u.a. Steffen/Richardson/Rockström et al. 2015. 16 Weiterführend: Wiedmann et al. 2013, wo auf Seite 1 ausgeführt wird: ”Measured by the material footprint indicator, resource use has grown in parallel to GDP with no signs of decoupling. This is true for the USA, UK, Japan, EU27 and OECD.” Bestätigend auch hinsichtlich zusätzlicher Dimensionen der Umweltbelastung: Bradshaw, Giam & Sodhi 2010 sowie Hertwich & Glen 2009. 17 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 12 kumulativ, da sich Biodiversitätsverluste oder verbrauchte abiotische Ressourcen eben nicht mehr regenerieren – jedenfalls nicht in für menschliches Wirtschaften relevanten Zeiträumen. Trotz aller Erfolge bei der Steigerung der Ressourceneffizienz sind in dieser Situation tiefgreifende Transformationsprozesse notwendig, soll auch nur der ökologische Status quo aufrechterhalten werden. Erkennbar ist, dass vor allem in Deutschland sich Umweltpolitik in Richtung einer teilweise erfolgreichen Wirtschaftspolitik entwickelt.18 Mit dem international seitens der OECD und von UNEP verfolgten „Green Economy“-Leitbild bestätigt sich nicht nur dieser Befund (exemplarisch Raingold 2011, Jaeger et al. 2011), sondern er ist zugleich Ausgangspunkt für damit einhergehende neue Wandlungsprozesse und Folgen für die sozialen Lebenswelten. 19 Der Wandel von einer umweltschutz- und naturschutzorientierten Politik zu einer ökonomischen Perspektive von Umweltpolitik, welche neue Märkte generiert, zum Strukturwandel beiträgt und teilweise neue wirtschaftliche Wachstumsimpulse setzt, ist dabei noch nicht der Endpunkt. Denn dieser Prozess erstreckt sich auf immer weitere Akteursgruppen und beschleunigt sich, wenn das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung weiter verfolgt wird.20 So wird beispielsweise unter dem Leitmotiv eines „nachhaltigen Konsums“ nun beinahe die gesamte Bevölkerung einbezogen oder zumindest tangiert (zum Wandel der Umweltpolitik siehe auch Zieschank 2016). Beispielsweise hat das deutsche Umweltministerium die vierte Version des Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland herausgegeben (BMUB 2014); siehe außerdem Umweltwirtschaftsbericht des BMU und UBA 2011. 18 Interessanterweise unterscheidet sich die Zielsetzung der Ansätze, die sich der Theorie einer Postwachstumsökonomie zuordnen lassen, von diesem Ansatz kaum; in der Grundsatzerklärung zum Programm der internationalen Degrowth Conference in Leipzig vom September 2014 heißt es: „By ‚degrowth‘ we understand a down-scaling 19 2.2.4 Fazit: Zentrale Bereiche des Jahreswohlstandsberichts 2017 Die Gesamtheit gesellschaftlicher Wohlfahrt kann vor diesem Hintergrund nur dann sinnvoll beschrieben werden, wenn man die Dimensionen und Teilbereiche betrachtet, aus der sich diese Gesamtheit zusammensetzt. Hier sind verschiedene Perspektiven möglich, die diese Teilbereiche in einen theoretisch fundierten Gesamtzusammenhang stellen: (1) Das erste Konzept: ein erweiterter Kapitalbegriff Ein erstes Konzept geht vom Kapitalbegriff aus, erweitert diesen jedoch deutlich. Als Grundlage für den gesellschaftlichen Wohlstand wird bislang und in der Regel das verfügbare produktive Kapital einschließlich des verfügbaren finanziellen Kapitals einer Volkswirtschaft gesehen. Plakativ formuliert, signalisiert das BIP aufgrund seiner „sozialen Gleichgültigkeit“ einerseits und seiner „Naturvergessenheit“ andererseits einen Wohlstand, der sich im Lichte einer Orientierung an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt zunehmend als illusionär erweist. Denn in der Regel wird ignoriert, dass das wirtschaftliche Wachstum sich massiv auf Vorleistungen aus dem sozialen System sowie dem ökologischen System stützt, welche unentgeltlich in das Wirtschaftssystem einfließen (siehe Abbildung 1). Der französische Ökonom P. Viveret (2003) hat hierfür den Begriff der „Geschenkströme“ geprägt. Wohlfahrt kann deshalb nur dann sinnvoll beschrieben werden, of production and consumption in the industrialized states that increases human well-being and enhances ecological conditions and equality on the planet. We want a society in which humans live within their ecological limits, with open, connected and localized economies. A society in which resources are more equally distributed.“ Siehe hierzu die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und den Fortschrittsbericht 2012 sowie die Neuauflage 2016, welche nun im Januar 2017 erschienen ist (ausführlich: Bundesregierung 2017). 20 13 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 wenn man die Dimensionen und Teilbereiche betrachtet, aus denen sie sich zusammensetzt: Zwar ist anerkannt, dass Faktoren wie eine gute Bildung, berufliche Flexibilität, soziale Sicherheit und Motivation unerlässlich für die Wirtschaft und für den Arbeitsmarkt sind, jedoch wird das hier eigentlich angesprochene Potenzial an persönlichen Fähigkeiten und sozialer Stabilität selbst nicht als Teil gesellschaftlicher Wohlfahrt gesehen. In einem Wohlfahrtskonzept moderner Prägung sind dies jedoch gleichfalls „Assets“, im Sinne persönlicher wie sozialer Faktoren und Potenziale, die einen wesentlichen Bestandteil des materiellen Wohlstands und auch immaterieller Wohlfahrt ausmachen. Abb. 1: Komponenten gesellschaftlicher Wohlfahrt (Zieschank 2013, eigene Darstellung ) Gleiches gilt für die Natur, insbesondere für die Qualität von Ökosystemen, die von relativ naturnahen Schutzgebieten über stark genutzte Agrarökosysteme bis hin zu urbanen Ökosystemen reichen. Außer, dass diese sicherlich auch einen „Wert an sich“ darstellen und nicht a priori unter einem utilitaristischen Blickwinkel betrachtet werden dürfen, sind relativ intakte Ökosysteme Voraussetzung für die „Ökosystemdienstleitungen“, also Funktionen, welche Verwiesen sei hier beispielsweise auf die deutsche Landschaftsmalerei, das Gefühl heimatlicher Identität 21 diese Systeme für den Menschen erfüllen und die von unmittelbarer Lebenserhaltung bis zu geistigen, emotionalen und spirituellen Möglichkeiten reichen.21 Der Kapitalbegriff ist insofern primär aus pragmatischen Gründen gewählt, um im Kontext einer vorherrschenden ökonomischen Sichtweise in vielen Staaten den Blick auf weitere Kapitalelemente lenken zu können, welche faktisch den wirtschaftlichen Wohlstand subventionieren, da sie als „externe Faktoren“ nicht bilanziert und damit auch nicht vergütet werden. Genau genommen handelt es sich eigentlich eher um Humanpotenzial und Naturpotenzial. Berücksichtigt man diese grundlegenden „Kapitalbereiche“ in einem Jahreswohlstandsbericht zumindest konzeptionell, so kann wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum immer nur vor dem Hintergrund einer Erhaltung und möglichst sogar Förderung von Human-, Sozial- und Naturkapital verstanden werden (vgl. Abbildung 1). Es sollte dann sinnvollerweise um ein qualitatives Wachstum gehen, bei gleichzeitigem Strukturwandel mit schrumpfenden und florierenden Sektoren, mit dem Ziel, die ökologischen und sozialen Begleit- und Folgekosten zu senken sowie insgesamt die gesellschaftliche Wohlfahrt zu erhöhen. und der vielfältigen Bedeutung von Kulturlandschaft, bis hin zum Weltkulturerbe im Sinne der UNESCO. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 14 (2) Zusätzliche Berücksichtigung „intangiblen Kapitals“ des Überlegt wurde, ob über die soeben genannten grundlegenden Kapitalvarianten hinaus in einem Jahreswohlstandsbericht auch der „Reichtum“ einer Gesellschaft angesprochen werden soll, welcher sich auf ein funktionierendes Staatswesen, rechtlich verankerte demokratische Prozesse und andere institutionelle Errungenschaften stützt, wie die Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation. Ein Stichwort ist in diesem Zusammenhang das so genannte „intangible Kapital“, dem beispielsweise die Weltbank in ihren Länderstudien eine große Bedeutung beimisst: Es wird mehrfach konstatiert, dass diese Form des Wohlstands letztlich ausschlaggebender ist als der natürliche Reichtum bzw. die natürlichen Ressourcen eines Landes oder das Bildungsniveau oder andere Handlungskapazitäten, welche jedoch ohne demokratischen Rahmen eher in Korruption, Elitenbildung und soziale Ungleichheit münden würden. Es erscheint durchaus zielführend, dieses umfassende Verständnis mit in die konzeptionelle Fundierung des Jahreswohlstandsberichtes einzubeziehen (vgl. auch das „Total Wealth-Konzept“ der Weltbank, 2011). 22 Das Spektrum möglicher relevanter Bereiche, die per Indikatoren erfasst werden müssten, ist jedoch gleichzeitig außerordentlich groß – hinzu kommt die unübersichtliche Zahl an Indikatoren aus verschiedenen Disziplinen, welche sich auf politische und institutionelle Aspekte einer Gesellschaft beziehen. Als mögliche Anknüpfungspunkte bieten sich zwei Schwerpunkte an: erstens die Einbeziehung des „Good Governance“-Diskurses und die Auswertung entsprechender Indikatorenansätze. Zweitens sollte die Entwicklung um die „Sustainable Development Goals“ (United Nations 2015) verfolgt werden, da sich hier eine zukünftig intensivere Diskussion auch in Deutschland abzeichnet, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der laufenden Überarbeitung der bundesdeutschen Nachhaltigkeitsindikatoren sowie fallweise einzelner, zugehöriger Ziele. So thematisieren die Schwerpunkte “Justice“ und “Prosperity” mit entsprechenden Unterzielen22 ebenfalls Aspekte eines Wohlstandsberichts, welcher auch die gesellschaftliche Dimension exemplarisch aufgreifen möchte. Indessen ist die Indikatorenentwicklung auch hier noch in der Anfangsphase, die internationale Ausarbeitung und Abstimmung von Indikatoren zu den SDGs und deren 169 Unterziele ist keine leichte Aufgabe. Siehe https://sustainabledevelopment.un.org/sdgsproposal 15 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 3. AKTUELLE BERICHTSFORMEN IN DEUTSCHLAND In den folgenden Abschnitten sollen einige Aktivitäten der alternativen Berichterstattung, die in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle gespielt haben, kurz vorgestellt und in ihrer Bedeutung umrissen werden. 3.1 AKTIVITÄTEN DER BUNDESREGIERUNG JENSEITS DER TRADITIONELLEN WIRTSCHAFTSBERICHTERSTATTUNG In den letzten Jahren haben sich in Deutschland eine Reihe von Aktivitäten zur gesellschaftlichen Berichterstattung auch von Seiten der Regierung und unter Beteiligung der amtlichen Statistik insbesondere im Bereich der Umwelt- und Sozialberichterstattung entwickelt, die weit über die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und über die Wirtschaftsberichterstattung hinausgehen. Drei dieser Berichterstattungssysteme sollen hier exemplarisch erwähnt werden: • • • die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, die Armuts- und Reichtumsberichte sowie der regierungsoffizielle Diskurs zum Thema „Gut leben“. Im Jahr 2002 wurde in der Bundesrepublik erstmals eine Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet, in der damals unter der werbewirksamen Überschrift „21 Indikatoren für das 21. Jahrhundert“ auch ein Indikatorensystem zur Nachhaltigkeitsberichterstattung präsentiert wurde. Die Nachhaltigkeitsstrategie wurde bislang alle vier Jahre überarbeitet. 2016 ist die umfassendste Revision des Berichts seit der ersten Ausgabe erfolgt: Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und das begleitende Messund Monitoringsystem sind gemäß der 17 Sustainable Development Goals umstrukturiert worden (SDG, vgl. United Nations 2015; wobei hier noch 169 Unterziele benannt werden). Dazu ist im Sommer 2016 ein erster Entwurf vorgelegt worden, zu dem ein öffentlicher Beteiligungsprozess bis Ende Oktober 2016 organisiert wurde, in dessen Rahmen viele Stellungnahmen zivilgesellschaftlicher Akteure eingegangen sind. Außerdem fand eine Anhörung zum Entwurf im Bundeskanzleramt statt. Die Endfassung der Strategie ist Anfang 2017 erstellt worden; sie enthält einen Indikatorensatz von 63 Indikatoren (Bundesregierung 2017). Der Indikatorenbericht, der mit der Nachhaltigkeitsstrategie korrespondiert, wird vom Statistischen Bundesamt betreut und ist bislang alle zwei Jahre – zuletzt 2014 und 2016 – neu herausgegeben worden. In der Fassung von 2014 enthielt dieser Bericht noch 38 Indikatoren, die 21 Themen zugeordnet waren und die in der Regel Qualitätsziele für ein bestimmtes Jahr in der Zukunft enthielten (Statistisches Bundesamt 2014a). Inzwischen sind es 63 Indikatoren, welche schwerpunktmäßig Nachhaltigkeitspostulate der Agenda 2030 aufgreifen und damit eigene Indikatoren ausgewählten SDGs zuordnen. Der Abstand des Ist-Zustandes zum Soll-Wert wurde – in Verbindung mit der Entwicklungstendenz – in einem Wettersymbol von Sonne über Wolken und Regen bis zum Gewitter – bewertet und somit Prioritäten für Handlungsfelder zum Ausdruck gebracht (für eine Übersicht siehe den Abschnitt über Indikatoren und Ziele ab S. 34 ff. in Bundesregierung 2017). Der Deutsche Bundestag hat in den Jahren 2000 und 2001 beschlossen, dass die Bundesregierung regelmäßig einen Armuts- und 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 16 Reichtumsbericht vorlegen soll. Mit diesem Bericht sollen auch politische Maßnahmen evaluiert und auf dieser Analyse neue Politikvorschläge vorgelegt werden können. Seit der Beschlussfassung sind vier Berichte erschienen, der fünfte soll voraussichtlich im Frühjahr 2017 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegt werden. Im Kern bauen die Berichte derzeit auf einem System von 30 Indikatoren auf, deren Daten frei über die Seite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales verfügbar sind. Die Bereiche Armut und Reichtum werden hier zum Teil getrennt in Indikatoren angesprochen, zum Teil aber auch über die Verbindung der Segmente insgesamt gesellschaftliche Kenngrößen adressiert (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013). Querbezüge zu ökologischen Fragen werden durch die Erfassung der Belastung bestimmter Einkommensgruppen durch Lärm und Luftverschmutzung thematisiert. Schließlich hat das Bundeskanzleramt von April bis Oktober 2015 in über 200 Veranstaltungen einen Dialog über das Verständnis von Lebensqualität unter dem Titel „Gut leben in Deutschland“ geführt; an vielen Veranstaltungen haben die Bundeskanzlerin oder Bundesministerinnen und Bundesminister teilgenommen (vgl. Bundesregierung 2015). Ergänzend ist eine Online-Befragung als partizipativer und interaktiver Prozess vorgenommen worden. Seitens der Bürgerinnen und Bürger konnten Stellungnahmen zu zwei Bereichen eingebracht werden: zum einen, was ihnen persönlich wichtig im Leben ist, und zum anderen, was ihrer Meinung nach die Lebensqualität in Deutschland ausmacht. Die Antworten der Bürgerinnen und Bürger sind inzwischen ausgewertet worden; im Herbst 2016 ist neben einem ausführlichen Regierungsbericht (siehe Bundesregierung 2016) auch ein Indikatorenkonzept für die Erfassung des „Guten Lebens“ ausgearbeitet worden. Bemerkenswert ist hier die Hinwendung zur subjektiven Seite der gesellschaftlichen Entwicklung, in Analogie zu Überlegungen etwa in Frankreich, wo gleichfalls eine Diskrepanz zwischen wirtschaftlichen Kennziffern („les chiffres“) und der Lebenswirklichkeit eines großen Teils der Bevölkerung konstatiert wurde. Auch dürften diese Aktivitäten vor dem Hintergrund der OECD-Initiative zu einem „Better life“-Index und als spezifische Weiterentwicklung der Arbeit der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ zu verstehen sein. Unklar ist zurzeit, welchen Stellenwert das oben erwähnte und seitens der Bundesregierung geplante Berichtsinstrument einnehmen soll, beispielsweise gegenüber dem bestehenden Set der Indikatoren der bundesdeutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Auf diese Frage wird weiter unten nochmals im Abschnitt 4.6 über subjektive Indikatoren und „Zufriedenheit“ zurückzukommen sein. Dass es problematisch sein kann, von objektiven („harten“) Indikatoren auf subjektive („weiche“) Indikatoren in der Betrachtungsperspektive zu wechseln, zeigen unter anderem Erfahrungen aus Großbritannien. Bereits 2009 legte die durchaus kritisch ausgerichtete New Economic Foundation (nef) ein Indikatorensystem vor, welches sich stärker auf die Ebene des persönlichen Wohlbefindens (wellbeing) konzentrierte, anstelle das bislang vorherrschenden Denken in makro-ökonomischen Kennziffern zum Wachstum und der Produktivitätssteigerung weiter zu entwickeln. Erkennbar gab es hier aber so gut wie keine Überschneidungen mit einer nachhaltigkeitsorientierten oder alternativen Wohlstandsberichterstattung (vgl. nef 2009, S. 20). Die hier nur exemplarisch benannten Berichte der Bundesregierung sollen zeigen, dass die offizielle Berichterstattung bereits beträchtlich über eine rein ökonomische Sicht, wie sie im Jahreswirtschaftsbericht zum Ausdruck kommt, hinausgeht. Allerdings stehen diese Berichtssparten weitgehend unverbunden nebeneinander. Sinnvoll wäre zumindest eine gewisse Verknüpfung, die die Chance eröffnen würde, die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland weniger ressortzentriert darzustellen und Querbezüge zu anderen gesellschaftlichen Bereichen von vornherein sichtbar zu machen. 17 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 3.2 DER JAHRESWIRTSCHAFTSBERICHT DES BUNDESMINISTERIUMS FÜR WIRTSCHAFT UND ENERGIE 23 Bei einer regierungsoffiziellen Interpretation des Wirtschaftsgeschehens ist der Jahreswirtschaftsbericht traditionell eine der wichtigsten Veröffentlichungen im Jahr, um die eigene Sichtweise und die Verortung des erreichten Standes darzulegen: Dies spiegelt die Interpretation der Geschehnisse wider als auch die Projektionen der Entwicklungen im nächsten Jahr sowie die angekündigten politischen Programme, Maßnahmen und Vorschläge. Der Jahreswirtschaftsbericht 2016 trug den Untertitel „Zukunftsfähigkeit sichern – die Chancen des digitalen Wandels nutzen“.24 Zumindest der erste Teil des Untertitels erweckte die Hoffnung, das BMWE könnte sich auf eine Definition des Begriffs „Zukunftsfähigkeit“ verständigt haben, welche von der Notwendigkeit einer Transformation der Wirtschaft ausgeht – die ja die planetaren ökologischen Grenzen einhalten müsste, damit zukünftige Generationen auf der Erde auch noch die Chance haben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und eine lebenswerte Umwelt vorfinden. Eine solche Perspektive war jedoch weder im Geleitwort von Minister Sigmar Gabriel (BMWE 2016, S. 5) noch in der Zusammenfassung des Jahreswirtschaftsberichts zu erkennen, obwohl dort der Energiewende und den nationalen Klimaschutzzielen eine hohe Priorität eingeräumt wird (BMWE 2016, Rz. 32 – 39). Im Vordergrund standen hier jedoch eindeutig Strategien zur Steigerung der Energieeffizienz und – an anderer Stelle – der Ressourceneffizienz, die sich in die Wachstumsorientierung der Wirtschaftspolitik nahtlos einordnen lassen. 23 Deutschland, so der erste Satz der Zusammenfassung, befinde sich „auf einem soliden Wachstumskurs“ (BMWE 2016, Rz. 1, Rz. 251) – und die Beibehaltung dieses Kurses erscheint als das wichtigste Ziel, dem die einzelnen Felder der Wirtschaftspolitik zuarbeiten sollen. Digitalisierung stand deswegen im Vordergrund, weil das Wirtschaftsministerium hier eine Schlüsselrolle für nachhaltiges Wachstum erkannte – wobei der Begriff „nachhaltig“ hier primär im Sinne von „dauerhaft“ verwendet wurde. Der Erreichung dieses Ziels wurde offenkundig auch der Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft untergeordnet (BMWE 2016, Rz. 1); wachstumsorientiert war auch das Oberziel der Finanzpolitik (BMWE 2016, Rz. 18). Wirtschaftswachstum, so das unveränderte Credo des BMWE (Rz. 86) erschien als „wichtige Voraussetzung zur Bewältigung bestehender Herausforderungen“. Eine im vergangenen Jahr stattgefundene Überprüfung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967 hat die Bundesregierung in Übereinstimmung mit dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dazu bewogen, von einer Reform des Gesetzes weiterhin abzusehen (BMWE 2016, Rz. 247), obwohl das Gesetz „aufgrund seiner Ausrichtung auf die kurzfristige konjunkturpolitische Stabilisierung keinen geeigneten Rahmen bietet, um Ziele und Instrumente einer – notwendigerweise stärker längerfristig ausgerichteten – Wohlfahrtsbetrachtung abzubilden (BMWE 2016, Rz. 248). Konstruktive Vorschläge für eine Neuausrichtung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Dieser Abschnitt wird nach Vorlage des neuen Jahreswirtschaftsberichts 2017 ergänzt. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2016): Jahreswirtschaftsbericht 2016: Zukunftsfähigkeit sichern – die Chancen des digitalen Wandels nutzen. Berlin: BMWE. URL: https://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/J-L/jahreswirtschaftsbericht-2016,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf 24 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 18 sind seit längerer Zeit in der Diskussion, so etwa von Dullien & Treeck (2012). Kaum nachvollziehbar erscheint insofern die im Jahreswirtschaftsbericht 2016 vertretene Auffassung, dass eine traditionelle Wachstumsstrategie sich für die kurzfristige konjunkturpolitische Stabilisierung eigne und nicht im Widerspruch zu einer längerfristigen Wohlstandsorientierung der Politik stünde (BMWE 2016, Rz. 248). Für letztere sah das BMWE als Berichterstattungsinstrument die Indikatorenberichte der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sowie das Indikatoren- und Berichtssystem der Regierungsstrategie „Gut Leben in Deutschland – was uns wichtig ist“. Aber die Erwähnung dieser beiden Berichterstattungssysteme stand nicht von ungefähr ganz am Ende des ersten Teils des Jahreswirtschaftsberichtes; der Text der Ziffern 249 und 250 umfasste nicht mehr als eine Drittel Seite und wirkte als Anhängsel. Und selbst bei der Erwähnung der Nachhaltigkeitsstrategie wurde das Effizienzziel und nicht etwa das Ziel der Erhaltung des Naturkapitals in den Mittelpunkt gerückt. Der Jahreswirtschaftsbericht 2016 war damit weit entfernt von einer integrativeren Sichtweise, in der das Konzept einer wirklichen Zukunftsfähigkeit, der Transformation der Ökonomie innerhalb planetarer ökologischer Grenzen und die Förderung des Sozialkapitals einen wichtigen Stellenwert einnehmen würde. Eine Brücke zu den Diskussionslinien des Jahreswohlstandsberichts 2016 eröffnete sich aber zumindest durch die Rezeption einiger Aspekte. So wurde inzwischen im Bericht ein Spannungsfeld erkannt, dem die Wirtschaftsund Finanzpolitik Rechnung tragen soll, da Zielkonflikte zwischen der Höhe des Wirtschaftswachstums und anderen politischen Zielen entstehen können, etwa zu einer gerechten Einkommensverteilung. Insofern stünde Im Vordergrund wirtschaftspolitischer Entscheidungen nicht die bedingungslose Steigerung der Wachstumsrate. Vielmehr hätte die Bundesregierung auch die Qualität des Wachstumsprozesses stets im Blick (Rz 87), etwa im Hinblick auf die fiskalische Nachhaltigkeit oder die Verteilung zusätzlicher Einkommen, Investitionen in die Bildung und die Qualität der Arbeit sowie generell die Lebensqualität in Deutschland (siehe S. 61ff). Zwar befasste sich das Wirtschaftsministerium (noch) nicht selbst mit einem entsprechenden Indikatorensystem, dessen Sinnhaftigkeit wurde aber als solche nicht bestritten: Um eine ausgewogene Wirtschaftspolitik zu unterstützen, können dem Ministerium zufolge Indikatoren und empirische Analysen ergänzend zur traditionellen Wohlstandsmessung das Augenmerk auch auf Aspekte der Qualität wirtschaftlichen Wachstums richten, zumal die Bundesregierung wie der Sachverständigenrat einen breiten öffentlichen Diskurs über Fragen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten für relevant hielt. Unter Rz 248 wurde Bezug zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung genommen und dessen Vorschlag für folgenden Prozess aufgegriffen: „So könnte ein auf die ganzheitliche Wohlfahrtsbetrachtung ausgerichtetes Indikatorensystem einmal pro Legislaturperiode von einem unabhängigen und sachverständigen Gremium wissenschaftlich begutachtet werden. Dabei sieht der Rat gute Aussichten, dass ein solcher Indikatorenbericht zu einem gesellschaftlich breit akzeptierten Diskursinstrument werden kann (vgl. JG Tz 574 ff.)“. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, für die weitere Entwicklung des Jahreswohlstandsberichts auch Gespräche mit Vertretern des Wirtschaftsministeriums zu führen. 19 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 3.3. ZUR KRITIK AM BIP – DER NATIONALE WOHLFAHRTSINDEX Die Kritik von wissenschaftlicher Seite am Stellenwert des Bruttoinlandsprodukts als zentraler Kennziffer in Wirtschaft und Politik ist gleichfalls umfassend und trägt inzwischen zu einer veränderten Meinungsbildung in Teilen der Medien, der Politik und der Öffentlichkeit bei. Die wesentlichen Kritikpunkte sind im Prinzip seit längerem bekannt: 25 - Der Abbau von Ressourcen und der Verbrauch von Naturkapital sind im BIP nicht berücksichtigt. Während auf Unternehmensebene der Rückgang beispielsweise von eigenen Bodenschätzen den Gewinnen gegenübergestellt wird und Abschreibungen erfolgen, nehmen die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen dies nicht vor. - Umweltschäden können mit Reparaturmaßnahmen teilweise beseitigt oder abgemildert werden. Diese Kosten erscheinen dann im BIP als Steigerung, obwohl sie im Grunde nur den Status quo wiederherstellen, der vor der Umweltschädigung existierte. Dieser Teil des Wachstums muss jedoch eher als Ausdruck von defensiven Kosten und Kompensationen bezeichnet werden, jedenfalls trägt er nicht zu einer Wohlstandssteigerung bei. - Wirtschaftliche Aktivitäten führen häufig zu immateriellen Schäden in der Natur, etwa zur Umwandlung und Veränderung ökologisch wertvoller Flächen, einer Zerschneidung von intakten Habitaten oder einer deutlichen Minderung der Ästhetik des Landschaftsbildes.26 Eine Verödung von Landschaften und ökologischen Lebensräumen muss nicht unmittelbar in ökonomischen Folgekosten münden, Für eine Übersicht siehe Diefenbacher/Zieschank/Rodenhäuser 2010 sowie 2012, in verdichteter Form Zieschank & Diefenbacher 2009. Weithin zur Akzeptanz einer neuen Wirtschaftsberichterstattung beigetragen hat die „Stiglitz-Kommission“ 2009. Zur Vertiefung der BIP- 25 senkt aber die Lebensqualität von Menschen mitunter deutlich. Diese Prozesse können vermutlich nicht angemessen in nationale Wirtschaftsberichte einbezogen werden, dennoch entstehen faktisch Wohlfahrtsverluste, weit entfernt von BIP-Kategorien. - Dagegen kann die Vermeidung von Schäden und Folgekosten in der Zukunft, etwa durch Unterlassen bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten heute, zu einer Verringerung des BIP führen. Die langfristigen positiven Folgen derartiger Unterlassungen werden in der herkömmlichen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht abgebildet. Daher kann ökologisches Wirtschaften, insbesondere dann, wenn Suffizienzstrategien mit einbezogen werden, in einer herkömmlichen Wohlstandsbetrachtung systematisch zu niedrig bewertet werden. - Die Verteilung der Einkommen werden im BIP nicht beachtet; einem bestimmten BIP sieht man nicht an, ob es der Bevölkerung in etwa gleicher Weise zur Verfügung steht oder ob Zuwächse nur einem sehr kleinen Teil an Kapitaleignern zu Gute kommen. Wenn das BIP als Wohlfahrtsmaß verwendet wird, steht dies im Grunde sogar im Widerspruch zur klassischen Wohlfahrtsökonomie, denn der Wohlfahrtszuwachs eines Euros ist in der Regel für jemanden mit geringem Einkommen deutlich größer als für jemanden mit beträchtlich höherem Einkommen. - Da sich das BIP auf die über den Markt vermittelte Wertschöpfung konzentriert, gibt es bedeutende Aktivitäten zur Kritik siehe insbesondere: van den Bergh 2010; Fioramonti 2013; Costanza et al. 2014; Lepenies 2016. Teilweise gilt diese Kritik nun auch für Aspekte einer „Green Economy“, denkt man an Windkraftanlagen und „Energielandschaften“. 26 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 20 Wohlfahrtssteigerung, die hier unberücksichtigt bleiben: vor allem Hausarbeit, aber auch alle ehrenamtlichen Aktivitäten. Diese müssten in einer Wohlfahrtsrechnung mit betrachtet werden. Das BIP selbst – essentieller Bestandteil des jährlichen Wirtschaftsberichtes in Deutschland – sollte in einem alternativen Jahreswohlstandsbericht keine ähnlich tragende Säule sein, sondern nur als Vergleich zu einem Index herangezogen werden, der die gesellschaftliche Wohlfahrt angemessener abbildet. Auf diese Weise lässt sich der Unterschied zwischen einem Maß für die über den Markt vermittelte wirtschaftliche Wertschöpfung – dem BIP – und der gesellschaftlichen Wohlfahrt darstellen. Daher wird hier die bisherige vorherrschende Perspektive durch eine Betrachtung des Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) ergänzt. Ausführlich: Diefenbacher/Zieschank/Held/Rodenhäuser 2015. Der Index wurde bislang nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern in ähnlicher Weise auch für sieben Bundesländer berechnet. Alle Studien zum Nationalen und zum Regionalen Wohlfahrtsindex sind auch 27 Der NWI beruht auf einem Ansatz der erweiterten Volkswirtschaftlichen und Umweltökonomischen Gesamtrechnung und strebt eine Korrektur der zentralen Defizite des BIP als Wohlfahrtsmaß an. Dementsprechend fließen Komponenten ein, die Wohlfahrtsaspekte wie soziale Gerechtigkeit, unbezahlte gesellschaftliche Arbeit, Umweltschäden und Ressourceninanspruchnahme zu erfassen suchen.27 Die Veränderungen des NWI können für Deutschland insgesamt mittlerweile über einen Zeitraum von 23 Jahren mit der Entwicklung des BIP verglichen werden. Um den Vergleich zu vereinfachen, wurden sowohl der NWI als auch das reale BIP in der Abbildung 2 für das Basisjahr 2000 auf den Indexwert 100 normiert, siehe die folgende Abbildung 2: über die Internet-Seiten der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft erhältlich: http://www.festheidelberg.de/index.php/arbeitsbereiche-und-querschnittsprojekte/frieden-und-nachhaltige-entwicklung/nwirwi. Das BMUB hat die Entwicklungsarbeiten immer wieder unterstützt, siehe auch BMUB 2016, S.27. 21 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Abbildung 2: Entwicklung des NWI und des BIP im Vergleich Der NWI setzt sich, wie beschrieben, sowohl aus wohlfahrtsstiftenden als auch wohlfahrtsmindernden Komponenten zusammen.28 Eine Verbesserung kann insofern durch einen Anstieg der wohlfahrtsstiftenden als auch durch einen Rückgang der wohlfahrtsmindernden Komponenten ausgelöst werden. Es lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die erste Phase umfasst den Zeitraum 1991 bis 1999, die zweite Phase 1999 bis 2005 und die dritte 2005 bis 2014. Sie werden im Folgenden beschrieben.29 Im Jahr 2014, dem aktuellsten des Berichtszeitraums, steigen sowohl das BIP als auch der NWI an: das BIP um 1,6% auf einen Wert von 116,2 Punkte, der NWI um 2,2% auf 93,2 Punkte. Für den Anstieg des NWI in Höhe von 39 Mrd. Euro sind hauptsächlich zwei Komponenten verantwortlich: zum einen stiegen die gewichteten Konsumausgaben um 14 Mrd. Euro an. Dieser Zuwachs ist wiederum auf eine Erhöhung der tatsächlichen ungewichteten Konsumausgaben zurückzuführen. Zum anderen sind die Ersatzkosten für den Verbrauch nicht-erneuerbarer Energieträger um 18 Mrd. zurückgegangen, hauptsächlich ausgelöst durch einen Rückgang des Heizenergieverbrauchs um etwa 10%. Allerdings müssen die Werte des Jahres 2014 noch bis zu einem gewissen Grad als vorläufig betrachtet werden, da der SOEP-Wert des Gini-Koeffizienten für dieses Jahr noch fehlt. Betrachtet man den gesamten Berichtszeitraum von 1991 bis 2014, so ergeben sich zwei vollkommen unterschiedliche Bilder, je nachdem, ob man die Zeitreihe des BIP oder des NWI betrachtet. Das BIP zeigt ein relativ kontinuierliches, wenn auch über die Jahre unterschiedlich stark ausgeprägtes und vor allem durch die Finanzkrise im Jahr 2009 kurz unterbrochenes Wachstum. Insgesamt steigt das BIP von 1991 bis 2014 um 34,3% an. Betrachtet 28 Für eine Übersicht aller Komponenten siehe http://www.nationaler-wohlfahrtsindex.de/ man die Zeitreihe des BIP, so drängt sich der Eindruck eines kontinuierlichen Fortschritts und einer kontinuierlichen Verbesserung auf. Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei Betrachtung der Zeitreihe des NWI. Während bis zum Jahr 1999 (Phase 1) auch hier eine kontinuierliche Verbesserung zu sehen ist, geht der NWI von 1999 bis 2005 (Phase 2), anders als und entgegensetzt zum BIP, deutlich zurück. Und wo das BIP seit 2005 bis 2013 mit einem durchschnittlichen Wachstum von 1,4% ansteigt, da stagniert der NWI bei Werten, die deutlich unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 liegen. Im Vergleich zum Jahr 1991 hat der NWI bis zum Jahr 2014 nur um 4,49% zugelegt (2013 waren es sogar nur 1,7 Punkte), befindet sich also heute nur wenig über dem Wert vor 23 Jahren. Die Hauptverantwortung dafür, dass die Bilanz nicht besser ausfällt, trägt die gestiegene Einkommensungleichheit und die dadurch ausgelösten Rückgänge bei den gewichteten privaten Konsumausgaben in Höhe von -22 Mrd. Euro. Der tatsächliche Einfluss der Einkommensgewichtung wird klar, wenn man die Entwicklung der tatsächlichen (ungewichteten) privaten Konsumausgaben separat betrachtet: Diese stiegen von 1991 bis 2014 um 187 Mrd. Euro an. Die Verschlechterung der Einkommensverteilung führte also insgesamt zu einem Verlust in Höhe von 209 Mrd. Euro. Deutliche Wohlfahrtsverluste ergeben sich außerdem vor allem beim Wert der Hausarbeit: Da die für Hausarbeit eingesetzte Zeit deutlich abnahm (-16%, von 216 Minuten pro Tag auf 181 Minuten pro Tag), ging die bewertete Hausarbeit um 88 Mrd. Euro zurück. Dass unter dem Strich trotzdem ein Zugewinn an Wohlfahrt zu verzeichnen ist, liegt neben den gestiegenen privaten Konsumausgaben (+187 Mrd. Euro) vor allem an den verbesserten Umweltkomponenten: Insgesamt gingen 29 Die folgenden Passagen beruhen auf: Diefenba- cher/Held/Rodenhäuser/Zieschank 2016. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 22 deren negative Wohlfahrtseinflüsse um 137 Mrd. Euro zurück, wobei der größte Teil auf das Konto der Verringerung der Luftschadstoffemissionen geht (- 85 Mrd. Euro), gefolgt von der Reduzierung der Treibhausgase (-24 Mrd. Euro). Aber auch andere Komponenten, wie die Verringerung des Abstands zwischen Kosten und Nutzen dauerhafter Konsumgüter (36 Mrd. Euro) und der Rückgang der Verkehrsunfälle (19 Mrd. Euro) trugen ihren Teil dazu bei, dass unter dem Strich noch ein kleines Plus von 3,9 Punkten (61 Mrd. Euro) im Jahr 2014 im Vergleich zum Jahr 1991 stehen bleibt. Der Vergleich zwischen dem NWI und dem BIP signalisiert im Endergebnis eine Diskrepanz. Das BIP allein würde tendenziell einen „illusionären Wohlstand“ signalisieren, welcher in der gesellschaftlichen Realität aber nicht erzielt worden ist. Die unterschiedliche Entwicklung eröffnet die Chance für eine vertiefte Erörterung, bei der es um die Gestaltung eines stärker ökologisch und sozial ausgerichteten Wirtschaftens geht. Um die gesellschaftliche Wohlfahrt zu steigern, bedarf es einerseits eines Abbaus von „defensiven Kosten“ und Folgeschäden insbesondere im Umweltbereich, aber auch in den sozialen Teilbereichen Alkohol-, Tabak- und Drogenmissbrauch, der Kriminalitätsrate oder der Ineffizienzen im Gesundheitsbereich, was das Verhältnis von finanziellem Input in das Gesundheitssystem zum erzielten Ergebnis bezüglich des Gesundheitsniveaus der Bevölkerung anbelangt. Hinsichtlich politischer Empfehlungen hängt es hier im Detail davon ab, welche Teilkomponenten des NWI prioritär betrachtet werden. Nimmt man beispielsweise den Umweltbereich, so bietet sich unmittelbar ein Abbau umweltschädlicher Subventionen an, die in Deutschland die Größenordnung von rund 60 Mrd. Euro jährlich erreicht haben, außerdem die Fortsetzung eines entschiedenen Umbaus des Energiesystems, weg von nicht erneuerbaren und hin zu erneuerbaren Ressourcen. Im sozialen Bereich sind Investitionen im Gesundheits- und Bildungswesen positiv zu bewerten. Hervorzuheben sind am Schluss Instrumente und Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommensverteilung, die positive Auswirkungen auf den NWI haben könnten. 23 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 4 DIE INDIKATOREN DES JAHRESWOHLSTANDSBERICHTS 4.1. SYSTEMATIK Mit den folgenden Indikatoren wird das zentrale Anliegen einer neuen Berichtsform zu gesellschaftlichem Wohlstand empirisch untermauert. Auf in Deutschland bereits vorliegende Indikatorensysteme kann in diesem Zusammenhang nicht zurückgegriffen werden.30 Immerhin bieten die vier Dimensionen aus dem Grundlagenkapitel eine Orientierung, die – etwas modifiziert – hier mit jeweils zwei Kernindikatoren beschrieben werden sollen. Das gewählte Vorgehen entspricht dem Rahmen, der bereits in der Machbarkeitsstudie vom Juli 2015 aufgezeigt wurde. Im vorliegenden Bericht werden acht Kernindikatoren vorgestellt (siehe tabellarische Aufstellung Seite 30). Dabei ist die Systematik des Jahreswohlstandsberichts prinzipiell offen: Zu jedem Bereich könnte es längerfristig Module mit Zusatzindikatoren geben, die dann gleichfalls nach einem einheitlichen Schema beschrieben und dargestellt würden. Die Zusatzmodule ließen sich dann entweder jährlich oder jeweils in Form von Einzelschwerpunkten darstellen. Die Systematisierung der Indikatoren folgt dabei a) der Struktur eines umfassenden Wohlstandskonzepts mit einer ökonomischen, ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Dimension unter Berücksichtigung b) der planetaren Grenzen, wie sie von Hajer et al. 2015 und bei Raworth 2013 zum Ausdruck gebracht werden. Hier geht es neben den bereits häufiger diskutierten ökologischen Grenzen der Erde (Steffen/Rockström et al. 2015) um die Gewährleistung eines Entwicklungsraums, welcher den Menschen eine gerechte Teilhabe an grundlegenden Voraussetzungen für ihre Entfaltung ermöglicht. Die nachfolgende Abbildung 3 illustriert diese doppelte Grenzziehung: Auf viele Einzelindikatoren aus verschiedenen Ansätzen jedoch schon, da hier keine eigenständige Datenerhebung erfolgen soll. 30 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 24 Abb. 3: The Doughnut of Social and Planetary Boundaries (Quelle: Hayer 2015) Vor diesem Hintergrund wurden die für sinnvoll erachteten vier Dimensionen mit jeweils zwei Kernindikatoren belegt. Sie bilden damit die Grundstruktur des Jahreswohlstandsberichts. Dimension 1. Ökologische Dimension 2. Soziale Dimension Indikator / Index a) Ökologischer Fußabdruck im Verhältnis zur Biokapazität b) Index zur Artenvielfalt und Landschaftsqualität a) S 80 : S 20 - Relation der Einkommensverteilung b) Index zur Bildung in Deutschland 3. Ökonomische Dimension a) Nettoinvestitionsquote b) Anteil von (potenziellen) Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung 4. Gesellschaftliche Dimension a) Gesunde Lebensjahre b) Governance Index auf Basis der World Bank Governance Indicators (sechs Dimensionen). In den folgenden vier Unterkapiteln werden die genannten acht Kernindikatoren dieses Berichtes mittels Grafiken zum zeitlichen Verlauf dargestellt und erläutert. 25 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 4.2. ÖKOLOGISCHE DIMENSION Abbildung 4: Entwicklung des Ökologischen Fußabdrucks für Deutschland bis 2016 Leicht zugänglich und vom Global Footprint Network autorisiert ist die Kennziffer derzeit in einer Zeitreihe von 1961 bis 2011 verfügbar. Die Werte zwischen 2012 und 2014 beruhen auf einer Abschätzung des Global Footprint Network auf der Basis der Zeitreihe bis 2011 und aktuell verfügbarer Rahmendaten, der Wert für 2015 auf einer Prognose der Autoren.31 Das Global Footprint Network bezeichnet die Abschätzung von Werten, die in der Vergangenheit liegen, aber 31 Der Ökologische Fußabdruck ist eine Form der ökologischen Buchhaltung, die den Verbrauch natürlicher Ressourcen mit der Kapazität vergleicht, die in dem entsprechenden Land zur Verfügung steht. Sie misst die Land- und Wasserfläche, die zur Erneuerung der Ressourcen unter Berücksichtigung gegenwärtiger Technologien benötigt wird, um den gegenwärtigen Konsum der Bevölkerung zu befriedigen. Dabei aufgrund des time-lags, mit dem die Basisdaten zur Verfügung stehen, noch nicht exakt berechnet werden können, nicht als Prognose, sondern als „now-casting“. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 26 wird auch die Aufnahme von Abfällen miteinbezogen. Umgerechnet werden diese unterschiedlichen Dimensionen in virtuelle „globale Hektar“, die als Flächenmaß interpretiert werden können. Die materielle Güterverwendung eines Landes trägt zu dessen Wohlstand bei. Langfristig kann die Güterverwendung aber nur innerhalb der ökologischen Tragfähigkeit aufrechterhalten werden. Der Indikator gibt Aufschluss über die Diskrepanz zwischen aktuellem Konsum und der verfügbaren Biokapazität. Daten stehen für Deutschland ab dem Jahr 1961 zur Verfügung. Die Biokapazität verbessert sich über die ganze Zeit – mit wenigen Ausnahmejahren – kontinuierlich, aber geringfügig und liegt jetzt bei ungefähr 200 Millionen Global Hektar (GHa). Der Fußabdruck steigt zwischen 1961 und dem Ende der 1970er Jahre drastisch an und erreicht einen Maximalwert von 450 Millionen GHa. Seitdem sinkt der Wert in der Tendenz langsam und erreicht jetzt Werte um 350 Millionen GHa. In der Regel sind hierfür der Ausbau der Verwendung erneuerbarer Ressourcen und die effizientere Verwendung nicht erneuerbarer Ressourcen verantwortlich, außerdem zeigen sich hier die Bemühungen um den Naturschutz. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen – um 1973 und 2008/09 – kommt es zu einem Rückgang des Ökologischen Fußabdrucks wegen der vorübergehenden Absenkung der Produktionstätig- keit, die deutsche Wiedervereinigung hat einen Ausreißerwert nach oben gebracht. Seit der Krise steigt der Ökologische Fußbadruck wieder langsam, aber kontinuierlich an; damit wären gemäß Prognosewert 2015 alle Fortschritte seit etwa 20 Jahren wieder rückgängig gemacht worden. Da die Biokapazität immerhin leicht zugenommen hat, wurde die Differenz zwischen beiden Größen bis 2011 allmählich geringer. Diese Reduktion vollzieht sich bis 2011 allerdings viel zu langsam: Bei der derzeitigen Geschwindigkeit der Annäherung ist somit nicht davon auszugehen, dass in den nächsten 50 Jahren eine Übereinstimmung zwischen der Umweltnutzung und den eigenen biologischen Kapazitäten erzielt werden kann, zumal sich die Diskrepanz zwischen Fußabdruck und Biokapazität seit 2011 wieder leicht erhöht hat. Liegt der Fußabdruck eines Landes über der Biokapazität, entsteht ein „geliehener“ Wohlstand, der entweder durch Importe und damit Verbrauch ausländischer Biokapazität oder durch Belastung der Biokapazität auf Kosten künftiger Generationen produziert wird. Langfristig sollte der Fußabdruck eines Landes dessen Biokapazität also nicht überschreiten. Nur dann kann davon ausgegangen werden, dass das Land nicht mehr an Naturkapital verbraucht, als seine ökologischen Grenzen es erlauben. 27 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Abbildung 5: Entwicklung des Index zur Artenvielfalt und Landschaftsqualität bis 2011 Der Index aggregiert die bundesweiten Bestandsgrößen von 59 repräsentativen Vogelarten in sechs Hauptlebensraum- und Landschaftstypen. Die Vogelarten dienen dabei als Bioindikatoren der Abbildung des Zustands und der Veränderungen von Natur und Landschaft in Deutschland, und zwar im Hinblick auf Artenvielfalt, Landschaftsqualität und Nachhaltigkeit der Landnutzungen. Es handelt sich gewissermaßen um einen „High-End“Index, denn letztlich machen sich beinahe alle menschlichen Aktivitäten im Bereich der Biodiversität bemerkbar, von der Intensität der Nutzung von Böden und Landschaften, über den Umgang mit biologischen Ressourcen, Massenproduktion und Konsum bis hin zu Abfallströmen und Emissionen. Der Index ist Bestandteil des Indikatorensatzes der bundesdeutschen Nachhaltigkeitsstrategie: „Eine große Artenvielfalt an Tieren und Pflanzen ist eine wesentliche Voraussetzung für einen leistungsfähigen Naturhaushalt und bildet eine wichtige Lebensgrundlage des Menschen. Natur und Landschaft in Deutschland sind durch Jahrhunderte währende Nutzungen geprägt. Zur Erhaltung der daraus entstandenen sowie der natürlich gewachsenen Vielfalt reicht kleinflächiger Schutz von Arten und Lebensräumen nicht aus. Vielmehr sind nachhaltige Formen der Landnutzung in der Gesamtlandschaft, eine Begrenzung von Emissionen und ein schonender Umgang mit der Natur erforderlich“ (Statistisches Bundesamt, op.cit., S. 16). Daten liegen in Fünfjahresintervallen zwischen 1970 und 1995 vor, seit 1995 existieren jährliche Werte. Zwischen 1975 und 1995 ist ein Rückgang des Indexwertes von 101 auf 77 zu verzeichnen. Bis 2011 hat sich der Indexwert noch einmal deutlich auf 63 verschlechtert. Insbesondere der Teilindex zum Agrarland ist in der Tendenz seit 2005 erkennbar schlechter geworden, seit 2008 gleichfalls der Index für Binnengewässer und auch der (hier nicht aufgeführte) Index für Küsten und Meere. Die Ursachen liegen in einem „Leerräumen“ der noch natürlichen Landschaft durch die Intensivlandwirtschaft begründet, in zu hohen Nährstoff- und Schadstoffeinträgen oder in einem ungebrochenen Trend der Zersiedelung. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 28 Da eine Vielzahl anderer Faktoren hinzukommen, die jeder für sich zunächst kaum relevant erscheinen mag, in der Summe aber sich zu erheblichen Wirkungen addieren, ist derzeit nicht erkennbar, wie die bereits umgesetzten Maßnahmen der Umwelt- und Naturschutzpolitik zu einer Trendumkehr führen können. Faktisch ist der seinerzeit aufgestellte umweltpolitische Zielwert von 100 bis zum Jahr 2015 nicht mehr zu erreichen, wie bereits im Wohlstandsbericht 2016 dargelegt. Denn das gegenwärtige Niveau liegt bei einem Indexwert von 69 für 2013 (das Jahr mit der letzten verfügbaren Datenbasis) und wird in dieser kurzen verbleibenden Zeit nicht auf das Zielniveau von 100 aufschließen können. Nach Angaben des Bundesamtes für Naturschutz sollten indessen durch Experten mit Hilfe eines Delphi-Verfahrens neue Zielwerte für das Jahr 2030 (erst) erarbeitet 32 Es bleibt abzuwarten, wie verbindlich die Bundesregierung nun einen neuen Zielwert verfolgt. Die aktualisierte Nachhaltigkeitsstrategie 2016 enthält Hinweise auf einen - wiederum auf das Niveau von 100 - festgelegten Zielwert, der zukünftig erreicht werden sollte (siehe Bundesregierung 2017, 39).32 Als Zieljahr gilt dann jedoch nicht mehr 2015, sondern das Jahr 2030. Im Falle eines Erfolgs würde also 2030 das Niveau der angezeigten Artenvielfalt und Landschaftsqualität demselben Niveau entsprechen, wie wir es in Deutschland im Jahr 1975 schon einmal hatten. werden. Ob diese seitens Ministerien und Politik übernommen werden, ist damit fraglich. 29 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 4.3. SOZIALE DIMENSION Abbildung 6: Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland bis 2015 Berechnet wird das Verhältnis des Gesamteinkommens der reichsten 20 % der Bevölkerung als Vielfaches des Gesamteinkommens der ärmsten 20 % der Bevölkerung. Als Gesamteinkommen wird das verfügbare Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen betrachtet. Die Einkommensverteilung ist ein entscheidender Faktor für den Wohlstand in einem Land. In der Tendenz erhöht eine Bewegung zu mehr Einkommensgleichheit den Wohlstand allein deswegen, weil ein zusätzliches Einkommen für arme Bevölkerungsschichten diesen mehr zusätzlichen Nutzen verschafft als eine gleiche Einkommenssteigerung bei reicheren Teilen der Bevölkerung. Unter wohlfahrtstheoretischen Gesichtspunkten geht es damit sowohl um Verteilungs- als auch um Gerechtigkeitsfragen; dahinter steht eine wesentliche Grundüberlegung, nämlich dass sowohl die Unterschreitung eines gewissen minimalen Levels an materiellen Verfügungsmöglichkeiten nicht hingenommen werden sollte, als auch, dass die unbegrenzte Akkumulation von privaten Reichtümern ein nachhaltiges soziales Zusammenleben nicht fördert (siehe u.a. Caillé 2011, Wilkinson & Pickett 2010). Der Wert verbessert sich in Deutschland von 4,6 im Jahre 1995 auf 3,5 im Jahre 2000. „Aus technischen Gründen“ liefert Eurostat für Deutschland leider keine Daten für die Jahre 2002 bis 2004. Ab 2005 verschlechtert sich der Wert wieder rapide und erreicht mit 4,9 den Höchstwert der Zeitreihe bislang im Jahre 2007. In dieser Zeit kam es zu einem deutlichen Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen, die niedrigen Erwerbseinkommen sind hingegen real gesunken. Die Besteuerung hatte sich ebenfalls in Richtung auf 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 30 eine Begünstigung des reichsten Quintils verändert, da Steuern auf hohe Einkommen sanken, indirekte Steuern jedoch angehoben wurden (vgl. Bach 2013). In den Jahren der Weltwirtschafts- und Finanzkrise veränderte sich – vorübergehend – die Einkommensverteilung wieder etwas in Richtung auf eine stärkere Gleichverteilung: Der Wert schwankte in den Folgejahren zwischen 4,3 und 4,6. Dieser Ausgangswert der Zeitreihe wurde auch 2013 erreicht. Mit 5,1 erreicht der Wert 2014 dann jedoch einen historischen Höchststand; die Einkommen waren damit in diesem Jahr so ungleich verteilt wie noch nie in den davor liegenden zwanzig Jahren. Auch für diese Veränderung sind wiederum überproportionale Einkommenszuwächse im reichsten Quintil und eine stagnierende Einkommenssituation im ärmsten Quintil verantwortlich. Im letzten Berichtsjahr 2015 ist die Verteilungsrelation wieder geringfügig auf 4,8 in Richtung Erhöhung der Einkommmensgleichheit zurückgegangen. Es bleibt abzuwarten, ob diese Veränderung einen neuen Trend eingeleitet hat oder eine vorübergehende Unterbrechung des Trends zu steigender Ungleichheit ist. Dieser Befund insgesamt ist umso bedenklicher, als in Deutschland ein erheblicher Anteil der staatlichen Ausgaben für soziale Belange und Transfers verwendet wird. Würde man das Markteinkommen33 vor Transferleistungen für die Berechnung zugrundelegen, würde der Wert noch erheblich schlechter ausfallen. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich auch außerhalb Deutschlands ab; die Verteilung der Einkommen driftet zwischen den Eliten und der arbeitenden Bevölkerung in sehr vielen Ländern weiter auseinander (siehe u.a. OECD 2015). Die häufig mit einem wirtschaftlichen Wachstum assoziierten Aspekte einer anteiligen Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung werden, zumindest in den letzten Jahren, nur noch sehr bedingt realisiert. In einer bemerkenswerten Studie von McKinsey werden die Folgen für 25 fortgeschrittene Industriestaaten beschrieben, so haben sich zwischen 2005 und 2014 die realen Einkommen von 2/3 aller Haushalte verschlechtert. Damit geht es in der Regel den Kindern dieser Generation schlechter als den Eltern (McKinsey Global Institute 2016). Das Markteinkommen umfasst Einkommen aus Erwerbstätigkeit und Besitztümern auf Märkten (Zinsen sowie andere Kapitaleinkünfte) vor Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers. 33 31 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Abbildung 7: Entwicklung des Indexes zur Bildung in Deutschland bis 2015 Bildung ist ein zentraler Baustein, der Menschen nicht nur die Beteiligung am Arbeitsleben ermöglicht. Zugleich kann Bildung generell Chancen an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erhöhen, persönliche Perspektiven, Handlungsmöglichkeiten und letztlich einen besseren Gesundheitszustand eröffnen. Eine möglichst breite Beteiligung der Menschen an formellen Bildungsprozessen kann daher als Vergrößerung dieses Möglichkeitsraumes angesehen werden, der einer Wohlfahrtssteigerung im Sinne des „Fähigkeitenansatzes“ (capability approach von A. Sen) entspricht. Ein hohes Bildungsniveau ist in der Regel auch wesentlicher Bestandteil des „Humankapitals“ oder besser des „Humanvermögens“ einer Gesellschaft.34 Dies ist nicht zuletzt auch vor dem 34 Hintergrund einer Stärkung der gesellschaftlichen Dimension zu sehen, bei der es um die Erhaltung eines demokratischen Systems und „Good Governance“ geht. Der hier vorgestellte Index fasst fünf Komponenten zusammen, die unterschiedliche Aspekte des Bildungssystems und des Bildungsniveaus der Bevölkerung erfassen: – Die Entwicklung der Punktzahl bei den PISA-Studien für Deutschland; – Der Anteil der Bevölkerung mit Abschluss der Sekundarstufe II; Siehe hierzu jüngst Hanushek/Woesmann (2016): The Knowledge Capital of Nations. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 32 – die erwarteten Bildungsjahre bis zum Alter von 39 Jahren; – Die Differenz der mathematischen Kenntnisse 15jähriger Schülerinnen und Schüler von Eltern mit niedrigem und Eltern mit hohem Bildungsniveau (ebenfalls nach PISA); – die Höhe der gesamten öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland. Die Zeitreihen der fünf Komponenten wurden auf das Jahr 2010 = 100 normiert und deren Entwicklung vor und nach dem Basisjahr gleichgewichtig im Index zusammengefasst. In der Kombination der Komponenten zeigt sich über die betrachteten Jahre ein zunächst eher gleichbleibender, in den letzten Jahren dann aber doch stetig steigender Trend. 4.4. ÖKONOMISCHE DIMENSION Abbildung 8: Entwicklung der Nettoinvestitionsquote in Deutschland bis 2015 Der Indikator zeigt die Entwicklung der Nettoanlageinvestitionen im Verhältnis zum Nettoinlandsprodukt und errechnet sich als Differenz aus den Bruttoinvestitionen minus den Abschreibungen. Sie zeigen also die Investitionen, die über den Ersatz des Kapitalverzehrs hinausgehen. Bruttoanlageinvestitionen umfassen im Verständnis des Statistisches Bundesamtes „… den Erwerb abzüglich der Veräußerungen von Anlagegütern durch gebietsansässige Produzenten in einem Zeitraum. Dazu zählen die Käufe neuer Anlagegüter einschließlich aller eingeführten und selbsterstellten Anlagegüter sowie die Käufe abzüglich der Verkäufe gebrauchter Anlagegüter. Die Käufe und Verkäufe von gebrauchten Anlagegütern saldieren sich weitgehend in der Volkswirtschaft.“ (2016, S. 5). 33 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Unter anderem das Bundesfinanzministerium (BMF 2015) sieht die Bruttoinvestitionen für besser geeignet, um die Investitionstätigkeit beurteilen zu können, da unter anderem auch wertmäßig bereits abgeschriebene Anlageobjekte zum gesamtwirtschaftlichen Output beitragen können und Abschreibungsrechnungen zum Teil „bilanzpolitisch“ bedingt sind. Die Nettoinvestitionen bilden jedoch zum einen den langfristigen Trend der Investitionstätigkeiten klarer ab, zum anderen werden durch dieses Maß auch die konjunkturellen Reaktionen stärker verdeutlicht. Vor allem aber können die Nettoinvestitionen als ein Maß zur Analyse der Veränderung des Produktionspotenzials einer Volkswirtschaft interpretiert werden. Damit sind sie unmittelbar relevant zur Beurteilung eines Aspekts des Wohlstandes einer Gesellschaft, sozusagen als Ausweis der Veränderung des Arsenals an „Werkzeugen“, die einer Ökonomie für ihre Wertschöpfung zur Verfügung steht. Wie aus Abbildung 8 deutlich erkennbar wird, verzeichnen die Nettoanlageinvestitionen zwischen 1992 und 2004 einen deutlichen Negativtrend von 12,2 Prozent auf 2,4 Prozent des Nettoinlandsprodukts. Das Bundeswirtschaftsministerium hatte im August 2014 eine Expertenkommission zum Thema „Stärkung der Investitionen in Deutschland“ eingesetzt, da die Investitionsentwicklung in der vorausgehenden Dekade als beunruhigend empfunden wurde (BMWi). Die vor dem Jahr 2000 im Vergleich zur späteren Entwicklung noch relativ hohen Investitionen werden zum Teil als Folge des „Aufbau Ost“ und als „Vorphase“ zur Währungsunion angesehen. Zwischen 1991 und 2000 lagen die Investitionen in den neuen Bundesländern über dem doppelten Wert der Investitionen in den alten Bundesländern. Die Währungsunion führte zum Rückgang der Nettoinvestitionen, da nun ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt entstanden war; den Investoren war damit die „Angst vor der Anlage in Staatspapiere südeuropäischer Länder genommen“ (vgl. Strobel 2015). Dies führte zu einem deutlichen Kapitalabfluss aus Deutschland. Danach erfolgen Einbrüche, die als Folgen konjunktureller Krisen – nach 2000 und dann vor allem 2009 und 2010 – gesehen werden können. Nach 2011 pendeln sich die Nettoinvestitionen auf einem sehr niedrigen Niveau ein. Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass ein Teil des langfristigen Trends des Nettoinvestitionsrückgangs auch der Globalisierung, genauer gesagt: der massiven Konkurrenz aus Niedriglohnländern, zuzuschreiben ist. Nach 2014 muss berücksichtigt werden, dass eine Generalrevision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Hinblick auf die Angleichung an das neue Europäische System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (ESVG) zu einem Anstieg des nominalen BIP um 3 Prozent gegenüber der alten Methodik führte. Dabei kommt es auch zu einem „Niveausprung“ der gesamtwirtschaftlichen Investitionsquote durch die Berücksichtigung der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung als Investitionen wie auch die Verbuchung der Rüstungsgüter als Investitionen, die vor der Revision als Staatskonsum verbucht wurden (Statistisches Bundesamt 2014b). Für viele Ökonomen handelt es sich bei der langfristigen Tendenz eines Rückgangs der Nettoinvestitionen um eine sehr problematische Entwicklung. Wie schon angesprochen: „Der Umfang und die Qualität der Infrastrukturausstattung einer Volkswirtschaft sind maßgebliche Faktoren für deren Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit.“ (BMWi 2014, 8). Das gilt in besonderer Weise für öffentliche Infrastrukturinvestitionen, die ebenfalls einen langfristigen Abwärtstrend aufweisen. Das BMWi stellt fest, dass das Nettoanlagevermögen in energieintensiven Wirtschaftsbereichen des Produzierenden Gewerbes deutlich rückläufig ist (ibid S. 10). Zwar wird die private Investitionstätigkeit insgesamt stark von der konjunkturellen Entwicklung bestimmt. Dennoch zeigt sich der geschilderte langfristig negative Trend, unabhängig von Konjunkturschwankungen wie der Dotcom-Blase Anfang der 2000er Jahre oder der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 und 2009. Eine Wirtschaftspolitik zur Stärkung der privaten Investitionen ist aufgrund wirt- 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 34 schaftspolitischer Strömungen und Interessenlagen nicht eindeutig vorgezeichnet, sondern bedarf einer politischen Diskussion. Die Diskussion um Investitionen und Investitionsförderung sollte sich in einem breiten Ansatz dann auch einer Neubestimmung des optimalen Mix aus Sachkapital, ökologischem und sozialem Kapital zuwenden. Abbildung 9: Entwicklung des Anteils von Umweltschutzgütern an der Wertschöpfung bis 2013 Der Indikator nimmt mehrere relevante Aspekte der ökonomischen Dimension auf. Zum einen adressiert er die Transformation der Wirtschaft in Richtung auf eine „Green Economy“, die sich unter anderem an der Intensität ihrer Ausrichtung an Umweltschutzgütern insgesamt erkennen lässt. Umweltschutzgüter umfassen Güter aus den Bereichen Abfallbehandlung, Wasser, Luft, Lärm, Mess-, Steuerund Regelungstechnik sowie Klimaschutzgüter. Mit der Bezeichnung „potenzielle“ Umweltschutzgüter wird darauf Bezug genommen, dass die statistischen Angaben Produktionsgrößen umfassen, die letzte Verwendung dieser Güter dagegen nicht ermittelt werden kann; einige der in der Liste der Produktgruppen enthaltenen Güter könnten also auch außerhalb des Umweltschutzbereichs eingesetzt werden. Durch die Betrachtung des Anteils an der Bruttowertschöpfung wird sozusagen auf die „Umweltintensität“ der deutschen Wirtschaft Bezug genommen. Je höher dieser Anteil ist, desto stärker ist die Ökonomie auf die Produktion von Umweltschutzgütern und auch Umweltschutzdienstleistungen ausgerichtet. Sicher kann dieser Indikator nicht über alle Grenzen steigen; dennoch zeigt die Entwicklung, dass die deutsche Wirtschaft von einem Optimum hier noch sehr weit entfernt ist, bedenkt man 35 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 die ökologischen Herausforderungen (Stichwort Planetary Boundaries) einerseits und Innovations- und Marktpotenziale andererseits. 4,49 Prozent kontinuierlich gestiegen. Danach erfolgte ein Rückgang bis 2013 auf 4,21 Prozent. Der Indikator spricht darüber hinaus eine wichtige ökonomische Grundlage für gesellschaftlichen Wohlstand in Deutschland an. Es handelt sich dabei um eine gute industrielle Basis, die sich gerade in Zeiten einer zunehmenden Gefährdung, die eine Abhängigkeit von dynamischen und erratischen Veränderungen im Finanzsektor mit sich bringt, als ein solides Fundament für wirtschaftliche Prosperität erwiesen hat. Andere Staaten in Europa befassen sich vor diesem Hintergrund mit der Frage einer möglichen teilweisen „Reindustrialisierung“. Im Unterschied dazu wird hier jedoch explizit Wert auf die Entwicklung in Richtung einer Green Economy gelegt: Dahinter steht die These, dass Herstellung und insbesondere Nutzung von Umweltschutzgütern sowohl zu ökonomischen Modernisierungsprozessen als auch zur Umweltentlastung beitragen. Der gesellschaftliche Wohlstand lässt sich mit einem steigenden Anteil an Umweltschutzgütern wesentlich besser erhöhen als mit einem rein quantitativ ausgelegten Wirtschaftsprogramm, da in der Regel zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen und zugleich die ökologischen Belastungen samt ökonomischen Folgekosten geringer ausfallen. Vermiedene Umweltschäden sind in der Logik eines ökologischen Wohlfahrtskonzeptes wohlstandssteigernd, weil das Naturkapital weniger verringert wird und weniger Reparaturkosten oder andere gesellschaftliche Folgeschäden auftreten. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Anteil der Produktion von potenziellen Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung zwischen 2002 und 2011 von 2,56 Prozent auf Aufgrund des in den letzten Jahren stagnierenden Anteils der Umweltschutzgüter stellt sich die Frage, ob ein dynamisches Ziel sinnvoll ist, also eine angestrebte Zunahme dieses Anteils über einen bestimmten Zeitraum hinweg, denn der weitere Ausbau einer „Green Economy“ kann, wie bereits in Abschnitt 2.2.3 erörtert, einen wesentlichen Faktor zur Förderung gesellschaftlichen Wohlstands darstellen. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 36 4.5. GESELLSCHAFTLICHE DIMENSION Abbildung 10: Veränderung des Indikators zu Gesunden Lebensjahren bis 2014 Der Indikator „Gesunde Lebensjahre (GLJ) bei der Geburt“ gibt die Zahl derjenigen Jahre an, die eine Person zum Zeitpunkt ihrer Geburt erwartungsgemäß in guter gesundheitlicher Verfassung leben wird. GLJ ist ein Indikator der Gesundheitserwartung, der Informationen zu Sterblichkeit und Krankheit beziehungsweise Lebensqualität miteinander verknüpft. Dazu werden Daten zur altersspezifischen Prävalenz der gesunden beziehungsweise kranken Bevölkerung und Daten zur altersspezifischen Sterblichkeit benötigt. Zur Bestimmung der gesunden Lebensjahre wird hier der Anteil der Männer und Frauen erfasst, die wegen eines gesundheitlichen Problems – dazu gehören chronische und akute Krankheiten, Gebrechlichkeit, psychische Störungen und körperliche Behinderungen – sich bei alltäglichen Verrichtungen stark oder mäßig eingeschränkt fühlen. Gute gesundheitliche Verfassung wird damit über die Abwesenheit von Funktionsbeschränkungen und Beschwerden definiert und als Gradmesser eines Aspekts von Lebensqualität und somit der immateriellen Seite von Wohlstand begriffen. Der Indikator wird getrennt für Männer und Frauen berechnet. Der starke Rückgang von 2007 bis 2008 muss dabei vermutlich zumindest zum Teil auf eine neue Formulierung der Frage zurückgeführt werden, mit der der Gesundheitszustand in der Bevölkerung abgefragt wird (siehe European Health and Life Expectancy Information System 2015). 37 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Die Lebenserwartung bei der Geburt ist die Anzahl der Jahre, die eine Person eines bestimmten Alters im Durchschnitt noch zu leben hat, wenn man die altersspezifischen Sterberaten des Ausgangsjahres zugrunde legt. Im Vergleich zu den Statistiken der Gesamtlebenserwartung zeigt der GLJ-Indikator in zweifacher Hinsicht ein überraschendes Bild. Zum einen ist der Unterschied zwischen Frauen und Männern in keiner Weise so ausgeprägt wie bei der Gesamtlebenserwartung, im Gegenteil: 2006, 2007 und 2013 liegt der Indikator für die Männer sogar knapp über dem Indikator für die Frauen. Da Frauen über eine deutlich höhere Gesamtlebenserwartung verfügen, bedeutet dies, dass sie im Alter deutlich mehr mit Aktivitätseinschränkungen belastet sind. Außerdem zeigt der Indikator zwischen 2006 und 2014 keine einheitliche Tendenz; in den letzten drei Jahren der Zeitreihe fällt er sogar wieder leicht ab. Abbildung 11: Entwicklung des Indikators zu politischen Rahmenbedingungen in Deutschland bis 2015 Gesellschaftlicher Wohlstand ist nicht zuletzt das Resultat institutionell garantierter Freiheiten und der Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns. Insofern kommt der Ausgestaltung demokratischer Rechte, gutem Regieren, Vertrauen, Abwesenheit von Gewalt und Korruption sowie politischer Stabilität eine zentrale Rolle zu. Der erstellte Index versucht, sechs verschiedene Aspekte des „intangiblen Kapitals“ eines Landes zu operationalisieren und somit die nicht selbstverständlichen politi- schen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung des Wohlstands eines Landes in das Blickfeld zu nehmen. Die Weltbank hat für institutionelle und politische Rahmenbedingungen eines Landes diesen Begriff des „intangiblen Kapitals“ gewählt, was als entscheidender Faktor für gesellschaftlichen Wohlstand gesehen werden kann. „Gute Regierungsführung“ ist ein wesentlicher Bereich des intangiblen Kapitals, da hier die Voraussetzungen für einen dauerhaften Aufbau von 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 38 gesellschaftlichem Wohlstand gesetzt werden. Die Weltbank versteht unter „Governance“: „… die Traditionen und die Institutionen, mit denen die Regierung und die Behörden eines Landes ausgestattet sind. Dies beinhaltet (a) den Prozess, wie Regierungen gewählt, kontrolliert und ausgetauscht werden; (b) die Fähigkeit der Regierung eine vernünftige Politik zu formulieren und umzusetzen; und (c) das Vertrauen der Bürger und des Staates in die Institutionen, die das ökonomische und soziale Miteinander gestalten.“35 Der Governance Index wurde für den Jahreswohlstandsbericht auf der Basis der World Bank Governance Indicators, und zwar der sechs Dimensionen von Governance konstruiert: „Voice and Accountability, Political Stability and Absence of Violence and Terrorism, Government Effectiveness, Regulatory Quality, Rule of Law, Control of Corruption” (Worldbank 2015).36 stände, um dann bis 2003 auf seinen niedrigsten Wert abzusinken, der aber immer noch knapp unter 88 liegt. Der Rückgang des Index von 2002 bis 2003 ist einem starken Rückgang des Teilindex „Political Stability and Absence of Violence and Terrorism“ zuzuschreiben.37 Seitdem ist kein klarer Trend zu erkennen; 2006 und 2007 sind Werte zwischen 91 und 92 zu verzeichnen, dann sinkt der Index bis 2011 wieder auf einen Wert knapp unter 89, um bis 2014 auf etwas über 92 anzusteigen, den höchsten Wert seit dem Jahr 2000. Danach erfolgt wieder ein deutlicher Rückgang, was darauf zurückzuführen ist, dass sich alle sechs Teilindices von 2014 auf 2015 leicht verschlechtert haben. Der Teilindex „Voice and Accountability“ erreicht 2014 seinen Höchstwert, während der Teilindex „Stability“ nach wie vor den niedrigsten Wert aller Teilindices aufweist. Bei der Betrachtung sollte indessen berücksichtigt werden, dass die hier vorgenommene Skalierung die Veränderungen gut erkennbar macht, mithin vor dem Hintergrund der Gesamtskala stark pointiert. Die Indikatoren bieten einen guten Überblick über die Situation der politischen Rahmenbedingungen der Regierungsführung. Der Index geht über die Spanne von 0 bis 100; ein Wert möglichst nahe 100 sollte angestrebt werden. Er erreicht vor 2000 seine historischen Höchst- Insgesamt ist Deutschland sowohl im Zeitverlauf als auch vor allem im internationalen Vergleich bei diesem Kernindikator nach wie vor gut positioniert. Kaufmann/Kraay/Mastruzzi 2010 (S.4, eigene Übersetzung). politischer Maßnahmen sowie Regulierungen (bezogen auf den privaten Sektor); Rechtsstaatlichkeit; sowie Kontrolle von Korruption und Amtsmissbrauch. 35 Die Dimensionen lassen sich sinngemäß umschreiben mit: Freie Wahlen und Meinungsäußerung; politische Stabililität und Abwesenheit politisch motivierter Gewalt; effektives Regierungshandeln (bezogen auf den öffentlichen Sektor); Formulierung und Umsetzung fundierter 36 37 „Political Stability and Absence of Violence/Terrorism measures perceptions of the likelihood of political instability and/or politically-motivated violence, including terrorism“. Ausführlicher: World Bank 2015. 39 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 4.6. ASPEKTE UND PROBLEME DER SUBJEKTIVEN SEITE VON WOHLFAHRT – INDIKATOREN ZUR LEBENSZUFRIEDENHEIT Der Jahreswohlstandsbericht ist in erster Linie auf der nationalen, mithin auf der „Makroebene“ angesiedelt, da hier objektive Entwicklungen erfasst werden, die für den gesellschaftlichen Wohlstand beziehungsweise Wohlfahrt bestimmend sind. Bislang nicht betrachtet wurde die subjektive Ebene der persönlichen Zufriedenheit und damit die Frage, wie die objektiven Entwicklungen von den Menschen wahrgenommen werden. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass die subjektive Lebenszufriedenheit von einer ganzen Reihe von Faktoren beeinflusst wird, die außerhalb der Reichweite von Politik und staatlicher Verantwortung liegen und auch liegen sollten. dass steigende Einkommenszuwächse ab einem bestimmten Niveau nichts mehr zum persönlichen Wohlbefinden beitragen. Kritische Ökonomen sehen hierin im übertragenen Sinne ein „nutzloses Wachstum“. So hat die Entkopplung der Lebenszufriedenheit vom Wirtschaftswachstum in den USA bereits etwa 1965 eingesetzt (so Binswanger bereits 2011). Indessen gibt es auch andere Positionen, so kommen Weimann/Knabe und Schöb zu der Erkenntnis, dass es nicht zuletzt davon abhängt, was als Zufriedenheit gemessen wird (ders. 2015) und dass sich mit steigendem Einkommen auch die Möglichkeiten verbessern gesünder und länger zu leben, bessere Bildung zu erhalten und insgesamt freier zu leben. Dennoch gibt es Bemühungen in vielen Staaten, die unmittelbaren materiellen und immateriellen Bedürfnisse der Bürger und Bürgerinnen auch in gesellschaftlichen Berichterstattungssystemen stärker in den Vordergrund zu rücken; Beispiele sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Dies sollte ursprünglich auch dazu beitragen, die bislang dominierende, vorwiegend ökonomische Orientierung an Wachstum, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit, Löhnen und Kosten zu relativieren. Für die Erfassung der „subjektiven Lebensqualität“ wird hier auf einen Indikator zurückgegriffen, der aus dem Datensatz des Sozio-ökonomischen Panel generiert (SOEP) und vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zur Verfügung gestellt wird. Er misst die mittlere Lebenszufriedenheit der Bevölkerung auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut). Allgemein wird die Lebenszufriedenheit als kognitiver Bewertungsprozess der eigenen Lebensumstände beschrieben. Damit hebt sie sich deutlich von gefühlsbezogenen Aspekten wie Freude oder Ärger ab und grenzt sich so auch zum Begriff „Glück“ ab. Ergänzend zu den acht Kernindikatoren und den vorangestellten Erläuterungen zum Nationalen Wohlfahrtsindex soll insofern nun die Ebene der subjektiven Lebenszufriedenheit thematisiert werden. Bereits vor einigen Jahrzehnten haben Erhebungen zur Lebenszufriedenheit in Verbindung mit der Entwicklung des BIP für Aufsehen gesorgt, denn einige Studien ergaben eine Entkopplung zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum und der Zufriedenheit der Bevölkerung (beispielsweise Easterlin 1974, Layard 2005, Binswanger 2014). Das sogenannte „Easterlin Paradox“ beschreibt den Befund, Es handelt sich bei der Lebenszufriedenheit um eine rein subjektive Einschätzung, die nur von der Person selbst vorgenommen werden kann. Diese Einschätzung erfolgt normalerweise relativ zu einem Vergleichsstandard, etwa zu einer früheren Lebensphase oder im Vergleich zu anderen Personen (siehe etwa Dette 2005, 37f). Dabei ist die Einschätzung neben den tatsächlichen Lebensbedingungen auch abhängig von der individuellen Persönlichkeitsstruktur. Im SOEP werden neben der allgemeinen Lebenszufriedenheit außerdem sogenannte „Bereichszufriedenheiten“ erhoben, die sich auf 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 40 einzelne Aspekte des Lebens beziehen: Familienleben, Wohnung, Lebensstandard, Freizeit, Arbeit, Kinderbetreuung, Gesundheit, Schlaf, Haushaltstätigkeiten, Haushaltseinkommen, soziale Sicherung und persönliches Einkommen. Die Datenquelle der hier präsentierten Ergebnisse bildet das Sozio-Ökonomische Panel, kurz SOEP (siehe Wagner/Frick/Schupp 2007). Beim SOEP handelt es sich um eine repräsentative Wiederholungsbefragung, die seit 1984 läuft. Im Auftrag des DIW Berlin werden zurzeit jedes Jahr in Deutschland etwa 30.000 Befragte in fast 11.000 Haushalten von TNS Infratest Sozialforschung befragt. Die Daten geben unter anderem Auskunft zu Fragen über Ein- Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) (Hrsg.) (2015): Daten für die Jahre 1984-2014, Version 31, SOEP 2015. 38 Diesem Umstand wird hier Rechnung getragen, indem neben den Mittelwerten Konfidenzintervalle (95%) be- 39 kommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit. Da es sich um eine Panel-Studie handelt, also jedes Jahr die gleichen Personen befragt werden, können langfristige soziale und gesellschaftliche Trends über das SOEP besonders gut verfolgt werden. Eingesetzt wurde hier die neueste zur Verfügung stehende Datenversion, die Werte von 1984 bis 2014 enthält (SOEP v31).38 Bei den Auswertungen der Zufriedenheit wurden arithmetische Mittelwerte berechnet (siehe Abbildung 12). Allerdings können bei jeder Mittelwertberechnung, die auf einer Stichprobe beruht, nur Bandbreiten angegeben werden, innerhalb derer sich der Mittelwert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit befindet.39 rechnet wurden. In die Auswertungen werden die Konfidenzintervalle einbezogen, indem nur Änderungen und Unterschiede, die über die Konfidenzintervalle hinausgehen, als signifikant und damit relevant eingestuft werden. 41 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Abbildung 12: Veränderung der Lebenszufriedenheit in Deutschland bis 2014 Die hier aufgrund des SOEP mögliche Zeitreihe beginnt mit den historischen Höchstwerten der Lebenszufriedenheit Mitte der 1980er Jahre und sinkt dann deutlich ab bis 1988. Die deutsche Wiedervereinigung führt zu einem erneuten Anstieg bis 1991, dem ein Absinken bis 1997 folgt. Der Wert steigt dann bis 2001, ohne jedoch die Werte der Zeit um 1990 wieder zu erreichen, um dann bis 2004 auf den historischen Tiefststand der Zeitreihe zu fallen. Genaue Zuordnungen zu Ursachen und Ereignissen sind nicht wirklich nachgewiesen. So stieg beispielsweise nach 1998 die Zufriedenheit an; Ereignisse wie der Anschlag in New York und der Afghanistan-Krieg fallen in die Zeit einer Trendumkehr, welche durch die Verabschiedung der „Agenda 2010“ im Jahr 2003 nicht aufgehalten werden konnte. Nach 2004 folgt im Trend ein erneuter Anstieg bis 2014, wobei der Wert nun – insbesondere in Ostdeutschland – einem historischen Höchststand entspricht. Insgesamt liegt den Einschätzungen der Bürgerinnen und Bürger eine große Zahl an Faktoren zugrunde, welche teilweise auch nicht eindeutig in ihrer quantitativen Bedeutung im Verhältnis zueinander bestimmt werden können. Für die Politik ist es sicherlich notwendig, solche Erhebungen zu kennen, aber daraus allein ergeben sich keine hinreichenden Hin- 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 42 weise auf angemessene Handlungsoptionen.40 Unter dem Gesichtspunkt eines an der objektiven Entwicklung der Gesamtgesellschaft orientierten Wohlstandsverständnisses könnte es mitunter sogar notwendig sein, die Ausrichtung an Zufriedenheit und Glück nicht absolut zu setzen, weil sonst erforderliche Reformen – die kurzfristig auch „weh tun“ könnten – niemals zustande kämen. Durch die Einbeziehung dieses Indikators als ein Element außerhalb des Rahmens der Kernindikatoren ist es im Wohlstandsbericht aber möglich, die Mikro- und die Makroebene des Wohlergehens in einer Gesellschaft aufeinander zu beziehen. Neben Erhebungen zur Lebenszufriedenheit finden sich weitere Studien, die sich sogar der Frage nach dem „Glück“ widmen oder das Themenfeld des „Guten Lebens“ durch empirische Studien behandeln. Eine Grundlage der Dokumentation empirischer Arbeiten bietet die „World Data Bank of Happiness“ der Universität Rotterdam (Veenhoven 2015). Bekannt geworden ist in Deutschland der so genannte „Glücks-Atlas“ der Deutschen Post, der sich vor allem auf ein Ranking von Regionen bzw. Bundesländern konzentriert (Raffelhüschen/Schlinkert 2015,2016). Dazu nur wenig abweichende Ergebnisse hat eine Umfrage zum „Glückstrend“ von Infratest dimap im Jahre 2013 ergeben. Bereichen, die im Bericht als „Dimensionen“ bezeichnet werden. Als „Hauptkriterium“ der Auswahl werden hier die Ergebnisse des Bürgerdialogs benannt, wobei die Auswahlmethodik nicht immer nachvollziehbar ist: So wird als wichtigstes Thema im Bürgerdialog „Frieden“ genannt, hierzu findet sich indessen keine direkte Entsprechung im Indikatorensystem. Es fällt auf, dass zwei von 48 Themen – Qualität der Pflege und globale unternehmerische Verantwortung – nicht mit einem Indikator abgedeckt sind. Im Prinzip soll jedoch jede der 12 „Dimensionen“ der Lebensqualität mit mehreren – allerdings unterschiedlich vielen – Einzelindikatoren abgedeckt werden. Eine Auseinandersetzung mit einzelnen Indikatoren oder mit der Auswahl der Indikatoren im Detail kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Erkennbar ist aber, dass die Zahl der objektiven und der subjektiven Indikatoren in den verschiedenen Dimensionen sehr unterschiedlich verteilt ist. Nachfolgend ist die Zahl der Indikatoren je Dimension zunächst insgesamt aufgeführt; die zweite Zahl in der Klammer ist dann die Zahl der betreffenden subjektiven Indikatoren, die in der Gesamtzahl enthalten ist:41 1. 2. 3. 4. Der Regierungsbericht „Gut Leben in Deutschland“ – der bereits in Abschnitt 3.1 erwähnt wurde – verfolgt dagegen eine andere Strategie, da hier eine Kombination von objektiven und subjektiven Indikatoren vorgeschlagen wird. Der Bericht soll, „den gesellschaftlichen Diskurs über die Lebensqualität in Deutschland anregen und verstetigen“ (Bundesregierung Deutschland 2016, 5). Das Indikatorensystem des Berichts enthält 46 Indikatoren in zwölf Sieht man einmal von den seit den Anfängen des Wohlfahrtsstaates intendierten Verbesserungen der sozialen und ökonomischen Lage durch staatliche Maßnahmen 40 5. 6. 7. 8. 9. „Gesund durchs Leben“ (5 – 1) Gut arbeiten und gerecht teilhaben (5 – 1) Bildungschancen für alle (4 – 0) Zeit haben für Familie und Beruf (4 – 1) Sicheres Einkommen (5 – 0) Sicher und frei leben (4 – 2) Zuhause sein in Stadt und Land (3 – 0) Zusammenhalt in Familie und Gesellschaft (4 – 1) Wirtschaft stärken, in die Zukunft investieren (5 – 0) ab; siehe exemplarisch dazu die Überlegungen von Bellebaum et al. (1998) zu „Staat und Glück“. Interaktive Darstellung des Indikatorensystems unter https://www.gut-leben-in-deutschland.de/static/LB/indikatoren/ 41 43 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 10. 11. 12. Natur erhalten, Umwelt schützen (3 – 0) Frei und gleichberechtigt leben (3 – 1) In globaler Verantwortung handeln und Frieden sichern (3 - 0). Die Dimensionen lassen sich – zwar nicht in diesen Formulierungen, aber dem Inhalt nach – nahezu vollständig den verschiedenen Sustainable Development Goals oder sogar direkt einzelnen Unterzielen zuordnen. An wichtigen Stellen gibt es Überschneidungen zu den Zielsetzungen und zu den Indikatoren im Nationalen Nachhaltigkeitsbericht, sodass eine Integration der objektiven Indikatoren aus diesem Regierungsbericht zur Lebensqualität in den Nachhaltigkeitsbericht durchaus denkbar wäre. Würde der Nachhaltigkeitsbericht dann noch um einen Abschnitt mit subjektiven Indikatoren komplettiert, vergleichbar zu dem ebenfalls seit Jahren vorgelegten „Datenreport“ des Statistischen Bundesamts,42 könnte hier eine Integration der beiden Berichte unter dem Dach des Nachhaltigkeitsberichtes überlegt werden. Als jüngsten Bericht siehe Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung/Sozioökonomisches Panel (Hrsg.) (2016): Datenreport 2016 – Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. 42 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 44 5. ERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Im Anschluss werden nun sowohl die zentralen Dimensionen des Wohlstandsberichts 2017 in grafischer Weise dargestellt (Abbildung 13), als auch die einzelnen Kernindikatoren im Überblick. Dem schließt sich eine Übersichtsseite an: Sie enthält durch Ampelfarben und Pfeile Charakterisierungen der Einzelindikatoren, gefolgt von einer verdichteten grafischen Visualisierungsform, die in Form eines „Dashboards“ alle wesentlichen Informationen transportieren soll (Abbildung 14). 5.1. DIE INDIKATOREN – ÜBERBLICK UND EMPFEHLUNGEN Zu den einzelnen Indikatoren folgt hier eine kurze Einschätzung hinsichtlich möglicher Instrumente und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung respektive politischer Schlussfolgerungen. – Gelb: Der aktuelle Wert ist von Zielwert noch deutlich entfernt, die Abweichung liegt bei bis zu 30 %. Falls kein Zielwert formuliert werden kann, ist der Indikatorwert im internationalen Vergleich innerhalb der oberen 30 %. – Rot: Die Abweichungen des aktuellen Wertes vom Zielwert betragen über 30 %. Falls kein Zielwert formuliert werden kann, ist der Indikatorwert im internationalen Vergleich nicht innerhalb der oberen 30 %. Diese Einschätzung erfolgt in zwei Schritten. Zuerst werden die einzelnen Kernindikatoren grafisch charakterisiert. Dies erfolgt anhand von Farben, die der Idee einer Verkehrsampel folgen, sowie anhand von Pfeilen, die die Richtung der Veränderung anzeigen. Auf dieser Grundlage – und natürlich auf der Basis des Kurvenverlaufs der einzelnen Indikatoren aus dem vorhergehenden Kapitel – werden anschließend Schlussfolgerungen zur Diskussion gestellt. Ergänzende Hinweise: – Nicht für alle der vorgeschlagenen Indikatoren lassen sich Zielwerte eindeutig formulieren. – Beim Ökologischen Fußabdruck im Verhältnis zur Biokapazität ist dies jedoch der Fall: hier kann die Norm aufgestellt und mit den ökologischen Grenzen der Erde begründet werden, dass der Fußabdruck eigentlich nicht über der Biokapazität liegen soll. Auch bei dem Indikator zur Artenvielfalt und zur Landschaftsqualität gibt es ein politisch festgelegtes Ziel für die Bundesrepublik Deutschland, nämlich die Wiedererreichung des Indexwertes 100, der zuletzt etwa im Jahr 1975 erreicht werden konnte. – Bei anderen Indikatoren lassen sich die Ampelfarben im Grunde nur über einen (1) Visualisierung der Kernindikatoren Ampeldarstellung: Die Ampelfarben sollen signalisieren, ob beziehungsweise inwieweit ein Indikator einem angestrebten Zielniveau entspricht. Hier sind die bekannten Ausprägungen in den Farben rot, gelb und grün gewählt. Dabei bedeutet: – Grün: Der Zielwert ist bei dem Indikator erreicht oder nahezu erreicht; Abweichungen zum Zielwert betragen maximal 15 %. Falls kein Zielwert formuliert werden kann, ist der Indikatorwert im internationalen Vergleich in der Spitzengruppe. 45 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 internationalen Vergleich bestimmen, so etwa beim Governance-Indikator. Hier kann eine Grenze etwa für die Ampelfarbe grün festgelegt werden, die hier nur dann vergeben werden soll, wenn das Land zu den 10 % der besten Länder der Erde gehört, für welche der Governance-Indikator berechnet werden kann. – Schließlich bietet sich noch die Möglichkeit an, den Indikator im Verhältnis zu den eigenen Indikatorwerten der Zeitreihe selbst zu bestimmen. Bei diesem Verfahren wäre etwa „grün“ nur dann zu vergeben, wenn der aktuelle Wert in der Nähe des jeweiligen „historischen Maximums“ der Zeitreihe liegt. Trendpfeildarstellungen: Die Pfeile signalisieren, ob sich ein Indikator in der letzten Zeit in einem aufsteigenden positiven Trend, einem gleichlaufenden, neutralen Trend oder einem negativen Trend befindet. Die Interpretation folgt dabei immer einer Bewertung unter Wohlstandsgesichtspunkten. Dabei muss beachtet werden, dass zuweilen eine Abnahme eines Indikatorwertes einem positiven Trend und damit folgerichtig einem steigenden Pfeil entspricht – etwa beim Ökologischen Fußabdruck. Der umgekehrte Zusammenhang ist natürlich auch gegeben, beispielsweise beim Index für Artenvielfalt und Landschaftsqualität, wo ein Anstieg eine Verbesserung signalisiert. Nachfolgend findet sich eine entsprechende Übersichtsdarstellung der Kernindikatoren des Jahreswohlstandsberichts 2017. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 46 Abb. 13: Übersicht zur Bewertung der Kernindikatoren (eigene Darstellung) 47 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Zusammenfassung: Die Ampeln symbolisieren den letzten verfügbaren Wert und damit den Zustand des Indikators: „Grün“ bedeutet demnach, dass der Zustand im Zielbereich des Indikators liegt, maximal 15 % vom Ziel entfernt; „gelb“ einen Wert, der verbesserungsbedürftig ist, „rot“ einen Zustand, der weit von einem zukunftsfähigen Wert entfernt liegt. Die Pfeile symbolisieren die jüngste Entwicklung des Indikators: „Pfeil nach oben“ heißt, dass der Zustand sich verbessert hat, „Pfeil nach unten“ symbolisiert eine Verschlechterung, „Pfeil waagrecht“ bedeutet, dass sich entweder nichts geändert hat oder der Trend uneinheitlich ist. (2) Empfehlungen im Hinblick auf eine Verbesserung von Wohlstand und Wohlfahrt I 1 – Ökologischer Fußabdruck Der Indikator befindet sich seit langem im roten Bereich. Die Differenz zwischen der eigenen Biokapazität und dem Ökologischen Fußabdruck hat sich in den letzten Jahren tendenziell weiter verschlechtert. Damit beruht der Wohlstand in Deutschland auf Ressourcen und Entsorgungsleistungen, welche zu einem großen Teil „extern“ (oder im Ausland) aufgebracht worden sind. Langfristiges Ziel – um die Ampeldarstellung Richtung grün zu verändern – ist die Übereinstimmung zwischen dem Ökologischen Fußabdruck Deutschlands im Verhältnis zur selbst verfügbaren Biokapazität. Es handelt sich um einen sehr umfassenden Indikator. So wären Verbesserungen nur zu erzielen, wenn an den beiden großen Polen der Umweltbelastung gleichzeitig angesetzt würde: Dies sind einerseits die Produktionsund andererseits die Konsumseite. Folglich spielen diejenigen Branchen eine maßgebliche Rolle, die Natur und Umwelt besonders intensiv beanspruchen, etwa im Bereich der Erzeugung von Feldfrüchten und insbesondere von tierischen Produkten, im Chemiebereich die Herstellung von Plastikprodukten sowie die Branchen Kohle und Öl, aber auch Eisen und Stahl. Auf der Konsumseite sind dies die zentralen Bereiche Wohnen, Ernährung und Mobilität. Besonders eine tendenzielle Zunahme der Vereinzelung, erkennbar in einer steigenden Anzahl von Single-Haushalten, geht einher mit größerer Wohnfläche und steigendem Aufwand für Strom und Heizung. Insgesamt stiegen außerdem die Konsumausgaben der privaten Haushalte von rund 1,4 Billionen Euro im Jahr 2011 auf 1,5 Billionen Euro im Jahr 2014. Damit einher ging auch eine Zunahme der Fahrzeugdichte; sie beträgt inzwischen über 530 Pkw je 1.000 Einwohner. Programme zur Steigerung der Ressourceneffizienz sowie der Kreislaufwirtschaft und Ansätze einer „shared economy“ oder immaterieller Konsumstile einschließlich einer Veränderung des Ernährungsstils, würden den Fußabdruck senken. Anreize könnten auch durch die Stärkung der Produktverantwortung der Hersteller, verlängerte Garantiezeiten oder eine Ressourcenabgabe gesetzt werden, mit denen die externen Kosten des Ressourcenverbrauchs stärker internalisiert würden. Durch Investitionen in das Naturkapital, insbesondere den Erhalt von Ökosystemen und wertvollen Flächen einschließlich von Programmen zur Pflege des Naturkapitals, würde sich außerdem die in Deutschland verfügbare Biokapazität erhöhen, ebenso durch Bemühungen, die eine weitere Intensivierung der Landnutzung oder Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen verhindern. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 48 I 2 – Nachhaltigkeitsindikator für die Artenvielfalt auch auf kommunaler Ebene, beispielsweise durch neue Vorgaben bei Umweltverträglichkeitsprüfungen. Auch in Siedlungsgebieten können durch eine entsprechende Planung und Gestaltung von Gebäuden und Freiflächen Beiträge zum Erhalt der Artenvielfalt geleistet werden. Schließlich findet der Bundesverkehrswegeplan angesichts seiner erheblichen Auswirkungen auf die Qualität von Natur und Landschaft nur wenig kritische Kommentare. Auch der zweite ökologische Kernindikator befindet sich in einem unzureichenden, mit „rot“ bewerteten Status, da er 2011 sich auf dem niedrigsten bislang dokumentierten Niveau befindet und während der letzten zehn Jahre sich erkennbar verschlechtert hat. Die im Kontext der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung vorgegebene erste Zielsetzung zur Artenvielfalt für das Jahr 2015 wird drastisch verfehlt werden. Besonders der Teilindikator, der sich auf den Lebensraumtyp Agrarlandschaft bezieht, neigt seit Jahren zur Verschlechterung. Soweit erkennbar, soll nun offensichtlich für das Jahr 2030 der Index-Zielwert von 100 erreicht werden (vgl. Bundesregierung 2017, 39). I 3 – Einkommensverteilung S 80: S 20Relation Die zunehmende Einkommensungleichheit hat inzwischen das Potenzial zu einem sozialen Konflikt, der bislang bereits latent vorhanden war. Die geringfügige Verbesserung des letzten Wertes hat dieses Problem weder in der gesellschaftlichen Realität noch in deren Wahrnehmung verbessert. Politische Empfehlungen müssen in diesem Bereich vielschichtig und differenziert sein. Stichworte sind Mindestlohnsicherung; Erhöhung der unteren Renten; Entlastung unterer Einkommen, gegenfinanziert durch eine stärkere Progression in der Einkommensbesteuerung bei höheren Einkommen;44 stärkere Tarifbindung von Beschäftigungsverhältnissen respektive Ausweitung von Tarifverträgen und Eindämmung atypischer zugunsten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Hier bestehen ferner Anknüpfungspunkte zu einer hö- Eine „Agrarwende“, verbunden mit einer erheblich reduzierten Ausbringung von Düngemitteln, insbesondere mineralischem Stickstoff, und Pflanzenschutzmitteln sowie einer geringeren Nutzungsintensität von Böden43 und Vermeidung von Grünlandumbruch gehört auf die politische Agenda, wenn es um eine übergreifende Sicht von Wohlstand geht – also unter Einschluss des biologischen Reichtums, der Biodiversität und des Funktionserhalts von Ökosystemen. Insgesamt zeigt sich hier auch die „Rückseite“ von Bautätigkeiten, verbunden mit Versiegelungen und Flächenzerschneidungen. Das Thema des Flächenverbrauchs – genaugenommen handelt es sich dabei um einen Entzug von Flächen aus ökologischen Kreisläufen – ist ungelöst und bedarf neuer politischer Initiativen, insbesondere Ein Indiz ist der zunehmende Export von Nahrungsmitteln aus Deutschland, im Zuge des Leitmotivs einer Größenausweitung („economy of scales“) von Produktionsverfahren und agrarwirtschaftlichen Betrieben. 43 Bislang greift der höchste Steuersatz bereits bei mittleren Einkommen und bleibt bei den wirklich hohen Einkommen aber konstant. 44 49 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 heren Durchlässigkeit des Bildungssystems und zum Abbau von Beschäftigungshemmnissen bei Frauen. Eine sich ausbreitende Ungleichheit hat neueren Untersuchungen zufolge selbst negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung. Dieser Befund wird mittlerweile sogar vom Internationalen Währungsfonds als kritisch gesehen. Empfohlen wird ein steigendes Einkommen im Bereich der unteren Gruppierungen und der Mittelklasse, da ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum nur bei einer gerechteren und insofern steigenden sozialen und ökonomischen Gleichheit gewährleistet werden könne.45 Hier zeigt sich, dass sehr unterschiedliche Akteure eine Rolle spielen und Unternehmen, Gewerkschaften und der Staat gleichermaßen in der Pflicht stehen. Ein interessantes zusätzliches Handlungsfeld ist die Förderung genossenschaftlicher Produktion, da hier die Partizipation an erwirtschafteten Gewinnen eine größere Bedeutung hat. I 4 – Bildungsindex Der Index befindet sich in einem „gelb“ bewerteten Zustand, bei sich verbessernder Tendenz. Politische Maßnahmen beträfen die Förderung „bildungsferner Schichten” und nun auch verstärkt von Migranten und Flüchtlingen, verstärkte Durchlässigkeit von Bildungsgängen sowie die Förderung des Aufbaus weiterer berufsbegleitender Bildungsgänge (vgl. auch Thöne & Krehl 2015) sowie ein verbessertes Angebot an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Zielführend wären auch eine stärkere Förderung von Programmen wie „Bildung für Nachhaltige Entwicklung” und deren Integration in formale Bildungsgänge. Die erwartbaren Vorteile für das Wohlstandsniveau in Deutschland lassen sich wie folgt umschreiben: In der Regel höheres Einkommen, mehr Achtsamkeit auf gesundheitliche Belange, tendenziell geringere Kriminalitätsneigung und größeres Interesse an politischer Partizipation. Positive Korrelationen zum wirtschaftlichen Wachstum und zu (meist technischen) Innovationen scheinen ebenfalls, auch international, mit einem qualitativ gemessenen Bildungsniveau einherzugehen. I 5 – Nettoinvestitionsquote Der Indikator wird mit einer roten Ampel bewertet, in den letzten Jahren hat sich in der Tendenz nicht viel verändert, deswegen zeigt der Pfeil waagrecht. Intendierte Verbesserungen sind teilweise klar mit unterschiedlichen privaten Interessen verbunden: Gefordert werden traditionellerweise von Arbeitgeberseite wirtschaftspolitische Maßnahmen, die die Rentabilität kleiner und mittlerer Unternehmen verbessern: Steuererleichterungen, Subventionen, Verbesserung der Außenhandelsbedingungen. Eine zweite Sicht verknüpft Investitionsförderung direkt mit dem Arbeitsplatz-Argument: Gerade dort sollen Investitionen erleichtert werden, wo durch das Engagement neue Arbeitsplätze entstehen. Zu den errechneten positiven Wirkungen von zunehmender Gerechtigkeit und zunehmendem Wachstum der Weltwirtschaft siehe im Detail IMF (2015). 45 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 50 Eine andere Orientierung könnte Politiken zur Verbesserung der Nettoinvestitionen mit strukturpolitischen Überlegungen verbinden, die die Investitionsbedingungen vor allem in einer „green economy“ fördern (siehe auch Kernindikator 6), mit anderen Worten: Investitionserleichterungen in jenen Wirtschaftsbereichen realisieren, von deren eine zukunftsfähige Ökonomie besonders profitiert. Ordnungspolitische Maßnahmen spielen hierbei durchaus eine wichtige Rolle, zu ihnen gehören anspruchsvolle Ziele bei der Energieeffizienz und Ressourceneinsparung und eine zielgerichtete Bepreisung von Umweltverbrauch im Rahmen einer Weiterentwicklung der ökologischen Finanzreform oder über einen CO2-Mindestpreis. Zudem könnten auf Seiten öffentlicher Haushalte entsprechende Investitionen durch Förderprogramme und andere, indirekte Maßnahmen begünstigt werden, wie z.B. steuerliche Begünstigungen von Ausgaben für Forschung und Entwicklung und gezielt verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für besonders energieeffiziente Investitionen. Fördernd für die private Investitionstätigkeit wirken auch öffentliche Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur. I 6 – Anteil von Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung Handlungsfelder sind hier vor allem eine gezielte Förderung der Produktion von Umweltschutzgütern. Das sollte auch die Gestaltung der Exportmärkte berühren, etwa durch die komplette Umorientierung der Subventionen einschließlich von Hermes-Bürgschaften nach „grünen” Kriterien sowie eine verstärkte Kooperation zwischen Wirtschaft und den entsprechenden Ministerien mit Akteuren im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Die Ausarbeitung einer entsprechenden Strategie bietet sich nun angesichts der Ergebnisse der Pariser Klimaverhandlungen und den Vorgaben durch die im Herbst 2015 verabschiedeten weltweiten Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) an. Insofern wäre die „grüne“ Bewertung des Indikators kein Hindernis, den Anteil der Umweltschutzgüter weiter zu erhöhen; denkbar ist in diesem Zusammenhang eine „Dynamisierungsklausel“ mit intendierten prozentualen Steigerungsraten. Eine solche umweltpolitische Vorgabe könnte zumindest als Orientierung und staatliche Signalwirkung für die wirtschaftlichen Akteure fungieren. Generell geht es dabei um eine Steigerung des Anteils der Umweltschutzgüter an der Produktion insgesamt. Dies kann im Kontext einer Umorientierung hin zu einer „Grünen Wirtschaft“ ein wichtiger Baustein sein. Um die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltiger Produkte zu verbessern und zu sichern – etwa im Bereich Erneuerbare Energie oder Kreislaufwirtschaft – sollte ein umfassender industriepolitischer Ansatz verfolgt werden, der eine stärkere Internalisierung externer Kosten, die Förderung zukunftsfähiger Technologien und Geschäftsmodelle sowie die Durchsetzung hoher Klimaschutz- und Umweltstandards in internationalen Handelsverträgen umfasst. 51 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 I 7 – Gesunde Lebensjahre Die Ampel zeigt hier eine gelbe Farbe, bei in letzten Jahren leicht zurückgehender Entwicklungstendenz. Menschen leben, über die Entwicklung der letzten Jahrzehnte betrachtet, zwar deutlich länger, der Zugewinn setzt sich aber nicht in einen entsprechenden Anstieg der gesunden Lebensjahre um. Dabei nivelliert sich auch der Unterschied zwischen Männern und Frauen; letztere haben bekanntlich eine deutlich höhere Gesamtlebenserwartung als Männer. Chronische Erkrankungen, Gebrechlichkeit, körperliche Behinderungen und psychische Störungen sind in höherem Alter stärker verbreitet; die damit einhergehenden Belastungen wirken sich auch auf das Gesundheits- und das Rentensystem aus.46 Mit der Indikation der gesunden Lebensjahre ist auch eine Neuorientierung der Gesundheitspolitik intendiert: Gesundheits- und Versorgungssysteme sollen sich hier insbesondere auch auf Vorsorgesysteme und die Förderung von „aktivem Altern“ konzentrieren. Die Zugänglichkeit sowie die Qualität und die Nachhaltigkeit von Gesundheitsdienstleistungen müssen hier weiter verbessert werden (Europäische Kommission 2016). Erreicht werden soll damit eine Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen und nicht zuletzt eine Entlastung der Pflegesysteme. I 8 – Governance Index Der Governance Index wird im internationalen Vergleich mit „grün“ bewertet, obwohl er gerade im letzten Jahr wieder einen deutlichen Rückgang aufweist. Dennoch ließen sich auch hier Empfehlungen für eine Stabilisierung oder sogar für eine weitere Verbesserung ableiten: Dazu gehören Maßnahmen zur Gewaltprävention und weiterhin Bemühungen zum Bürokratieabbau und zur Vereinfachung von Verwaltungsstrukturen. Gleichfalls hilft eine Erweiterung der Kapazität von Gerichten, um die Zeit zwischen Anklage und Verfahren zu verringern beziehungsweise Zivilgerichtsverfahren zu beschleunigen. Zu betonen ist außerdem die Bedeutung von AntiKorruptionsmaßnahmen auch in Deutschland, nicht zuletzt im Kontext einer Bekämpfung von zunehmender Banden- und organisierter Kriminalität. Eurostat (Hrsg.) (2016): Statistiken über gesunde Lebensjahre. URL: http://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained/index.php/Healthy_life_years_statistics/de 46 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 52 5.2. ZUSAMMENFASSUNG Die folgende Abbildung 14 greift die Idee einer Visualisierung in Form eines sogenannten „Dashboards“ auf. Ziel ist eine übersichtliche Anordnung aller Kernindikatoren in Analogie zu einem Instrumentenpult oder einem Flugzeugcockpit, um alle wesentlichen Informationen auf einen Blick zu vermitteln: Abb. 14: Kernindikatoren des Wohlstandsberichts 2017 als Dashboard-Übersicht (eigene Darstellung) K1: Ökologischer Fußabdruck K3: S 80:S20 - Relation der Einkommensverteilung K5: Nettoinvestitionsquote K7: Gesunde Lebensjahre K2: Index Artenvielfalt und Landschaftsqualität K4: Bildungsindex K6: Anteil von Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung K 8: Governance Index Die Abbildung 14 gibt alle Kernindikatoren des Jahreswohlstandsberichts wieder, beginnend mit den Indikatoren auf der linken Seite, welche eine negative Ausprägung besitzen. Sie zeigt ganz rechts diejenigen Indikatoren, welche eine grüne Farbmarkierung besitzen und zudem eine sich verbessernde Entwicklung zeigen, weshalb der Pfeil nach oben weist. • Es überrascht zunächst, dass in Deutschland der Wohlstand gerade durch die beiden Indikatoren der ökologischen Dimension negativ beeinträchtigt wird – trotz 53 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 • der Erfolge im Umweltschutz bei den Umweltproblemen der „ersten Generation”: Luft-, Wasser-, Bodenverschmutzung, Abfallbeseitigung. Das deutet darauf hin, dass die bisherigen ökonomischen Aktivitäten – selbst bei begrenztem Wirtschaftswachstum – weitere Gefährdungen hervorbringen werden; die Divergenz zwischen Inanspruchnahme der Umwelt und der ökologischen Basis ist zu hoch (Indikator 1). Dies macht sich auch beim Nachhaltigkeitsindikator für die Artenvielfalt und Landschaftsqualität bemerkbar, der eine weitere ökologische Verschlechterung in den unterschiedlichen Lebensräumen signalisiert und letztlich auch das vorhandene „Naturkapital“ untergräbt (Indikator 2). Die Folgen sind bereits aus umweltethischer Sicht bedenklich, aber ein Verlust von Tier- und Pflanzenarten senkt über kurz oder lang auch die Umwelt- und Lebensqualität der Menschen. Mit anderen Worten: Deutschland trägt erheblich dazu bei, dass die zukünftige Einhaltung der planetaren ökologischen Grenzen in Gefahr ist. Hierzu gehören im Übrigen der Stickstoffkreislauf sowie Emissionen von Treibhausgasen. Im Bereich der ökologischen Dimension sind also beide Indikatoren ganz beträchtlich von den jeweiligen Zielsetzungen entfernt. Politischer Handlungsbedarf wird weiterhin durch die Entwicklung der Indikatoren der sozialen Dimension angezeigt. In Deutschland nahm die Ungleichverteilung der Einkommen seit 2005 besonders stark zu, auch im internationalen Vergleich. Von zahlreichen Studien ist bekannt, dass sich eine starke Ungleichverteilung auf sehr viele andere gesellschaftlichen Fragen signifikant negativ auswirkt, einschließlich des Vertrauens in die gemeinschaftlichen und staatlichen Institutionen sowie die Legitimation der demokratischen Prozesse. Hier könnte ein Kernproblem der ökonomischen Entwicklung liegen, dass durch das Geld- und Finanzsystem weiter verstärkt wird und bei dem – wie auch bei den ökologischen Indikatoren – ein auf lange Frist angelegtes politisches Programm nötig sein wird. Die Indikatoren der ökonomischen und der gesellschaftlichen Dimension schneiden im Vergleich zu den vorgenannten Dimensionen teilweise deutlich besser ab. Im Sinne einer Beibehaltung des hohen Niveaus, aber auch einer Steigerung unter Wohlstandsgesichtspunkten signalisieren die Indikatoren gleichzeitig Handlungspotenzial, beispielsweise im Bereich wirtschaftlicher Innovation und einer weiteren Erhöhung des Anteils hergestellter Umweltschutzgüter sowie entsprechender Dienstleistungen. Zu hoch sind hier jedoch nach wie vor einige der erfassten Begleit- und Folgekosten der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Deutschland, welche das Wohlstandsniveau faktisch untergraben und die Frage nach einer Umsteuerung auf die politische Agenda heben. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 54 6. KONTROLLINDIKATOR ZUR PROBLEMATIK DER VERSCHULDUNG Kaum ein volkswirtschaftliches und gesellschaftspolitisches Problem wird so kontrovers diskutiert wie die Frage des Umgangs mit Defiziten: Ist eine weiter steigende Verschuldung oder Schuldenabbau angebracht? Hier stehen sich zwei wirtschaftstheoretische Grundhaltungen gegenüber - die keynesianisch begründete antizyklische Konjunkturpolitik, die in Zeiten von Wirtschaftskrisen durch „deficit spending“ die Wirtschaft wiederbeleben will, und eine Austeritätspolitik, die durch Umstrukturierungs- und Anpassungsmaßnahmen gerade in Zeiten von Krisen Schulden abbauen möchte, um die Haushalte von Zinslasten zu befreien. Ob Schulden Teil des Problems oder Teil der Lösung sind, ist besonders am Beispiel Griechenlands und den südlichen europäischen Staaten umstritten. Eine zweite gegensätzliche Politikfront manifestiert sich in der Haltung der USA und der Position Deutschlands zur Frage der (weiteren) Verschuldung staatlicher und wirtschaftlicher Akteure. Unbestritten ist, dass Schulden für Investitionen in sehr vielen Fällen notwendig und auch erwünscht sind, denn sonst würde sich die Investitionstätigkeit auf die Anlage eigener Gewinne oder des Eigenkapitals beschränken. Kreditmärkte üben eine für alle Wachstumsprozesse maßgebliche Allokationsfunktion aus, indem hier die Anlagewünsche von Kapitaleignern mit den Finanzierungswünschen von Investoren zusammenkommen – was nur über Verschuldung möglich ist. Das von vielen Ökonomen postulierte Leitmotiv lautet, dass es in einer freien Marktwirtschaft ohne Schulden kein Wachstum gäbe. Nur dann kann der so genannte „positive Schuldenzyklus“ gelingen, wenn nämlich die Unternehmer durch ihre kreditfinanzierten Investitionen mehr Geld verdienen, als sie in Form von Tilgung und Zinsen an die Gläubiger zurückzahlen müssen. Genau diesem Mechanismus verdankt sich die Akzeleration von Wachstumsprozessen, die möglich werden, wenn die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen dies zulassen. Verbesserungen bei der Entwicklung des Wohlstands in einer Gesellschaft sind – in dieser Perspektive – dann nicht nachhaltig, wenn sie durch eine Verschuldung zustande kommen, die in einer angemessenen Zeit nicht wieder abgebaut werden kann. Deswegen ist es wichtig, zu überprüfen, ob mit den Entwicklungen in den vier Dimensionen des Wohlstandsberichtes eine entsprechende Veränderung in der Verschuldung der Gesellschaft insgesamt einhergeht. Denn wie die letzten Wirtschaftskrisen in den 2000er Jahren gezeigt haben, ist es eben nicht immer „nur“ die Verschuldung der Öffentlichen Haushalte, von denen bedrohliche Verschuldungskrisen ausgehen – Ausgangspunkt können auch die privaten Haushalte oder der Unternehmenssektor sein. Als Beispiel seien hier die von „Immobilienpreisblasen“ ausgehenden Krisen genannt, wie sie in den USA, Irland oder Spanien zu beobachten waren. So kann sich die Einkommensverteilung in Zeiten eines Immobilienbooms zwar verbessern. Wenn dieser Boom aber lediglich auf eine massive Zunahme der Verschuldung von privaten Haushalten oder Unternehmen zurückzuführen ist und durch plötzlich steigende Zinsbelastungen die „Immobilienpreisblase“ dann platzt, kann es zur Katastrophe kommen: Schuldner können ihre Kreditlasten nicht mehr bedienen – und erhalten dann beim folgenden Zwangsverkauf ihrer Immobilie nur noch ein Bruchteil des Preises, den sie in Zeiten des Booms selbst bezahlt hatten. Auch viele Unternehmen kön- 55 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 nen dann in die Lage kommen, Insolvenz anmelden zu müssen; diese Entwicklungen können dann zusammen dazu führen, dass Banken in Schieflage geraten und große volkswirtschaftlichen Verwerfungen mit starken negativen Auswirkungen entstehen, die sich dann auch in einer massiven Verschlechterung der sozialen und gesellschaftlichen Indikatoren ausdrücken. Die steigende Verschuldung im privaten Sektor der USA oder in Spanien schien so lange abgesichert, als dieser Verschuldung reale Werte gegenüberstanden: eben Immobilien, die zu den hohen Marktpreisen bewertet wurden. Die fallenden Häuserpreise in den USA lösten dann aber die sogenannte „Subprime-Krise“ aus. Von dieser Krise gingen weltweite Schockwellen aus, Hypothekenbanken und schließlich der gesamte Bankensektor wurden erfasst. Im Zuge der Übernahme umfangreicher Bankenrisiken wurden private Risiken sozialisiert und belasteten die Staatshaushalte vieler Länder in extremer Weise. Zur Situation in Deutschland Letztlich blieb auch Deutschland nicht völlig verschont. Jedoch steht Deutschland zumindest von den Auswirkungen her noch nicht im Zentrum der soeben skizzierten Risiken und Spannungsverhältnisse. Dennoch kämpfen in Deutschland viele private Haushalte mit Schulden. Jeder zehnte Bundesbürger hat finanzielle Probleme bei der Schuldentilgung. Betroffen sind ca. 6,85 Millionen Menschen. Für eine differenzierte Sicht nach wirtschaftlichen Akteuren sei auf Abbildung 15 (nachfolgende Seite) verwiesen: In Deutschland ist die Verschuldung des Öffentlichen Gesamthaushalts bis 2012 kontinuierlich angestiegen und blieb bis 2014 nahezu unverändert; 2015 hat es seit Jahrzehnten zum ersten Mal wieder einen Rückgang gegeben. Die Verschuldung der Unternehmen ist im letzten Jahrzehnt ebenfalls angestiegen, unterbrochen von einem kleinen Rückgang zu Zeiten der Finanzkrise. Die Verschuldung der privaten Haushalte blieb im selben Zeitraum nahezu unverändert. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 56 Abbildung 15: Entwicklung des Verschuldungsgrades unterschiedlicher Akteure bis 2015 In wirtschaftswissenschaftlichen Darstellungen üblich ist es, die Verschuldung auf das Bruttoinlandsprodukt zu beziehen – damit soll ausgedrückt werden, dass ein Land mit einem höheren BIP sich auch eine höhere Verschuldung „leisten“ kann, da es durch seine Wirtschaftskraft auch leichter in der Lage wäre, den Schuldendienst aus Tilgung und Zinslasten zu bedienen. Diese Annahme liegt auch den Maastricht-Kriterien zugrunde, denen zufolge die Staatsschulden nur einen bestimmten Anteil des BIP betragen sollen. Die Übertragung der Schuldenrelation zum BIP auf die Gesamtverschuldung könnte sich aber als höchst problematisch erweisen, einfach schon deswegen, weil der Handlungsspielraum privater Akteure mit dem der öffentlichen Institutionen nicht vergleichbar ist. Generell gilt jedoch, dass die Verwendung des BIP als derart entscheidende Bezugsgröße die Gefahr birgt, alle die falschen Steuerungssignale mit zu transportieren, derentwegen im vorliegenden Bericht der Nationale Wohlfahrtsindex als Bezugsgröße gewählt wurde und nicht das BIP: Auch hier zeigt sich, dass eine Orientierung am BIP als Wohlstandsmaß missverständliche Konsequenzen haben könnte. Dies zeigt die folgende Abbildung 16 auf deutliche Weise. Hier wurde normiert auf das Jahr 2010 = 100 die Entwicklung der Relation 57 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 der Gesamtverschuldung zum BIP (rote Linie) gegenübergestellt zur Relation der Gesamtverschuldung zum NWI (grüne Linie). Die Relation zum BIP weist ihren Höchstwert im Jahr 2010 auf – zufällig im Normierungsjahr. Die Entwicklung ist bis 2012 eher uneinheitlich, ohne klare Richtung, danach setzt ein deutlicher Rückgang ein, und 2015 erreicht die Zeitreihe ihren bis dato niedrigsten Wert. Ganz anders sieht die Relation der Gesamtverschuldung zum NWI aus: Hier weist die Zeitreihe am Beginn, im Jahre 2005, den niedrigsten Wert auf und erreicht ihr bisheriges Maximum nach fast kontinuierlichem Anstieg im Jahr 2013. Aufgrund des Time-lags bei der Berechnung des NWI wird der Wert dieser Zeitreihe für das Jahr 2015 erst ab April 2017 verfügbar sein. Abbildung 16: Gesamtverschuldung im Verhältnis zu BIP und NWI 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 58 Mit der Ausweitung der Betrachtung auf die Gesamtverschuldung einerseits und mit der Gegenüberstellung der Verschuldungsrelation zu BIP und NWI andererseits wird deutlich, dass es eines Perspektivenwechsels bedarf, wenn man die Verschuldung als Kontrollindikator zur Betrachtung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands hinzunehmen möchte. • Erfolgte unter Wohlfahrtsgesichtspunkten durch das wirtschaftliche Wachstum gleichzeitig ein Substanzverzehr der Vergangenheit in Form von fossilen Brennstoffen, Rohstoffen und Naturkapital einschließlich der Übernutzung von bestehenden Ökosystemen, so kommt durch • eine nicht nachhaltige Verschuldung ein Substanzverzehr der Zukunft hinzu, im doppelten Wortsinn durch „kapitale“ Schulden, welche zukünftig zu Buche schlagen werden. Die Zinsbelastung scheint gegenwärtig zwar beherrschbar. Aber angesichts des absoluten Schuldenniveaus, nicht nur bei Staaten, sondern auch bei Unternehmen und privaten Haushalten, bedeuten Zinssteigerungen neue drastische Risiken, deren potenzielle Auswirkungen gerade mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand im Sinne des vorliegenden Berichtes bislang zu wenig diskutiert zu werden. 59 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 7. DER JAHRESWOHLSTANDSBERICHT IM KONTEXT NEUER GESELLSCHAFTLICHER BERICHTSMODELLE Alternative Wohlstands- und Wohlfahrtsmodelle – einschließlich alternativer Indikatoren- und Gesamtrechnungsansätze – sind auf der Ebene der Ministerien und regierungsamtlichen Entscheidungsträger inzwischen zwar bekannter, aber scheinen angesichts der bestehenden Interessenlagen kaum in Entscheidungsprozesse einzufließen.47 Dies gilt gleichermaßen für Deutschland wie für Europa, denkt man an die Prioritäten der Europäischen Kommission mit ihren klassischen wachstumsfördernden Konjunkturprogrammen und der Initiative zur Etablierung einer „wirtschaftspolitischen Steuerung“ im Rahmen des so genannten „European Semester“.48 Gleichzeitig läuft aber der internationale Diskussionsprozess zu einem alternativen Verständnis von Wirtschaftswachstum (Stichwort: „Beyond GDP“) weiter; ihm haben sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung49, die Weltbank mit ihrem Konzept des “Total Wealth“50 und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP)51 angeschlossen. Im Kontext der internationalen Bemühungen zum Erhalt von Biodiversität werden nun Konzepte entwickelt, um den Wert von Natur und von Ökosystemen sowie deren „Dienstleistungen“ anzuerkennen und sich von einem rein ökonomischen Wachstum abzusetzen, so bei der Convention of Biological Diversity 2010 Siehe hierzu beispielsweise Forderungen im neuen Umweltprogramm des BMUB (2016, S. 23). 47 Das “European Semester” bezeichnet einen festgesetzten Rhythmus im Jahr, in dem Richtlinien zur Politik der einzelnen Mitgliedsstaaten von der EU empfohlen werden. Dieser standardisierte Prozess der ökonomischen “Steuerung” ist dabei stark am Leitindikator Wachstum des BIP orientiert (vgl. European Commission 2015). 48 Siehe hierzu die Webseite der OECD: http://www.oecd.org/statistics/measuring-well-beingand-progress.htm 49 (Stichwort Aichi-Target 2). Sogar die Weltbank, die sich seit einigen Jahren mit einem erweiterten Wohlfahrtsverständnis unter Einbeziehung von Naturkapital und sozialem Kapital befasst, unterstützt eine internationale Initiative der Wohlstandsbilanzierung und Bewertung von Ökosystemdienstleistungen („Wealth Accounting and Evaluation of Ecosystem Services“).52 Aufbauend auf dem System der umweltökonomischen Bilanzierung (englisch abgekürzt: SEEA) haben die Vereinten Nationen diesen Ansatz erweitert, um eine experimentelle Variante mit der etwas komplizierten Bezeichnung „System of Environmental-Economic Accounting – Experimental Ecosystem Accounts (SEEA-EEA). Übergreifende Motivation für die Abkehr von Berichtsformen der traditionellen Ökonomie und insbesondere für eine ökosystembezogene Erweiterung sogar der umweltökonomischen Bilanzen ist die Erkenntnis, dass im Zuge von menschlichen Aktivitäten die Degradierung der Funktionsfähigkeit natürlicher Ökosysteme und deren Potenziale ein Ausmaß annimmt, welches sich einerseits auf die Biodiversität negativ auswirkt und in der Folge auch die Wirtschaft selbst beeinträchtigt (ausführlicher hierzu „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ TEEB 2010; Convention on Biological “It certainly could be argued that the fundamental duty of government is to ensure that its policies lead to increases in social welfare”, World Bank 2011, S.4. 50 Die ‚UN Statistical Commission Friends of the Chair Group on Broader Measures of Progress‘ (FOC) hat 2015 eine Umfrage zu nationalen Erfahrungen mit alternativen Wohlfahrtsindikatoren in Auftrag gegeben. 51 52 Weiterführend hierzu siehe URL: https://www.wavespartnership.org/ 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 60 Diversity; TEEB-Deutschland 2015; bemerkenswert auch der WWF 2015).53 Die Arbeit der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages ist in diesem Zusammenhang ebenfalls hervorzuheben, da nach dem Einsetzungsbeschluss der Kommission im Deutschen Bundestag ein explizites Ziel in der Entwicklung eines gegenüber dem BIP weiterreichenden Indikators bestand.54 Die Einrichtung der Kommission war international gesehen einzigartig, da sich bislang in keinem anderen Land ein so hochrangiges parlamentarisches Gremium mit Wirtschaftswachstum und den damit korrespondierenden Problemlagen befasst hat. Als jedoch mit der Vorlage von einem Mehrheits- und zwei Minderheitenvoten schließlich drei konkurrierende Indikatorensätze gegenüber Politik und Öffentlichkeit um Aufmerksamkeit rangen, wurde die Chance verpasst, mittels neuer Indikatoren ein Zeichen für die Zukunft zu setzen. Eine günstige Ausgangssituation konnte so nicht genutzt werden. Die Idee eines Jahreswohlstandsberichts stellt vor diesem Hintergrund eine neue Initiative dar. Nachträglich und indirekt ließe sich so auch das ursprüngliche Anliegen der Kommission fortführen und präzisieren. Insgesamt scheint es einen Trend in mehreren Ländern und auf der internationalen Ebene zu geben, subjektive Indikatoren und Messungen zur Zufriedenheit verstärkt auf die statistische Agenda zu bringen. Häufig bieten die bekannten Studien von Stiglitz/Sen/Fitoussi (Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress) von 2009 und die Arbeiten des britischen Ökonomen Layard (2005) die argumentative Grundlage für entsprechend neue und durchaus aufwändige Er- Näheres hierzu unter: The Economics of Ecosystems and Biodiversity: http://www.teebweb.org/ Zur CBD unter http://www.cbd.int/ Zu TEEB-Deutschland: http://www.naturkapital-teeb.de/aktuelles.html Indessen gibt es auch vermehrt Kritik an einer „Neuen Ökonomie der Natur“, welche über solche Bewertungen die Tür zu einer neuen Verwertung öffnen könnte, siehe beispielsweise 53 hebungen. Dolan/Layard/Metcalfe (2011) konstatieren ein steigendes Interesse an Messungen des subjektiven Wohlbefindens weltweit, das unter anderem auch durch die Materialund Datensammlung der „World Data Bank of Happiness“ dokumentiert wird. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob diese neue Entwicklung letztlich eine Ergänzung bisheriger Indikatoren einer ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit darstellt oder dann unabhängig davon eine eigene statistische Erfassungslandschaft entsteht. Die OECD zumindest hat bei ihrem „Better-Life“-Index erkannt, dass die Gewährleistung eines nachhaltigen Wohlbefindens der Bevölkerung auf Dauer auch eine Erhaltung und Förderung des Sozialen Kapitals und des Naturkapitals implizieren muss (Durand 2014). Ein positives Beispiel stellen inzwischen die Bemühungen des Schweizerischen Eidgenössischen Departments des Innern und des Bundesamts für Statistik dar. Der dortige Bundesrat hatte 2010 im Rahmen des Bundesratsbeschlusses zum Thema „Grüne Wirtschaft“ den Auftrag erteilt, das BIP mit weiteren Indikatoren zur gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung zu ergänzen. Dieser Auftrag wurde dann im „Aktionsplan Grüne Wirtschaft 2013“ konkretisiert. 2014 ist erstmals ein umfangreiches „Indikatorensystem Wohlfahrtsmessung“ vorgelegt worden; es deckt sich in weiten Teilen mit den Intentionen des vorliegenden Jahreswohlstandsberichts und kann dabei – aufgrund des unmittelbar verfügbaren Datenpools und den Kapazitäten einer statistischen Behörde – über ein beträchtliches Spektrum an Themenbereichen berichten (ausführlich hierzu: BFS 2014). Inzwischen ist Ende 2016 eine erste Aktualisierung erfolgt (BfS 2016). Fatheuer/Fuhr/Unmüßig: Natur oder Naturkapital? In: Kritik der Grünen Ökonomie 2015. Vgl. Deutscher Bundestag, Bundestagsdrucksache 17/3853, S. 3. 54 61 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 8. AUSBLICK Der Jahreswohlstandsbericht soll jährlich zeitnah mit dem Jahreswirtschaftsbericht veröffentlicht werden. Dabei sollen die Kernindikatoren regelmäßig fortgeschrieben und in ihrer Entwicklung analysiert werden. Um eine neue Form gesellschaftlicher Berichterstattung zu etablieren, muss die Datenerhebung und statistische Erfassung der Indikatoren in Zukunft auch von offizieller Seite unterstützt und weiterentwickelt werden. Dies ist ein zwar aufwändiges, jedoch kein utopisches Unterfangen, denn die Entwicklung im Bereich einer alternativen Berichterstattung schreitet gegenwärtig schnell voran. So erhält die Idee eines Jahreswohlstandsberichts beispielsweise durch neuere Arbeiten des Office for National Statistics in Großbritannien Unterstützung. Das Amt zählt zu den führenden statistischen Einrichtungen, die eine Erfassung des Wohlergehens systematisch vorzunehmen versuchen (ONS 2015) und auch im Bereich der Erfassung des vorhandenen Naturkapitals und des Naturerbes aktiv sind (ONS 2014, DEFRA/ONS 2016). Eine konkrete und machbare Version hat zudem die Schweiz mit ihrem Indikatorensystem Wohlfahrtsmessung vorgestellt, bei der die verschiedenen Aspekte der Schaffung, Verteilung und dem Erhalt von Wohlfahrt mit Daten aus den amtlichen Statistiken unterlegt werden. Im internationalen Raum befasst sich der UNReport „Inclusive Wealth“ mit den Herausforderungen einer umfassenderen Wohlfahrtsbilanzierung, unter Einschluss von Aspekten des Humankapitals und neueren Erkenntnissen zur Erfassung von Ökosystemdienstleistungen (UNU-IHDP and UNEP 2014). Schließlich kann der Jahreswohlstandsbericht in zukünftigen Versionen die Diskussion über die internationalen „Sustainable Development Goals“ aufgreifen, welche im Herbst 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden. Denn zu den 17 Zielen und 169 Teilzielen sind im Prinzip Monitoringsysteme erforderlich, die teilweise noch aufgebaut werden müssten (Open Working Group 2014). Auch empfiehlt sich, die Indikatoren der bundesdeutschen Nachhaltigkeitsstrategie im Auge zu behalten, welche sich ab 2017 gleichfalls stärker an den SDGs ausrichten. Längerfristiges Ziel der Arbeiten hier ist es daher, den traditionellen Jahreswirtschaftsbericht und den Jahreswohlstandsbericht zu einer neuen Berichtsform zu verschmelzen. Im konzeptionellen Sinne ermöglicht dies eine stärkere Orientierung der wirtschaftlichen Prozesse am Ziel gesellschaftlichen Wohlstands. Im empirischen Sinne geht es um eine Erweiterung des Spektrums dafür geeigneter Indikatoren, die einer abgesicherten, amtlichen Erhebung bedürfen, um über die Zeit aussagekräftige Entwicklungen für Deutschland erkennen zu können. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 62 9. LITERATURVERZEICHNIS Achtziger, R. / Stickroth, H. / Zieschank, R. / Wolter. C. / Schlumprecht, H. 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Das Indikatorenkennblatt erfüllt mehrere Funktionen: • Es erlaubt eine detailliertere Darstellung des betreffenden Kernindikators im Kontext von einer der vier relevanten Dimensionen sowie des Bezugs zu gesellschaftlicher Wohlfahrt. • Es bildet die inhaltliche und methodische Grundlage für die Ausgestaltung des geplanten Jahreswohlstandsberichtes. • Die Fortschreibbarkeit in methodischer, datenmäßiger oder interpretativer Hinsicht wird erleichtert, was wiederum eine periodische Veröffentlichung der Kernindikatoren unterstützt. • Weiterentwicklungen oder Veränderungen eines Kernindikators im Laufe der Zeit können berücksichtigt werden, zugleich sind diese Modifikationen erkennbar. • Mit den hier erstellten Angaben ist eine Transparenz und Nachvollziehbarkeit der einzelnen Kernindikatoren gewährleistet, die für die Erstellung eines fundierten alternativen Jahreswirtschaftsberichts für notwendig erachtet wird. 71 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 I 1: ÖKOLOGISCHER FUSSABDRUCK IM VERHÄLTNIS ZUR BIOKAPAZITÄT Indikator: Ökologische Dimension, Kernindikator 1 (Name) Ökologischer Fußabdruck im Verhältnis zur Biokapazität Relevanz und Interpretation Der Ökologische Fußabdruck stellt eine ökologische Buchhaltung dar, welche den Verbrauch natürlicher Ressourcen mit der Kapazität vergleicht, die in dem entsprechenden Land zur Verfügung steht. Sie misst die Landund Wasserfläche, die zur Erneuerung von Ressourcen unter Berücksichtigung gegenwärtiger Technologien benötigt wird, um den jeweiligen Konsum der Bevölkerung zu befriedigen. Dabei wird auch die Aufnahme von Abfällen miteinbezogen. Umgerechnet werden diese unterschiedlichen Dimensionen in virtuelle „globale Hektar“, die als Flächenmaß interpretiert werden können. Die materielle Güterverwendung eines Landes trägt zu dessen Wohlstand bei. Langfristig kann dieser Wohlstand aber nur innerhalb der ökologischen Tragfähigkeit aufrecht erhalten werden. Über die Diskrepanz zwischen aktuellem Konsum und der Biokapazität gibt der Indikator Aufschluss. Datenquelle/ Literatur www.footprintnetwork.org zur Erklärung der Methode und zum Aufbau des Indikators http://www.footprintnetwork.org/de/index.php/GFN/page/trends/germany/ Rechenergebnisse für Deutschland: Global Footprint Network (Hrsg.) (2015): Nowcasting Country Trend Germany, 2012 – 2015, unveröffentl. Manuskript. Der Ökologische Fußabdruck sollte langfristig die Biokapazität von Deutschland nicht überschreiten. Ziele (sofern vorhanden) Trend/Verlauf Daten stehen für Deutschland ab dem Jahr 1961 zur Verfügung. Die Biokapazität verbessert sich über die ganze Zeit – mit wenigen Ausnahmejahren –geringfügig und liegt jetzt bei ungefähr 2 Global Hektar (GHa). Der Fußabdruck steigt zwischen 1961 und dem Ende der 1970er Jahre drastisch an und erreicht einen Maximalwert von 5,8 GHa. Seitdem sinkt der Wert in der Tendenz langsam und erreicht jetzt Werte um 4.4 GHa. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen – um 1973 und 2008/09 – kommt es zu einem Rückgang des Ökologischen Fußabdrucks, die deutsche Wiedervereinigung hat einen Ausreißerwert nach oben gebracht. Seit der Krise steigt der Ökologische Fußbadruck wieder langsam, aber kontinuierlich an; er hat gemäß Prognosewert 2015 damit alle Fortschritte seit etwa 20 Jahren wieder rückgängig gemacht. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit Derzeit besteht ein Time-lag t = 48 Monate. Fortschreibungen der Daten erfolgen regelmäßig. Das Global Footprint Network hat für die Endfassung des vorliegenden Berichts eine Schätzung der Zeitreihenentwicklung bis zum Jahr 2015 in einem Prognoseverfahren erstellt, das auf Basis der Zeitreihenentwicklung bis 2012 mit Hilfe von Korrelationsanalysen zu Datenreihen, für die aktuellere Werte vorliegen, durchgeführt wurde („NowCasting“). In den folgenden Jahren kann die gesichert berechnete Zeitreihe wie auch das Prognoseverfahren fortgesetzt werden 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 72 Methodik/ Berechnungsverfahren Das Rechenverfahren ist außerordentlich aufwändig; die Methode wird vom Global Footprint Network gepflegt. Mit einer Lizenz, die je nach geplanter Anwendung zu unterschiedlichen Preisen vom Global Footprint Network erworben werden kann, können Zeitreihen auch selbst erstellt werden; vor Veröffentlichung muss eine Freigabe durch den Lizenzgeber erfolgen. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Das Global Footprint Network bietet eine Abschätzung der Werte bis zu Werten für das jeweils aktuelle Jahr an (nicht kostenlos; hier durchgeführt, s.o.). Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Die internationale Vergleichbarkeit ist gegeben; das Global Footprint Network bietet derzeit Berechnungen für 182 Länder der Erde an. Die jeweilige Datenqualität wird dabei auf einer Skala von 1 (sehr schlecht) bis 6 (sehr gut) eingeschätzt; Deutschland erreicht hier einen Wert von 5. Die Datenqualität bestimmt die Größe der Konfidenzintervalle der Zeitreihen. 73 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 I 2: INDEX ZUR ARTENVIELFALT UND LANDSCHAFTSQUALITÄT Indikator Ökologische Dimension, Kernindikator 2 (Name) Index zur Artenvielfalt und Landschaftsqualität Relevanz und Interpretation Die Artenvielfalt an Tieren und Pflanzen ist eine wesentliche Voraussetzung für einen leistungsfähigen Naturhaushalt und bildet zugleich eine menschliche Lebensgrundlage. Natur und Landschaft in Deutschland sind durch Jahrhunderte währende Nutzungen geprägt. Ausgewählte Vogelarten – die nicht bejagt werden und die nicht zu den Zugvögeln gehören – sind charakteristisch für die unterschiedlichen Lebensräume, etwa für Böden und Bäume der Wälder. Da sich fast alle physischen Eingriffe und stofflichen Einträge auf die Nahrungsketten auswirken, zeigen Bestandsentwicklungen dieser Vogelarten auch Veränderungen damit verbundener Pflanzen- und Tiergesellschaften sowie der jeweiligen Landschaftsqualität an. Vögel als Bioindikatoren stehen insofern am Ende von biologischen und ökosystemaren Wirkungsketten. Entsprechende Zu- oder Abnahmen stellen quantitative und qualitative Signale dar. Datenquelle/ Literatur Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2014a): Nachhaltige Entwicklung in Deutschland – Indikatorenbericht 2014. Achtziger et al. (2007): Nachhaltigkeitsindikator für die Artenvielfalt. Studie im Auftrag des BfN. Ziele (sofern vorhanden) Offizielle Zielsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie war bisher ein Index von 100, welcher bis zum Jahr 2015 (eigentlich) erreicht werden sollte; dies würde in etwa dem Wert von 1975 mit 101 entsprechen. Mit der Neuauflage 2016 der Nachhaltigkeitsstrategie sind Änderungen vorgenommen worden: Der Zielwert von 100 im Index soll nun für das Jahr 2030 gelten, mithin 15 Jahre später erreicht werden (siehe Bundesregierung 2017). Trend/Verlauf Daten liegen in Fünfjahresintervallen zwischen 1970 und 1995 vor, seit 1995 jährliche Werte. Zwischen 1975 und 1995 ist ein Rückgang von 101 auf 77 zu verzeichnen, bis 2011 gab es eine weitere Verschlechterung auf den Wert 63. Der Zielwert ist damit erheblich verfehlt worden. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit Der Time-lag betrug 2014 t = 36 Monate; veröffentlicht werden die Werte derzeit alle zwei Jahre. Im Zuge der Erstellung der überarbeiteten Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung sind im Frühjahr 2017 jedoch neuere Werte bis zum Jahr 2013 veröffentlicht worden. Mithin beträgt der aktuelle Time-lag t = 36 Monate. Methodik/ Berechnungsverfahren Der Berechnung des Indikators liegt die Entwicklung der Bestände von 51 Vogelarten zu Grunde, die die wichtigsten Landschafts- und Lebensraumtypen in Deutschland repräsentieren: Agrarland, Wälder, Siedlungen, Binnengewässer, Küsten und Meere, aus methodischen Gründen derzeit ohne die Alpen. Ein Expertengremium hatte für jede einzelne Vogelart Bestandszielwerte für das Jahr 2015 festgelegt, diese hätten erreicht werden können, wenn europäische und nationale Regelungen mit Bezug zum Naturschutz und Leitlinien einer nachhaltigen 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 74 Entwicklung zügig umgesetzt worden wären. Aus dem Grad der Zielerreichung aller ausgewählten Vogelarten wird jährlich ein Wert für den Gesamtindikator berechnet. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Da kleinere Schwankungen des Bestandswerts auch von Witterungseinflüssen abhängen, wird der Wert exakt kaum zu prognostizieren sein. Trends scheinen jedoch auch über längere Zeiträume eher stabil. Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Der Index ist international nur sehr schwer vergleichbar, da sowohl die Auswahl der Vogelarten als auch die Abschätzung der erreichbaren Bestandsdichte für ein Referenzjahr von Land zu Land stark variieren kann. 75 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 I 3: S 80 : S 20 - RELATION DER EINKOMMENSVERTEILUNG Indikator Soziale Dimension, Kernindikator 3 (Name) S 80 : S 20 - Relation der Einkommensverteilung Relevanz und Interpretation Die Einkommensverteilung ist ein entscheidender Faktor für den materiellen Wohlstand und – unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten – für die Wohlfahrt in einem Land. Verglichen werden deshalb die Gesamteinkommen eines reicheren Teils der Bevölkerung mit dem Gesamteinkommen des ärmeren, unteren 20%-Teils. In der Tendenz erhöht eine Bewegung zu mehr Einkommensgleichheit die gesellschaftliche Wohlfahrt allein deswegen, weil ein zusätzliches Einkommen für arme Bevölkerungsschichten diesen mehr zusätzlichen Nutzen verschafft, als eine gleiche Einkommenssteigerung beim reichen Teil der Bevölkerung. Eine Ausnahme von dieser neoklassischen Grenznutzentheorie wäre allenfalls dann zu konstatieren, wenn eine Gesellschaft überzeugt wäre, dass eine Steigerung der Einkommensgleichheit zu mehr Ungerechtigkeit führen würde. In diesem sehr unwahrscheinlichen Fall müsste zu einem Atkinson-Index der Einkommensverteilung gewechselt werden. Datenquelle/ Literatur Die Daten werden von Eurostat seit 1995 jährlich angeboten, aus „technischen Gründen“ werden derzeit keine Werte für die Jahre 2002 – 2004 geliefert. http://ec.europa.eu/eurostat/data/database Tabellen nach Themen Bevölkerung und soziale Bedingungen Einkommen und Lebensbedingungen Einkommensverteilung und monetäre Armut Einkommensverteilung Einkommensquintilsverhältnis. Ziele (sofern vorhanden) Ziel wäre eine Bewegung in Richtung zu mehr Gleichheit bei der Einkommensverteilung, jedenfalls vom jetzigen Niveau der Ungleichheit aus. Trend/Verlauf Der Wert verbessert sich in Deutschland von 4,6 im Jahr 1995 auf 3,5 im Jahr 2000. Danach verschlechtert sich der Wert wieder und erreicht mit 4,9 den Höchstwert der Zeitreihe bislang im Jahr 2007. Seitdem schwankt der Wert zwischen 4,3 und 4,6. Dieser Ausgangswert der Zeitreihe wird auch 2013 erreicht. Mit 5,1 erreicht der Wert 2014 einen historischen Höchststand. Im letzten Berichtsjahr 2015 ist die Verteilungsrelation wieder geringfügig auf 4,8 in Richtung Erhöhung der Einkommmensgleichheit zurückgegangen. Ähnliche Entwicklungen sind indessen in anderen OECD-Staaten zu konstatieren (OECD 2015). Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit Derzeit beträgt der Time-lag zwischen t = 12 und t = 18 Monaten. Methodik/ Berechnungsverfahren Berechnet wird das Verhältnis des Gesamteinkommens der reichsten 20 % der Bevölkerung als Vielfaches des Gesamteinkommens der ärmsten 20 % der Bevölkerung. Als Gesamteinkommen wird das verfügbare Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen verwendet. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Eine Prognose würde stark von einer BIP-Prognose und einer Prognose der Veränderung von Steuergesetzgebung und Transferleistungen abhängen. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 76 Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit EUROSTAT bietet Daten für alle Länder Europas. 77 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 I 4: BILDUNGSINDEX Indikator Soziale Dimension, Kernindikator 4 (Name) Index zur Bildung in Deutschland (eigene Konstruktion auf Grundlage verschiedener Bildungsindikatoren) Relevanz und Interpretation Bildung ist ein zentraler Baustein, der Menschen die Beteiligung am (erfolgreichen) Arbeitsleben ermöglicht. Die Chancen für eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, persönliche Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten sowie zu einem guten Gesundheitszustand werden erhöht. Eine möglichst breite Beteiligung der Menschen an formellen Bildungsprozessen kann daher als Vergrößerung dieses Möglichkeitsraumes angesehen werden, der einer Wohlfahrtssteigerung im Sinne des „Fähigkeitenansatzes“ (capability approach, u.a. im Sinne von A. Sen 2005) entspricht. Datenquelle/ Literatur Der hier vorgestellte Index fasst fünf Komponenten zusammen, die unterschiedliche Aspekte des Bildungssystems und des Bildungsniveaus der Bevölkerung erfassen: – Die Entwicklung der Punktzahl bei den PISA-Studien für Deutschland; Quelle: OECD, PISA im Fokus, Daten bis 2012; Ergebnisse bis 2015 werden am 6.6.2016 publiziert und können die hier vorgenommene Extrapolation des Gesamtindex geringfügig verändern. – Der Anteil der Bevölkerung mit Abschluss der Sekundarstufe II; Quelle: OECD Datenbank education at a glance, educational attainment of 25-64 year olds – die erwarteten Bildungsjahre bis zum Alter von 39 Jahren; Quelle: Eurostat, Datenbank: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=en&pcode=tps00052 – Die Differenz der mathematischen Kenntnisse 15jähriger Schülerinnen und Schüler von Eltern mit niedrigem und Eltern mit hohem Bildungsniveau (Quelle: OECD, PISA International Data Explorer); – die Höhe der gesamten öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland. Quelle: Statistisches Bundesamt, Bildungsfinanzbericht 2015 Die Zeitreihen der fünf Komponenten wurden auf das Jahr 2010 = 100 normiert und deren Entwicklung vor und nach dem Basisjahr gleichgewichtig im Index zusammengefasst. Ziele (sofern vorhanden) Zielsetzung ist eine Steigerung der Bildungsbeteiligung und des Bildungsstandes der Bevölkerung, sowohl bei der Ausbildung als auch bei der Fort- und Weiterbildung, vor allem auch der Bevölkerung in „bildungsfernen“ Schichten und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ein Zielwert des Index kann kaum quantitativ festgelegt werden. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland bei den Komponenten des Index in der Regel keinen Spitzenplatz ein. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 78 Trend/Verlauf Es besteht ein langfristiger Trend zu einer Verbesserung des Bildungsindex insgesamt. Nimmt man weitere Daten zu Hilfe, so ist eine Durchlässigkeit der Bildungsschichten jedoch nach wie vor nur begrenzt gegeben; Kinder aus sozial schwächeren Milieus erzielen anteilig geringere Abschlüsse zur Hochschulreife. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit In der Regel sind die Daten mit einem Time-lag von t = 24 bis 36 Monaten verfügbar. Methodik/ Berechnungsverfahren Die Daten beruhen auf Angaben der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder sowie einer Auswertung des Mikrozensus. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Eine Prognose wird derzeit nicht unternommen. Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Internationale Vergleiche wären aufgrund der Datenverfügbarkeit zumindest im OECD-Raum leicht möglich. I 5: NETTOINVESTITIONSQUOTE Indikator Ökonomische Dimension, Kernindikator 5 (Name) Nettoinvestitionsquote Relevanz und Interpretation Der Indikator zeigt die Entwicklung der Nettoanlageinvestitionen im Verhältnis zum Nettoinlandsprodukt und errechnet sich als Differenz aus den Gesamtinvestitionen minus den Abschreibungen. Sie zeigen damit die Investitionen an, die über den Ersatz des Kapitalverzehrs hinausgehen. Die Nettoinvestitionsquote ist ein Maß für den Zuwachs des Anlagekapitals und damit des Produktionspotenzials in einem Land. Datenquelle/ Literatur Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen Ziele (sofern vorhanden) Angestrebt ist eine moderate Erhöhung mit anschließender Stabilisierung der Werte der Nettoinvestitionsquote. Trend/Verlauf Die Nettoanlageinvestitionen zwischen 1992 und 2004 zeigen einen deutlichen Negativtrend von 12,2 Prozent auf 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach 2004 zeigt sich 2009 und 2010 ein Einbruch, der 2009 seinen Tiefststand mit nur noch knapp über einem Prozent erreicht, dem ein Ausgleich des konjunkturell bedingten Rückgangs im 79 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Jahr 2011 mit über 4,6 Prozent folgt; danach erreichen die Werte wieder das Niveau von etwa 2,5 Prozent. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit In der Regel ist sind die Daten mit einem Time-lag von t+12 Monate verfügbar. Methodik/ Berechnungsverfahren Die Nettoinvestitionen ergeben sich aus den Bruttoinvestitionen minus den Abschreibungen. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Prognoseversuche können im Rahmen der Konjunkturprognostik angestellt werden; auch könnten entsprechende Prognosen unter Heranziehung von Erhebungen zum Geschäftsklimaindex überlegt werden. Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Die Daten sind im Rahmen des Europäischen Systems der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (ESVG) standardisiert und können im Euroraum problemlos international verglichen werden. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 80 I 6: ANTEIL VON (POTENZIELLEN) UMWELTSCHUTZGÜTERN AN DER BRUTTOWERTSCHÖPFUNG Indikator Ökonomische Dimension, Kernindikator 6 (Name) Anteil von (potenziellen) Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung Relevanz und Interpretation Eine „Ökologisierung“ der Wirtschaft spiegelt nicht nur politische Ziele in Deutschland wider, sondern signalisiert, dass eine Green Economy sowohl die ökonomische Entwicklung fördert als auch innerstaatliche und weltweite Umweltentlastungseffekte mit sich bringt. Im Sinne der Rio+20 Schwerpunktsetzung könnte hiervon auch ein Signal für andere Staaten ausgehen. Zugleich unterstützt Deutschland weltweite Bemühungen für einen stärkeren Klima- und Umweltschutz. Datenquelle/ Literatur Gehrke, Birgit/Schasse, Ulrich/Ostertag, Katrin (2014): Wirtschaftsfaktor Umweltschutz – Die Leistungen der Umweltschutzwirtschaft in Deutschland. Dessau: Umweltbundesamt. Berechnungen des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung aus Daten von OECD, ITCS, UN-COMTRADE. Gehrke, Birgit/Schasse, Ulrich (2015): Die Umweltschutzwirtschaft in Deutschland – Produktion, Umsatz und Außenhandel. Dessau: Umweltbundesamt Daten zur Bruttowertschöpfung vom Statistischen Bundesamt. Ziele (sofern vorhanden) Durch die Betrachtung des Anteils an der Bruttowertschöpfung wird auf die „Umweltintensität“ der deutschen Wirtschaft Bezug genommen. Je höher dieser Anteil ist, desto stärker ist die Ökonomie auf die Produktion von Umweltschutzgütern ausgerichtet. Sicher kann dieser Indikator nicht über alle Grenzen steigen; dennoch zeigt die Entwicklung, dass die deutsche Wirtschaft von einem Optimum hier noch sehr weit entfernt ist. Angesichts der internationalen Zielsetzung der ökologischen Sustainable Development Goals, insbesondere des Klimaschutzziels, einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 1,5-2° C nicht zu überschreiten, und dem Klimaschutzabkommen von Paris 2015 wäre eine deutliche Erhöhung des Anteils an Umweltschutzgütern sinnvoll und vor allem im Blick auf die sektoralen Wirtschaftsstrukturen näher zu präzisieren. Trend/Verlauf In der Bundesrepublik Deutschland ist der Anteil der Produktion von potenziellen Umweltschutzgütern an der Bruttowertschöpfung zwischen 2002 und 2011 von 2,56 Prozent auf 4,49 Prozent kontinuierlich gestiegen. Danach erfolgte ein Rückgang bis 2013 auf 4,21 Prozent. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit Die Zeitreihe hat derzeit einen Time-lag von t = 36 Monate; bei einer Fortschreibung der Zeitreihe kann sich dieser Time-lag auf t = 12 Monate reduzieren. Methodik/ Berechnungsverfahren Es handelt sich um eine Berechnung des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung auf der Basis einer eigenen Definition potentieller 81 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Umweltschutzgüter durch Klassifikation von Produktgruppen aus offiziellen Statistiken von OECD, ITCS, UN-COMTRADE. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Eine Prognose erscheint zum jetzigen Zeitpunkt ohne die Erhebung eigener zusätzlicher Primärdaten nicht möglich. Vor allem beeinflusst die Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen, der Subventionen und Innovationsförderung (etwa im Bereich Batterien/Speicher für erneuerbare Energien oder von Elektroautos) das Ergebnis ganz erheblich; ebenso wie die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft insgesamt, die wiederum von den Rahmendaten der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängt. Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Die internationale Vergleichbarkeit ist durch den Bezug auf internationale Produktions- und Außenhandelsstatistiken der OECD und von ITCS und UN-COMTRADE prinzipiell gegeben. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 82 I 7: GESUNDE LEBENSJAHRE Indikator Gesellschaftliche Dimension, Indikator 7 (Name) Gesunde Lebensjahre (Healthy Life Years) Relevanz und Interpretation Der Indikator Gesunde Lebensjahre (GLJ) bei der Geburt gibt die Zahl der Jahre an, die eine Person zum Zeitpunkt ihrer Geburt erwartungsgemäß in guter gesundheitlicher Verfassung unter Abwesenheit körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen bei alltäglichen Verrichtungen leben wird. GLJ ist ein Indikator der Gesundheitserwartung, der Informationen zu Sterblichkeit und Krankheit miteinander verknüpft. Die Lebenserwartung bei der Geburt ist die Anzahl der Jahre, die eine Person eines bestimmten Alters im Durchschnitt noch zu leben hat, wenn man die altersspezifischen Sterberaten des Ausgangsjahres zugrunde legt Datenquelle/ Literatur Eurostat: http://ec.europa.eu/eurostat/data/database Tabellen nach Themen Bevölkerung und soziale Bedingungen Gesundheit Gesundheitszustand Gesunde Lebensjahre und Lebenserwartung bei der Geburt Ziele (sofern vorhanden) Ein quantitatives Ziel, wie sonst häufig im Indikatorenbereich verwendet, erscheint hier wenig sinnvoll. Der Indikator sollte so nah wie möglich an der Entwicklung der Gesamtlebenserwartung liegen, bei der – nach Erkenntnissen der Medizin – eine weitere Steigerung ebenfalls im Rahmen des Möglichen erscheint. Trend/Verlauf Im Vergleich zu den Statistiken der Gesamtlebenserwartung zeigt der GLJ-Indikator in zweifacher Hinsicht ein überraschendes Bild. Zum einen ist der Unterschied zwischen Frauen und Männern in keiner Weise so ausgeprägt wie bei der Gesamtlebenserwartung, im Gegenteil: 2006, 2007 und 2013 liegt der Indikator für Männer sogar knapp über dem für Frauen. Außerdem zeigt der Indikator zwischen 2006 und 2014 keine einheitliche Tendenz; in den letzten drei Jahren der Zeitreihe fällt er sogar wieder leicht ab. Der deutliche Rückgang von 2007 nach 2008 könnte auf eine Neuformulierung der Frage bei der Erhebung zurückzuführen sein. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit Die Aktualisierungen können mit einem Time-lag von t = 30 Monaten erwartet werden. Methodik/ Berechnungsverfahren Zur Berechnung des Indikators werden Daten zur altersspezifischen Prävalenz der gesunden beziehungsweise kranken Bevölkerung und Daten zur altersspezifischen Sterblichkeit benötigt. Gute gesundheitliche Verfassung wird über die Abwesenheit von Funktionsbeschränkungen und Beschwerden definiert. Der Indikator wird getrennt für Männer und Frauen berechnet 83 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Abschätzung der Prognostizierbarkeit Eine prognostische Untersuchung wurde bislang noch nicht versucht. Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Die internationale Vergleichbarkeit ist gegeben und wird über Eurostat (EU-SILC) angeboten. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 84 I 8: GOVERNANCE INDEX Indikator Gesellschaftliche Dimension, Indikator 8 (Name) Governance Index (eigene Konstruktion auf der Basis der World Bank Governance Indicators) Relevanz und Interpretation Gesellschaftlicher Wohlstand ist nicht zuletzt das Resultat institutionell garantierter Freiheiten und der Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns. Insofern kommt der Ausgestaltung demokratischer Rechte, gutem Regieren, Vertrauen und politischer Stabilität eine zentrale Rolle zu. Der erstellte Index versucht, sechs verschiedene Aspekte dieses „intangiblen Kapitals“ eines Landes zu operationalisieren und somit die (nicht selbstverständlichen) politischen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung des Wohlstands eines Landes in das Blickfeld zu nehmen. Datenquelle/ Literatur Daten sind verfügbar, die Datenbasis ist anerkannt, aktualisierte Werte gibt es jährlich mit einem Time-lag t = 18 Monate. URL: http://info.worldbank.org/governance/wgi/pdf/c59.pdf Ziele (sofern vorhanden) Der Index geht über die Spanne von 0 bis 100; ein Wert möglichst nahe 100 sollte angestrebt werden. Hier kann zusätzlich ein internationaler Vergleich mit anderen Industriestaaten eine Orientierungshilfe darstellen. Trend/Verlauf Der Index erreicht vor 2000 seine historischen Höchststände, um dann bis 2003 auf seinen niedrigsten Wert abzusinken, der aber immer noch knapp unter 88 liegt. Seitdem ist kein klarer Trend zu erkennen; 2006 und 2007 sind Werte zwischen 91 und 92 zu verzeichnen, dann sinkt der Index bis 2011 wieder auf einen Wert knapp unter 89, um bis 2014 auf etwas über 92 anzusteigen, den höchsten Wert seit dem Jahr 2000. Im Jahr 2015 folgte ein deutlicher Rückgang auf einen Indexwert knapp unter 90. Angaben zur Aktualität und Fortschreibbarkeit Es besteht ein Time-lag zwischen t = 15 und t = 24 Monaten. Es ist anzunehmen, dass die Weltbank die Governance Indicators weiter pflegt. Unter dieser Voraussetzung ist die Möglichkeit der Fortschreibung gegeben. Methodik/ Berechnungsverfahren Die sechs Dimensionen von Governance der World Bank Governance Indicators – Voice and Accountability, Political Stability and Absence of Violence, Government Effectiveness, Regulatory Quality, Rule of Law, Control of Corruption – werden zugrundegelegt. Aus dem „percentile rank” der einzelnen, gleich gewichteten Dimensionen wird der Durchschnittswert als Index berechnet. Alle 24 Indikatoren zu den sechs Dimensionen sind in Zeitreihen von 1996 bis 2015 verfügbar. Die jeweils herangezogenen Einzelindikatoren für die Dimensionen sind teilweise sehr umfangreich und von der Auswahl sowie Berechnung her mit normativen Entscheidungen verbunden. Abschätzung der Prognostizierbarkeit Eine Prognostizierbarkeit scheint hier angesichts der Vielzahl herangezogener Einzelvariablen für die jeweiligen Dimensionen kaum möglich. 85 | Jahreswohlstandsbericht 2017| Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | 01/2017 Abschätzung zur internationalen Vergleichbarkeit Die internationale Vergleichbarkeit ist hier nicht nur gegeben, sondern geradezu Voraussetzung für die Errechnung des Indexwertes, da dieser ja auf dem jeweiligen „percentile rank“ aufbaut. Die Weltbank untersucht mit dieser Methode 215 Staaten und Gebiete, bei denen sich die Datenverfügbarkeit allerdings sehr unterschiedlich darstellt. 01/2017 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | Jahreswohlstandsbericht 2017 | 86 18/94 JAHRESWOHLSTANDSBERICHT 2017
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