I-JOURNAL Der Stadtschulrat für Wien informiert Jänner 2017 Themenschwerpunkt BeratungslehrerInnen und Psychagogische BetreuerInnen I-JOURNAL Jänner 2017 2 I-JOURNAL Jänner 2017 Inhalt Besonderer Dank gilt ….......................................................................................................................................... 5 Symposium „Schule als Ort hilfreicher Beziehungserfahrungen” - 40 Jahre PsychagogInnen - 40 Jahre BeratungslehrerInnen in Wien........................................................................................................................................ 6 Zum 40-Jahr-Jubiläum der Förderklasse................................................................................................................ 9 Das Arbeitsfeld einer Beratungslehrerin................................................................................................................ 12 40 Jahre BeratungslehrerInnen (BL) & PsychagogInnen (Psychagogische BeraterInnen - PB).......................... 19 BeratungsTeamSchulstart (BTS) - Der Übergang vom Kindergarten in die Schule - Abschied und Neubeginn und die Geschichte von der Pionierarbeit des Mobilen Mosaikteams zum BeratungsTeamSchulstart................. 21 Die ExpertInnengruppe BBP im Bundesministerium für Bildung........................................................................... 30 Psychagogische Betreuung als unverzichtbarer Beitrag für eine inklusive Schule - eine ganz persönliche Liebeserklärung an diese Aufgabe ....................................................................................................................... 34 Trauma oder Erziehung? Aspekte eines Dilemmas in der Förderklassen-Arbeit.................................................. 36 Zwischen-Welten................................................................................................................................................... 44 Abenteuer vom kleinen Bären und andere Gruselgeschichten............................................................................. 49 Das Spiel um „Leben“ und „Seelen“...................................................................................................................... 52 Mein Rosenbusch.................................................................................................................................................. 55 CLS - Classroom Support..................................................................................................................................... 60 ABS-SÜD - Abendberatung Schule....................................................................................................................... 61 FiSCH - Familie in Schule..................................................................................................................................... 63 Mosaikklassenkinder im Rudolf Ekstein Zentrum.................................................................................................. 70 Projekt Gewaltprävention „Miteinander statt gegeneinander“............................................................................... 76 „Stärke durch Beziehung - Zum Wohle des Kindes und Jugendlichen“ ............................................................... 79 Das dynamische Konzept der „Neuen Autorität“ und des gewaltlosen Widerstands nach Haim Omer................ 81 Pop-Up.................................................................................................................................................................. 84 Judge4U................................................................................................................................................................ 87 Wildnis macht Schule............................................................................................................................................ 90 Unterricht in der „segelnden Wohngruppe“........................................................................................................... 93 Das erste Jahr des Campus Seestadt oder vom ….............................................................................................. 96 Liebe Leserin! Lieber Leser!................................................................................................................................ 100 3 I-JOURNAL Jänner 2017 Besonderer Dank gilt … Im Oktober 2016 wurden „40 Jahre BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen“ mit dem Symposium „Schule als Ort hilfreicher Beziehungserfahrungen“ und mit einem „BeratungslehrerInnenfestl“ gefeiert. Aus diesem Anlass widmet sich die aktuelle Ausgabe des I-Journals der Arbeit mit SchülerInnen mit besonderen Bedürfnissen im sozial-emotionalen Bereich. Die Basis dafür, dass die soziale Integration dieser Kinder gelingen kann, legte Herr RgR BSI i.R. Richard Felsleitner. Ihm sei an dieser Stelle für sein besonderes Engagement und seinen hohen persönlichen Einsatz für sozial-emotional benachteiligte SchülerInnen gedankt. Heute ist diese, auf sozial belastete und psychisch beeinträchtigte Kinder individuell zugeschnittene Form der Beschulung aus der Wiener Schullandschaft nicht mehr wegzudenken. Durch die Bemühungen von Herrn RgR BSI i.R. Richard Felsleitner, für den stets das Kind im Zentrum aller pädagogischer, organisatorischer und rechtlicher Überlegungen stand, war das Etablieren einer speziellen pädagogischen Herangehensweise erst möglich. RgR BSI i.R. Richard Felsleitner © Foto: Eva Maria Kunz In den nachfolgenden Artikeln wird anschaulich beschrieben, wie vielfältig die Arbeit mit den sogenannten „schwierigen“ Kindern gestaltet wird und wie sie gelingen kann. Und zwar mit viel Engagement und einer stetigen Weiterentwicklung der Professionalisierung der LehrerInnen. Ein großes Dankeschön richtet sich daher auch an all jene LehrerInnen, die uns Einblick in ihren herausfordernden beruflichen Alltag gewähren. Besondere Anerkennung gebührt jenen KollegInnen, die durch ihre Mitarbeit das Zustandekommen des „BeratungslehrerInnenfestls“ und des Symposiums unterstützt haben. PSI Mag.a Gudrun Schützelhofer 5 I-JOURNAL Jänner 2017 Symposium „Schule als Ort hilfreicher Beziehungserfahrungen” 40 Jahre PsychagogInnen 40 Jahre BeratungslehrerInnen in Wien 7. – 8. Oktober 2016 Veranstaltungsorte: Festsaal des Stadtschulrates für Wien und Großer Festsaal der Universität Wien Im Herbst 1976 begannen sich in Wien zwei Gruppen von engagierten LehrerInnen unabhängig voneinander mit einem integrationspädagogischen Selbstverständnis um SchülerInnen zu bemühen, die zur damaligen Zeit als „verhaltensgestört“ oder „verhaltensauffällig“ bezeichnet wurden. Beide Gruppen von LehrerInnen konnten sich im Wirkungsbereich des Stadtschulrates für Wien als BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen etablieren. Aufgrund der anschließenden in der Schulpraxis gemachten Erfahrungen kam es zur Errichtung zweier Ausbildungslehrgänge, zur Ausweitung und Annäherung der Aufgabenfelder beider Professionen, zum Aufkommen der Inklusion, zur Entwicklung des Curriculums zur „LehrerInnenbildung neu“ und zu zahlreichen weiteren pädagogischen, organisatorischen und schulrechtlichen Veränderungen. Die beiden Wiener Ausbildungen zu BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen mündeten in die Einrichtung des Universitätslehrgangs „Integration von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Problemen im Kontext von Schule“, der von der Universität Wien mit Unterstützung der KPH Wien/Krems sowie in enger Verschränkung mit dem Hochschullehrgang „Schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Problemen“ der PH Wien, welcher bis dato sattfindet. Dieses Lehrangebot wird in Kurzform Psychagogik - Lehrgang genannt. Mit dem Abschluss des Universitätslehrgangs1 wird das Recht erworben, den Titel „MA – Master of Arts (Psychagogik)“ zu führen. Während all dieser Jahre wurden unzählige SchülerInnen mit erheblichen, emotionalen und sozialen Problemen betreut und Kooperationen mit Personen ihres schulischen, familiären und sozialen Umfeldes angebahnt und realisiert. Dies war der Anlass dazu, um die Tätigkeit der Wiener PsychagogInnen und BeratungslehrerInnen nach 40 Jahren zum Thema eines Symposiums zu machen und auf diese Weise auch wissenschaftlich zu würdigen (vgl. Einladung zum Symposium). Nach eingangs begrüßenden Worten unserer Frau Pflichtschulinspektorin Mag.a Gudrun Schützelhofer im Stadtschulrat für Wien an die den gesamten Festsaal füllenden aktiven und sich bereits in Ruhe befindenden KollegInnen, sowie VertreterInnen der Dienstbehörde, der Personalvertretung und der GÖD, stimmte eine Textcollage „Iba de gaunz oamen Kinda“ – Kinder und Jugendliche mit erheblichen sozialen und emotionalen Problemen im Spiegel literarischer Texte - auf das Symposium und der später folgenden Falldarstellung und Falldiskussion ein. Das anschließende Podiumsgespräch mit Personen der „ersten Stunde“ handelte von den Anfängen der Tätigkeit von PsychagogInnen und BeratungslehrerInnen ab 1976 und der anschließenden Entwicklung der Ausbildung in Wien. 1siehe http://www.postgraduatecenter.at/lehrgaenge/bildung-soziales/integration-von-kindern-und-jugendlichen 6 I-JOURNAL Jänner 2017 Der erste Teil des Symposiums im Festsaal des Stadtschulrats für Wien klang mit einem Umtrunk und einem kleinen Imbiss erfolgreich aus. Zum zweiten Teil des Symposiums am folgenden Tag wurden wir von Herrn Dr. Wilfried Datler im großen Festsaal der Universität Wien freundlich begrüßt. Nach einer anfänglichen Falldarstellung mit Falldiskussion hielt Herr Dr. David Zimmermann aus Hannover einen Gastvortrag mit dem Thema: „Pädagogische Beziehungen mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen: Über Möglichkeiten und die Notwendigkeit, Extremerfahrungen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften“ mit anschließender Diskussion. von links: Univ.-Prof. Dr. Wilfried Datler, Mag.a Jutta Wilfinger, Wolfgang Reyer, em. Univ.-Prof. Dr. Max Friedrich Eine dritte Falldarstellung mit Falldiskussion läutete den Nachmittag ein. Alle drei Falldarstellungen wurden mit beachtlicher Sorgsamkeit vorbereitet und mit großem Engagement vorgestellt, um den ZuhörerInnen einen Einblick in die Arbeit zu geben. Anschließend referierte Herr Dr. Datler zum Thema: „Inklusive Pädagogik in den Lehramtsstudien neu und der ULG/HLG Psychagogik: Doppelung, Überlappung, Ergänzung?“ Der Abschluss des Symposiums in Form einer Podiumsdiskussion lautete: „Bedarf es in Zukunft einer postgradualen Ausbildung von PsychagogInnen in Gestalt eines Masterlehrgangs?“ Bei dieser Diskussionsrunde gab jedoch der Leiter der Sektion I des Bundesministeriums für Bildung und Frauen Herr Kurt Nekula bekannt, dass der Universitätslehrgang: “Integration von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Problemen im Kontext von Schule“ 2017 eingestellt werden wird. Ich wünsche hiermit allen zukünftigen LehrerInnen der „LehrerInnenbildung neu“, dass sie eine so fundierte, hochprofessionelle Aus-, Fort- und Weiterbildung hinsichtlich sozialer und emotionaler Probleme von Kindern und Jugendlichen absolvieren werden können, wie wir sie für unsere Professionen als BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen erhalten haben. Sie basierte schwerpunktmäßig auf den Säulen in der Persönlichkeitsbildung insbesondere auf der Gesprächsführung, der Selbsterfahrung und der Reflexion, welche eine notwendige Voraussetzung für die Betreuung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit erheblichen sozialen und emotionalen Problemen darstellen. Berufsbegleitende Supervision hat einen bedeutenden Stellenwert im Praxisalltag. Ganz persönlich möchte ich mich hiermit auch vom „Wiener BeratungslehrerInnenmodell“ verabschieden, welches 40 Jahre lang eine große Bedeutung in der Wiener Schullandschaft innehatte. Mag.a Jutta Wilfinger Beratungslehrerin in Wien Sonder- und Heilpädagogin © Fotos: Eva Maria Kunz 7 I-JOURNAL Jänner 2017 Abschließend gebührt den SponsorInnen ein großes Danke, welche durch ihre finanzielle Unterstützung zum Gelingen unserer 40-Jahr-Feier beitrugen: Ing. Josef Freund www.steinfreund.at Steinpflege – Reinigung – Imprägnierung 0043 664 220 72 13 Rainer Hillinger - Bodystreet [email protected] [email protected] Sonderkonditionen für PflichtschullehrerInnen Friseur Yvonne www.mobilfriseurin.at Brünnerstr. 37 1210 Wien 01/270 11 66 Roland Kronlechner – Versicherungsmakler www.rch-makler.com Schafflerhofstraße 3/6 1220 Wien 0043 676 89 88 11 12 Zoltan Horvath www.massagepraxishorvath.at Masseur – Energetiker 0043 664 58 36 715 www.pflichtschullehrer.at 8 I-JOURNAL Jänner 2017 Zum 40-Jahr-Jubiläum der Förderklasse Dass etwas 40 Jahre lang besteht, ist per se noch kein Erfolg. Es kann dieser Umstand aber jedenfalls zum Anlass genommen werden, zu resümieren, zu reflektieren, neue Weichen zu stellen und ja, auch zu feiern. Ich selbst kann in inzwischen auch auf beinahe 40 Jahre Tätigkeit bei, mit und für Kinder mit besonderen Bedürfnissen zurückblicken, zuerst als Sonderschullehrerin, dann als Beratungslehrerin und nun schon seit 15 Jahren als Lehrerin in einer Förderklasse. Da hat sich ein wenig Erfahrung angesammelt. Da sammelten sich auch Erfolge und Misserfolge. Aus letzteren ließe sich lernen, wie man ja immer nur durch Krisen, Probleme und Schwierigkeiten lernt und daran wächst. Wobei es sein mag, dass Misserfolge und Probleme bei Jubiläen quasi „persona non grata“ sind. Aber warum eigentlich? Nein, eine Förderklasse ist keine Reparaturwerkstatt, daraus gehen Kinder nicht geheilt und „problembefreit“ hervor. Es fehlt dem System an weiterführenden, weiterhin helfenden, unterstützenden, ja, simpel „geeigneten“ Institutionen, Maßnahmen, Ressourcen. Oft ist daher das, was in der Kleingruppe erreicht wurde schnell wieder dahin. Nicht alle Kinder passen ins vorhandene System, nicht alle Kinder können passend dafür „gemacht“ werden. Diesem Umstand wird nicht Rechnung getragen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? SchülerInnen gingen von der Förderklasse weiter in Sonderschulen, Neue Mittelschulen und Gymnasien ja auch solche Kinder hatten wir. Es brauchte viel an Gesprächen, an Zeit und Engagement, um passende Plätze für die Kinder zu finden. Inzwischen gehört das nicht mehr zu den Aufgaben der FörderklassenlehrerInnen, einen weiterführenden Schulplatz zu empfehlen, das machen andere. Die kennen das Kind nicht, wissen nicht, welche Bedürfnisse es hat, welchen Weg es ging und vielleicht noch gehen könnte, kennen die Problematik nicht. Warum auch immer, so ist es jetzt. Cui bono? Ja, eine Förderklasse kann verletzten, vernachlässigten, psychisch beeinträchtigten und sozial belasteten Kindern viel bieten! Hier können sie zu Erfolgserlebnissen kommen, ihren Selbstwert entdecken, in kleinen Schritten Selbstbewusstsein aufbauen und einen friedlichen, gedeihlichen Umgang mit Gleichaltrigen erwerben. Sie alle brauchen so viel Aufmerksamkeit und Zuneigung und Wertschätzung, weil sie diese lange nicht, selten und zu wenig erhielten. Sie können sich in neuen Rollen erleben, sind nicht mehr die „out laws“. Sie können sich an verlässlichen, klaren Strukturen „anhalten“ und aufrichten, sie können Schule freudvoll erleben, angstfrei. 9 I-JOURNAL Jänner 2017 Und es kann gelingen, Erziehungsberechtigte ins Boot zu holen, ausständige Testungen und Therapien zu veranlassen, neue Verhaltensweisen zu ermöglichen, weil es neue Sichtweisen gibt. Da waren Eltern, die zum ersten Mal hörten (von Seiten der Schule), dass sie ein großartiges Kind haben, dass sie vieles richtig machen. Da waren Eltern, die es nicht fassen konnten, dass sie nicht täglich angerufen wurden, um ihr Kind frühzeitig von der Schule zu holen. Da waren Eltern, die nicht glauben konnten, dass ihr Kind auf eine Arbeit ein Sehr gut bekommen hatte..... Entspannte, entlastete Eltern, die sich nicht mehr allein, angegriffen und nur kritisiert, sondern auch angenommen und vielleicht sogar verstanden fühlen, sind „andere“ Eltern.... Und wir haben vernetzt! Noch immer fehlt es bei Helfersystemen an einem definierten case-manager, noch immer hat die Schule den Job, Informationen nachzulaufen und sie zu bündeln, kommt kaum je eine andere Institution auf die Idee, die Schule mit einzubinden, zumindest zu informieren. Wir haben uns aufgedrängt und eingemischt, haben Institutionen aufgesucht und die Schwellen möglichst niedrig gemacht – und es wurde (fast) immer als ebenso ungewöhnlich wie erfreulich empfunden und war für das betreffende Kind (fast) immer positiv, gedeihlich, erfolgreich. Noch immer muss die Schule ein offenes Buch für alle sein, noch immer gibt es aber tatsächliche und vermeintliche Schweigepflichten zwischen den, an der Pflege und Entwicklung eines Kindes beteiligten Institutionen. Noch immer werden studierten Personen, die mit einem Kind punktuell zu tun haben mehr Kompetenzen zugesprochen als den Lehrpersonen, die tagtäglich mehrere Stunden mit dem Kind verbringen in der besonderen Situation der Gruppe und des Leistungs-anspruchs. Noch immer sind Zuständigkeiten, Amtswege und Vorschriften viel wichtiger als das Wohl eines Kindes. Die Kinder, die zu uns kamen, waren aus dem System gefallen, weil das System eben nicht das Leben ist, nicht sein kann. Das Leben ist bunter, grausamer, unvorhersehbarer und ganz und gar unsicher. Diese Kinder schrien auf ihre Art nach Hilfe, viele schon sehr lange und sehr ungehört. Exeldateien, Screenings, Evaluierungen, Listen, Einsatzpläne – alles haben diese Kinder gesprengt, in nichts gepasst. Konzepte sind so geduldig, Kinder sind es nicht. Auf Papier lässt sich so vieles entwerfen, empfehlen, befehlen und wunderbar und rosig ausmalen. Dem einzelnen Kind ist das egal, es hält sich nicht einmal an bestens beschriebene Krankheitsbilder! Nur eines wollten alle Kinder, die uns begegneten immer sein: geliebt, wahrgenommen und - gute Schüler. Sie das sein und werden zu lassen, liegt an uns! Und dazu müssen wir manchmal so außergewöhnlich sein und handeln dürfen wie unsere Kinder! Und dazu brauchen wir alle Loyalität, Solidarität mit uns und Unterstützung, die wir kriegen können, auch wenn diese Zivilcourage erfordert oder einfach ein weites Herz. 10 I-JOURNAL Jänner 2017 Wenn ich zu diesem Jubiläum jemandem danken sollte, dann wären es meine SchülerInnen, wenn es jemanden zu feiern gäbe, dann sie! Sie haben mich so vieles gelehrt, sie haben mich gefordert, bereichert und mir meine Grenzen aufgezeigt, sie haben mich lachen und weinen lassen, verzweifeln und hoffen. Sie haben mir ihre Zuneigung geschenkt und die meine angenommen. Sie haben mich das Leben gelehrt. „... Gebt den Kindern das Kommando! ...“ Agnes Zech Förderklassenlehrerin 11 I-JOURNAL Jänner 2017 Das Arbeitsfeld einer Beratungslehrerin Dynamiken – Problemstellungen – Anforderungen - Wirkfaktoren Vorbemerkung: Der folgende Text ist ein persönlicher Eindruck, von dem, was mir gerade am stärksten in meiner Arbeit auffällt. Es ist mir bewusst, dass ich vieles nicht erwähne, was unbedingt zu unserem Arbeitsalltag gehört. Der ist allerdings so vielfältig, dass eine vollständige Beschreibung den Rahmen sprengen würde. Außerdem arbeitet jede/r von uns auf so individuelle Weise, dass mein Beitrag nur ein Beitrag unter unzählig vielen möglichen sein kann. Integrative Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern im weitesten Sinn ist unsere Aufgabe. Ich würde dieses Feld einmal mit anderen Worten beschreiben: Wir fangen Kinder und Jugendliche auf, die auf irgendeine Art aus der Reihe tanzen und nicht einfach ihre schulischen Aufgaben erledigen können. Sie sind also auffällig, fallen aus dem vorgegebenen Rahmen. Wir begleiten Kinder auf ihrem oft außergewöhnlichen Weg und unterstützen sie, Erfolg und Anerkennung auf eine sozial erwünschte Weise zu bekommen. Diese jungen Menschen brauchen extra Zuwendung, Fürsorge, Aufmerksamkeit, Unterstützung, Wertschätzung, Angenommensein, Anleitung, Rückenstärkung und Entwicklungshilfe in emotionalen und sozialen Bereichen. Die unterrichtenden Kolleginnen/Kollegen können oft sehr genau wahrnehmen, was zu tun wäre, es aber im Unterrichtsalltag nur bedingt auffangen bzw. leisten. Am stärksten fällt auf, dass die von mir betreuten Kinder in enormen Spannungsfeldern leben. Ihr Alltag ist geprägt von unterschiedlichsten Informationen und oft diametral entgegengesetzten Werten und Anleitungen. Für diese Bedingungen können sie allein oft keine bzw. nur unzureichende Lösungen finden, sie werden krank und auffällig. Sie weisen uns darauf hin, dass sie in hohem Maß belastet und überfordert sind. Ich werde im Folgenden einige davon näher beschreiben. - Kulturelle Differenzen und/oder schichtspezifische Unterschiede In der Schule lernen sie, dass wir alle gleich viel wert sind, dass wir Konflikte gewaltfrei lösen, dass wir unsere unangenehmen Gefühle nicht an anderen Menschen auslassen, dass jeder Mensch Respekt verdient und vieles mehr in dieser Art. Zu Hause werden oft genau die gegenteiligen Erfahrungen gemacht z.B.: • bei Vergehen wird mit physischer Gewalt bestraft und dies wird auch für wichtig und notwendig erachtet • bei Verletzung der männlichen Ehre muss Rache geübt werden • Frauen und Mädchen haben auf das Wort von Vätern und Brüdern bedingungslos zu hören • um seine Ehre nicht zu verlieren darf man nicht um Hilfe bitten oder welche annehmen • und vieles mehr in dieser Art. Je weiter diese Glaubenssätze von den gelebten bzw. angestrebten Werten in der Schule auseinanderliegen, umso größer die Kluft, die die Kinder innerlich überbrücken müssen. Die Situation ist für viele Kinder noch verschärft dadurch, dass auch die in der Schule proklamierten Werte (noch) nicht umgesetzt sind: die Lehrer/innen haben ihre persönlichen Grenzen, die Kinder sind selbst erst in der Entwicklung und am Erlernen und Einüben von gewaltfreier Kommunikation und vor allem ist die Durchmischung wesentlich: wenn die meisten Kinder einer Klasse aus einem Elternhaus mit autoritärem gewaltbereitem Erziehungsstil kommen, ist es umso schwieriger, ihnen zu vermitteln, was wir meinen mit der angestrebten Alternative. Außerdem treffen sie auf Kinder, die aus Familien kommen, in denen die Eltern gar nicht erziehen, den Kindern viel zu viele Freiheiten lassen, ohne ihnen Verantwortung und Grenzen zu vermitteln – ein sehr unübersichtliches Spannungsfeld von Theorie und Praxis. 12 I-JOURNAL Jänner 2017 Beispiel: Strenge Erziehung trifft auf angestrebtes gewaltfreies kooperatives Miteinander – ein Junge ringt mit den zwei Welten Ein türkischer Junge, erst kürzlich nach Österreich gekommen, wenig deutsche Sprachkenntnisse, sechs Jahre, fällt auf, weil er keinerlei Frustrationstoleranz hat, bei jedem noch so kleinen Misserfolg wirft er alles hin und möchte heimgehen. Auch gegenüber Schulkollegen gibt es nur Zuschlagen als Kommunikationsmittel, vor allem, wenn einer etwas macht, was ihm nicht passt. Er steht von zu Hause enorm unter Druck: er muss nicht nur gut, sondern ausgezeichnet in der Schule sein, darf keinerlei Fehler machen, sonst wird er streng bestraft. Zu Hause gibt es hauptsächlich zwei Kategorien: gut und schlecht, dazwischen gibt es nichts. Gut wird belohnt, schlecht wird bestraft. Das trifft nun auf unsere Kultur mit vielen Zwischentönen, Graubereichen, Spielräumen und Ambivalenzen. Bei ihm gibt es viel zu tun: so schnell als möglich Deutsch lernen, damit er sich differenzierter ausdrücken kann, vor allem, was seine Gefühle und Bedürfnisse betrifft. Unterstützend ist dabei, dass er sehr gerne zeichnet. Der kreative bildhafte Ausdruck ist ein Medium, das ihm hilft, sich mitzuteilen. lernen den Schlagimpuls zu unterdrücken und Hilfe zu holen, solange er noch keine eigenen Strategien zur Verfügung hat. Dazu braucht es viele Gespräche mit den Eltern, die allerdings selbst sehr autoritätshörig sind und nicht offen über ihre Erziehungsmethoden sprechen. Kontakte mit Gleichaltrigen fördern, die mehr innere Spiel- und Handlungsräume haben. Und vor allem: spielen lernen, einfach nur Spaß haben, den Ernst herausnehmen und ihn verlocken, Dinge zu tun, die keinen speziellen Zweck haben, ihn verlocken, einfach Dinge auszuprobieren, Fehler zu machen und daraus zu lernen und vieles mehr in dieser Art. In diesem Fall sind sicher sehr viele Brücken zwischen den Kulturen zu bauen, bis er sie in sich selbst zusammenbringen kann. So ein Anpassungsprozess kann Jahre dauern und fordert von allen viel Verständnis, Einfühlungsvermögen, klare Führung und Anleitung und sehr viel Geduld von allen Beteiligten. -Scheidungskinder Kinder aus getrennten Familien haben immer schon schwer zu kämpfen gehabt mit dem Auseinanderfallen der Familie, ihrem Sicherheitsnetz und ihrer Lebensgrundlage und natürlich durch enorme emotionale Belastung und emotionalen Missbrauch, da viele Eltern über die Kinder Macht ausüben (wollen). Durch das neue geteilte Sorgerecht ist aber noch eine Schwierigkeit dazugekommen. Viele Kinder haben keinen festen Wohnsitz mehr, kein eindeutiges Zuhause. Die Eltern sind meist sehr stolz, dass sie alles friedlich geregelt haben, haben aber die Bedürfnisse der Kinder aus den Augen verloren. Diese sind oft an allerletzte Stelle gerutscht. Ich erlebe viele Kinder, die alle zwei bis drei Tage ihre Sachen packen und zum anderen Elternteil wechseln. Zwei Orte, zwei Erziehungsmethoden, zwei Bedingungen unter denen sie funktionieren lernen müssen, ein sehr schwieriges Unterfangen, das sehr viel innere Kraft kostet und für die Identitätsentwicklung und das entspannte Lernen fehlt. Die Spannung äußert sich oft in ständiger Unruhe und einer grundsätzlichen Verunsicherung. Sie haben keinen eindeutigen Bezugsrahmen mehr. Sie erleben keine Kontinuität und so sieht auch ihr Lernerfolg aus: man hat den Eindruck, sie können auf nichts aufbauen, sie erledigen ihre Aufgaben mehr recht als schlecht kommen aber nicht wirklich voran. Dazu kommt das Gefühl, dass sie alleingelassen sind, niemand sich um ihre Befindlichkeit kümmert. Beispiel: Das Kind alleingelassen und verloren zwischen den Turbulenzen Ein Mädchen, neun Jahre, fällt auf, weil es sich ständig verletzt, ihr gröbere Missgeschicke passieren, sie völlig unkonzentriert ist und manchmal Selbstmordgedanken äußert. Es lebt in einer Trennungssituation der Eltern, beide haben neue Partner und der Vater hat ein Kind mit der neuen Partnerin bekommen. Die 13 I-JOURNAL Jänner 2017 Mutter ist extrem mit eigenen Gefühlen beschäftigt, das Mädchen wird nicht wahrgenommen, weil alle mit sich selbst beschäftigt sind. Sie hat gelernt, dass ihre Gefühle nicht zählen und den Eltern zu viel sind. Ich arbeite mit ihr mit Gefühls- und Bedürfniskärtchen und übe mit ihr, sich massiv und für sich selbst einzusetzen. Alle ihre Gefühle und Befindlichkeiten haben ihre Berechtigung. Obwohl es ihr schwer fällt, übt sie das mit den Eltern im Alltag. Selbstverständlich gibt es auch etliche Gespräche mit den Eltern, die helfen, Verständnis für die innere Not des Kindes zu wecken, was nur in kleinsten Schritten gelingt, weil jede Veränderung das mühsam gefundene labile Gleichgewicht der Lebenssituation bedroht. - Gesellschaftlich – wirtschaftsbedingte Überlebens-Situationen – Familien am Rand der Gesellschaft Eltern stehen durch die Verschärfung der wirtschaftlichen Lage und der damit einhergehenden Existenzangst unter einem enormen Druck. Krankenstände sind nicht erwünscht, Arbeitszeiten sind familienfeindlich und der Stress in der Arbeitswelt steigt unaufhörlich. Das führt dazu, dass keine oder sehr wenig Aufmerksamkeit für die Kinder übrigbleibt, wenn die Eltern erst einmal ausgelaugt nach Hause kommen, verschärft in ein-Eltern-Haushalten. Das heißt, dass auch zu Hause die Freiräume immer weniger werden. Zeiten, in denen man einfach entspannt spielen kann, auch einmal miteinander redet, einander zuhört, auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen kann, fehlen. Das führt so weit, dass Kinder mit Fieber in die Schule geschickt werden, weil die Eltern Angst haben, den Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie zu oft fehlen. Kinder, die so wenig Fürsorge erfahren, auf die nicht mehr Rücksicht genommen wird, müssen diesen ständigen Druck irgendwo ablassen bzw. sich Aufmerksamkeit holen, also in der Schule. Dies führt fast zwangsweise zu auffälligem Verhalten. Sie müssen immer nur funktionieren und es bleibt kein innerer und äußerer Raum für seelische Entwicklung. Jedes Kind hat das Recht, sich geliebt zu fühlen und das fordern sie auf viele verschiedene Arten ein. Beispiel: Auf sich selbst gestellt, vernachlässigt und missbraucht Ein Mädchen, neun Jahre, 2. Klasse, fällt durch seltsames Verhalten auf. Sie wirkt wie zwei verschiedene Persönlichkeiten: manchmal ist sie sehr hilfsbereit, sozial sehr kompetent, liebevoll und aufmerksam mit anderen, macht problemlos ihre Aufgaben. Dann, wie aus heiterem Himmel stiftet sie andere Kinder dazu an, in den Mülleimer zu urinieren, einen Roller zu klauen oder ähnliches. Manchmal ist sie völlig überfordert und kann einfachste Aufgaben nicht lösen. Dann ist sie stur und unnachgiebig und zieht sich den Ärger der Lehrerin zu. Sie ist überaus intelligent und benützt diese Fähigkeit, um ihre Innenwelt und ihre Umwelt unter Kontrolle zu behalten. Sie ist es gewöhnt, für sich selbst zu sorgen, so gut sie kann. Die Mutter hat einen schlecht bezahlten Job als Stubenmädchen in einem Hotel, der auch ein hohes Maß an Zeitdruck und Stress beinhaltet. Der Vater hat eine Vergangenheit als Heimkind und vermutlich selbst sehr viel Kränkendes und Schmerzhaftes erlebt. Das Jugendamt ist deshalb auch erklärtes Feindbild und mit großer Angst behaftet. Er hat aufgrund seiner mangelnden Schulbildung einen schlecht bezahlten Hilfsarbeiterjob. Das Mädchen braucht in der Betreuung sehr lange, bis es sich sicher genug fühlt, von sich selbst zu erzählen. Immer mehr tun sich Abgründe auf: sie darf nicht zu Hause bleiben, wenn sie krank ist, sie muss viel Schmerz aushalten, erlebt keine altersadäquate Fürsorge, sie darf der Beratungslehrerin nichts erzählen – das wird kontrolliert- , da gibt es einen erwachsenen Stiefbruder, der sadistische Züge hat und das Mädchen schon öfters in schreckliche, auch sexuell gefärbte Situationen gebracht hat. Sie hat keinen Schutz vom Vater, für den das alles „normal“ ist, und keinen Schutz von der Mutter, die oft in der Arbeit ist, wenn die Tochter sie brauchen würde. In diesem Fall braucht es sehr viel Feingefühl und auch entschlossenes Handeln an der richtigen Stelle….ein langwieriger vielschichtiger Prozess. Das Mädchen registriert erst im Laufe der Zeit, unter welch schwierigen Bedingungen sie lebt und sie Spannungen aushalten muss, die ihr vorher gar nicht bewusst waren. Bisher war das eben ihre Realität, die sie akzeptiert hat. Entsprechend emotionslos hat sie immer 14 I-JOURNAL Jänner 2017 davon berichtet, was die Lehrerin verwirrt hat. Sie hatte immer das Gefühl, das Mädchen erfinde diese Geschichten. Dazu kommt, dass sie, um ihre psychische Gesundheit halbwegs in den Griff zu bekommen, ihre Wahrheiten ausschmückt und umerzählt, um sie nach ihrem Wunsch zu einem guten Ende kommen zu lassen, indem die Bösen bestraft werden. Hier gibt es naturgemäß keine einfachen Lösungen, sondern es braucht eine langfristige Begleitung und viel Anerkennung für die Kraft dieser jungen Seele…und jede Menge Unterstützernetze, auch für die Lehrerin. - Innere Spannungsfelder Dieser Zustand betrifft alle Kinder mit besonderen Begabungen: hochbegabte, einseitig begabte,….und ich zähle auch die sogenannten Legastheniker, Autisten und AD(H)S - Kinder dazu, da sie aus meiner Sicht noch viel zu wenig in ihren speziellen Begabungen gesehen und anerkannt werden. Sie spüren von ihrer inneren Selbstwahrnehmung her, dass sie anders sind als die anderen und die meisten anderen eben anders funktionieren, so wie sie es nicht können. Ihre Innenwelt widerspricht oft ganz massiv der schulischen Außenwelt. Es ist eine große Aufgabe für ihre Persönlichkeitsentwicklung, diese zwei Welten zusammen zu bringen, ohne dass der Selbstwert eingebüßt wird. Und sie brauchen gute Begleitung, um diese Spannungen aushalten zu können und den Glauben an sich selbst nicht zu verlieren. Wir brauchen viel Wachheit für sie, damit sie ihren ganz individuellen Platz in der Gemeinschaft finden und einnehmen können. Große innere Spannungen entstehen auch durch den exzessiven Aufenthalt in den Cyberwelten. Immer mehr Kinder sind in ihrer Prägung und ihrem Bild von der Welt mehr in den Medienwelten zu Hause und finden kaum geeignete Strategien, um sich in der physischen Welt und mit anderen Menschen zurechtzufinden. Ihre Innenwelt funktioniert komplett anders als die unvollkommene nicht so stark manipulierbare Außenwelt. Nicht selten erlebe ich totale Verzweiflung, wenn das erkannt wird. Zu dieser Gruppe zähle ich auch Kinder, die selbst psychisch krank sind, chronische Krankheiten haben, schwere lebensbedrohliche Operationen hinter sich haben bzw. deren Eltern in irgendeiner Weise schwer krank sind, bis hin zu alkoholkranken Elternteilen und anderen Suchtkrankheiten. Beispiel: Das Kind, das in der Computerspielwelt zu Hause ist Ein Junge, soeben eingeschult, fällt auf, weil er überhaupt nicht am Unterricht teilnimmt. Er sitzt da, hat mit niemandem Kontakt, spielt für sich mit Bleistiften, Gummiringerln und anderen Utensilien, er ist in seiner eigenen Welt und was die Lehrerin sagt, dringt nicht bis zu ihm vor. Er wirkt, als würde er sich vom menschlichen Kontakt nichts (mehr) erwarten. Kaum hat er Gelegenheit zum freien Spiel spielt er ausschließlich Szenen aus Kampfcomputerspielen aus anderen Dimensionen nach. Er scheint damit übervoll zu sein und ist „in seinem Element“. Die Mutter erzählt, dass er von klein auf bei jeder Gelegenheit mit dem Smartphone spielen durfte, damit sie in Ruhe ihre Arbeit machen konnte bzw. sich in Ruhe mit anderen Erwachsenen unterhalten konnte. Es war einfach praktisch und sie hat sich weiter nichts dabei gedacht. Ich lasse ihn spielen, steige in seine Welt ein und hole ihn Stück für Stück in „meine“ Realität, durch Nachfragen, durch körperliche Präsenzübungen, durch andere Spielangebote. Das Erstaunliche ist, dass er alle diese Angebote freudig annimmt und so eine gesündere Entwicklung schnell in Gang kommt. Allerdings hat er große Mühe mit anderen Kindern zu spielen. Er ist es so sehr gewöhnt, dass alles nach seiner Vorstellung funktioniert. Teilweise weint er verzweifelt, wenn ein zweites Kind etwas, das er aufgebaut hat, umbaut bzw. eine andere Idee hinzufügen möchte. Er hat das Gefühl, dass damit seine Welt bedroht wird und völlig aus den Fugen gerät. Erst langsam kann er sich darauf einstellen, und erfahren, dass es auch Freude macht, auf Ideen von außen einzugehen. 15 I-JOURNAL Jänner 2017 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Leben in diesen ungelösten und manchmal unlösbaren Spannungsfeldern viel innere Kraft kostet, die für die eigene Entwicklung, das individuelle Wachstum und das Lernen fehlt. Dazu kommen noch viele verschiedene Anforderungen und Aufgaben, die eigentlich zu viel sind für eine gesunde Entwicklung: das Verkraften von Entwurzelung und Heimatlosigkeit, Übersetzerfunktionen sowohl sprachlicher Art als auch inhaltlicher Art zwischen Elternhaus und Schule, unverarbeitete traumatische Erlebnisse, emotionale Zerrissenheit, keine klare Identitätsfindung und daraus resultierende schulische Misserfolge, Mutlosigkeit bis zur Perspektivlosigkeit. Man kann sich gut vorstellen, welch großes Konfliktpotenzial in solchen Lebenssituationen steckt. Zu all diesen Themen, die aus dem privaten Umfeld des Kindes stammen, kommt die angespannte Situation in der Schule: auf der Schule und den Lehrerinnen/Lehrern lastet ein enormer Leistungsdruck, der immer noch erhöht wird. Je nachdem, wie sehr die einzelnen Personen es vermögen, wird der Druck auf die Kinder mehr oder weniger weitergegeben. So leben alle Beteiligten in einem permanenten Zustand von hohen Anforderungen, die aber de facto aus den verschiedensten Gründen nicht und immer weniger erfüllbar sind. Das permanente Aushalten der Spannung zwischen Anspruch und Realität gehört mit zu den am stärksten belastenden Faktoren für die Lehrer/innen. Somit ist die Beratungslehrerin auch viel damit beschäftigt, die Kolleg/innen zu bestärken und auch für deren Situation Verständnis auszudrücken. Wie kann die Beratungslehrerin/der Beratungslehrer helfen? Ich erwähne hier nur einige übergeordnete Aspekte, die den Kindern in meiner täglichen Praxis helfen, mit solchen teilweise unerträglichen Spannungssituationen besser zurechtzukommen, um nicht völlig aus dem schulischen Rahmen rauszufallen. Es sind solche, die manchmal unterschätzt bzw. übersehen werden. Selbstredend braucht es natürlich jede Menge fachliche pädagogische, psychologische, organisatorische, kommunikative Kompetenzen, diese setze ich hier voraus. • Zuhören ist eine der wichtigsten Zutaten für eine gelungene Unterstützung. Ich meine damit das genaue Zuhören, das Zuhören mit dem Herzen, das also nicht nur die Worte hört, sondern hinter die Worte fühlen kann, also das Unausgesprochene wahrnimmt. So ist eine ganzheitliche Erfassung der Situation möglich. Außerdem braucht es dazu eine urteilsfreie Haltung, egal wie schrecklich die Situation sich für den Zuhörer anfühlt. Nur so können sich unsere Gegenüber öffnen und Vertrauen fassen. • Was daraus folgt ist ehrliches tiefes Mitgefühl, eine Herzensqualität, die hochwirksam für jegliche Heilung ist. Da wir zuallererst die unangenehme Situation nicht ändern können, muss sie anerkannt werden. Mitfühlen heißt: das Berührt-Sein zulassen, den Schmerz spüren, sich verbunden fühlen, alles als eine menschliche Erfahrung annehmen, ohne in Mitleid zu verfallen. Das setzt ein klares emotionales Innenleben der erwachsenen Person voraus und bewirkt einen tiefen Respekt vor der kindlichen Seele. Das Kind wird in seiner Notsituation gesehen, aber gleichzeitig nicht durch Mitleid geschwächt. Da passiert schon eine Menge an Entspannung, da die Kinder nicht mehr alleingelassen sind und sich verstanden und angenommen fühlen können. • Zuhören und Mitfühlen sind die Vorbedingungen für die Wahrnehmung der unausgesprochenen Hilferufe und vitalen Bedürfnisse der Kinder. Sobald diese ausgesprochen werden können, ist es nicht mehr weit, die Situation für die Eltern und Lehrer/innen übersetzen zu können und damit Verständnis zu wecken und gleichzeitig nach Unterstützungsmöglichkeiten für die Kinder zu suchen. Auch wenn die Situation noch so verfahren scheint, irgendwelche wenn auch manchmal nur winzige Freiräume für Veränderungen können immer wieder gefunden werden. Manchmal ist es eben „nur“ eine Änderung der inneren Haltung, die aber sehr viel bewirken kann. Sobald sich Handlungsspielräume auftun, können Spannungssituationen entschärft werden, sie fühlen sich nicht mehr so aussichtslos an, man steckt nicht zwischen den Fronten fest und sieht neue Perspektiven, fasst wieder Mut und Hoffnung auf eine Lösbarkeit der Problematik kann am Horizont sichtbar werden. • Diesen Vorgang nenne ich Bewusstsein schaffen, und zwar für Kinder und Erwachsene. Er wirkt deshalb, weil dadurch klarer wird, wer welche Verantwortung hat und wer was verändern kann. 16 I-JOURNAL Jänner 2017 Man kann dann nicht mehr in der unbewussten Opferrolle bleiben. Brücken werden gebaut zwischen den beteiligten Personen und den verschiedenen Welten und Spannung kann abfließen, weil sie auf mehrere beteiligte Personen verteilt wird. • Soziale Einbindung fördern: Wenn die Situation zu Hause bzw. die Lernsituation verfahren scheint, stärke ich oft das Miteinander in der Klasse: gemeinsam spielen, Freunde finden, einander helfen, gemeinsam Spaß haben, ein guter Freund werden….das entlastet und stärkt einen wichtigen Lebensbereich, in dem man Kraft tanken kann, um die anderen ungelösten Problemfelder besser aushalten zu können.. • Förderung des kreativen Ausdrucks: in den beschriebenen Spannungsfeldern sind Kinder oft den emotionalen Dynamiken der Erwachsenen ausgeliefert und sie können ihr eigenes Innenleben kaum noch spüren. Es ist zu sehr von außen überlagert. Ich unterstütze deshalb alles, was den Kindern hilft, sich selbst zum Ausdruck zu bringen, in allem, was gerade im Inneren vorhanden ist, ohne jegliche Bewertung. „Es ist gut, weil es von Dir ist“, das ist der Wert an sich und macht komplett unabhängig von äußeren Bewertungen. Außerdem kann dadurch viel an angestauter emotionaler Energie adäquate Formen finden. Diesen Aspekt finde ich besonders in Ganztagsschulen wichtig, weil durch die notwendige Organisation und teilweise straffe Struktur die ganz persönlichen Gestaltungsräume sehr klein bis gar nicht mehr vorhanden sind. Außerdem ist es aus meiner Sicht eines der wirksamsten Mittel gegen maßlosen Medienkonsum. Das Erfahren und Erleben des eigenen inneren Reichtums stärkt die Persönlichkeit und macht unabhängiger von Anerkennung von Anderen. Die Spannungen können sich subjektiv weniger stark anfühlen. Was von der Beratungslehrerin/dem Beratungslehrer zusätzlich verlangt wird • Unterscheidungsvermögen: wo und wann muss ich handeln und wann muss eine Situation einfach ausgehalten werden, weil es keinen Sinn macht, den ohnehin vorhandenen Druck zu erhöhen. Das empfinde ich als eine der schwierigsten Aufgaben, noch dazu, weil oft aus einem Leidensdruck heraus von den Lehrerinnen/Lehrern bzw. der Schulleitung Druck gemacht wird. Auch dieser Druck muss geprüft werden und häufig von den Kindern ferngehalten werden, indem wir ihn auffangen. Oft ist das Mittel der Wahl das Akzeptieren, und zwar so lange, bis das Kind und /oder die Eltern so weit sind, sich für Veränderungen zu öffnen. Jede kindliche Seele hat ihren eigenen Entwicklungsplan, der nicht angeschoben werden kann. Davor gilt es auch Respekt vor dem Tempo der beteiligten Personen zu üben. • Wenn also äußere Situationen nicht so einfach verändert werden können, gilt es, das Kind auf seinem Entwicklungsweg liebevoll und geduldig zu begleiten und in dieser Zeit alles zu stärken, was an Ressourcen aufgetrieben und gefunden werden kann. Manche psychischen Bereiche öffnen sich erst zur Heilung, wenn genug stabilisierende Faktoren geschaffen sind bzw. auch das Kind alt genug ist, um sich mit bestimmten Situationen zu konfrontieren bzw. sich innerlich mehr und mehr aus der Familie zu lösen. Dieser Zeitpunkt kann nicht vorweg gesehen/bestimmt werden, sondern muss sich aus allen Zusammenhängen ergeben. Niemand kann so etwas voraussagen, dazu ist die Entwicklung der Seele zu geheimnisvoll und die systemische Familienkonstellation zu komplex. Jede übereilte Intervention kann solche Prozesse empfindlich stören oder sogar das Gegenteil von dem bewirken, was wir uns für das Kind wünschen. Große Achtsamkeit ist also vonnöten und die Wachheit für den richtigen Zeitpunkt, zu dem unbedingt gehandelt werden muss. • Geduld und Vertrauen möchte ich noch einmal extra herausstreichen, weil sie das Gegengewicht zu unserer „Machergesellschaft“ sind und deshalb umso wichtiger für eine gesunde Entwicklung sind. Um vertrauen zu können, dass sich alles gut entwickelt, brauchen wir Erwachsene den Glauben an das Gute in jedem Menschen und dass es sich bei guter Pflege durchsetzen wird. Ich fokussiere also bewusst weg von der Problematik hin zum Potenzial des Kindes. Dort sind die Lösungen zu finden, nicht im Problem – eine Tatsache, die wir manchmal im Eifer des Gutes-Tun-Wollens vergessen. Zum Abschuss nun ein Beispiel einer recht einfachen Intervention, die aber darauf hinweist, dass wir womöglich inmitten der vielen verschiedensten Kulturen sehr viel falsch interpretieren und sehr viel mehr nachfragen müssten. Wir werden in der aktuellen Situation darauf gestoßen zu erkennen, dass wir Men17 I-JOURNAL Jänner 2017 schen – ob jung oder alt, groß oder klein - uns sehr schnell ein Bild von jemandem machen, dass wir fehlende Information durch Interpretation ersetzen und uns so die Wirklichkeit zusammendenken, ohne sie zu überprüfen. Dazu brauchen wir aber viel Zeit und Ruhe, um uns auf die vielen verschiedenen Welten wirklich einzulassen. Beispiel: Missverständnisse finden und klären Ein tschetschenischer Junge, kommt mit 13 Jahren nach Wien, lernt schnell Deutsch und wirkt auf den ersten Blick auf einem guten Weg, da er intelligent ist. Er fällt aber durch sein „verdruckstes“ Verhalten auf, man hat immer das Gefühl, er hält sich nicht an Regeln, er hat etwas zu verbergen und er arbeitet viel zu wenig, um einen positiven Abschluss zu bekommen. Auf genaueres Nachfragen stellt sich heraus, dass er in seiner Heimat einen komplett anderen Umgang mit Autoritäten gelernt hat: man darf ihnen auf keinen Fall in die Augen sehen, man darf nicht antworten oder die eigene Meinung sagen, man muss sich unterwürfig zeigen. Nun muss er in Österreich genau das machen, was er als streng verboten eingeübt hat. Außerdem hat er im ersten Jahr noch nicht verstanden, warum er keine Noten bekommt, also hat er es so interpretiert, dass man hier nicht lernen muss, dass es auf eine Art egal ist. Bei ihm war die Intervention sehr rasch erfolgreich: nachdem er die anderen Regeln verstanden hat, hat er sehr schnell aufgeholt und sein Verhalten umgelernt hat. Seine recht hohe Grundintelligenz hat ihm dabei sehr geholfen. Nun kann er ein freiwilliges zehntes Schuljahr machen, ist sozial gut integriert und blickt zuversichtlich in die Zukunft. Ingrid Schlögel Beratungslehrerin, ZIS 9 Galileigasse Autorin von "Natürliche Pädagogik", param Verlag 2010 www.ingrid-schloegel.de 18 I-JOURNAL Jänner 2017 40 Jahre BeratungslehrerInnen (BL) & PsychagogInnen (Psychagogische BeraterInnen - PB) Mögen sich in diesen 40 Jahren auch einige Begrifflichkeiten verändert haben, so ist die erfreuliche Konstante seit 1976, dass ambulant tätige BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen Kinder mit sozialen, emotionalen Problemen und vermehrt auftretenden psychiatrischen Diagnosen integrativ an den Wiener Pflichtschulen vor Ort betreuen. Dies erfolgt meist im Einzel- oder Gruppensetting, manchmal im Klassenverband, wenn BL/PB bei Konflikten in einer Klasse zur Förderung sozialer Fähigkeiten (Kompetenzen) wie Empathie, Perspektivenwechsel, Konfliktfähigkeit oder Selbstbehauptung moderieren. Die BL/PB leisten durch unterschiedliche Arbeitsansätze wertvolle begleitende Unterstützung für KlassenlehrerInnen und bieten unter anderem auch kollegiale Beratung an, sie gestalten oft entwicklungsfördernde Lernbedingungen für die Kinder mit. Meistens erstreckt sich die Betreuung über einen längeren Zeitraum, es finden jedoch auch kurzfristige Interventionen (meist bei Krisen) statt. Unabdingbar für einen förderlichen Beratungs-, Betreuungs- und Entwicklungsverlauf der betroffenen Kinder ist der Aufbau einer positiven Beziehung und einer gedeihlichen Vertrauensbasis. Die Unterstützung des familiären Umfeldes, die Entlastung der Gruppensituation in der Klasse und der LehrerInnen sind zusätzliche wichtige Begleitmaßnahmen. BL/PB sind zudem NetzwerkerInnen im Sinne der Kinder, indem sie Eltern, LehrerInnen und DirektorInnen mögliche schulische (z.B. Schulpsychologie, SchulsozialarbeiterInnen) und außerschulische Unterstützungsmöglichkeiten (Amt für Jugend und Familie, Kliniken, Therapieeinrichtungen u.a.) empfehlen oder den Kontakt selbst initiieren. Da sich im Supportbereich ständig viel verändert, bedarf es regelmäßiger Austauschmöglichkeiten und Kooperation mit den betreffenden Institutionen. Arbeitsbündnisse im Sinne der „Neuen Autorität“ zwischen BL/PB, KlassenlehrerInnen und Eltern sind die Handlungsgrundlage für die Unterstützung der gedeihlichen Entwicklung der Kinder im schulischen Kontext. Das Ziel der ambulanten Betreuung ist die bestmögliche Integration „schwieriger Kinder und Jugendlicher“ in die Regelschulklasse. Sollte trotz aller Bemühungen diese Möglichkeit nicht mehr gegeben sein, wird die/der BL/PB mit ihrer/seiner ZIS-Leitung Kontakt aufnehmen und weitere, mögliche Schritte besprechen. Wird dabei der Wechsel in eine Förderklasse als beste Option angesehen, erstellt das KlassenlehrerInnenteam unter Handlungsanleitung der BL/PB die „Individuelle Förderanamnese“ und übermittelt der ZIS-Leitung Berichte und eventuelle Vorbefunde. Diese beobachtet das Kind zusätzlich im Klassenverband der Regelschule und bringt alle Unterlagen in die „Überregionale Förderkommission“ ein. In diesem Gremium, in dem Frau Mag.a Schützelhofer (Pflichtschulinspektorin für den 18.IB) und die LeiterInnen der acht Wiener SES-ZIS beraten, wird unter Beachtung der bisherigen Schullaufbahn und des Entwicklungsstandes des Kindes – sofern möglich – ein Platz in einer Förderklasse zugewiesen. Hier beginnt die Zusammenarbeit zwischen BL/PB und FörderklassenlehrerInnen bezüglich der Aufnahme in die Förderklasse; ebenso ist diese Zusammenarbeit für eine gelingende Rückführung in das Regelschulwesen erforderlich. Die Qualitätssicherung erfolgt durch berufsbezogene Fort- und Weiterbildung sowie durch regelmäßige Supervision, Reflexion der laufenden Tätigkeiten in Kleinteams und die Evaluation bzw. Überprüfung der durchgeführten Maßnahmen. 19 I-JOURNAL Jänner 2017 BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen sind dem 18.IB zugeteilt und werden von folgenden Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik verwaltet: ZIS 1060, Mittelgasse 24 ZIS 1090, Galileigasse 3 ZIS 1110, Hoefftgasse 7 ZIS 1120, Singrienergasse 12 ZIS 1130, Hackinger Kai 15 ZIS 1200, Jägerstraße 11-13 ZIS 1210, Theodor-Körner-Gasse 25 ZIS 1220, Stadlauerstraße 51 Neben der ambulanten Betreuung und den Förderklassen (die standort- und schwerpunktabhängig auch Namen wie Nest-, Mosaik- oder Schlangenfußklasse tragen) gibt es an den verschiedenen ZIS-Standorten unterschiedliche Zusatzangebote. Aufgrund der gesellschaftlichen und strukturellen Veränderungen und Entwicklungen versuchen Schulentwicklungsteams der ZIS-Standorte neue, für die jeweiligen Regionen adäquate Supportmöglichkeiten zu erarbeiten, um den Wiener Pflichtschulstandorten möglichst effiziente Unterstützung anbieten zu können. Nachfolgend führe ich exemplarisch die Zusatzangebote des ZIS 12 an. Als Abschluss möchte ich auf das gerade in der Konzeptionierung befindliche BeratungsTeamSchulstart eingehen. Zusätzliche Angebote: • Eine überregional tätige Beratungslehrerin zum Schwerpunktthema ADHS: Beobachtung des Kindes im Klassenverband, darauf aufbauend Beratung und Information für Eltern und KlassenlehrerInnen. • Abend-Beratung-Schule: kostenloses Beratungsangebot für (vor allem berufstätige) Eltern, Familien und LehrerInnen von Kindern/Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Defiziten im Bereich der Wiener Pflichtschulen der Gemeindebezirke 7, 14, 15 und 16. • Eine mobile Lehrerin: befristete, integrative Unterstützung von Kindern/Jugendlichen mit sozialen und emotionalen Auffälligkeiten in NMS Klassen. Sie wird von den ambulanten LehrerInnen oder den DirektorInnen der betroffenen Standorte über die regional zuständige ZIS-Direktorin angefordert. • Eine mobile Lehrerin: befristete Unterstützung von Kindern mit besonders auffälligen sozialen und emotionalen Problemen in der Schuleingangsphase. Sie wird von den ambulanten LehrerInnen oder den DirektorInnen der betroffenen Standorte über die regional zuständige ZIS-Direktorin angefordert. • BeratungsTeamSchulstart: angeboten von vier BeratungslehrerInnen für die Gemeindebezirke 7, 14, 15 und 16. Dieses Team kann zur Abklärung seitens Eltern von Kindergartenkindern oder von KindergartenpädagogInnen schon im letzten Jahr des Kindergartenbesuchs oder von der VS-Schulleitung im Zuge des Einschreibegespräches bzw. in der Schuleingangsphase bei der regionalen ZISLeitung angefordert werden. Elisabeth Kolb BTS 12 Kindergartenpädagogin, Hauptschullehrerin Beratungslehrerin, Arbeit am ZIS 12 seit 2008 20 I-JOURNAL Jänner 2017 BeratungsTeamSchulstart (BTS) Der Übergang vom Kindergarten in die Schule - Abschied und Neubeginn und die Geschichte von der Pionierarbeit des Mobilen Mosaikteams zum BeratungsTeamSchulstart. Vorbemerkungen Der Übergang vom Kindergarten in die Schule stellt für Kinder und Erziehungsberechtigte eine neue Herausforderung dar und ist in vielerlei Hinsicht für alle Beteiligten von großer Bedeutung und mit den unterschiedlichsten Gefühlen verbunden. Vielleicht erinnern wir uns sogar noch an unseren eigenen Abschied vom Kindergarten und an die Zeit vor dem Schuleintritt oder an Erfahrungen aus dem familiären Umfeld: die Vorfreude auf die Schule, den Stolz, endlich bald groß zu sein, der Erwachsenenwelt näher zu sein, aber vielleicht auch an Ängste, Unsicherheiten und Zweifel: Werde ich das können? Werde ich das schaffen? „Man freut sich, aber nicht so ganz, weil man nicht genau weiß, was sein wird. So, wie wenn man einen Kurs bucht, den man nicht kennt! Wie soll man sich da freuen, wenn man nicht weiß, worauf man sich einstellen kann?“ Zitat eines 9-Jährigen, auf die Frage, ob er sich noch erinnern kann, wie es ihm vor dem Eintritt in die Schule ergangen ist. Copyright B.L. Als „hoffnungsfroh und ängstlich zugleich“ (1997, p.19) bringt Isca Salzberger-Wittenberg diese Ambivalenz der Gefühle im Zusammenhang mit dem Beginnen zum Ausdruck. (Salzberger-Wittenberg, I. u.a. (1997): Die Pädagogik der Gefühle. Emotionale Erfahrungen beim Lernen und Lehren. WUV: Wien) Über grundlegende Gedanken zur Transition und warum es nun im 18. IB eine besondere Schwerpunktsetzung zu diesem Übergang gibt, schreibt Elisabeth Kolb in ihrem Exkurs. Im I. Kapitel gehen wir im Speziellen auf Kinder mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen im Übergang vom Kindergarten zur Schule ein. Kapitel II berichtet über die Entstehungsgeschichte des Konzeptes BTS, von den Anfängen des Mobilen Mosaikteams 1995 bis zum BeratungsTeamSchulstart (BTS) 2016. In Kapitel III werden Grundzüge des Konzeptes BeratungsTeamSchulstart (BTS) dargestellt und in einem IV. Kapitel werden Kontaktdaten (Stand November 2016) angeführt. 21 I-JOURNAL Jänner 2017 Exkurs: Grundgedanken zum Thema Transition und Begründung der Schwerpunktsetzung im 18. IB (von E. Kolb) Ich gehe auf die Thematik Transition (lat. Transitus = Übergang, Durchgang) vom Kindergarten zur Volksschule und die Beweggründe zur Implementierung des BeratungsTeamSchulstart als Supportinstanz in allen acht Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagpogik (BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen) ein. Dieser Übergang bringt einschneidende Veränderungen auf der Ebene der Kindesidentität, der Ebene der Beziehungen und der Ebene der Lebensumwelten mit sich und erfolgt in relativ kurzer Zeit. „Entwicklungsaufgaben auf der individuellen Ebene Der Übergang vom Kindergartenkind zum Schulkind bedeutet eine Veränderung der Identität. Starke Emotionen wie Vorfreude, Neugier, Stolz sowie Unsicherheit und Angst müssen bewältigt werden. Neue Kompetenzen werden erworben, wie z.B. Selbstständigkeit und Kulturtechniken; neue Verhaltensweisen zeigen Entwicklungsschritte an. Entwicklungsaufgaben auf der Beziehungsebene Die Aufnahme neuer Beziehungen muss geleistet werden, in erster Linie zur Lehrkraft, aber auch zu den Mitschüler/innen. Bisher bestehende Beziehungen werden neu strukturiert, unter Umständen auch abgebrochen, z.B. zur Erzieherin, zu Kindergartenfreunden. Auch die Beziehungen in der Familie verändern sich. Verarbeitet werden muss ferner ein Rollenzuwachs: Zur Rolle des Kindes in der Familie kommt die Rolle des Schulkindes mit Rollenerwartungen und Rollensanktionen hinzu. Entwicklungsaufgaben auf der Ebene der Lebensumwelten Hauptaufgabe ist hier die Integration zweier Lebensbereiche, nämlich Familie und Schule. Der Lehrplan der Schule tritt an die Stelle von Methoden und Inhalten der Pädagogik im Kindergarten. Wenn zeitnah mit dem Wechsel in die Schule weitere familiale Übergänge, wie z.B. die Geburt von Geschwistern, die Aufnahme von Erwerbstätigkeit eines Elternteils oder eine Trennung der Eltern, bewältigt werden müssen, wird die Transition zum Schulkind verkompliziert. Bei jeder dieser Entwicklungsaufgaben spielen die spezifischen Vorerfahrungen und Entwicklungsbedingungen des einzelnen Kindes mit seinen besonderen Bedürfnissen eine wesentliche Rolle. Die Entwicklung der Identität, der Kompetenzen, der Beziehungen und der Rollen muss vor dem Hintergrund des bisherigen sozialen Kontextes gesehen werden, weil dies die Bewältigung der Veränderungen beeinflusst. Nicht nur das Kind wird ein Schulkind, seine Eltern werden Eltern eines Schulkindes und bewältigen damit ebenfalls einen Übergang.“ (Niesel, 2003, 2004) Kinder meistern diesen Übergang unterschiedlich und auch abhängig von ihrer Resilienz, ihrem Entwicklungsstand und den Vorerfahrungen. Die Kinder sind Unsicherheiten und Belastungen ausgesetzt, da sie sich einer neuen Situation anpassen müssen. Als prägnantes Lebensereignis kann sich ein Übergang sowohl positiv als auch negativ auf die Entwicklung eines Kindes auswirken. „Es ist nicht das Lebensereignis als solches, das es zu einer Transition werden lässt, sondern im entwicklungspsychologischen Sinne dessen Verarbeitung und Bewältigung.“ (Fthenakis, 1999) 22 I-JOURNAL Jänner 2017 Notwendig wurde das verstärkte Augenmerk in diesem Bereich der Transition aus mehreren Gründen: Einerseits gibt es in beinahe jedem Wiener Pflichtschulbezirk noch immer einige Kinder, die trotz Kindergartenpflicht ohne vorherigen Kindergartenbesuch zur Einschreibung kommen und daher nicht institutionell sozialisiert sind. Manche Eltern geben an, dass sie keinen Platz bekommen hätten oder wegen „Schwierigkeiten“ von Privatkindergärten abgemeldet worden seien. Andererseits übersiedeln Kinder aus anderen Ländern nach Wien und sind mit den lokalen Gegebenheiten und Abläufen nicht vertraut. Aber auch Kinder, die bereits im Kindergarten waren und Unterstützung im sozial-emotionalen Bereich benötigten, sollen möglichst zeitig erfasst werden. Durch diese rasche Abklärung wollen wir einen erfolgreichen Übergang in die Schule für diese Kinder ermöglichen. Darunter versteht man üblicherweise, dass das Kind sich in der Schule wohl fühlt, die Bildungsangebote für sich optimal nutzen kann und die gestellten Anforderungen bewältigt. Analog dazu könnte man auch die Frage nach der Kompetenz der Eltern eines Schulkindes stellen: ob sich die Eltern wohl mit bzw. in der Schule fühlen, ob sie die gestellten Anforderungen bewältigen und ob es Beteiligungsangebote in Verbindung mit der Schule gibt, die sie nutzen. Um diese Herausforderung gemeinsam zu bewältigen, ist eine Bündnisbereitschaft und Bündnispartnerschaft sowie Kooperation und Kommunikation zwischen allen Beteiligten erforderlich. Deshalb werden von uns Arbeitsbündnisse zwischen KlassenlehrerInnen, BL/PB und Erziehungsberechtigten angestrebt. „Transitionskompetenz kann man als Kompetenz eines sozialen Systems verstehen. Schulfähigkeit wird im Transitionsansatz, wie national und international gefordert, zu einer Aufgabe für alle Beteiligten.“ (Niesel, 2002) Literatur: Fthenakis, W.E. (1999). Transitionspsychologische Grundlagen des Übergangs zur Elternschaft. In: W.E. Fthenakis, M. Eckert & M. v. Block, für den Deutschen Familienverband (Hrsg.). Handbuch Elternbildung. Band 1 (S. 31-68). Opladen: Leske + Budrich. Niesel, R. (2002). Schulreife oder Schulfähigkeit - was ist darunter zu verstehen? http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Schule/s_190.html Niesel, R. & Griebel, W. (2003). Neukonzeption des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule. Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern, 8, 1/2, S. 17-18. Niesel, R. & Griebel, W. (2004). Übergänge sind Chancen für Entwicklung. Gute Begleitung stärkt Resilienz. Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS), 5, S. 9-12 I. Kinder mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen im Übergang vom Kindergarten zur Schule Konrad wurde uns zwei Tage nach der Schuleinschreibung von der Schulleiterin der Einschreibevolksschule gemeldet, weil diese annahm, dass zusätzliche Unterstützung für das Kind nötig sein werde. Er sei bei der Einschreibung durch Verweigerung und enge Umklammerung der Kindesmutter aufgefallen und habe Angebote bei den Kleingruppenaktivitäten nicht annehmen können und nicht mitgemacht. Besondere Besorgnis und Verunsicherung erzeugte der Befund, der eine psychiatrische Diagnose des Buben beinhaltete, den die Mutter bei der Einschreibung der Schulleiterin vorlegte. 23 I-JOURNAL Jänner 2017 „Welchen Einfluss wird die Diagnose des Kindes auf den Schulalltag haben? Habe ich genügend Personal, welches das Kind unterstützen wird können? Stimmt die Einschätzung, dass es mit dem Buben schwierig werden könnte? Was werden die Eltern der anderen Kinder sagen?“, das waren die Sorgen und Befürchtungen von Konrads Volksschuldirektorin. Vielen pädagogischen Fachkräften geht es ähnlich wie der Direktorin der Schule von Konrad. Die erste Begegnung mit einem Kind und vielleicht zusätzliche Diagnosen oder Informationen können beängstigen und verunsichern, oft wird das Kind „nur“ auf die Störung reduziert. Einige Gedanken, Befürchtungen, Sorgen und Ängste von Konrads zukünftiger Lehrerin könnten sein: „Wie kann ich auf ein Kind, das vielleicht mehr braucht, schauen? Alle neuen SchülerInnen beginnen im Herbst gleichzeitig. Finde ich einen Weg, mit dem Kind zurecht zu kommen? Wird Konrad mich als seine Lehrerin / Autorität akzeptieren und werde ich den Unterricht entsprechend gestalten können? Werde ich mit den Anforderungen alleine sein? Die Geschichte des Kindes macht mir Angst. Werde ich es schaffen, mich nach Abschluss der 4. Klasse auf die neue 1. Klasse einzustellen?“ Wie könnte Konrads Mutter diesen Übergang erleben? „Es ist völlig anders als im Kindergarten, nun wird es sich zeigen, ob ich alles richtig gemacht habe. Es ist mir unangenehm, dass sich mein Kind bei der Schuleinschreibung so präsentiert hat. Ich habe Angst, dass Konrad scheitern wird und ausgeschlossen werden könnte. Wird die Lehrerin mein Kind mögen und sehen, was es alles kann? Wird Konrad endlich Freunde finden?“ Die Direktorin der Schule von Konrad wandte sich an das Mobile Mosaikteam, um gemeinsam zu überlegen, wie man das Verhalten Konrads bei der Schuleinschreibung und in diesem Zusammenhang den Befund verstehen und der Schuleinstieg gelingen könnte. Unsere pädagogischen Bemühungen gelten Kindern mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen, die in Übergangssituationen besonders gefährdet sind. In unserem Verständnis geht es hier nicht nur um Kinder, die so wie Konrad auffallen und nach außen agieren, sondern auch um Kinder, deren Probleme durch ihr Verhalten auf den ersten Blick nicht so sichtbar zutage treten. Oft haben diese Kinder belastende Erfahrungen in ihrem Leben gemacht und sind vielleicht auch aktuell immer wieder mit Belastungen konfrontiert, ihre Lebenslagen sind häufig höchst unsicher. Mit dem Eintritt in die Schule, dem Schritt in die nächste Bildungsinstitution mit ihren neuen „Spielregeln“, werden Problemlagen bei allen Beteiligten oft neu oder verstärkt spür- und sichtbar. Gerade für jene Kinder, die in ihrem Leben bereits viele Verlust- und/oder Trennungserfahrungen gemacht haben und auch in ihrer aktuellen Lebenssituation mit Tod, Trennung oder anderen Erfahrungen des Verlustes oder Trennung konfrontiert sind, bedeutet ein neuerlicher Wechsel, wie z.B. der Schuleintritt möglicherweise eine zusätzliche Belastung und Gefährdung. Manchmal kann sogar schon ein Personenwechsel oder Raumwechsel innerhalb des Schulhauses für diese Kinder herausfordernd sein. Durch den Wechsel in die Institution Schule werden für viele Kinder auch langjährige Halt und Sicherheit gebende Beziehungen, wie die Beziehung zum/zur Kindergartenpädagogen/in oder auch zu KindergartenfreundInnen, beendet. Im pädagogischen Alltag des Kindergartens gelingt es den PädagogInnen aus unserer Erfahrung sehr oft, diesen Kindern Raum, Zeit und einen entsprechenden Rahmen zu bieten, um Entwicklungsschritte zu ermöglichen. Inwieweit wird es möglich sein, auch im schulischen Kontext entwicklungsfördernde Beziehungsräume für diese Kinder herzustellen? Was wird es dazu brauchen? Wird die Schule (hier Konrads Einschreibeschule) das alleine schaffen oder braucht sie dazu zusätzliche Unterstützung? 24 I-JOURNAL Jänner 2017 Wo und wie ist es wichtig zu unterstützen? Was ist für das Kind entwicklungsförderlich und wo würde Unterstützung Entwicklung bremsen? Wie viel von der Geschichte des Kindes soll in die Schule mitgenommen werden, um im Entwicklungsinteresse des Kindes arbeiten zu können? Das alles gilt es individuell abzuwägen. Was ist in dem Rucksack? Was geben wir den Kindern mit? Was werden sie noch brauchen? Copyright: B.L. Die Art und Weise wie Beziehungen gestaltet werden, beeinflusst neben den früher gemachten Erfahrungen und den aktuellen Gegebenheiten, wie Kinder und deren Bezugspersonen den Übergang vom Kindergarten in die Schule erleben. Im günstigsten Fall wird der Übergang als bewältigbare Herausforderung erlebt; das stärkt die Selbstwirksamkeit und hat Auswirkungen auf weitere Übergänge. II. Veränderungsprozesse - vom Mobilen Mosaikteam zum BeratungsTeamSchulstart (BTS) von 1995 bis 2016 Seit über zwanzig Jahren gibt es für Wiener SchülerInnen mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen der Grundstufe I und deren Bezugspersonen die Möglichkeit der Unterstützung durch das Mosaikteam (Mobiles Mosaikteam, Mobile/Ambulante MosaiklehrerInnen und MosaikklassenlehrerInnen), welches am Rudolf Ekstein Zentrum angesiedelt ist. Literaturauswahl zu „Mosaik“: AG Mosaik* (2002): Mosaik. Ein Angebot des Rudolf Ekstein Zentrums für Kinder mit besonderen sozial-emotionalen Bedürfnissen in der Schuleingangsphase. In: Integrationsjournal. Der Stadtschulrat für Wien informiert, S.26-31 AG Mosaik* (2012): Mosaik-Team. In: Integrationsjournal. Der Stadtschulrat für Wien informiert. Unterstützende Systeme für SchülerInnen im Pflichtschulbereich in Wien. (Heft 1), S.57-59. lehrerweb.wien/fileadmin/ .../integrationsjournal_juni_12.pdf Kolar-Heindl, R., Pfeifer, U., Seidl, C. (2005): Begleitung von Kindern im Übergang – Der Wechsel vom Kindergarten zur Schule. Die Arbeit des Mobilen Mosaikteams in der Schuleingangsphase. In: Erziehung und Unterricht 155 (Heft 9/10), S.874-878 Kratochvil, Ch. (2005): Ekstein – Ein Eckstein des Mosaiks? In: miteinander. Integrative Modelle im Wiener Schulwesen, echo, S.201–206 Peyrl, B., Prinz, R. (2014): Die besondere Förderung von Kindern mit emotionalen und sozialen Problemen steht im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion. In: Integrationsjournal. Der Stadtschulrat für Wien informiert (Heft 1), S.40-43. * AG Mosaik: Ein Autorinnenteam, bestehend aus Mitgliedern des Mobilen Mosaikteams und Mobilen/Ambulanten Mosaiklehrerinnen. 25 I-JOURNAL Jänner 2017 Volksschulen, Kindergärten, Erziehungsberechtigte bzw. relevante Institutionen konnten sich an das Mobile Mosaikteam wenden, um gemeinsam zu überlegen, was für den Entwicklungsprozess dieser Kinder (in der speziellen Zeit des Übergangs) förderlich ist. Das Team arbeitete wienweit. Der Bedarf und die Nachfrage stiegen stetig, so wurde immer wieder darüber nachgedacht, die mobile Beratung und pädagogische Klärung für den Bereich des Übergangs vom Kindergarten zur Schule auszubauen. Für die Ausweitung waren u.a. der präventive Aspekt (das Wissen um den Erfolg früher Interventionen und des genauen Hinschauens) und Erkenntnisse aus der Transitionsforschung (siehe Exkurs von E. Kolb) ausschlaggebend. Im Schuljahr 2013/14 erhielt das Mobile Mosaikteam durch PSI Mag. Gudrun Schützelhofer den Auftrag zur Erstellung eines Konzeptpapiers zum Kompetenztransfer bzw. zur Ausweitung einschlägiger pädagogischer Kompetenzen innerhalb des Stadtschulrates für Wien im Bereich mobile Beratung und pädagogische Klärung für den Übergang vom Kindergarten zur Schule. (Kolar-Heindl, R., Laggner B., Pfeifer, U., Seidl, Ch. (2014): Integration von SchülerInnen mit emotionalen und sozialen Problemen. Unveröffentlichtes Konzeptpapier I. zur Betreuung und Beschulung von Kindern und zur Beratung von ihren relevanten Bezugspersonen innerhalb und außerhalb des Systems Schule und zur II. Ausweitung einschlägiger pädagogischer Kompetenzen innerhalb des Stadtschulrates für Wien. Im Auftrag von PSI Mag. Gudrun Schützelhofer. Auf Anfrage bei: BTS 20 Mobiles Mosaikteam) Der Auftrag des „Kompetenztransfers“ und in der Folge die damit verbundenen Veränderungsprozesse lösten bei uns unterschiedlichste Gefühle und Gedanken aus. Stolz und Freude, aber auch Ängste und Unsicherheiten: Wird uns das gelingen? Wie viel Vertrautes müssen wir aufgeben? Müssen wir langjährige Arbeitsbeziehungen beenden? Welchen Einfluss würde die Konzepterstellung und in weiterer Folge die Konzeptumsetzung auf die laufende Fallarbeit nehmen? Wie und wo können wir uns neu positionieren? Uns kam auch der Gedanke, dass Kinder in der Zeit des Übergangs vom Kindergarten in die Schule möglicherweise mit ähnlichen Ängsten, Befürchtungen, Hoffnungen und Wünschen konfrontiert sind. Diese unterschiedlichen Gefühle und Fragestellungen haben uns sowohl in der Phase der Konzepterstellung (Schuljahr 2014/15) als auch in der Umsetzungsphase (Schuljahr 2015/16) beschäftigt. Unter anderem erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kompetenztransfer“ und der Namensgebung: Wie werden bzw. sollen sich die neuen Teams nennen? Welche Bedeutung hat der Name Mobiles Mosaikteam für unsere Identität und für jene, die bisher mit uns zusammen gearbeitet haben? Im Schuljahr 2015/16 haben sich insgesamt 15 KollegInnen aus sechs Zentren der BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen für den Arbeitsbereich mobile Beratung und pädagogische Klärung im Übergang vom Kindergarten zur Schule gemeldet und an dem Prozess teilgenommen. Illustration G.S. 26 I-JOURNAL Jänner 2017 Die Struktur des Kompetenztransfers: 1. Zur-Verfügung-Stellen unserer Erfahrung und Theorie Vorstellen des bestehenden Konzeptes und Vermittlung einschlägiger theoretischer Grundsätze unserer Arbeit 2. Angebot der Hospitation/Fallarbeit im Tandem/Fallbesprechungen für neue Teammitglieder (bedarfsorientiert/standortbezogen, nach Vereinbarung) Möglichkeit für die Teams, unsere Arbeit „an Ort und Stelle“ kennen zu lernen und gemeinsame Reflexion ihrer Arbeit 3. Teamvernetzung und Identitätsbildung Möglichkeit der Reflexion im Großteam Erarbeitung unseres gemeinsamen Namens (BeratungsTeamSchulstart/BTS), der Aufgabenbeschreibung des Teams (siehe unten kursiv) und Auseinandersetzung mit (für uns) mehrheitlich gültigen Basics/Standards Die KollegInnen haben seitens des Schulsystems ganz unterschiedliche Ressourcen für diesen Arbeitsbereich zur Verfügung gestellt bekommen, was ein kontinuierliches Miteinander nur eingeschränkt möglich machte. Inhalt unserer Überlegungen war, alle Beteiligten auf dem gleichen Stand zu halten und immer wieder den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, um bestimmte theoretische und konzeptionelle Inhalte besprechen zu können. Weiters beschäftigten uns während des Prozesses das schulische Hierarchiesystem und dessen Kommunikationsstruktur: Wer muss/soll über nächste Schritte wann und in welcher Form informiert werden? Während dieses Prozesses wurde das bisherige Konzept des Mobilen Mosaikteams gemeinsam mit den KollegInnen der regionalen BTS überarbeitet. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass damit die Tätigkeit des Mobilen Mosaikteams ausgeweitet und regionalisiert wurde. Der Bereich der mobilen Beratung und pädagogischen Klärung mit Schwerpunkt auf dem Übergang vom Kindergarten in die Schule wurde somit an allen Zentren der BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen implementiert. Auf einige Grundzüge des neuen Konzepts „BeratungsTeamSchulstart“ möchten wir im Folgenden eingehen. III. Das BeratungsTeamSchulstart (BTS)- Auszüge aus dem Konzeptpapier (ein gemeinsames Konzept von BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen) Wir nehmen hier Bezug auf das unveröffentlichte „Konzeptpapier BTS Langfassung “ (September 2016). Neben der Aufgabenbeschreibung, den Kernaufgaben und der Vorgehensweise des Teams, werden in dem Konzeptpapier organisatorische Rahmenbedingungen und die Qualitätssicherung der Arbeit dargestellt. Auf das Kapitel Selbstverständnis und Haltung (Kapitel 3 der Konzeptpapierlangfassung) werden wir hier besonders eingehen. 27 I-JOURNAL Jänner 2017 Aufgabenbeschreibung: Das Team bietet pädagogische Klärung und Beratung im Übergang vom Kindergarten zur Schule für Kinder mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen und für die Bezugspersonen dieser Kinder. Ziel ist die Planung, Einleitung, Koordinierung und Begleitung von Fördermaßnahmen, mit der Absicht, einen gelingenden Schuleinstieg vorzubereiten, einen erfolgreichen Lernweg zu ermöglichen und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder bestmöglich zu unterstützen. Selbstverständnis und Haltung • Das BTS unterstützt die ZUSAMMENARBEIT von/zwischen Kindergarten, Schule und Familie (Erziehungsberechtigte und Kind) und den außerschulischen Unterstützungssystemen. • Eine Haltung, die VERTRAUEN ermöglicht, Verlässlichkeit darstellt, Wertschätzung und Behutsamkeit im zwischenmenschlichen Umgang gewährleistet, ist die Basis unserer Arbeit. • Es ist uns wichtig, zu einem möglichst differenzierten VERSTEHEN der besonderen Problemlage von Schulneulingen und deren Bezugssystem zu gelangen. • Mit allen beteiligten Erwachsenen (Erziehungsberechtigten, PädagogInnen,…) begeben wir uns in einen Beratungsprozess, für den ausreichend ZEIT zur Verfügung steht. Unsere Haltung besteht darin, einen Prozess anzuregen, bei dem die PädagogInnen und Erziehungsberechtigten sich weiterhin für das Kind zuständig fühlen, und nicht darin, direktiv als Wissende Ratschläge zu geben. • Darüber hinaus kommt es in einem pädagogischen Klärungsprozess zu der Einschätzung in Hinblick auf die Fragen: Was ist für den ENTWICKLUNGSPROZESS des Kindes förderlich? Welche pädagogischen Maßnahmen sind notwendig und sollen ergriffen werden? • Die Arbeit im TEAM und die damit verbundene Möglichkeit der REFLEXION tragen dazu bei, verschiedene Sichtweisen zu bündeln und Lösungswege zu finden. Getragen wird die Arbeit von unserer Überzeugung, dass Zuversicht stärkt und Entwicklung möglich ist. In unserem Verständnis geht es nicht darum, einen reibungslosen Übergang zu ermöglichen, sondern das Kind und seine Bezugspersonen bei diesem Übergang zu begleiten und Wege zu finden, wie dieser Übergang als Entwicklungsimpuls erlebt und in weiterer Folge auch genutzt werden kann. Bestehende Übergangsmodelle und Kooperationsformen (Schnuppertage, spezielle Einschreibungsrituale, Elternabende, ...) haben ihre Wichtigkeit, aber darüber hinaus geht es uns um die individuelle Begleitung des Übergangs für das Kind und dessen Bezugspersonen. (Anmerkung: Der Folder BeratungsTeamSchulstart (BTS) ist ab Jänner 2017 über die regionalen BTS bzw. jeweiligen Zentren der BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen erhältlich.) 28 I-JOURNAL Jänner 2017 IV. Kontaktdaten der BTS Erziehungsberechtigte, PädagInnen und LeiterInnen von Kindergärten und Schulen, Unterstützungspersonal dieser Einrichtungen und auch Personen von außerschulischen Unterstützungssystemen können sich an das BeratungsTeamSchulstart wenden. ZIS Zuständigkeit / Bezirke Kontakt via Telefonnr. Mailadresse BTS - ZIS 6 Mittelgasse 24 1060 Wien 1,3,4,5,6,12 Direktion 01-597 67 21 [email protected] BTS – ZIS 9 Galileigasse 3 1090 Wien 2,8,9,17 Direktion 01-31721 70 [email protected] BTS - ZIS 11 Hoefftgasse 7 1110 Wien 10,11 Direktion 01-767 33 36 [email protected] BTS - ZIS 12 Singrienergasse 9 1120 Wien 7,14,15,16 Anrufbeantw. BTS oder Direktion 01-979 60 24 [email protected] BTS - ZIS 13 Hackinger Kai 15 1130 Wien 13, 23 Direktion 01-877 25 98 BTS - ZIS 20 – Mobiles Mosaikteam Jägerstraße 11–13 1200 Wien 20, derzeit 18,19 BTS-Telefon + Anrufbeantw. 01-334 67 35 BTS – ZIS 21 Theodor-Körner-G. 25 1210 Wien 21 Direktion 01-368 53 85 [email protected] BTS – ZIS 22 Stadlauerstraße 51 1220 Wien 22 Direktion 01-2583179/311 [email protected] 01-979 42 03 [email protected] (Tabelle, erstellt von Elisabeth Kolb; Stand: November 2016) Autorinnenteam Regina Kolar-Heindl BTS 20 Mobiles Mosaikteam Volksschullehrerin, Psychagogin Arbeit im Mosaikteam des Rudolf Ekstein Zentrums seit 1995 Elisabeth Kolb BTS 12 Kindergartenpädagogin, Hauptschullehrerin Beratungslehrerin, Arbeit am ZIS 12 seit 2008 Barbara Laggner BTS 20 Mobiles Mosaikteam Sonder- und Heilpädagogin, Volksschullehrerin, Beratungslehrerin, psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin (APP) Arbeit im Mosaikteam des Rudolf Ekstein Zentrums seit 1998 Uschi Pfeifer BTS 20 Mobiles Mosaikteam Volksschullehrerin, Psychagogin, Psychotherapeutin Arbeit im Mosaikteam des Rudolf Ekstein Zentrums seit 1992 29 I-JOURNAL Jänner 2017 Beratungslehrer/innen Betreuungslehrer/innen Psychagog/en/innen Die ExpertInnengruppe BBP im Bundesministerium für Bildung Zusammensetzung, Arbeitsschwerpunkte und Ausbildungssituation der PsychagogInnen in Wien BeratungslehrerInnen, BetreuungslehrerInnen und PsychagogInnen (BBP) sind PflichtschullehrerInnen mit mehrjähriger Berufserfahrung und einer berufsbegleitenden, fachspezifischen Zusatzausbildung, die in den jeweiligen Bundesländern unterschiedlich strukturiert und organsiert ist. BBP sind einer oder mehreren Pflichtschulen in einem Schulbezirk zugeordnet und üben ihre Tätigkeit im Rahmen ihrer Lehrverpflichtung entweder ausschließlich, jedenfalls aber überwiegend aus. Die Hauptzielsetzung ihrer Tätigkeit ist es, die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten und/oder sozialen und emotionalen Problemen zu unterstützen. Dies geschieht in Form von spezieller Betreuung, Beratung und verlässlicher Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen und allen Bezugspersonen im System Schule. Ein wertschätzendes und tragfähiges Beziehungsangebot ist die Grundlage für eine erfolgreiche professionelle Zusammenarbeit auf allen Ebenen und mit allen Beteiligten. Die spezielle Ausformung der Tätigkeit ist, wie auch die genaue Bezeichnung, von Bundesland zu Bundesland verschieden. Überregional gibt es die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der BBP. In Koordination der im Bundesministerium für Bildung zuständigen Fachabteilung wird ein bundesweiter Austausch gepflegt und spezifische Fortbildungsveranstaltungen werden gemeinsam geplant, organisiert und umgesetzt. Die Grundwerte Toleranz und Wertschätzung im Umgang mit Schülerinnen und Schülern und Kolleginnen und Kollegen bilden auch in der Runde der BBP die Basis der Arbeit und sind die Grundlage für eine gemeinsame Identität. So gelingt es bei aller Unterschiedlichkeit, gemeinsam Arbeitsschwerpunkte mit viel gemeinsamem Engagement zu erarbeiten und umzusetzen. Bedingt durch die Entstehungsgeschichte und die teilweise sehr unterschiedlichen Ausbildungen haben sich folgende Bezeichnungen etabliert: BeratungslehrerInnen: Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg, Wien BetreuungslehrerInnen: Oberösterreich PsychagogInnen: Wien Die Wiener Delegierten im Bundesministerium für Bildung sind Dipl. Päd.in Elisabeth Hirnschal, Beratungslehrerin und Dipl. Päd.in Mag.a Ingeborg Saval, Psychagogin. 30 I-JOURNAL Jänner 2017 Die Arge der BeratungslehrerInnen, BetreuungslehrerInnen und PsychagogInnen wurde schon 1995 beim Ministerium eingerichtet. Seither leistet diese Arbeitsgemeinschaft von Lehrerinnen und Lehrern mit den je nach Bundesland unterschiedlichen Berufsbezeichnungen einen wichtigen Beitrag zur professionellen Vernetzung im Bereich Sonderpädagogik und Inklusion. Jede Teilnehmerin/Jeder Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft braucht ein offizielles Mandat seiner Schulaufsicht im jeweiligen Bundesland und eine Nominierung durch die Schulbehörde, die dem Bundesministerium zur Kenntnis gebracht wird. Jedes Bundesland entsendet eine oder maximal zwei Personen aus den Reihen der BBP zu den Sitzungen nach Wien, die in den Räumlichkeiten des BMB, Freyung 1, stattfinden. Die Tagesordnungspunkte werden vor jeder Sitzung festgelegt. Mit der Leitung seitens des Ministeriums ist Frau Mag.a Dominika Raditsch, Referat I/1A, Sonderpädagogik/inklusive Bildung, betraut: „Die Arbeitsgemeinschaft der BBP ist ein wichtiges Verbindungselement zwischen dem Ministerium, der obersten Aufsichts- und Steuerungsbehörde im Bildungssystem einerseits und der praktischen Ebene der Umsetzung in den jeweiligen Bundesländern andererseits. Der Erfahrungsaustausch und der offene Diskurs zwischen Ministerium und ExpertInnen aus der Praxis dient der Qualitätsentwicklung und der Qualitätssicherung was die Bildung von SchülerInnen mit Verhaltensauffälligkeiten und emotionalen oder sozialen Problemen betrifft. Die Praxistauglichkeit und Umsetzung der vom Ministerium getroffenen Maßnahmen wird auch durch Impulse aus dieser Gruppe überprüft. Die KollegInnen aus der Arbeitsgemeinschaft sind somit ein wichtiger Teil eines Netzwerkes im Ministerium und die direkte Verbindung zur Schulpraxis in ganz Österreich.“ In maximal zwei 2-tägigen Arbeitssitzungen pro Jahr werden • gesellschaftlich aktuelle Entwicklungen und daraus resultierende pädagogische Herausforderungen thematisiert, • Berichte aus den Bundesländern und aus den jeweiligen Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik zum Thema Verhaltenspädagogik/Inklusion verglichen und diskutiert, • Fortbildungen / Tagungen geplant, organisiert und dokumentiert, • Informationen und Erfahrungen zu unterschiedlichen methodisch-didaktischen Akzenten in den Arbeitsweisen der BBP in den Bundesländern ausgetauscht, • pädagogische Best Practice Modelle aus den jeweiligen Bundesländern und Regionen vorgestellt. In den vergangenen Sitzungen haben uns vor allem Berichte aus den inklusiven Modellregionen in Österreich, die Umsetzung des Konzeptes der „Neuen Autorität“ nach Haim Omer und der jeweilige bundeslandspezifische Umgang mit der aktuellen Flüchtlingsthematik beschäftigt. Zu Gast zu diesem Thema war Mag.a MinR Terezija Stoisits, die Beauftragte für Flüchtlingskinder an österreichischen Schulen. Sie hat die Koordination der verschiedenen Stellen im BMB übernommen und ergänzt die bestehenden Verbindungen zu den Landesschulräten und Pädagogischen Hochschulen durch Bundesländer- und Schulbesuche und im Austausch mit pädagogischen ExpertInnen. Aus diesem Grund war Frau Mag.a Stoisits an den Berichten der BBP und deren Einsatz in aktuellen Krisen sehr interessiert. Auch Gäste aus der Schulpsychologie, wie Dr. Gerhard Krötzl, ergänzten den fachlichen Austausch. Die Ergebnisse der Sitzungen und weitere, daraus resultierende Aufgaben, Ideen und Informationen werden von den Delegierten der BBP der einzelnen Bundesländer wieder in die jeweiligen Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik getragen, wo sie weiterbearbeitet werden und Anlass zu Diskurs und Austausch und möglichen Veränderungen bieten. 31 I-JOURNAL Jänner 2017 Planung, Organisation und Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen Ein besonderer Schwerpunkt der Arge ist die Planung und Organisation von Fortbildungsveranstaltungen für die Berufsgruppe der BBP, die alle drei Jahre in Traunkirchen/Oberösterreich stattfinden. Die Durchführung findet in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich statt. Jedes Bundesland entsendet eine bestimmte Anzahl von TeilnehmerInnen aus den Reihen der BBP zur jeweiligen Enquete, die in ihrem Bundesland dann wieder als MultiplikatorInnen für ihre BBP-KollegInnen tätig sind. Themen der vergangenen Enqueten: 2008: Kinder vom Mars. Aufbruch in neue Schulwelten. Handlungsstrategien und Konzepte der BBP im System Schule überdenken und verändern 2011: „Nur ein Klick- und dann?“ Mediale Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen und ihre Bedeutung für die Arbeit der BBP 2014: „Zurück in die Zukunft“ Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftlicher Wandel als Herausforderung für die Schule Ausblick auf 2017, 19.-21.10 Arbeitstitel: „Am Puls der Zeit“ Gestärkt für den Wandel im Lebensfeld Schule Das Wiener Ausbildungsmodell: Integration von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Problemen im Kontext von Schule Immer wiederkehrendes Thema in der Arge ist auch die Ausbildungssituation in den Bundesländern. Das derzeitige Wiener Ausbildungsmodell hat die ehemaligen Ausbildungen zum/zur BeratungslehrerIn und zum/zur PsychagogIn zusammengefasst, erweitert, akademisiert und wird als Universitätslehrgang geführt. Dieser Universitätslehrgang bietet LehrerInnen die Möglichkeit, ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes Wissen im Bereich der schulischen Integration und Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Problemen zu erwerben. Er beinhaltet sowohl die theoriegeleitete Erfassung und Reflexion schulpädagogischer Erfahrungen als auch die Weiterentwicklung praxisleitender Konzepte. Der nächste Lehrgang startet im Oktober 2017. Ein Lehrgang dauert 6 Semester und schließt mit Master of Arts (Psychagogik) ab. Der Universitätslehrgang wird in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Wien und der kirchlichen pädagogischen Hochschule Wien/Krems durchgeführt. Die primäre Zielgruppe sind LehrerInnen aus dem Pflichtschul-, und auch AHS- und BHS-Bereich, für die in der integrationspädagogischen Arbeit mit SchülerInnen eine wissenschaftlich fundierte und praxisbezogene Weiterbildung notwendig ist. Mit der Einrichtung dieses Universitätslehrganges stellt die Universität Wien erstmals ein wissenschaftlich fundiertes, berufsbegleitendes Weiterbildungsangebot für Lehrerinnen und Lehrer zur Psychagogin bzw. zum Psychagogen bereit, in dessen Zentrum die Arbeit im Bereich der schulischen Integration von Kindern und Jugendlichen mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen steht. Die TeilnehmerInnen sollen auf Basis theoriegeleiteter Analysen von entsprechenden Problemsituationen sowie durch die wissenschaftlich fundierte Entwicklung von Praxiskonzepten, vor allem für drei Tätigkeitsfelder vorbereitet werden: • Gestaltung des Unterrichts in speziellen Beschulungsformen (Förderklassen); • Bereitstellung des Angebotes von kontinuierlicher Einzelfallbetreuung für besonders belastete SchülerInnen (inkl. Beratung von LehrerInnen und Eltern) und • Bereitstellung von mobiler Begleitung/Beratung und Krisenintervention für schulbezogene Systeme. 32 I-JOURNAL Jänner 2017 Bisher waren entsprechende Weiterbildungen im Bereich der Psychagogik nahezu ausschließlich für AbsolventInnen von Pädagogischen Akademien oder Pädagogischen Hochschulen zugänglich. Dieses Weiterbildungsangebot soll nun auch AbsolventInnen von Lehramtsstudien eine entsprechende, berufsbegleitende und praxisbezogene Weiterbildung ermöglichen. Die Teilnahmevoraussetzungen sind ein abgeschlossenes, mindestens dreijähriges Lehramtsstudium für Pflichtschule/AHS/BHS und mindestens fünf Jahre Berufserfahrung im aktiven Schuldienst. Die Lehrgangsleitung liegt bei Univ.-Prof. Dr. Wilfried Datler, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien. Für nähere Informationen: http://www.postgraduatecenter.at/lehrgaenge/bildung-soziales/integration-von-kindern-und-jugendlichen/ Ingeborg Saval Psychagogin Rudolf Ekstein Zentrum Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik 33 I-JOURNAL Jänner 2017 Psychagogische Betreuung als unverzichtbarer Beitrag für eine inklusive Schule - eine ganz persönliche Liebeserklärung an diese Aufgabe Psychagogische Betreuung ist ein niederschwelliges Angebot am Standort Schule zur Begleitung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen im sozial-emotionalen Bereich. „Es ist die Beziehung, die heilt.“(Rudolf Ekstein) Das Angebot einer verlässlichen, kontinuierlichen und Halt gebenden Beziehung steht im Zentrum unserer Arbeit mit dem Kind. Dafür in einer Haltung konsequenter Wertschätzung und Ressourcenorientierung einen sicheren Ort anzubieten, ist ein Fundament der Betreuungsarbeit. Ein Tag voller Begegnungen … Ich betrete in der Früh das Schulhaus. Im Lehrerzimmer spricht mich eine Kollegin an und erzählt mir von einem Kind, das Probleme mit seinen MitschülerInnen hat und sich zunehmend zurückzieht. Auf dem Weg zum Betreuungsraum treffe ich ein Betreuungskind: „Wann darf ich wieder zu dir kommen?“ Nach einem kurzen Gespräch schaue ich in den Briefkasten vor meiner Türe und finde darin ein Briefchen eines Kindes. Erste Stunde: Gespräch mit einem alleinerziehenden Vater, dessen Sohn ich aufgrund einer krisenhaften familiären Situation schon seit einem Jahr begleite. Wir sprechen über die Entwicklungsschritte des Kindes, die Sucht- und Schuldenthematik des Vaters. Stolz erzählt er, dass er den Schritt zur Männerberatung geschafft hat. Ich bestärke ihn in seiner Zuversicht und darin, in der Beziehung zu seinem Kind dran zu bleiben. In der Pause vernetze ich mich mit dem Jugendamt bezüglich Möglichkeiten finanzieller Unterstützung für diese Familie. In der nächsten Stunde wird gekocht. Arthur, der viel sich selbst überlassen ist und im Schatten der Konflikte zwischen seiner großen, psychisch kranken Schwester und der taubstummen Mama steht, genießt diese „nährende“ Zuwendung, ist stolz, dass er die Palatschinke diesmal schon fast alleine zubereiten kann, und erzählt, was ihn beschäftigt. In der nächsten Pause bespreche ich mit einer Kollegin eine Stellungnahme, die ich bezüglich eines Kindes für einen Antrag zur Lehrplanänderung verfasst habe. In der darauffolgenden Stunde sitzt Alexander bei mir, ein kognitiv reifer Bursch, der oft Probleme mit seiner Wut hat und im Streit mit seinen MitschülerInnen manchmal ausrastet. Wir spielen die letzte Konfliktsituation mit Tieren nach, wechseln den Blickwinkel, überlegen andere Lösungsmöglichkeiten. Er malt ein Wappen mit seinen Stärken und Möglichkeiten, unter anderem einen Kochtopf mit Ventil zum Druckablassen. Alexander probiert, welches Ventil seine Wut haben könnte, wir fechten mit Schaumstoffwürsten und halten uns dabei genau an besprochene Spielregeln. Wir vereinbaren ein gemeinsames Gespräch mit Alexander und den zwei Kindern, mit denen er besonders viele Konflikte hat. Ich hole das nächste Betreuungskind. Erwins Mama ist schwer krank. Er selbst fehlt oft, klagt häufig über psychosomatische Beschwerden. In seinem Spiel sind Verlustängste um seine Mama immer wieder Thema. Wir haben die Geschichte eines Bauchwehkobolds entwickelt, der durch Spaß am Lernen und Spie34 I-JOURNAL Jänner 2017 len bezwungen werden kann. Diesen Kobold besiegt Erwin regelmäßig in seinem Spiel, verwöhnt seinen Bauch mit Tee, den er selbst zubereitet. Lebensfreude und Selbstwirksamkeit zu fördern sind für ihn zentrale Themen. In der nächsten Stunde wartet Annika schon auf mich, deren krebskranker Vater im letzten Schuljahr verstorben ist. Annika ist in der Klasse oft hibbelig und unaufmerksam und hat Probleme, Grenzen einzuhalten. Seit Wochen spielt sie immer das gleiche Rollenspiel. Sie ist die Ärztin Dr. Heilsaft und hat eine Wundermedizin erfunden, die alle Handpuppen wieder und wieder gesund macht. Sich als handlungsfähig zu erleben ist für sie in ihrem Prozess der Traumabewältigung gerade bedeutend. Dazwischen Erzählungen, dass im echten Leben leider nicht immer alles gut ausgeht … , aber dass es immer weitergeht. „Das Kind kann seine traumatischen Beziehungserfahrungen verändern, wenn es gelingt, eine vertrauensvolle, dialogische Beziehung aufzubauen, die es dem Kind ermöglicht, neue positive Entwicklungen zu erschließen.“(Kühn, M. 2011) Im Prozess der psychagogischen Betreuung wächst Vertrauen in die Tragfähigkeit der Beziehung, aber auch in die eigenen Kräfte des Kindes. In der psychagogischen Betreuungs- und Beratungstätigkeit ist jeder Tag spannend. Das Einlassen auf die ganz besondere Geschichte und Persönlichkeit, die jedes Kind mitbringt, macht den Prozess der Entwicklungsbegleitung so individuell wie jeden Menschen. Sich im Spiel ausdrücken. Lernen, Worte für Gefühle und Erleben zu finden. Stärken entdecken. Den Blickwinkel verändern. Im Spiel an Regeln und Sozialkompetenz arbeiten oder neue Handlungsmöglichkeiten probieren. Anhand von Geschichten lernen. Einfach da sein dürfen und sich angenommen fühlen, wenn es mal ganz schwer ist. Gemeinsam mit anderen nachdenken. In der Gruppe an der Stärkung von Gemeinschaft arbeiten. Arbeiten mit den Eltern und LehrerInnen, die Vernetzung mit außerschulischen Institutionen, der Austausch in Intervision oder Supervision, um den eigenen Blickwinkel zu erweitern … Die psychagogische Arbeit ist für mich unglaublich bunt, intensiv, sinn- und freudvoll, manchmal schwierig, aber jeden Tag auch für mich selbst ein Stück lehrreich und bereichernd. *Die Namen der Personen im Artikel sind verändert. Michaela Knor Psychagogin Rudolf Ekstein Zentrum Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik 35 I-JOURNAL Jänner 2017 Trauma oder Erziehung? Aspekte eines Dilemmas in der Förderklassen-Arbeit In den letzten Jahren hat der Begriff des Traumas innerhalb der Pädagogik einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Angestoßen durch Forschungsergebnisse der Psychotraumatologie und der Hirnforschung entstand der Versuch, diese für den Bereich der Pädagogik fruchtbar zu machen. In Folge entwickelte sich der eigenständige Bereich der Traumapädagogik, der sich speziell mit dem Problem der Erziehung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Diese neue Konzeption der pädagogischen Arbeit knüpft an ältere Denktraditionen an, die innerhalb der Pädagogik schon seit geraumer Zeit ihre Wirkung entfaltet haben, wie etwa an die humanistischen Schulen der Psychotherapie oder auch an die anthropologischen Konzepte der Reformpädagogik. Im Zentrum steht dabei die Forderung nach einer möglichst empathischen, wertschätzenden Haltung gegenüber dem Kind (BAG Traumapädagik, 2011, S. 5). Für die Verhaltensgestörtenpädagogik stellt diese neue Entwicklung eine besondere Herausforderung dar. Denn bisher wurden die Konzepte „Trauma“ und „Traumapädagogik“ in der einschlägigen Grundlagenliteratur nicht berücksichtigt (Gasteiger-Klicpera et al., 2008; Myschker & Stein, 2013), doch gleichzeitig gibt es Versuche, mithilfe des Traumakonzeptes einen eigenständigen pädagogischen Zugang in diesem Bereich zu entwickeln. In den diesbezüglichen Handbüchern fehlen sowohl im Bereich der Diagnostik als auch im Bereich der Interventionen Hinweise auf den Traumabegriff. Diesen Bemühungen, den Traumabegriff in der Pädagogik einzuführen, stehen gewichtige Argumente entgegen. Denn dieser entfaltet gerade im Feld der pädagogischen Theorie eigenwillige Dilemmata, welche wiederum auf seine mehrfache Problematiken hinweisen. Denn mit dem Begriff des Traumas ist die pädagogische Forderung nach Schutz des Kindes vor Retraumatisierung verbunden. Demgegenüber steht aber die pädagogische Forderung nach Integration in die Gruppe sowie nach Übernahme der normativen Grundlagen der Gruppe. Soll das zu erziehende Kind, dem ein Trauma wiederfahren ist, geschützt werden oder muss selbst das traumatisierte Kind die Forderungen der Gruppe akzeptieren und diese verinnerlichen? Dieses Dilemma entfaltet sich in Förderklassen, wie sich auch in der Reflexion und im Erfahrungsaustausch gezeigt hat, noch gravierender. Unterschiedliche Standpunkte in Bezug auf diese Fragestellung bringen auch unterschiedliche Herangehensweisen und erzieherische Praktiken hervor, die durchaus in Konflikt miteinander treten können. Es gibt drei Achsen, anhand derer eine Kritik am Traumakonzept entwickelt werden kann: 1. die Begriffsextension 2. der Begriffsinhalt 3. die pädagogischen Konsequenzen des Begriffs Anhand eines Fallbeispiels sollen diese drei Problemkreise konkret dargestellt werden. Dadurch kann verdeutlicht werden, wo die Probleme der Traumakonzeption in diesem Sinne zu sehen sind. 36 I-JOURNAL Jänner 2017 1. Begriffsextension Der Begriff „Trauma“ wird im pädagogischen Kontext in zunehmendem Maße verwendet. Die Zuschreibung, dass eine Schülerin bzw. ein Schüler traumatisiert wäre, wird von Kolleginnen und Kollegen recht leichtfertig getroffen. Hier deutet sich schon eine erste inhaltliche Problematik des Begriffs an, da augenscheinlich unterschiedliche Intensionen mit dem Begriff Trauma verbunden sind. Als traumatisierte Schülerinnen und Schüler sollten nur jene beschrieben werden, die tatsächlich Merkmale einer Traumatisierung aufweisen. Diese Feststellung mag banal klingen, in der Praxis erscheint dies als herausfordernde Aufgabe. Um es noch weiter zu verengen: Letztendlich wären nur jene Schülerinnen und Schüler als traumatisiert zu beschreiben, die eine psychiatrische Diagnose im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aufweisen. Eine solche Diagnose wiederum ist nur von Ärzten, insbesondere Psychiatern, von klinischen Psychologen und Psychotherapeuten zu stellen. Der Pädagoge ist in der Arbeit somit auf die Diagnosestellung anderer Systeme angewiesen. Ein Eindruck, der sich in der Arbeit vor allem mit verhaltensgestörten Kindern ergibt, ist, dass die Extension des Begriffs in der Praxis deutlich jene Grenzen überschreitet, die ihm eigentlich vorgegeben wären. Exemplarisch formuliert dies etwa Jochen Willerscheidt: „Nahezu alle unsere SchülerInnen zeigen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).“ (2008, S. 57) Tatsächlich zeigt aber die Erfahrung, dass nur die wenigsten Schülerinnen und Schüler in Förderklassen tatsächlich eine diagnostizierte PTBS aufweisen. Die Zuschreibung eines Traumas wird somit oft in einer unsachgemäßen und ungerechtfertigten Weise vollzogen. Das ist aber kein rein quantitatives Problem. Diese über seine eigentlichen Grenzen hinausgehende Verwendung hat durchaus praxisbezogene Konsequenzen, wie sich in Folge noch zeigen wird. Insbesondere bedeutet das nämlich, dass den Schülerinnen und Schülern gegenüber in der pädagogischen Arbeit eine Haltung eingenommen wird, die problematische Folgen haben kann. 2. Begriffsintension Mit der Problematik der Begriffsextension deutete sich schon eine tiefergreifende Problematik der Begriffsintension an. Denn scheinbar werden sowohl in der Alltagssprache als auch im professionell-pädagogischen Verständnis die Begriffe Trauma, traumatisierende Erfahrung o.ä. in unterschiedlicher Weise verwendet. Die wohl naheliegendste Definition ist jene des in Europa gültigen Diagnose-Klassifikationsschemas der Weltgesundheitsorganisation. Demnach wird ein „…belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, als traumatisierendes Ereignis definiert. Neben dem Vorhandensein eines solchen Ereignisses muss der Patient eine eng umschriebene Symptomatik aufweisen, um eine PTBS zu diagnostizieren: a. Wiedererinnerung: Das Trauma wird in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten, wiedererlebt. b. Vermeidung: Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. c. Erhöhtes Erregungsniveau: ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung. Diese doch sehr spezifische Symptomatik unterscheidet sich jedoch in vielerlei Hinsicht von der gesamten Palette an Störungsbildern, die einem in einer Förderklasse begegnen. Die These, dass alle Schülerinnen 37 I-JOURNAL Jänner 2017 und Schüler in Förderklassen eine PTBS aufweisen würden, kann vor dem Hintergrund dieser recht engen, psychiatrischen Definition nicht standhalten. Des Weiteren ist in der sprachlichen Praxis oft unklar, ob man, wenn man von Trauma spricht, ein Ereignis meint, dass geeignet ist, eine PTBS auszulösen, oder ob man die spezifische Symptomatik der PTBS meint. Wichtig festzuhalten ist, dass nicht jedes Trauma, also belastendes Ereignis, eine PTBS auslösen muss. Eine Vermutung ist jedoch, dass aufgrund der Komorbidität etwa mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung eigentlich dieses Syndrom benannt werden soll, mit dem besonderen Hinweis, dass das Kind aufgrund seiner Geschichte solche Symptome aufweisen würde. Auch hier befinden wir uns aber in einem problematischen Bereich, da die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen für Kinder und Jugendliche von den zuständigen Experten in der Regel abgelehnt wird. Die PTBS von Persönlichkeitsstörungen diagnostisch zu trennen ist eine schwierige Aufgabe, da die Komorbidität relativ hoch ist. Dennoch verweist das offensichtliche Bedürfnis der Pädagogik nach einem Traumabegriff auf eine Problematik im pädagogischen Diskurs, denn immerhin findet eine allmähliche Verschiebung vom Konzept der Störung zum Begriff des Traumas statt. Die Schwierigkeiten, die der Begriff der Störung mit sich bringt (Myschker & Stein, 2013, S. 46ff.), scheinen mit dem Traumabegriff umschifft zu werden: Der Mangel, der mit dem Begriff der Störung ausgesprochen wird, beunruhigte schon lange Zeit einen Teil der Pädagogen. Eine fast einseitige Orientierung hin zu den sogenannten Ressourcen des Kindes schien in vielerlei Hinsicht dieser Störungsperspektive entgegen zu stehen. Nun scheint der Traumabegriff diesen Mangel, den eine Verhaltensstörung im sozialen Kontext darstellt, nicht ansprechen zu müssen. Die Verantwortung, die durch den Begriff der Störung vordergründig auf dem Kind lastet, soll damit verschoben werden. Als Erklärung, warum ein Kind ein antisoziales, aggressives oder vielleicht auch selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag legt, dient nun das traumatische Ereignis. Andere Erklärungsversuche, wie etwa ein Determinismus der Psyche, haben damit keinen Platz mehr. Tatsächlich scheint sich hier eine paradigmatische Wende oder zumindest eine Verschiebung anzukündigen. In Frage steht, ob wir weiterhin von einer Störung des Kindes sprechen können. Mit der Gegnerschaft zum Störungsbegriff werden außerdem jene pädagogischen Konzepte, die sich nicht von diesem Begriff verabschieden wollen, ins Abseits gedrängt. Eine dieser Konzeptionen ist die psychoanalytisch geprägte Pädagogik. Und es ist gerade die Psychoanalyse, die wiederum eine eigene Geschichte mit der Traumatheorie verbindet. Während Freud zunächst noch von einer traumatisierenden, inzestuösen, sexuellen Erfahrung als Ursprung der Neurose ausging, musste er diese Verführungstheorie später fallen lassen. Die Triebtheorie ersetzte in weiten Strecken die Verführungsthese, wobei, wie Freud selber bemerkte, er die Traumatheorie nie vollständig aufgab. Sándor Ferenczi war es, der dem Trauma wieder mehr Bedeutung beigemessen hatte. Auf ihn sowie auf die Objektbeziehungstheorie beziehen sich die modernen psychoanalytischen Annäherungen an den Traumabegriff. Diese psychoanalytische Hinwendung zum Trauma wird oftmals als Abkehr von der Triebtheorie und als paradigmatische Erneuerung im Sinne einer relationalen Psychoanalyse verstanden. (Hirsch o.J., S. 16) Aber es gibt auch Kritik innerhalb der Psychoanalyse an dieser Rückkehr zum Trauma. So stellt etwa Stavros Mentzos (2013, S. 38f.) der Traumatheorie die Konflikttheorie gegenüber und gibt letzterer den Vorzug: „Auf Dauer gesehen wirkt sich also ein Trauma sehr oft vorwiegend darüber aus, dass es eine optimale Überwindung der Grundkonflikte verunmöglicht.“ (S. 39) 38 I-JOURNAL Jänner 2017 Doch nicht nur auf einer klinischen Ebene, sondern auch auf einer metapsychologischen Ebene gibt es gewichtige Argumente gegen die Traumatheorie. Eines dieser Argumente bezieht sich auf den psychologischen Determinismus: Wenn man davon ausgeht, dass das Verhalten, Fühlen und Erleben nicht von Zufall und letztendlich auch nicht von Erfahrung in einem naiv-positivistischen Sinne geprägt sind, sondern von psychischen Abläufen, dann kann das traumatische Ereignis nur akzidentiellen Charakter haben. Ein weiteres Argument bezieht sich auf den Status von Handlung, Beziehung und Psyche. Denn während unbestritten ist, dass es zwischen den Elementen, also sprich dem Subjekt und seinen Objekten, Relationen und damit auch Beziehungen gibt, so kann die Qualität dieser Beziehungen nur in Rückführung auf eine Struktur erklärt werden. Die Pathologie als eine reine Beziehungspathologie zu begreifen, erscheint demnach als unbefriedigend. Diese kurzen Hinweise sollen verdeutlichen, dass der Traumabegriff inhaltlich grobe Probleme aufweist. Klar wurde außerdem, dass er vor allem dazu dient, dem Begriff der Störung auszuweichen. Dies hat auch in der pädagogischen Praxis unmittelbare Konsequenzen. 3. Pädagogische Praxis Wie wir also gesehen haben, verweist der Aufschwung des Traumakonzeptes auf eine problematische Situation in der pädagogischen Praxis. Der Pathologie wird ausgewichen, die Störung wird nun nicht mehr als Mangel verstanden, die mühsame Anstrengung, fragmentierte Symptome zu einem sinnvollen und sinngebenden Bild zusammenzustückeln wird vermieden und alles wird auf das Zentrum „traumatisierendes Ereignis“ hin gedeutet. Aus dieser Konzeption resultiert auch eine bestimmte pädagogische Haltung, die wie folgt zusammengefasst werden kann (BAG Traumapädagogik, 2011): 1. Annahme eines guten Grundes: Eine Würdigung und Wertschätzung der notwendig gewordenen Verhaltensweisen 2. Wertschätzung: Gestaltung eines sicheren Rahmens 3. Partizipation: Erleben von Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit 4. Transparenz: Ort der Berechenbarkeit 5. Spaß und Freude: die Freudenseite beleben Die Empathie gegenüber dem Kind und seiner Symptomatik wird hier als Gewährenlassen gedeutet, auch vor dem Hintergrund einer möglichen Retraumatisierung zu verhindern. Die Forderung der Traumapädagogik nach einer Würdigung und Wertschätzung des Verhaltens von Schülerinnen und Schülern eröffnet somit ein fundamentales Dilemma: Soll im Rahmen einer solchen Haltung aggressivem und antisozialem Verhalten wertschätzend begegnet werden? Auch wenn man im Rahmen des Störungsbegriffs arbeitet, ist Empathie notwendig. Auch hier erweist sich das Symptom als unumgänglicher Zugang zur unbewussten Struktur der Situation. Auch hier muss auf einer Metaebene das Symptom als notwendiges Element begriffen werden, das der Schüler in dieser Situation unbedingt braucht. Doch auf der praktischen Ebene kann diesem Verhalten nicht permissiv begegnet werden, denn Erziehung, vor allem im Bereich der Förderklasse, bedeutet auch Anordnung: „Erziehung beinhaltet ihrem Wesen nach auch Zwang. Eine Erwachsenengeneration, die auf das verzichtet, was Kinder als Zwang erleben könnten, verabschiedet sich gleichzeitig vom Erziehungsgedanken selbst.“ (Ahrbeck, 2004, S. 77) Und um Freud zu zitieren: „Die Erziehung muss also hemmen, verbieten, unterdrücken.“ (Freud, 1933a, S. 160) Doch es scheint auch unbewusste Strukturen im pädagogischen Diskurs selbst zu geben, die den Traumabegriff als Symptom notwendig machen. Denn im Prozess der Selbstreflexion der pädagogischen Praxis versucht man, mit der Betonung des Traumas und der daraus abgeleiteten Haltung, die eigenen aggres39 I-JOURNAL Jänner 2017 siven Affekte, die Teil des Erziehungsgeschehens (Bernfeld, 1973, S. 54ff.) sind, zu leugnen. Erziehung wird als konfliktfreier Prozess, der sich voll und ganz an den Bedürfnisses der Schülerinnen und Schüler orientiert, dargestellt. Letztendlich wurde dieser Prozess von der Reformpädagogik eingeleitet. Gerade in Bezug auf die Konsequenzen in der pädagogischen Praxis erhärtet sich der Verdacht, dass es sich bei dem Traumabegriff, wie er in der Pädagogik Eingang gefunden hat, um ein Zurückweichen vor den Aufgaben der Erziehung handelt. 4. Falldarstellung Anhand einer konkreten Falldarstellung soll nun die Problematik des Traumabegriffs konkretisiert werden. Dabei sollen Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen gefunden werden. 4.1. Eröffnung Marcel (13) wurde der Förderklasse zugewiesen, ohne dass ein Erstgespräch mit dem Lehrerteam stattfand. Ein ungewöhnlicher Vorgang, der keineswegs dem festgelegten Prozedere der Aufnahme eines Schülers in die Sondererziehungsschule entspricht. Doch äußerte sich in dieser Form der Aufnahme schon die Problematik des Schülers auf der einen Seite und die Ratlosigkeit der Institutionen im Umgang mit ihm auf der anderen: Er ruft eine ständige Überforderung bei den mit ihm befassten Institutionen und Personen hervor, die sich aber dennoch dazu gezwungen sehen, auf seine Wünsche einzugehen, um ihn dann wieder Abzustoßen. Im Laufe der gemeinsamen Arbeit in dem Dreieck Lehrer - Schüler – Wohngemeinschaft (Marcel war fremduntergebracht) zeichnete sich alsbald ein Konflikt mit der Wohngemeinschaft ab. Dieser Konflikt ist sinnvoller Weise im psychoanalytischen Sinne als Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen zu interpretieren. Doch jenseits dieser notwendig zu leistenden Leseart gab es auch sachliche Gründe, warum sich die Zusammenarbeit zwischen dem Lehrerteam und der sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft, in der Marcel untergebracht war, so schwierig gestaltete. Die Wohngemeinschaft ging grundsätzlich von einer Traumatisierung des Schülers aus und richtete alle Interventionen auf diese Kategorie hin aus. Der Schutz des Schülers sowie die Orientierung hin auf seine Ressourcen waren das Credo seiner Bezugsbetreuer. Dies stand im Gegensatz zu den Forderungen, die das Lehrerteam an den Schüler stellte. 4.2. Symptomatik Auch der Eintritt des Schülers in die Förderklasse verlief entsprechend turbulent. Äußerst kurze Arbeitsphasen wurden abgelöst von ausagierenden, aggressiven Perioden, in denen Marcel kaum in der Klasse zu halten war. Das Verlassen des Klassenzimmers war dabei oft begleitet von imponierenden Gesten, wie etwa dem mehrmaligen Zuschlagen der Türe und dem Umwerfen von Mobiliar. Im Verlauf des Besuchs in der Förderklasse beschädigte er zwei Türen und einen Schülertisch. Immer wieder drohte er damit, aus dem Fenster zu springen und sich das Leben zu nehmen. Er bedrohte Mitschüler und Lehrer, warf Möbeln, Scheren und anderen Gegenständen durch die Klasse. Schon geringe Anforderungen lösten bei ihm Widerwillen und Ablehnung gegen die Klassengemeinschaft und das Lehrerteam aus. In den ausagierenden Phasen war die psychische Regression auf vielen Ebenen ersichtlich: Seine Sprache nahm Dimensionen des Kleinkindhaften an, sowohl in der Struktur als auch in ihrem Klang. Bedingt durch eine leichte Fehlstellung der Zähne ergänzte ein ständiger Speichelfluss das Bild des zum Kleinkind Regredierten. Eine der Szenen spielte sich folgendermaßen ab: Es war Zehn-Uhr-Pause und die Schülerinnen und Schüler hatten Zeit, um sich selbst zu beschäftigen. Marcel schrieb einen Brief an seine Mutter, wie er bereit40 I-JOURNAL Jänner 2017 willig, ja fast aufdringlich der gesamten Klasse und seinen Lehrern mitteilte, in dem er unter anderem die gemeinsamen Urlaubspläne mit ihr besprechen wollte. Bei ihm entwickelte sich die Phantasie, dass er an einen exotischen Ort mit der Mutter fahren könnte, den er sofort im Internet recherchieren wollte. Er verlangte von den Lehrern, an den Computer zu dürfen, was aber den Regeln der Klasse widersprach. Als ihm dieses Verlangen verwehrt wurde, stellte sich sofort Frustration ein. Seine aggressiven Gefühle, vor allem aber auch seine Angst, von der Mutter getrennt zu werden, mussten abgewehrt werden, und aus diesem Mechanismus heraus brauchte er die Lehrer und Mitschüler als böses Objekt, das ihm den Zugang zur Wunscherfüllung verwehren würde. „Wie soll ich mit meiner Mutter in den Urlaub fahren? Ihr verhindert das.“ Die Angst, dass der Urlaub mit der Mutter doch nicht zustanden kommen könnte, war gegenwärtig. Diese Angst war für Marcel unerträglich und die Lehrer wurden dafür verantwortlich gemacht: „Wenn ihr mich nicht zum Computer lasst, kann ich nicht fahren!“ Zornig stand er auf, rannte aus dem Klassenzimmer und schlug die Tür mehrmals lautstark zu. Am Gang wütete er dann noch und warf mit Sesseln um sich. Nach einer anderen Sequenz, bei der Marcel andere Schüler bedrohte, verwiesen die Lehrer ihn aus der Klasse. Die Zeit außerhalb der Klasse zu verbringen war für ihn aber ebenfalls unerträglich und so drängte er wieder darauf, zurück in die Klasse zu dürfen. Das Lehrerteam untersagte ihm das aber, in der Absicht, die auf eine gewisse Zeit beschränkte Trennung zwischen ihm und der Klasse weiter aufrecht zu erhalten. Doch diese Trennung wurde für den Schüler immer unerträglicher und der Wunsch, entgegen der Aufforderung der Lehrer trotzdem in die Klasse zu kommen, immer drängender. Zunächst versuchte er es mit Gewalt, doch als das nicht gelang, ließ er sich auf die Knie fallen und bellte und jaulte wie ein Hund. Auf den Knien jaulend bat er erneut um Einlass. In dieser Szene ist der verzweifelte Wunsch des Schülers nach einer haltgebenden Beziehung, der bis hin zur Selbsterniedrigung geht, verschmolzen mit regredierenden Formen der Abwehr. Handelt es sich bei dieser Symptomatik um ein traumatisiertes Kind im oben genannten Sinne? Diese Frage muss in mehrfacher Hinsicht unterschiedlich beantwortet werden: 1. Eine PTBS in der eng umgrenzten, beschriebenen Form lag bei Marcel nicht vor. Manche seiner Symptome könnten zwar in die Richtung interpretiert werden, doch reichte dies keinesfalls für eine solche Diagnose aus. 2. Wenn man den Begriff Trauma als einen versteckten Verweis auf eine Persönlichkeitsstörung deuten will, dann würde man in diesem Fall einen gewissen Teil der Wahrheit abdecken. Doch wird in den Schilderungen vielleicht spürbar, wie wenig befriedigend diese Zuschreibung ist. 3. Vor allem in Hinblick auf die sich daraus ergebenden pädagogischen Konsequenzen, hatte die Zuschreibung „traumatisiertes Kind“ problematische Folgen. 4.3. Hintergrund Marcel wuchs bei seiner Mutter auf, die Eltern ließen sich schon früh scheiden. Die Mutter lebt in einer neuen Lebensgemeinschaft mit einem Mann, der Kontakt zu seinem Vater verläuft sporadisch und ist geprägt von Konflikten. Ein halbes Jahr lang verweigerte der Vater den Kontakt, da Marcel ihn im Streit geschlagen hatte. In den Schilderungen der Mutter von Marcels Kindheit wurde ihre Überforderung schnell deutlich. Sie konnte die Anforderungen, die das Kind an sie stellte, nicht ausreichend befriedigen. Die ständige Frustration des Kindes steigerte sich bei ihm in eine verschlingende Gier. Eine Verarbeitung der bösen, bedrohlichen Elemente konnte nicht stattfinden. Im Alter von sieben Jahren fiel Marcel in der Schule schon durch parasuizidales Verhalten auf und wurde daher in das Krankenhaus Rosenhügel eingeliefert. Nach einer viermonatigen psychiatrischen Behandlung wurde er wieder entlassen. 41 I-JOURNAL Jänner 2017 Aufgrund der Überforderung der Mutter wurde ihr Marcel auf eigenen Wunsch hin abgenommen. Einige Jahre lang lebte er in einer Wohngemeinschaft der MAG 11, beschult wurde er in einer Förderklasse. Nach jahrelanger Psychotherapie des Kindes und begleitender Unterstützung der Eltern im Institut für Erziehungshilfe wurde Marcel im September 2012 in seine Herkunftsfamilie zurückgeführt. Ein Jahr darauf folgte die Rückführung von der Förderklasse in das Regelschulwesen. Doch schon im März 2015 eskalierte die Situation ein weiteres Mal. Die Mutter sah sich gezwungen, Marcel abermals an das Krisenzentrum abzugeben. Seit Juni 2015 ist er in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft fremduntergebracht. Kann in der Biographie des Schülers so etwas wie ein Trauma ausgemacht werden? Auch diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Sicherlich birgt die Trennung von der Mutter sowie die Kindesabnahme durch die MAG 11 das Risiko einer Traumatisierung. Insofern können durchaus Ereignisse in seiner Biographie gefunden werden, die man als Traumata qualifizieren könnte. Doch hier ist die Unterscheidung zwischen traumatischem Ereignis und der PTBS als Symptomatik aufseiten des Schülers relevant. Eine solche Symptomatik kann bei Marcel nicht wirklich auf befriedigende Weise festgestellt werden. Daher stellt sich die Frage, wie sinnvoll es wäre, in seiner Biographie traumatische Ereignisse zu beschreiben. Die Trennung von der Mutter ist wohl der entscheidende Moment in der Entwicklung seiner Störung, doch dies als Trauma aufzufassen, versperrt eher den Zugang zu seiner Problematik. Ein sinnvoller Weg wäre es, dies als einen Aspekt seines Grundkonfliktes zu beschreiben. 4.4. Die Problematik Wenn wir uns dafür entscheiden, die Störung anhand eines Grundkonflikts zu beschreiben, dann ergeben sich neue Wege in der Auseinandersetzung mit dem Schüler. Der Grundkonflikt, mit dem Marcel zu kämpfen hat, ist die Unerträglichkeit der Angst vor Objektverlust auf der einen Seite und die Aggression gegen dieses nicht haltgebende Objekt auf der anderen Seite. In seiner Symptomatik ist dieser Grundkonflikt variantenreich ausgeprägt. Dies verweist zwar auf eine Pathologie auf der Beziehungsebene, doch für diese Belange ist diese Sichtweise durchaus ausreichend. Ein Teil der Problematik kann als übersteigerter Wunsch nach der „guten“ Mutterbrust gesehen werden, jener Mutterbrust, die ihm doch immer wieder verwehrt wurde. Dies deutet unter anderem auch an, dass es sich bei Marcels Pathologie um eine frühe Störung handelt. Diese Gier nach der Mutterbrust hat sich im Schulsystem in erster Linie als ein Verschlingen an Ressourcen geäußert. So genoss Marcel schon in der Schule, die er vor der Förderklasse besuchte, Einzelbetreuung. Um dies innerhalb des Schulbetriebs zu ermöglichen, wurden die Stundenpläne der Lehrer extra dafür ausgerichtet. Auch die Förderklasse stand ihm als Ressource ursprünglich nicht zur Verfügung, sondern er hat sich diese einfach genommen. Die sozialtherapeutische Wohngemeinschaft, in der er untergebracht ist, stellt ebenfalls eine intensivere Ressourcennutzung dar, als eine gewöhnliche Wohngemeinschaft der MAG 11. Als grundlegende Problematik können jene Konflikte identifiziert werden, die sich aus der vorödipalen Struktur ergeben haben. In der Übertragung und Gegenübertragung stellt Marcel ständig seine Beziehungen auf die Probe, ob diese die von ihm gesetzte Belastung überstehen. Sein aggressives Verhalten wirkt zumindest streckenweise weniger affektgeladen als vielmehr instrumentalisierend. Immer wieder kann man bei dem Schüler selbst in Situationen, die sehr verzweifelt wirken, ein Lächeln beobachten. In den Sequenzen agiert der Schüler seinen Wunsch aus, dass alle bedingungslos zu ihm stehen müssen, einen Wunsch, der ihn seit der Abgabe der Mutter ständig begleitet. In der Abwehr dieser Konflikte und Probleme stützt sich Marcel hauptsächlich auf sehr unreife Mechanismen. Eine der augenfälligsten ist die Regression, in der er kleinkindhafte Züge annimmt, um in der Gegenübertragung fürsorgliche Gefühle auszulösen. Ein weiterer Abwehrmechanismus ist die Gegenreaktion: In der Angst, das haltgebende Objekt zu verlieren, muss er es vorher selbst zerstören. 42 I-JOURNAL Jänner 2017 Ist dem Schüler gegenüber in diesem Fall unbedingt wertschätzend und permissiv zu begegnen? Soll er seine ausagierenden Phasen an einem sicheren Ort ausleben können? Hier wird der Kontrast zur Traumapädagogik vielleicht besonders deutlich: Denn obwohl aus psychoanalytischer Sicht das Symptom den Charakter einer Notwendigkeit aufweist, so kann die paradoxe Aufgabe der psychoanalytischen Pädagogik nicht darin bestehen, diese psychische Notwendigkeit gewähren zu lassen. Gerade die Begrenzung der zerstörerischen Kraft dieses derzeit noch notwendigen Symptoms ist die Aufgabe der Erziehung. Noch konkreter auf das Fallbeispiel bezogen, bestand die Pathologie des Schülers vor allem in seiner unnachgiebigen Gier nach Liebe und Zuwendung in der Übertragung. Das einfache Zugeständnis, ohne eine Brüchigkeit zu erzeugen, hätte die Symptomatik wohl eher weiter unterstützt. 5. Schlussfolgerungen Anhand des Fallbeispiels konnte verdeutlicht werden, wo die Problemfelder und die damit verbundenen theoretischen und praktischen Dilemmata des Begriffs „Trauma“ liegen. Konkret lassen sich drei Achsen der Kritik nennen: 1. Der Begriff will zu viel: Als Trauma wird in der pädagogischen Praxis nicht nur die PTBS bezeichnet. Damit nimmt er aber mehr in Anspruch, als er tatsächlich leisten kann. 2. Der Begriff verweist auf etwas Anderes: Konkret werden damit oft schwerwiegendere Persönlichkeitsstörungen bezeichnet. 3. Der Begriff unterminiert Erziehung: Mit dem Begriff werden die Erziehungsaufgaben nur widerwillig wahrgenommen oder anders gedeutet. Bei der Verwendung des Begriffs „Trauma“ ist also Vorsicht geboten. Vor allem auf Seiten der Pädagogen sollte genau reflektiert werden, ob tatsächliche sachliche Gründe für eine solche Bezeichnung bestehen und welche Gründe, auch im Übertragungsgeschehen, dazu geführt haben, ein Kind als traumatisiert zu bezeichnen. Sebastian Baryli Literatur: Ahrbeck, B. (2004). Kinder brauchen Erziehung: Die vergessene pädagogische Verantwortung. Stuttgart: Kohlhammer. BAG Traumapädagogik. (2011). Standards für traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Ein Positionspapier der BAG Traumapädagogik. Bernfeld, S. (1973). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Freud, S. (1933a). Neue Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV. Gasteiger-Klicpera, B., Julius, H., Klicpera, C. (Hrsg.). (2008). Handbuch der Sonderpädagogik: Band 3: Sonderpädagogik der sozialen und emotionalen Entwicklung. Göttingen, Bern, Wien, Paris, Oxford, Prag, Toronto, Cambridge, Amsterdam, Kopenhagen: Hogrefe. Hirsch, M. (o.J.). Die Geschichte des Traumabegriffs in der Psychoanalyse. Verfügbar unter http://www.uniklinik-duesseldorf.de/fileadmin/Datenpool/einrichtungen/klinisches_institut_fuer_psychosomatische_medizin_und_psychotherapie_id70/dateien/hirsch_geschichte_traumabegriff.pdf [12.09.2016] Mentzos, S. (2009). Lehrbuch der Psychodynamik: Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Myschker, N., Stein, R. (2013). Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Erscheinungsformen - Ursachen - Hilfreiche Maßnahmen (7., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer. Willerscheidt, J. (2008). Ist die Integration von SchülerInnen mit Verhaltensstörungen möglich? Heilpädagogik online, 7(2), 53–65. 43 I-JOURNAL Jänner 2017 Zwischen-Welten Eine Beratungslehrerin sollte eine Art eierlegendes Wollmilchschwein sein (laut Wikipedia eine „umgangssprachliche Bezeichnung für eine Person „die nur Vorteile hat, alle Bedürfnisse befriedigt und allen Ansprüchen genügt“). Ein Allround-Joker, der im Problemfall eingeschaltet wird und dann alle unerwünschten Krümmungen geradebiegt. Darum ist es einer der ersten Schritte in der Arbeit an einer Einsatzschule, die eigene Rolle und die damit verbunden Möglichkeiten möglichst klar zu transportieren. Als Beratungslehrerin beschäftige ich mich mit der integrativen Betreuung von SchülerInnen mit Verhaltensproblemen. Ziel dabei ist unter Anderem, den Kindern einen weiteren Schulverbleib im Regelschulsystem zu ermöglichen. Meisten geschieht das in Form von mittelfristigen Interventionen, manchmal ist aber auch eine längerfristige Betreuung notwendig. Wobei es meistens nicht funktioniert, ein Individuum – „den Symptomträger“ isoliert vom Gesamtzusammenhang zu verändern. Der Einzelfall kann nur im Beziehungsgeflecht der Klasse/Schule/Familie gesehen werden. Die Zusammenarbeit mit LehrerInnen, Erziehungberechtigten und anderen befassten Personen ist notwendig. Eine meiner längerfristigeren Begleitungen möchte ich hier kurz vorstellen. „Frau Lehrerin, Mile hat …!“ Mile wurde mir in der zweiten Klasse NMS vorgestellt. Die klassenführende Lehrerin war schon sehr verzweifelt und ratlos und auch ziemlich unter Druck von den KollegInnen. Mile störte dauernd den Unterricht durch provokante Bemerkungen gegenüber MitschülerInnen und lautstarke Austragung der dadurch entstehenden Konflikte. In der Pause gab es Raufereien und oft eine verwüstete Klasse. Mile war auch mir schon vorher aufgefallen durch seine große, kräftige und schon sehr männliche Erscheinung. Der ganze Gang mit vier Klassen hatte Angst vor ihm, was er sichtlich genoss und teilweise ein „Schutzgeld“ einforderte, damit er die anderen Kinder nicht verprügelte. „Frau Lehrerin, Mile hat….“ war oft gehörtes Anliegen aufgebrachter Kinder. Ich versuche, von Fall zu Fall immer wieder die Erwartungen und den Beratungsverlauf gut abzusprechen und abzuklären. Manchmal ist es vielleicht auch ein wenig unklar, wer der/die KlientIn ist – der/die ÜbermittlerIn oder der übermittelte Fall. Was soll mit der Anbindung eines Schülers/einer Schülerin an die Beratungslehrerin erreicht werden? Meine erste Frage lautet immer „was wünscht du dir?“ Miles klassenführende Lehrerin sprach mich in der Hoffnung an, dass Mile vielleicht in den Gesprächen mit mir lernen könnte, nicht so aufbrausend und gewalttätig zu sein. Sie meinte auch, dass es ihm gut täte, wenn er mit jemandem seine Probleme besprechen könnte. Eine andere Lehrerin hatte ein wenig Angst vor ihm und erhoffte sich vor allem, dass ich ihn möglichst in ihren Stunden herausnehmen werde, damit sie in Ruhe unterrichten kann. Ein dritter Lehrer erhoffte sich eine Verlegung in eine Förderklasse, da er meinte, Mile gehört nicht in die normale Mittelschule. Der Rest des Teams war zwar genervt von Mile, aber durchaus bereit, ihm eine Chance zu geben. Um eine Kooperation möglich zu machen, sollten diese – manchmal divergierenden – Erwartungen besprochen werden. (vgl.Arist von Schlippe „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung“ 2003). Im Gespräch mit den LehrerInnen haben wir dann entschieden, dass wir den Versuch wagen und alle ihm zumindest ein Semester Zeit geben, um etwas zu verändern. Die Reaktion der MitschülerInnen auf Mile`s Eskapaden schwankte zwischen Angst und Verdruss und einer gewissen Faszination darüber, „was der sich traut“. Manche Burschen biederten sich an, um an seiner Macht teil zu haben und seinen Schutz zu genießen. Es wurde sicherlich auch genau beobachtet, wie weit er gehen konnte und wie die LehrerInnen darauf reagierten. Manchmal blitzten wie ein leichter Lichtschein seine Aufrichtigkeit, sein Gerechtigkeitsempfinden und sein Charme durch die harte Schale und manche MitschülerInnen und LehrerInnen mochten ihn auch. 44 I-JOURNAL Jänner 2017 Zur „Psychotante“ Die Zeit, die notwendig gewesen wäre, um alle Vorfälle immer in Ruhe mit Mile zu besprechen, ist in der Schule selten vorhanden, die LehrerInnen müssen in die nächste Klasse, zur Gangaufsicht, brauchen auch einmal eine Verschnaufpause. Als Beratungslehrerin habe ich die räumlichen und zeitlichen Ressourcen, um ausführlich und in Ruhe mit einem Kind zu sprechen. Beim ersten Termin mit mir war Mile sowohl neugierig, als auch widerspenstig. Er meinte, er wäre doch nicht verrückt, warum er zur „Psychotante“ gehen müsse. Er tigerte durch den Raum, sah sich alles an, nahm Spielsachen in die Hand, nahm gewissermaßen Besitz von meinen Sachen. Immer wieder schaute er zu mir, vermutlich um zu sehen, ob ich Angst habe, dass er was kaputt macht oder klaut. Nach einer Weile setzte er sich mit einem Holzpuzzle zu mir an den Tisch. Fast nebenbei redeten wir darüber, was ich von ihm will und warum er hier ist. Wir haben dann vereinbart, dass er doch zumindest die Chance nützen könnte, zu schauen, ob wir nicht doch gemeinsam eine Verbesserung seiner Situation hinbekommen. Da Mile in einer WG lebte und das Sorgerecht beim Jugendamt war, genügte ein kurzes Telefonat mit dem zuständigen Pädagogen, um das Einverständnis für eine integrative Betreuung zu erhalten. Die Mutter reagierte auf eine Einladung zu einem Gespräch mit einer Art müder Indifferenz - schon wieder eine Person mit Sozial- oder Psycho-irgendwas im Titel - aber sie war zum Austausch bereit, was leider etwas erschwert war durch die Tatsache, dass sie kaum Deutsch spricht. In dem mageren Dialog, den wir führten, äußerte sie vor allem die Meinung, die österreichische Schule wäre viel zu lasch und zu wenig streng. Bei der richtigen Hand würde Mile schon „funktionieren“. Ich hatte den Eindruck, sie dachte dabei an ihren Exmann, vor dem sie geflohen war und bei dem Mile vermutlich besser funktioniert hatte. Mile kam dann mindestens einmal pro Woche zu mir, und ich erfuhr auch seine Vorgeschichte: Mutter Ungarin, Vater slowakischer Roma. Mile und sein zwei Jahre jüngerer Bruder lebten bis zu Miles fünftem Lebensjahr in Kosice/Slowakei. Der Vater herrschte mit brutaler Hand, für jede kleine Verfehlung gab es Schläge. Deshalb floh die Mutter vor den massiven Gewaltausbrüchen mit den Kindern nach Wien. Mile wurde in Wien eingeschult und lebte mit Mutter und Bruder, lernte ziemlich schnell Deutsch und fiel vorerst nicht auf. Als er neun war, verständigte die Volksschule des Bruders das Jugendamt, weil dieser immer wieder Spuren von Schlägen aufwies. Es stellte sich heraus, dass Mile den kleinen Bruder häufig schlug, da er es zu seiner Aufgabe machte, als „ältester Mann“ in der Familie den Kleineren zu erziehen. Auch die Mutter hatte Angst vor ihm und wagte nicht, einzugreifen. Mile wurde in einem Krisenzentrum und dann in einer Wohngemeinschaft untergebracht. Bei der Anamnese versuche ich, die möglicherweise unterschiedlichen Wirklichkeiten der beteiligten Menschen zu erfragen. Informationen des Kindes, der Eltern, der LehrerInnen, der SozialarbeiterInnen, usw. können durchaus widersprüchlich sein oder das Augenmerk auf einen bestimmten Teilaspekt legen. Das möglichst breit zu sammeln ergibt ein umfassendes Bild. Ich bemühe mich, jede beteiligte Person in ihrer Wahrnehmung (Wirklichkeitskonstruktion) ernst zu nehmen. „Bestimmte Verhaltensweisen haben eine Geschichte und werden nur verstehbar, wenn wir uns die Mühe machen, die Zusammenhänge zu betrachten. Das Verständnis kausaler Verkettungen zwischen der Lebensgeschichte und den Symptomen des Schülers ermöglicht bei den Lehrern eine andere Einstellung dem Schüler gegenüber.“ (Dellisch 1985, S. 262) In Gesprächen mit Mile, den LehrerInnen, dem WG-Sozialpädagogen, der Mutter und der Jugendamtssozialarbeiterin kristallisierte sich langsam ein Bild heraus. Wobei vor allem Miles Selbstbild der Ausgangspunkt unserer Arbeit war. Sein Selbstbild war der starke Mile, der immer wieder unfair behandelt wurde und manchmal – seiner Meinung nach völlig zu Recht – für Gerechtigkeit kämpfen musste. Zirkuläre Fragen, was denn z.B. sein Betreuer oder die Mutter oder ein Mitschüler über einen bestimmten Vorfall erzählen würden, brachten sein Selbstbild manchmal ins Wanken und waren Anstoß zu vielen fruchtbaren Gesprächen. 45 I-JOURNAL Jänner 2017 Als ich ihn kennen lernte, war nach drei Jahren WG gerade die Rückführung in die Familie in Vorbereitung. Gleichzeitig wurde erstmals auch erlaubt, dass er ab und zu ein Wochenende und die Ferien bei seinem Vater in Kosice verbringen durfte. Seine Kindheitserfahrungen und jetzt all diese Veränderungen in seinem Leben waren wohl mit ein Grund für sein zunehmend auffälliges Verhalten in der Schule. Seine Impulskontrolle und Frustrationsschwelle erreichten eine bisher nicht da gewesene Tiefe und der kleinste Funke konnte ihn zur Explosion bringen. Die LehrerInnen konnten sich seine Ausbrüche oft nicht erklären, und Mile war in solchen Momenten auch nicht ansprechbar, schlug wild um sich und schimpfte obszön. Das machte ihm selber sicherlich auch Angst, wobei er es nicht so formuliert hätte, da er kein Vokabular für Gefühle hatte und sie bei sich und bei anderen kaum wahrnehmen konnte. Wer braucht schon Gefühle? Mile war auch sehr misstrauisch gegenüber Beziehungsanbahnungen der Lehrerin oder von mir. Manchmal hatte ich das Gefühl, er provozierte es geradezu, dass wir ihn fallen lassen oder bestrafen. Es gelang ihm nicht, darauf zu vertrauen, dass wir ihm Gutes wollen, ihn respektieren. Versuchsweise probierte er seinen Charme und auch seine Einschüchterungstaktiken an mir aus – beides durchaus wirksam – und achtete auf meine Reaktion. Es hat fast ein Vierteljahr gedauert, bis er sich auf eine Betreuungsbeziehung mit mir einlassen konnte und nicht mehr ständig provokant abtesten musste, wie ich auf welches Verhalten reagiere. Da er nur schwer erklären konnte, was in ihm vorging, wenn er in Konfliktsituationen geriet, weil er tatsächlich keine Worte hatte für seine Befindlichkeiten, war das Anfangsthema unserer gemeinsamen Arbeit „Gefühle“. An Hand unterschiedlicher Materialien und Spiele erarbeiteten wir einen Wortschatz für Gefühle, im Spiel übte er, Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen zu deuten und seine eigenen Signale zu erkennen. Dadurch entstand auch eine Empfindsamkeit seinen Gefühlen gegenüber. Er konnte sie besser wahrnehmen und dadurch auch ein bisschen besser kontrollieren. Mile wollte auch selber gerne verstehen, warum immer wieder alles so völlig außer Kontrolle geriet. Wir versuchten, Vorfälle in der Klasse zu analysieren – wie hat es angefangen, wo ist es eskaliert, was wäre eine Handlungsalternative gewesen mit welchem möglichen Ausgang. Es wurde deutlich, dass die Konflikte häufig aus einem Missverständnis heraus eskalierten und dass seiner Wut oft Gefühle von Angst oder Verunsicherung vorangingen. Bei simplen Meinungsverschiedenheiten hatte er schnell den Eindruck, andere machten sich über ihn lustig oder hielten ihn für dumm. Auch wenn eine Lehrerin ihn zurechtwies oder auf einen Fehler hinwies, kam er sofort in Bedrängnis. Ich vermute, da kam die Angst auf, sie könnten ihn „fallenlassen“. Da war dann schnell die Wut da. Er bezeichnete seine Wut als ein „wildes Pferd, das mit ihm durchgeht“. Dieses Bild bezeichnete sehr treffend seine Befindlichkeit in Krisensituationen, oft hatte ich ihn wie ein wildes, durchgehendes Pferd erlebt. Dieses Bild war sehr hilfreich für eine Zielformulierung: Er muss als Reiter dieses Wutpferd kontrollieren können, sonst wird es gefährlich für ihn und auch für andere. Die erste Zeit zurück bei Mutter und Bruder war intensiv begleitet vom Jugendamt durch mobile Arbeit mit Familien und einer Psychologin. In der Schule wurde es eher schwieriger, zu seiner Störung des Sozialverhaltens kamen auch noch Zu-Spät-Kommen und gelegentliches Schwänzen dazu. Die MitschülerInnen murrten über seine ständigen „Extrawürste“ ohne Strafkonsequenzen und erklärten es sich selber damit, dass er „halt im Kopf behindert ist“, was wieder Konflikte verursachte. Die LehrerInnen murrten über den Aufwand, den er einforderte. Immer wieder waren Gespräche im Team notwendig, um wieder die Bereitschaft aufzubringen, es weiter mit ihm zu versuchen. Abweichendes Verhalten und fehlende soziale Kompetenzen führen genauso oft zu frühzeitigem Bildungsabbruch wie Lernbeeinträchtigungen. (vgl. Nationaler Bildungsbericht 2015). Die langfristigen Konsequenzen eines fehlenden Schulabschlusses sind allen LehrerInnen bewusst, deshalb ist die Bereitschaft, ein Kind trotz aller Mühe „mitzutragen“, meistens doch sehr groß. Das Engagement der LehrerInnen stößt manchmal dort an die Grenzen, wo das Thema Schule, ihre Methoden und die Beziehung der um Intervention bemühten LehrerInnen zum Kind in den Fokus rückt. Mit manchen LehrerInnen lieferte Mile sich erbitterte Machtkämpfe, mit anderen wieder hatte er eine Art Waffenstillstand, so lange sie ihn möglichst wenig mit Anforderungen konfrontierten. Für seine Klassenvorständin war er sogar bereit, sich zumindest zu bemühen. In ihren Stunden gab es auch selten Eskalationen. 46 I-JOURNAL Jänner 2017 Miles Sichtweise war immer die Opferrolle. Die Anderen waren unfair, gemein, kränkend oder die LehrerInnen ungerecht. Damit begründete er meist sein Verhalten. Auch in den Gesprächen mit mir wurde er oft heftig aufbrausend und laut und war äußerst angespannt. Manchmal kam er in den Raum und musste erst einmal einige Male heftig gegen die Türe treten, ehe er erzählen konnte, was los war. Er selbst empfand sich häufig als verspannt und „innerlich bebend“ und dass „er seinen Körper nicht spürt“. Er konnte auch überhaupt nicht abschätzen, wie grob er war und dass manchmal eine durchaus freundlich gemeinte Berührung blaue Flecken bei dem anderen Kind verursachte. Auch Berührung selbst empfand er entweder gar nicht, d.h. er merkte es z.B. lange nicht, wenn ich ihm die Hand auf den Arm legte, und wenn er es dann merkte, entzog er sich sofort. Es gab Momente, wo seine Angespanntheit so sehr zu mir überschlug, dass ich spürte, wie meine Schultern anfingen weh zu tun. Softie oder Macho? Als Versuch lud ich ihn zu Körper- und Atemübungen ein, was er zuerst völlig ablehnte, dann eher widerwillig ausprobierte und letztendlich überraschend positiv annahm. Das wurde dann ein Anfangsritual unserer Stunden und ein deutlicher Wendepunkt in der Zusammenarbeit. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm Freude machte, einzelne Körperteile bewusst zu spüren, mit dem Wechseln von Spannung und Entspannung zu experimentieren. Plötzlich war eine neue – ihm bisher eher fremde – Möglichkeit der Empfindungswahrnehmung da, was bei ihm sehr gut funktionierte. Er lernte, auch die körperlichen Signale einer drohenden Eskalation früher zu bemerken und darauf zu reagieren. Als Mile dann nach über einem Jahr unserer Zusammenarbeit begann, einmal im Monat ein Wochenende beim väterlichen Clan in der Slowakei zu verbringen, stellte sich plötzlich unsere Zielsetzung in Frage. Er war nicht mehr sicher, ob er „so ein Softie“ sein wollte, den ich aus ihm machen möchte. Viel besser wäre es, wenn alle Angst vor ihm hätten, ihn in Ruhe ließen und täten, was er sagt. Die neue Erfahrungswelt des patriarchalen und gewaltreichen Systems der Vaterfamilie stellte völlig andere Anforderungen an ihn als die Schule in Wien. Anerkennung und Bewunderung gab es für Härte und Brutalität, Schule war nicht wichtig und Frauen hatten sowieso nichts zu melden. Er war auch ganz stolz darauf, dass sein Vater ihn jetzt nicht mehr schlug, denn er wäre jetzt auch ein Mann. Der Widerstand gegen mich als Frau und als Vertreterin des Systems „Schule“ wurde groß. Gleichzeitig war es ihm aber offensichtlich doch noch wichtig, weiter mein Vertrauen und meine Wertschätzung zu bekommen - ein spürbarer Konflikt in ihm. Ich hatte den Eindruck, dass er zwischen den beiden Welten – seine Wochenenden bei der Vaterfamilie und sein Leben in Wien – sehr zerrissen war. Er konnte den Vater, den er liebte und fürchtete nicht als „schlecht“ oder „böse“ ansehen, aber es war ihm doch auch bewusst, dass die ihm dort abverlangten Werte für seine Lebensplanung nicht hilfreich waren. Andererseits waren ihm aber die Ansprüche des Lebens in Wien und der Schule oft zu viel und verlangten ein Maß an Anpassung und „Unterwerfung“, das er kaum aufbringen konnte. Unsere Erfahrungswelten existieren innerhalb des sozialen Systems, in dem wir leben. Ein Zerrissensein zwischen sehr unterschiedlichen Systemen kann sehr verunsichern. (Vgl. Molnar/Lindquist „Verhaltensprobleme in der Schule“ 1992) Wer hat recht? Welche Werte sind die Richtigen? Wem kann/soll ich vertrauen? Wenn ich im „falschen“ System mehr Anerkennung und Zuwendung bekomme und das angeblich „richtige“ System nur Anstrengung und Frustration bedeutet, warum sollte sich jemand diese Anstrengung antun? Unser Schulsystem ist oft sehr defizitorientiert, die bekanntermaßen wirksamen Methoden von Lob, Wertschätzung, Anerkennung werden nicht immer angewandt. Manchmal frage ich mich selber auch, würde ich das aushalten, mich hier wohlfühlen? Und dann verstehe ich die Kinder besser. Für viele Wochen war das vorherrschende Thema dieser Widerspruch zwischen den sozialen Anforderungen in der Schule und den Eigenschaften, die in der Familie erwünscht waren. „Ein richtiger Mann lässt sich nicht verarschen, da schlage ich zu“ war dann zum Beispiel eine der Aussagen, über deren Sinnhaftigkeit und Richtigkeit wir fast ins Philosophieren kamen. Ich denke, für Mile war es ganz wichtig, dass er bei mir solche Meinungen äußern durfte, ohne gleich deswegen abgewertet zu werden. Das eröffnete ihm die 47 I-JOURNAL Jänner 2017 Chance, es selber zu hinterfragen und nicht nur vehement verteidigen zu müssen. Auch dieses „Switchen“ zwischen den Systemen war ihm leichter möglich. In Kosice konnte er den wilden Mann herauskehren und in der Schule schaffte er es immer besser, nicht auf jede Provokation sofort mit Vollgas zu reagieren, sondern Dinge dann auch einfach einmal sein lassen zu können. Im „Aufdröseln“ seiner Familienbeziehungen sprach Mile vor allem auf die Methode des Ressourcen-Kosmos gut an (vgl. Habiba Kreszmeier „Wagnisse des Lernens“ 2000). Damit konnte er gut nachfühlen „wer und was ist gut für mich, wer/was nicht?“ Der letzte Knackpunkt war dann am Anfang der vierten Klasse das Formulieren einer Zukunftsvision. Was will er erreichen, was braucht es dazu? Diese Zukunftsorientierung war für Mile immer wieder hilfreich, wenn er „schlechte“ Phasen hatte oder der Resignation nahe war. Er wollte den Schulabschluss schaffen und eine Lehre machen, und verstand, dass es auch an ihm lag, etwas dafür zu tun. Er hatte aber auch das Glück, dass auch seine klassenführende Lehrerin die Hoffnung nicht verlor und ihm immer wertschätzend gegenüber stand. Sie verurteilte oft deutlich seine Handlungen, nicht aber ihn als Person und vermittelte ihm das Gefühl, dass er es schaffen kann. Es hängt in einem großen Ausmaß von den beteiligten handelnden Personen ab, ob ein Kind eine Chance hat oder nicht. Miles LehrerInnen waren voll Vertrauen, dass Veränderung möglich ist, wenn man sie von den Rahmenbedingungen her überhaupt erst möglich macht. Mile in der Klasse zu behalten, ihn auch den MitschülerInnen zuzumuten war ein heikler Balanceakt und erforderte viel Zuversicht und Geduld. Schließlich hat er – zwar knapp aber doch – seinen Abschluss geschafft und heute schon zwei Jahre Mechanikerlehre geschafft. Mag. Dipl.Päd. Monika Dundler Beratungslehrerin für das ZIS 11 48 I-JOURNAL Jänner 2017 Abenteuer vom kleinen Bären und andere Gruselgeschichten In den folgenden Fallvignetten werden Entwicklungsprozesse von Kindern beschrieben, in denen der Beitrag der Beratungslehrerin als Teil eines haltenden schulischen Umfeldes eine wesentliche Rolle spielt. Hier fungiert die Beratungslehrerin als Übertragungsobjekt und das Beratungszimmer als metaphorischer Raum, in dem die innere Welt der Kinder wahrgenommen und im Spiel ausgedrückt werden kann. Diese Art von Beziehungsarbeit erfordert zeitliche Ressourcen, persönliche Qualifikation, Engagement und Geduld seitens der Beratungslehrerin sowie Kooperationsbereitschaft, Verständnis und Durchhaltevermögen seitens der betreuten Schule. Susanna wird mir von den zwei Lehrerinnen einer Integrationsklasse kurz nach dem Schuleintritt mit sechseinhalb Jahren vorgestellt. Sie wird wegen Entwicklungsverzögerung als Integrationskind geführt und imponiert sehr schnell durch ihr extrem auffälliges Verhalten. Sie verweigert die Arbeit sehr oft, hält sich nicht an Regeln und überschreitet regelmäßig Grenzen im Kontakt mit MitschülerInnen und LehrerInnen. Z.B. ist es ganz schwer, sie vom Spielplatz wegzubewegen. Einer Klassenkollegin gibt sie unvorbereitet einen Zungenkuss, mit einem Buben kuschelt sie im Turnsaal unter der Decke, packt dann seinen Penis aus und greift ihn an. Allgemein wirkt sie sehr sexualisiert, sucht Körperkontakt, ist dabei distanzlos, oft bockig, kann sich vom Vater in der Früh schwer trennen. Ihr vitales, kontaktfreudiges, oft fröhliches Wesen hat für ihre Bezugspersonen in Schule und Hort aber offensichtlich auch etwas Gewinnendes, so dass es mit vereinten Kräften doch gelingt, sie in der Gruppe zu halten. Erstaunlich sind auch ihre kognitiven Fortschritte. Artikuliert sie sich zu Schulbeginn noch in recht unverständlichen Zweiwortsätzen, kann sie am Ende des Schuljahres schon in zusammenhängenden Sätzen Erlebnisse erzählen. Einerseits sind die Klassenlehrerinnen sehr um Förderung der sozialen und kommunikativen Kompetenzen in der Klasse bemüht, andererseits bekommt Susanna intensive Einzelbetreuung durch die Sprachheillehrerin (eine Wochenstunde) und die Beratungslehrerin (zwei Wochenstunden). Im Einzelkontakt zeigt sie sich sehr kontaktfreudig, ist aber schwer zu verstehen und in ihrer Aufmerksamkeit sprunghaft. Ihre ältere Schwester bezeichnet sie als Tochter, von ihr spricht sie oft. Die Zeichenutensilien nimmt sie sofort dankbar an, wobei sie zu Beginn noch sehr fragmentiert zeichnet, Teile des Gesichts und des Körpers liegen noch unzusammenhängend nebeneinander. Am Ende des 1. Schuljahres gelingen schon Kopffüßler mit ausdrucksvollem Gesicht, bunte abstrakte Gebilde mit Wasserfarben und schließlich Buchstaben. Ab dem 3. Schuljahr entdeckt sie das Schreiben, verfasst in der Klasse Liebesbriefe und kommuniziert auch mit mir in den Stunden phasenweise schriftlich. Schließlich kann sie sich so gut artikulieren, dass sie den Verdacht der Lehrerinnen bestätigt und während eines Krankenhausaufenthaltes der Mutter von sexuell übergriffigem Verhalten seitens des Vaters erzählt. Bald wird über das Jugendamt eine Unterbringung in einer WG initiiert, ein Verbleib im Klassenverband ist zum Glück möglich. In den schwierigen Monaten der Umstellung, in denen es zwar regelmäßig Besuche durch die Mutter gibt, gegen den Vater allerdings ein Kontaktverbot verfügt wird, sind die begleitenden, regelmäßigen Helferkonferenzen für alle Beteiligten eine sehr wichtige Unterstützung. Susanna stabilisiert sich aber zunehmend und kann bald relativ differenziert über ihre WG-KollegInnen und BetreuerInnen berichten, die WG sogar als ihr Zuhause bezeichnen. Da der Lerndruck steigt und ihre Symptomatik sich deutlich bessert, wird die Betreuung durch die Beratungslehrerin ab der 3. Klasse auf eine Stunde pro Woche herabgesetzt. Auch den Lehrerinnen fällt auf, dass sie ihre Wünsche besser formulieren kann und lernt, sich abzugrenzen und mit triebhaften Impulsen und zärtlichen Tendenzen auch anders, auf einer nicht körperlichen Ebene, umzugehen, z.B. per Brief. Ein wichtiger Schritt in der psychischen Entwicklung, die Symbolisierungsfähigkeit, konnte vollzogen werden. Gefühle und Ereignisse können also gedacht, ausgesprochen, geschrieben, vielleicht auch gespielt werden, und müssen daher nicht unmittelbar ausagiert werden. 49 I-JOURNAL Jänner 2017 Andreas fällt durch regelmäßige Zornanfälle, sowohl in der Klasse als auch zuhause auf. Da werden schon einmal von KlassenkollegInnen gebastelte Gegenstände zertreten, Sessel mit Uhu beschmiert, Kinder mit Pinnadeln gepiekst, fliegt vielleicht auch eine Schere durch die Gegend. Im Erstkontakt erzählt er mir von einem roten Teufel in seinem Kopf, zeichnet einen Vulkan und ein Maxerl, das eine Bombe zündet und „sich sterben lässt“. So explosiv wie er sich mir präsentiert und wie Mutter und Lehrerinnen ihn mir beschreiben, bleibt er lange Zeit, und die Stunden mit ihm, die 2x/Woche stattfinden, sind auch für mich sehr anstrengend. Wenn er in einem Spiel verliert, schmeißt er es blitzschnell durchs Zimmer oder wirft Sessel oder Tische um. Ähnliches passiert oft vor Stundenenden. Auch ich fühle mich dadurch gestresst, und ich verstehe die Anspannung, unter der die Mutter permanent steht. Das kann diese allerdings erst nach ca. eineinhalb Jahren zugeben, indem sie nämlich von einer Besserung berichtet. Sie stellt fest, dass Andreas schon manchmal Begründungen für seine Zornanfälle angeben und damit Zusammenhänge zwischen einer sozialen Situation und seinen Gefühlen herstellen kann. Dass sich die Anfälle jetzt vom Alltagsgeschehen abheben und man teilweise den Grund verstehen kann, wird von der Mutter als Fortschritt gewertet. Diese Sensibilität, die die Mutter zuerst das Beziehungsgeschehen zwischen sich und ihrem Sohn und dann Andreas’ Fortschritt wahrnehmen und verstehen lässt, kann in vielen Beratungsgesprächen, die alle zwei Wochen in einer außerschulischen Institution stattfinden, erworben werden. Der Schulwechsel ist schließlich unausweichlich, bedeutet aber eine Entlastung, weil Andreas jetzt in einer kleineren Gruppe unterrichtet werden kann. Es gelingt, eine Klasse zu finden, die nahe meiner Zweitschule untergebracht ist, was eine Fortsetzung der Betreuung durch mich ermöglicht. Diese für ihn schwierige Trennung wird von ihm in Form von Wollfäden, die er zwischen die Gegenstände in meinem Zimmer spannt, dargestellt. Hier kann die Angst vor dem Fallengelassenwerden und der Wunsch nach Verbindung und Konstanz ausgedrückt werden. Die neue, ruhigere Klassensituation stabilisiert ihn und es gelingt mir, immer wieder seinen Frust bei Misserfolgen in Spielen und den regelmäßigen Trennungen von mir vorwegzunehmen, also schwierige Gefühle für ihn zu formulieren und dadurch erträglicher zu machen. „Und was hättest du gemacht, wenn du diese Runde verloren hättest,“ frage ich ihn einmal am Ende eines Spiels. „Dann hätte ich die Spielanleitung zerrissen.“ Diese Formulierung im Konjunktiv zeugt schon von einem gewissen Abstraktionsvermögen, und lässt auf eine wachsende Fähigkeit des Triebaufschubs hoffen. Tom braucht meine Unterstützung wegen seines impulsiven Verhaltens und seiner Kontaktschwierigkeiten in der Klasse. Die beschriebenen Probleme zeigen sich auch im Einzelkontakt, der Hintergrund seines hohen Spannungsniveaus wird aber erst im Lauf der Zeit für mich besser verstehbar. Im verdunkelten Zimmer verschwindet er hinter einer immer wieder heruntergelassenen Tuchtafel und erinnert sich dann an frühere nächtliche Ängste, von Menschen und Wölfen verschluckt und entführt zu werden. Plötzlich liegt er regungslos am Boden und kommentiert die Situation wie folgt: “Ein Kind ist ermordet worden durch Brustschuss vom schwarzen Dämon.“ Den Geist des erschossenen Kindes bezeichnet er als das „schwarze Nichts“, das Sachen vernichten und neue daraus entstehen lassen kann. Er (der Geist) selber wird zum „Geist der Gewissheit“, zum Vampir und zum Geisterhund. Dieser Szene sind lange mühsame Phasen vorausgegangen, in denen Tom gewütet hat, weil ich ihn frustriere, weil ich keinen Fernseher im Zimmer habe, keine Pizza für ihn, Stunden absage bzw. mit anderen Kindern verbringe. Er agiert vorerst seine Wut, indem er Sachen aus meinem Kasten wirft, Wasser auf den Boden leert, die Inititalen eines Konkurrenten (anderes Betreuungskind) überall im Zimmer anbringt. Des öfteren muss ich ihn an die Regeln erinnern und diese sogar verschärfen, indem ich heikle Gegenstände ausschließe. Im Lauf der Zeit kann er die heftigen Gefühle aber auch szenisch ausdrücken. Er bastelt Bomben, plant die Schule in Brand zu setzen, immer wieder spielen wir Geister, Vampire, einäugige Monster, die unheimliche Geräusche im zeitweise verdunkelten Zimmer machen. Schließlich diktiert er mir über Stunden eine Fortsetzungsgeschichte, in der ein kleiner Bär allerlei schreckliche Abenteuer erlebt, wie Erdbeben, Flugzeugentführungen, Bedrohung durch Haie. 50 I-JOURNAL Jänner 2017 Wenn es auch ein langer mühevoller Weg über zweieinhalb Jahre ist, kann er mir doch seinen tiefen Schmerz, seine Angst und seinen Zorn über das Verlassenwerden durch seine Mutter unmittelbar nach der Geburt zuerst durch sein Ausagieren der Gefühle mir gegenüber, dann durch symbolische Darstellung seiner Geschichte im Spiel und in den Geschichten mitteilen und dadurch innerlich ruhiger werden. Seine Konzentrationsschwierigkeiten und unkontrollierten Zornausbrüche sowie die regelmäßigen Albträume sind am Ende seiner Volksschulzeit kein Thema mehr. Das „innere Chaos“, von dem die Pflegemutter zu Beginn spricht, weicht dem Gefühl des Pflegevaters, „dass sich das Rad jetzt wieder richtig dreht“, und die beiden sehen dem bevorstehenden Wechsel in die Mittelschule zuversichtlich entgegen. Die drei kurzen Fallvignetten spiegeln die Vielfalt und Komplexität des Arbeitsfeldes der BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen wider, wo es rund um die Betreuung von SchülerInnen einmal um Vernetzung mit außerschulischen Institutionen, einmal um einfühlsame Begleitung von Eltern oder um intensive Kooperation mit LehrerInnen gehen kann, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen jedoch immer die Interessen des Kindes oder des Jugendlichen. Hemma Stallegger-Dressel, MSc langjährige Tätigkeit als Beratungslehrerin sowie als Supervisorin im Pflichtschulbereich, Psychotherapeutin (Psychoanalyse) in freier Praxis 51 I-JOURNAL Jänner 2017 Das Spiel um „Leben“ und „Seelen“ Obwohl BeratungslehrerInnen und Psychagogische BetreuerInnen bzw. PsychagogInnen seit vier Jahrzehnten im Zuständigkeitsbereich des Stadtschulrates für Wien tätig sind, ist die Existenz dieser Berufsgruppe kaum im „öffentlichen Bewusstsein“ verankert und es gibt nur wenige Veröffentlichungen, die unter Einbeziehung kasuistischer Berichte Einblick in deren Arbeitsbereiche geben. (vgl. Datler u.a. 2011, 6f) Die folgende kurze, exemplarische Darstellung einer langfristigen psychagogischen Betreuung eines Kindes mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen (und seiner Bezugspersonen aus dem familiären und schulischen Umfeld) soll dazu beitragen, eine Vorstellung von diesem komplexen Arbeitsfeld zu gewinnen. Marcel1, ein blasser, auffallend hochgewachsener, schlaksiger und motorisch unruhiger Junge, besucht eine vierte Klasse einer Neuen Mittelschule in Wien und fällt bereits zu Beginn der ersten Klasse einerseits durch massiv verweigerndes, andererseits sowohl durch selbst- als auch MitschülerInnen verletzendes Verhalten auf. So weigert er sich in manchen Gegenständen über lange Strecken mitzuschreiben oder in irgendeiner Weise auf die Anforderungen der LehrerInnen einzugehen. Wie aus heiterem Himmel kommt es zu Aggressionsdurchbrüchen, so schlägt er beispielsweise einem Mitschüler mit dem Hausschuh massiv ins Gesicht. Solche Vorfälle sind nur schwer vermeidbar und mit dem Jungen nicht besprechbar. Auch Berichte aus der Volksschulzeit geben Anlass zu großer Beunruhigung. So ist unter anderem von minutenlangem Schlagen seines Kopfes gegen einen Heizkörper zu lesen. Bereits zu Beginn der ersten Klasse wird der Mutter des Buben seitens der Schule eine kontinuierliche psychagogische Betreuung nahe gelegt, jedoch sollte es dazu erst etwas später kommen. Werfen wir jedoch zuvor einen Blick auf die Biografie des Kindes, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, welche bedeutsamen Beziehungserfahrungen der Junge bisher gemacht hat und in welcher Weise die innerpsychische Verarbeitung dieser Erfahrung in die Ausbildung der aktuell gegebenen psychischen Strukturen eingegangen sein könnte. (vgl. Datler/Winiger 2010, 230f). Marcels Leben ist von Beziehungsabbrüchen, Gewalt und Diskontinuität gekennzeichnet. In der Vorgeschichte des Kindes finden sich massive körperliche Übergriffe des Vaters sowohl auf das Kind als auch auf die Mutter, die Trennung der Eltern, als das Kind dreieinhalb Jahre alt ist, der Kontaktabbruch zum Vater, zwei Schulwechsel in der Volksschule, der Kontaktabbruch zum Großvater im Rahmen einer Intervention des (durch die Schule eingeschalteten) Amtes für Jugend und Familie, Therapieabbrüche - die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Auch in der Biografie der Mutter finden sich ähnlich traumatische Erfahrungen wie Gewalt, Vernachlässigung und Heimunterbringung. Im Rahmen einer klinisch-psychologischen Begutachtung des Jungen werden eine posttraumatische Belastungsstörung und ein Begabungsniveau im überdurchschnittlichen Bereich diagnostiziert, weiters wird eine Psychotherapie empfohlen. Der Beginn der Betreuung gestaltet sich vor allem aus zwei Gründen als schwierig: Einerseits befindet sich das Kind zu Beginn der ersten Klasse Mittelschule in einer Gruppentherapie und es gilt abzuklären, inwieweit eine zusätzliche Betreuung unterstützend sein kann. Bevor es jedoch dazu kommt, wird Marcel aufgrund seines Verhaltens vom therapeutischen Geschehen ausgeschlossen. Andererseits sind seitens der Mutter Abwehr und Widerstände spürbar. Ihre Vorbehalte begründet sie damit, dass sie therapeutische Unterstützung noch nie als hilfreich erleben konnte, sie habe ihr Leben aus eigener Kraft „in den Griff“ bekommen. Aufgrund zunehmender Schwierigkeiten in der Mittelschule und der Interventionen der sehr engagierten Klassenlehrerin stimmt die Mutter zunächst einem Gespräch mit mir und in Folge einer kontinuierlichen wöchentlichen Einzelfallarbeit im schulischen Kontext zu. 1 Name anonymisiert 52 I-JOURNAL Jänner 2017 So lerne ich Ende des ersten Semesters der ersten Klasse Marcel kennen. Der Bub geht bereitwillig mit mir mit, verweigert das Gespräch, probiert jedoch neugierig alle vorhandenen Spiele aus. Besonderes Interesse zeigt er an Jonglierbällen und an Dingen, die als Wurfgeschoße zu gebrauchen sind. Er beginnt mich mit Softbällen, Papierfliegern oder Wollknäuel abzuschießen und fordert mich auf ihn zu treffen. So kristallisiert sich nach einigen Stunden eine Form des Spiels heraus, die uns in verschiedensten Varianten und Intensitäten bis heute begleitet: das Abschießen. Marcel stellt unterschiedliche Spielregeln auf, modifiziert diese permanent, überlegt sich (oft auch bereits zuhause) Strategien – und er beginnt um „Leben“ und „Seelen“ zu spielen. Er duldet zu Beginn der Betreuung keine von mir aufgestellten Regeln, ist sowohl körperlich als auch verbal grob, es dominieren Abwertungen (vor allem, wenn ich aufgrund der Komplexität seinen Regeln nicht mehr folgen kann), und das Beenden der Stunde ist insofern schwierig, als er regelrecht um „Verlängerung“ des Spiels kämpft. Wenn ich ihn mit dem Ball treffe und mich entschuldige, erklärt er, ohnehin keinen Schmerz zu verspüren und untermauert das, indem er mit voller Wucht auf seinen Körper trommelt. Werde ich getroffen und zeige, dass mir das weh tut und er Grenzen überschreitet, lacht er oder legt sich mit angezogenen Beinen auf den Rücken und fordert mich auf, auf ihn zu schießen. Immer und immer wieder wiederholt sich dieses Spiel. Es sind Stunden, die mich extrem fordern, die Gefühle wie Hilflosigkeit und Ohnmacht, Ungeduld und Zweifel aber auch Ärger über seine Grobheit auslösen. Beim Versuch des differenzierten, professionellen Verstehens2 (vor allem auch im Rahmen der Einzelsupervision) dieser psychischen Prozesse in ihrer bewussten wie unbewussten Dimension ebenso wie in ihrer aktuell und lebensgeschichtlich ausmachbaren Bedeutung (vgl. Gstach/Sieber-Mayr/Datler 1993, 152) taucht eine Vielzahl von Fragen auf, beispielsweise: Was mag in einem Jungen vorgehen, der massive Gewalt seitens seines Vaters erleben muss und versucht, seine Mutter zu schützen? Wie mag der dreieinhalbjährige Junge – bewusst und unbewusst - die Trennung seiner Eltern und den darauffolgenden Kontaktabbruch zum Vater erlebt haben und wie könnte sich dieser auf seine psychosoziale Entwicklung auswirken? Der Kontaktabbruch kann aus entwicklungspsychologischer Perspektive als Verlust eines „Triangulierungsobjektes“3 (Figdor 2012, 41) und einer Identifikationsfigur, wichtig vor allem auch, um ödipalen Ängsten zu entgehen (vgl. Figdor 2012, 24), betrachtet werden und könnte auch mit massiven Schuldgefühlen besetzt sein. Der Kontaktabbruch ermöglicht es dem Jungen weiters nicht, reale Erfahrungen zu machen, die zu differenzierteren Bildern führen, sowohl des Vaters, als auch jenes Teiles des Selbstbildes, das mit dem „bösen“ und als gewalttätig erlebten Vater verknüpft ist. (vgl. Figdor 2012, 41) Wie ist angesichts der Kenntnis seiner lebensbiografischen Hintergründe, der massiv erlebten Gewalt und der Vielzahl an Beziehungsabbrüchen, der symbolische Gehalt seiner Spielauswahl zu verstehen? Die Liste der Fragen ließe sich fortsetzen und im Prozess des Erwägens und Reflektierens eröffnen sich auch immer wieder neue „Rätsel“, jedoch möchte ich nun den Blick wieder auf dieses Spiel um „Leben“ und „Seelen“ richten. Dieses Spiel und der unerbittliche Kampf um dessen Kontrolle sind für Marcel offensichtlich so dringlich, dass ich mich dafür entscheide, mich vorerst samt seiner aufgestellten Regeln darauf einzulassen – Selbstreflexion und permanente, theoriegeleitete Versuche des Verstehens ermöglichen mir allerdings eine spezifischen Haltung: Ich fungiere als eine für den Jungen konstante, Sicherheit gewährleistende, ihn beschützende aber auch mich schützende und ihm deutende Rückmeldung gebende Interaktionspartnerin. Ich halte seine Angriffe aus, „überlebe“ seine Destruktivität (vgl. Winnicott 1971, 107), verhalte mich für ihn berechenbar und lasse mich nicht zu einem Abbruch der Beziehung provozieren. Nur dadurch können in diesem geschützten Rahmen für den Jungen „korrigierende Erfahrungen“ (Muck 1993, 57) möglich werden. 2 An dieser Stelle sei angemerkt, dass psychoanalytisch-pädagogisches Fallverstehen auf bestimmten Annahmen basiert, wie der Annahme von unbewussten Prozessen, von psychischen Strukturen oder von Übertragung- und Gegenübertragungstendenzen.. Das Übertragungskonzept hilft, Zusammenhänge zwischen lebensgeschichtlichen Hintergründen und aktuellem Erleben und Verhalten herzustellen, denn ein Charakteristikum psychoanalytisch-pädagogischen Denkens ist, dass in früheren Situationen ausgebildete Erlebnis- und Verhaltensweisen auf aktuelle Situationen „übertragen“ werden können. Legt man das Konzept der Gegenübertragung auf die psychagogische Situation um, bedeutet das, dass Prozesse im „Inneren“ des/der Psychagogen/in (sogenannte unbewusste „Gegenübertragungsprozesse“, die „Reaktionen“ auf Aktivitäten darstellen, die unbewusst von Schülern gesetzt werden) einen Zugang zum Verstehen des „Innenlebens“ von Kindern eröffnen können. (vgl. Gstach/Sieber-Mayr/Datler 1993, 150f) 3 Triangulierung bedeutet, dass durch den Vater als „drittes Objekt“ die Dyade zwischen Mutter und Kind allmählich zur Triade erweitert wird. (vgl. Figdor 2012, 27) 53 I-JOURNAL Jänner 2017 Nach für mich endlos scheinenden, langwierigen Wiederholungen dieses Spiels zeichnen sich dann erste markante Veränderungen ab. Marcel baut eine Art Frage-Antwort-Spiel ein: Wer fünfmal den anderen trifft, darf diesem eine Frage stellen. Auf diese Art und Weise beginnt er Fragmente des Erlebten zu erzählen. Stück für Stück gewährt er mir Einblick in seine Lebenswelt. Nach Monaten fordert Marcel dann eine Variante des Spiels ein, die mich besonders berührt: Abschießen mit geschlossenen Augen - und er zeigt beim Schießen allergrößte Vorsicht und beim Abgeschossenwerden Vertrauen. Und nun – zweieinhalb Jahre später? Mittlerweile nimmt dieses Abschießen viel weniger Zeit und Raum ein. Es fällt Marcel zwar vieles noch schwer und sein Verhalten ist eine große Herausforderung für die LehrerInnen, jedoch agiert er umsichtiger und rücksichtsvoller, seine Reaktionen werden zunehmend emotionaler und sozial adäquater und wir führen nun in den Betreuungsstunden gemeinsam Regie. Marcels Mutter, die angesichts ihrer bisherigen Erfahrungen eine ihr nahe gelegte Psychotherapie ablehnt, kann jedoch das niederschwellige Angebot im schulischen Kontext gut annehmen und fühlt sich – auch dank einer sehr kooperativen klassenführenden Lehrerin - einbezogen, zumal sich die Situation sowohl zuhause als auch in der Schule deutlich entspannt. Literatur Datler, Wilfried/ Laggner, Barbara/ Ressel, Ulrike/ Reyer, Wolfgang/ Stallegger-Dressl, Hemma/ Tomandl, Christine (2011): Von Gratwanderungen zwischen Scheitern und Gelingen. Vignetten aus dem psychagogischen Arbeitsfeld im Kontext von Schule. In: Heilpädagogik 54/Heft 4, 6-13 Datler, W., Wininger, M. (2010): Psychoanalytisches Fallverstehen als sonderpädagogische Kompetenz. In: Ahrbeck, B., William, M. (Hrsg.): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch. Kohlhammer: Stuttgart, 226-235 Figdor, Helmuth (2012): Patient Scheidungsfamilie. Ein Ratgeber für professionelle Helfer. PsychosozialVerlag: Gießen Gstach, Johannes/ Sieber-Mayr, Birgit/ Datler, Wilfried (1993): Psychoanalytische Pädagogik in der Schule. In: Gangl, H./ Kurz, R.,/ Scheipl, J. (Hrsg.): Brennpunkt Schule - ein psychohygienischer Leitfaden. Pädagogischer Verlag Eugen Ketterl: Wien, 148-158 Muck, Mario (1993): Psychoanalytisches Basiswissen. In: Trescher, H.-G./Muck, M. (Hrsg.): Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik. Matthias-Grünewald-Verlag: Mainz, 13-62 Winnicott, Donald W. (1971): Objektverwendung und Identifizierung. In: Winnicott, D.W.: Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta: Stuttgart 2010, 12. Auflage, 101-110 MMag. Schöllhammer Nicole MA Hauptschullehrerin, Psychagogin, Psychologin 54 I-JOURNAL Jänner 2017 Du bist ewig für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich. Aus: Le Petit Prince Antoine de Saint-Exupéry Mein Rosenbusch Interdisziplinäre und schulartenübergreifende Begleitung eines verhaltensauffälligen Kindes „Wie viele Berührungen brauchst du heute?“ So begann drei Jahre lang jede Beratungsstunde mit Conrad. Wir zählten jedes Mal die Anzahl der Wandkontakte, die der Junge benötigte, um den kurzen Weg von seiner Klasse bis zu meinem Beratungszimmer zu bewerkstelligen. Conrads schlapper Muskeltonus und sein hoch empfindliches Gleichgewichtsorgan ließen ihn zu Beginn unserer Arbeit mehr an der Wand entlang gleiten als frei gehen zu können. Auch das aufrechte Sitzen fiel ihm schwer, die meiste Zeit fand man den Jungen in der „liegenden Sitzhaltung“ wieder: sein linker Arm auf dem Tisch ausgestreckt, der Kopf darauf liegend, rechtshändig widerwillig schreibend, mehrheitlich aber seine Stifte zerbeißend und zerbrechend. Damit zeigte der Bub u.a. die Reste eines sehr frühen Reaktionsmusters, dem Symmetrisch Tonischen Nackenreflex (STNR). „Frühkindliche Reflexe bilden das natürliche Bewegungsprogramm für die notwendige Reifung von Bewegung, Wahrnehmung, Sprache, Lernen, und Verhalten. Abbildung 1: Typische Arbeitshaltung bei Fortbestehen des STNR Bleiben sie über ihren Zeitpunkt hinaus aktiv, so deutet dies auf eine Unreife des Zentralnervensystems hin und beeinträchtigt die Bewegungs-und Wahrnehmungsentwicklung des Kindes. Lern- und Verhaltensschwierigkeiten sind häufige Folgen.“1 Dieser Reflex muss bei der Geburt vorhanden sein und soll „das Neugeborene dazu befähigen, sich gleich nach der Geburt über den Bauch der Mutter zur Brust hoch zu bewegen…. Später dann hilft dieser Reflex dem Baby die Schwerkraft zu bewältigen, wenn es sich zwischen dem 8. und 11. Lebensmonat aus der Bauchlage auf Hände und Knie aufrichtet.“2 Geschieht die Rückbildung danach zugunsten eines reifen Krabbelmusters nicht, ist das ein eindeutiger Hinweis auf neurologische Unreife. 1 http://www.praxisanjawerner.de/Dateien/Praesentation%20Fruehkindliche%20Reflexe%20Folien%2006.2011.pdf, Zugriff 21.06.2016; 14:39 2 Sally Goddard Blythe, Greifen und BeGreifen, VAK Verlag 2011, S. 51 55 I-JOURNAL Jänner 2017 Ein nicht aufgelöster STNR bewirkt bei den meisten Kindern Symptome wie • Tendenz, beim Sitzen zusammenzusacken • Zehenspitzengang, affenähnlicher Gang • langsames Abschreiben (auch von der Tafel) • Probleme beim Fokussieren (von Fern- zu Nahsicht) • schlechte Haltung; das Beibehalten der Sitzposition ist anstrengend – dies führt zu motorischer Unruhe, ähnlich der ADHS-Symptome Nachdem alle Symptome bei Conrad zu sehen waren, bat ich um dringende ergotherapeutische Begutachtung und Unterstützung. Der Junge besuchte widerwilligst acht Therapieeinheiten – danach brach die Familie die Behandlung ab, da es nicht mehr möglich erschien, den verweigernden Jungen zum Besuch der Praxis zu bewegen. Im Frühling des ersten Schuljahres terminisierte die Mutter eine funktional-optometristische Überprüfung. Die hier erhobenen Messergebnisse bestätigten meinen Verdacht, dass der Junge nicht nur massive Probleme bei der Akkommodation (Fern-Nahsprung der Augen) und der Fixation, sondern auch eine massive Winkelfehlsichtigkeit von über 10 Winkeldioptrien hatte! Dass Lesen und Schreiben mit einer derartigen Wahrnehmungsverarbeitungsstörung Schwerstarbeit war, war nun allen Beteiligten erklärlich geworden. Leider war Conrad zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, die notwendigen Augenübungen im Ausmaß von etwa 10 Minuten täglich durchzuführen. Alles war ihm zu viel, zu schwer, zu aufwändig, sinnlos, ... In Zusammenarbeit mit den Eltern entschied die Schule die Umstufung im Spätherbst des 2. Schuljahres in eine neuerliche erste Klasse. Das „Unter-dem-Tisch-sitzen“ wurde weniger, nicht aber die Tendenz, jeglicher Anstrengung aus dem Weg zu gehen. Aus diesem Grund „hafteten“ die Bemühungen der Kleingruppen- und Einzelförderung der Stützlehrerin auch nur wenig. Die Beratungsstunden nahm Conrad gerne in Anspruch, da sie ein Entkommen aus der Arbeitssituation der Klasse bedeuteten. Neben dem beharrlichen Versuch, das Selbstbewusstsein des Kindes zu stärken, bot ich Conrad verstärkt Elemente der Sensorischen Integration und der sensomotorischen Wahrnehmungsförderung an. Das Spielen und Experimentieren mit Therapiesand, Rasierschaum, Gelkügelchen und ähnlichen Materialien blieben bis zum Schluss eine Herausforderung für ihn! Bewegungsübungen mit Tooties3 konnte er gut annehmen. Als ich gegen Ende der 4. Klasse mehr und mehr schulisches Lernen in meine Arbeit einfließen lassen wollte, stieß ich – genauso wie die Pädagoginnen des Hortes, die Mutter und die Großmutter – auf massiven Widerstand. Zu schwer, zu viel, zu aufwändig, zu anstrengend, … Die Suche nach einer passenden weiterführenden Schule gestaltete sich als beschwerlich, da es gelingen musste, die Vorstellungen der Familie bezüglich der zu erwartenden Peer-group und die äußerst schwachen schulischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Elfjährigen miteinander zu vereinen. Sie entschieden sich für eine private NMS. Brigitta Bruckner-Heimbach 3 Tooties = Bewegungsorientiertes Lern- und Fördermaterial - www.tooties.at 56 I-JOURNAL Jänner 2017 Wie ging es weiter ... 15 Monate später lernte ich Conrad, seine Mutter und seine Geschichte im Zuge meiner Tätigkeit als Beratungslehrerin an einer öffentlichen NMS kennen. Er wurde, nachdem er die 1. Klasse NMS in einer Privatschule in einigen Fächern negativ abschloss, bei uns eingeschult. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Conrad also im 7. (!) Schuljahr und besuchte die 5. Schulstufe. Wie schon von meiner Kollegin beschrieben, gestaltete sich die Auswahl einer entsprechenden weiterführenden Schule nach der VS als äußerst schwierig. Bereits nach wenigen Schulwochen in dieser Schule wies Conrad auf Grund seiner ständig vorhandenen Überforderung psychische Sekundärsymptome auf, die sich in Angst- und Panikzuständen, sowie einem aggressiven Verhaltensmuster zu Hause äußerten. Freizeitaktivitäten, bzw. soziale Kontakte außerhalb der Schule fanden praktisch nicht statt, da die Zeit dafür gebraucht wurde, etwaige Schul- und Hausaufgaben zu bewerkstelligen. Die schulischen Erfolge blieben trotzdem aus, Unterstützungsangebote wie Stütz-, Förder- und BeratungslehrerInnen waren in der Privatschule nicht vorhanden. Der Druck für Conrad wurde immer größer. In dieser Zeit hatte sich bei ihm noch zusätzlich eine ÜberlaufEnkopresis entwickelt, die das Kind enorm belastete. Die Mutter beschrieb die damalige tägliche (!) Situation folgendermaßen: „Conrad kam nach Hause, warf alles von sich, Schulsachen und die gesamte Kleidung und duschte dann sehr lang, oft eine Stunde lang. Dann ist er unter die Bettdecke gekrochen und war oft stundenlang nicht mehr hervorzuholen!“ Die Überlauf-Enkopresis bedeutete für Conrad, dass er Verstopfung und Durchfall zugleich hatte. Er konnte das Abgehen von flüssigem Kot trotz großer Bemühungen nicht verhindern, deshalb dieses lange Duschen. Das stundenlange Verschwinden unter der Bettdecke war ein eindeutiger Hinweis auf eine beginnende oder schon vorhandene Depression („Ich will dieses – mein – Leben nicht sehen!“). Nachdem klar war, dass Conrad dieses Schuljahr nicht positiv abschließen würde, legte man der Mutter nahe, einen Sonderpädagogischen Förderbedarf für ihr Kind zu beantragen, damit eine passende weitere Beschulung stattfinden konnte. Aufgrund einer psychologischen Befundung von Mag.a H.-St. vom 23.6.2015 erfolgte eine klare Empfehlung, Conrad einen SPF zu erteilen. Dem Ansuchen der Mutter wurde nicht stattgegeben, da er aus Sicht der Schulaufsicht zu alt dafür gewesen war. Aus diesem Grund wurde der Junge ein weiteres Mal umgeschult – und „landete“ so an meinem Standort. Bereits im Oktober bat mich die Klassenlehrerin um Unterstützung. Trotz einiger Interventionen fand das erste Gespräch mit der Mutter erst im Jänner dieses Jahres statt. Beratungen mit dem LehrerInnen-Team gab es zuvor bereits. So kam es zu einer großen Entlastung für Conrad und seine Mutter, da wir einen vorhandenen Legasthenie-Bescheid „in die Tat“ umsetzten. Das erste Gespräch mit der Mutter dauerte zwei Stunden lang. Sie war übervoll mit schlechtem Gewissen, zu wenig für ihr Kind getan zu haben, einem Kind, das nie entsprochen hatte, das von Geburt an auffällig und in seiner Entwicklung stets verzögert war, inner- und außerschulische Förderangebote sehr oft, sehr konsequent und vehement verweigerte hatte. Die Vernetzung mit meiner Kollegin, die intensiv mit Conrad gearbeitet hatte, war sehr hilfreich für unser weiteres Vorgehen. Conrad ist mittlerweile gut bei uns angekommen. Wir haben alle Probleme offen auf den Tisch gelegt und zum Beispiel vereinbart, dass er IMMER auf die Toilette gehen darf ohne zu fragen, dass das Lehrer-WC für ihn immer offen ist. Für jedes einzelne Fach wurde Conrad und seiner Mutter klar mitgeteilt, welche 57 I-JOURNAL Jänner 2017 Leistung für eine positive Note erforderlich sei. Ich habe Conrad einige ausgesuchte Spiele gezeigt, die ihm großen Spaß machen und die seine Mutter bereitwilligst auch für zuhause besorgt hat. Wir haben von sämtlichen außerschulischen Fördermaßnahmen Abstand genommen und den Focus darauf gelegt, dass er sich vor Ort wohlfühlen und genau wissen soll, was von ihm schulisch verlangt wird und ihm jede Hilfe angeboten wird, die er verlangt. Conrad wird dieses Schuljahr positiv abschließen. Aufgrund einer erfolgreichen Vernetzungsarbeit von sämtlichen mit dem Kind arbeitenden Personen geht es Conrad – trotz seiner äußerst schwierigen Bedingungen – wirklich gut. Vor zwei Wochen ließ ich ihn den Rosenbusch nach Violett Oaklander4 zeichnen ... „Dem Rosenbusch geht`s gut. Er hat einen kleinen See unter sich, von dem er trinken kann. Er hat zwei Freunde, er hat einen Baum, der ihm Schatten gibt und eine Sonne, die ihn warm macht und Licht gibt.“ Ingrid Leissinger Quelle für Abbildung 1: http://www.praxisanjawerner.de/Dateien/Praesentation Fruehkindliche Reflexe Folien 06.2011.pdf, Zugriff 21.06.2016; 14:30 4 Violet Oakander, Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen, Klett-Cotta 2013, S 49ff 58 I-JOURNAL Jänner 2017 Anhang: „Rosenbusch-Phantasie“ nach V. Oaklander (1978) „Ich bitte die Kinder, ihre Augen zu schließen, sich in ihren Raum zu begeben und sich vorzustellen, sie seien ein Rosenbusch. Wenn ich diese Phantasieübung mit den Kindern mache, gebe ich ihnen viele Hilfen und Anregungen. Ich glaube, daß Kinder, besonders dann, wenn sie defensiv und gehemmt sind, diese Anregungen brauchen, um sich kreativer Assoziationen öffnen zu können. Sie werden die Anregungen aufgreifen, die am besten zu ihnen paßt, oder sie werden feststellen, daß ihnen viele Möglichkeiten selbst einfallen ... Wenn die Kinder bereit sind, bitte ich sie, ihre Augen zu öffnen du ihren Rosenbusch zu zeichnen. Im Allgemeinen füge ich hinzu: Macht euch keine Sorgen wegen des Zeichnens; ihr könnt mir euer Bild ja erklären. Später, wenn das Kind sein Bild erläutert, schreibe ich seine Erklärung auf. Ich bitte das Kind, den Rosenbusch in der Gegenwartsform zu beschreiben, so, als ob es selbst der Rosenstrauch wäre.“ Ingrid Leissinger Beratungslehrerinnen ZIS 9, Galileigasse 3 Brigitta Bruckner-Heimbach Beratungslehrerinnen ZIS 9, Galileigasse 3 59 I-JOURNAL Jänner 2017 CLS Classroom Support CLS ist ein Unterstützungsangebot des ZIS 13, Hackinger Kai 15, welches für die Pflichtschulen des 16. Inspektionsbezirkes, d.h. für den 13.und 23. Bezirk angeboten wird. Das Konzept des CLS zeichnet sich durch eine ca. vierwöchige Betreuung mit Beratung und Konzepterstellung durch eine Lehrerin des ZIS 13 mit vollen 22 Stunden direkt in einer Klasse einer Regelschule aus. Ziel ist es, potenzielle Förderklassenkinder (Kinder, welche durch ihr Verhalten bereits stark auffällig sind) und deren Lehrerinnen so zu unterstützen, dass eine Entspannung bzw. Besserung der Klassensituation eintritt und dadurch ein Verbleib des Schülers an der Regelschule ermöglicht wird. Die Arbeit direkt in den Klassen ist sehr anspruchsvoll, da CLS meist erst dann hinzugezogen wird, wenn die Situation sich bereits seit längerem Zeitraum negativ entwickelt hat und viele der Beteiligten schon an der Grenze ihrer Belastbarkeit sind. Daher ist es zunächst wichtig schnell eine Vertrauensbasis zu schaffen und eine gute Arbeitsbeziehung auf die Beine zu stellen, die Sicherheit und Kompetenz aber auch Entspanntheit ausstrahlt. Dies bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit, da neue Ideen und Konzepte dann am ehesten positiv und konstruktiv angenommen und umgesetzt werden. In einem Erstgespräch werden Erwartungen und Befürchtungen besprochen und es wird festgestellt, ob alle beteiligten Erwachsenen (Direktion, LehrerInnen, ErzieherInnen) mit einer Unterstützung einverstanden sind bzw. diese wünschen. Ist dies der Fall, werden Ziele und Zeitrahmen mit den KollegInnen und der Direktion abgesteckt. Dies wird in einem verbindlichen Arbeitsbündnis festgehalten und von allen Beteiligten unterzeichnet. In regelmäßigen Abständen finden Reflexionsgespräche statt, am Ende der Betreuung ein Abschlussgespräch mit der Option weitere/zusätzliche notwendige/hilfreiche Unterstützungen anzubieten. In der Betreuung wird großer Wert darauf gelegt, den LehrerInnen und – in Ganztagsschulen – auch den ErzieherInnen mit Unterstützung zu ermöglichen, ihre Handlungsspielräume in der Arbeit mit „schwierigen“ Kindern zu erweitern. Der Fokus liegt auf der tatsächlichen praktischen Arbeit wie z.B. Störungen rechtzeitig wahrnehmen, Grenzen setzen und auf Regelverletzungen adäquat reagieren. Jede auftretende und sich bietende Situation zwischen LehrerInnen, den Kindern, der Klasse und mir (als CLS Unterstützung) wird gemeinsam erörtert und gestaltet. Dabei sollte sich durch neue Verhaltensweisen eine Entwicklung abzeichnen, welche Aussicht auf Änderung bringt. Eine Veränderung die im optimalen Fall Mut macht und der ganzen Klasse Energie bringt. Eine enge Kooperation mit BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen vor Ort unterstützt diesen Prozess. Durch regelmäßige Evaluationsgespräche mit allen Beteiligten kann die Betreuung flexibel an sich verändernde Bedingungen angepasst werden. Der gruppendynamische Prozess wird in einer systemischen Sichtweise besprochen und das Verhalten der LehrerInnen danach ausgerichtet. Das Projekt Classroom Support gibt es seit dem Schuljahr 2014/15. Nach anfänglich vorsichtigem Interesse der Regelschulen und ersten Erfolgen nahmen die Anfragen deutlich zu. Im Schuljahr 2015/2016 konnten durch Classroom Support zehn Klassen an verschiedenen Schulen des 16. IB erfolgreich betreut werden. CLS ist: Dipl. Päd. Adriana VUJASIN BEd. ZIS 13, Hackinger Kai 15 877 25 98 [email protected] 60 I-JOURNAL Jänner 2017 ABS-SÜD Abendberatung Schule Ein niederschwelliges Beratungsmodell im Pflichtschulbereich für den 6., 12., 13. und 23. Bezirk Zum Begriff der Niederschwelligkeit Damit niederschwellige Einrichtungen Zugänge zum Hilfesystem sichern können, ist die grundsätzliche Freiwilligkeit der Inanspruchnahme ebenso von Bedeutung wie ein weitest gehender Verzicht auf Zugangshürden, Auflagen und / oder Ausschließungskriterien. Niederschwelligkeit zeichnet sich durch die bedingungslose Orientierung am individuellen Bedarf aus. Im Schuljahr 1996/97 versuchten die beiden Beratungslehrerinnen und Psychotherapeutinnen Gerheide Moravec und Mag. Gertrud Kuffner einen „etwas anderen Weg“ in der schulischen Betreuung sozial-emotional benachteiligter Kinder zu gehen. Zur Entlastung dieser Kinder und ihres sozialen Umfeldes begründeten sie, unterstützt von der zuständigen Schulhierarchie, das Modell „Abendberatung Schule – ABS“. Diese inzwischen etablierte Beratungsstelle versteht sich als systemisches Beratungsmodell im Pflichtschulbereich, das sich zur Aufgabe macht, dem jeweiligen Schulbezirk – in E r g ä n z u n g zu bereits bestehenden integrativen Betreuungsmaßnahmen – durch ziel- und lösungsorientierte F a m i l i e n - u n d E l t e r n b e r a t u n g s o w i e e n t s p r e c h e n d e Ve r n e t z u n g s a r b e i t m i t S c h u l e n , Ä m t e r n , K l i n i k e n , ... Hilfestellung bei der Integration verhaltensauffälliger Kinder anzubieten. In Anlehnung an dieses Modell wurde auch für den 8. Inspektionsbezirk ab September 2005 eine entsprechende Beratung etabliert, diese soll mit September 2006 für die Bezirke 13 und 23 ausgeweitet werden. Warum Abendberatung? In sehr vielen Familien sind beide Elternteile berufstätig und können sich nur schwer am Vormittag Zeit nehmen. Für das Gelingen der Arbeit ist es aber entscheidend, alle Personen des sozialen Umfeldes des Kindes, das Probleme hat oder macht, mit einzubeziehen. Daher wird in dem Konzept die Möglichkeit einer Beratung am späten Nachmittag und Abend, die auch von berufstätigen Eltern leichter genutzt werden kann, angeboten. Schwerpunkte Der S c h w e r p u n k t der Abendberatung liegt auf der l ä n g e r f r i s t i g e n B e t r e u u n g von Familien mit Kindern, die schulspezifische Probleme haben (Verhaltensauffälligkeiten, Schulangst, Lernprobleme, Leistungsverweigerung, aggressives Verhalten, Essstörungen, ...). Der Rahmen umfasst B e r a t u n g , U n t e r s t ü t z u n g und I n f o r m a t i o n für P f l i c h t s c h ü l e r I n n e n , deren F a m i l i e n und L e h r e r I n n e n . Dabei ist angedacht, eng mit den LehrerInnen, DirektorInnen, SchulärztInnen, BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen zusammenzuarbeiten. 61 I-JOURNAL Jänner 2017 Die Vernetzung mit anderen Institutionen wie Schulpsychologie, Amt für Jugend und Familie, Kinderkliniken, Partnerberatungsstellen, etc. ist bei Bedarf möglich. Der Kontakt wird von der Beraterin hergestellt; diese arbeitet mit den genannten Stellen zusammen. Die Beratungsstelle kann kostenlos in Anspruch genommen werden, da dieses Projekt als besondere Serviceleistung gedacht ist und somit vom Stadtschulrat für Wien finanziert wird. Im Bedarfsfall werden auch Beratungsgespräche für LehrerInnen angeboten. Kontaktaufnahme Bei der telefonischen Anmeldung werden das Anliegen, die Erwartungen und Zielvorstellungen der Familie und der Schule abgeklärt. Die Familie erhält dann einen Termin für ein erstes Gespräch. Dieses Gespräch dient dem Informationsaustausch, der Problemdefinition und der gemeinsamen Zielerarbeitung. Die weitere Vorgangsweise (gemeinsames Gespräch in der Schule, Terminabstände, eventuelle Miteinbeziehung anderer Institutionen, ...) wird festgelegt und der nächste Termin vereinbart. Selbstverständlich gilt auch hier für jedes Gespräch die Ve r s c h w i e g e n h e i t s p f l i c h t . Die Weitergabe von Informationen an andere Personen erfolgt nur mit Einverständnis der KlientInnen. Arbeitsweise • Schwerpunkt ist das r e g e l m ä ß i g e G e s p r ä c h mit Bezugspersonen und/oder dem Kind. • Es besteht aber auch die M ö g l i c h k e i t d e r g e t r e n n t e n B e t r e u u n g der Eltern und des Kindes durch ein BeraterInnenteam. • Es wird l ö s u n g s o r i e n t i e r t gearbeitet, aufbauend auf Ressourcen im Gesamtsystem, sei es Familie, Schule, außerschulischer Bereich – soziales Umfeld im weitesten Sinn. • Die Arbeit wird begleitet durch r e g e l m ä ß i g e S u p e r v i s i o n und F a l l b e s p r e c h u n g e n . Der Schwerpunkt der Arbeit ist zu sehen in der P r ä v e n t i o n im Hinblick auf S c h u l j a h r e s v e r l u s t , Schulverweigerung, Gewalt in der Familie, Drogen, sexueller Missbrauch und Ve r h i n d e r u n g d i s s o z i a l e r K a r r i e r e n im Kindes- und Jugendalter. ABS Süd sind: Mag. Andrea Fröschl Gabi Steinbrecher Gabi Grabenhofer DiplompädagoginDiplompädagoginDiplompädagogin Sonder- und Heilpädagogin Beratungslehrerin Beratungslehrerin BeratungslehrerinPsychotherapeutin Psychotherapeutin ZIS 13, Hackinger Kai 15 877 25 98 [email protected] 62 I-JOURNAL Jänner 2017 FiSCH Familie in Schule Eltern in der Schule ... Ziel dieser neuen Förderklasse ist es, Kinder mit Problemen im Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten rechtzeitig aufzufangen, um den Verbleib in der Regelklasse nicht zu gefährden. Dies kann nur durch die Einbeziehung und die aktive Mitarbeit der Eltern geschehen. Wenn sich Eltern bereit erklären, ihre Kinder unterstützend an den FiSch-Vormittagen zu begleiten, können sie ihr Erziehungsverhalten entscheidend verändern. Eltern sollen sich nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung sehen lernen. Dabei werden die SchülerInnen von einer Lehrkraft, die Eltern von einem Coach unterstützt. Der Coach moderiert, initiiert, tritt aber in den Hintergrund, während die Eltern die beratende Funktion einnehmen und den Schritt von der Hilfe zur Selbsthilfe setzen. Dadurch gewinnen die Eltern an Sozialkompetenz und Erziehungsfähigkeit. Mit Hilfe von Mehrfamilienübungen und dem Erfahrungstausch mit anderen Familien können die Eltern lernen, situationsadäquat und selbstständig zu handeln. Eltern können damit bewusst Erziehungsverantwortung für ihre Kinder übernehmen und lernen elterliche Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Zielgruppe Die FiSch-Klasse ist für SchülerInnen im Alter von 6-12 Jahren gedacht, die wegen ihres Verhaltens Probleme in der Schule haben und deren Eltern den daraus resultierenden Anforderungen nicht gewachsen sind. Charakteristische Verhaltensweisen der SchülerInnen sind: • Unruhe • Passivität und fehlende Mitarbeit • Konzentrationsschwierigkeiten • kein Bewusstsein für Schul- und Familienregeln • Anweisungen der Erwachsenen werden nicht eingehalten. • Fernbleiben von der Schule • Zuspätkommen • soziale Isolation in der Schule • große Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen Die Aufgabenbereiche von Eltern, Schule und SchülerInnen werden tendenziell immer unschärfer, und oft ziehen sich in diesem Fall die Eltern zurück. Die Eltern suchen nach Sicherheit, und aus Angst, falsch zu reagieren, reagieren sie gar nicht. 63 I-JOURNAL Jänner 2017 Eltern von Kindern mit Schulproblemen haben häufig: • eine konflikthafte Beziehung zur Schule • eigene negative Schulerfahrungen • wenig Bereitschaft zur Kooperation • wenig Vertrauen in die Arbeit der Schule • wenig Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit Um aus dieser Negativspirale auszusteigen, ist die Einbindung der Eltern unerlässlich. Im Rahmen dieses Projektes werden sie dazu angehalten, an ihrer Elternkompetenz zu arbeiten. Eltern und Schule sollen das Kind gemeinsam unterstützen, um die Erziehungsdefizite gemeinsam nachzuholen. Wie funktioniert eine FiSch-Klasse? Seit dem Schuljahr 2015/16 gibt es die erste FiSch-Klasse in Wien. Innerhalb eines Zeitraumes von 12 bis 20 Wochen werden SchülerInnen (1.- 6. Jahr der Schulpflicht) gemeinsam mit einem Elternteil oder einer/einem Erziehungsberechtigten einmal wöchentlich vom FiSchTeam betreut. Voraussetzung dafür sind das Einverständnis der Lehrkräfte und die Teilnahme der Eltern. FiSch ermöglicht ein intensives, individuelles und sensibilisierendes Arbeiten mit (schwer erreichbaren) Familien. Die FiSch-Klasse setzt sich aus SchülerInnen verschiedener Jahrgänge und Klassen aus ganz Wien zusammen. Abhängig von der Kapazität (max. sechs Familien) ist ein gleitender Einstieg in einen Turnus jederzeit möglich. Dabei können die schon am FiSch-Projekt beteiligten Eltern die neu zur Gruppe kommenden Familien unterstützen. Vor Turnusbeginn finden Aufnahmegespräche des FiSch-Teams mit BeratungslehrerInnen, Lehrkräften an der Stammschule und zumindest einem Elternteil/Erziehungsberechtigten statt. Hierbei werden mit allen Beteiligten drei bis vier Verhaltensziele für das Schulkind auf einem Zielblatt vereinbart (siehe Abb.) Die Lehrkräfte an den Stammschulen stellen das Arbeitsmaterial für den FiSchVormittag zusammen und bewerten die Zielerreichung des Kindes nach jeder Unterrichtseinheit anhand eines Bewertungsbogens. Alle sechs Wochen finden Evaluierungsgespräche aller Beteiligten statt, bei denen Informationen zur Verhaltensentwicklung des Schulkindes ausgetauscht, Ziele überprüft und angepasst werden können. Die Evaluierungen fördern zudem die Zusammenarbeit von Schule und Eltern. Ziele Die Probleme der SchülerInnen sind nur durch aktive Einbeziehung und Unterstützung der Eltern lösbar: • Eltern verpflichtend einbinden und Mitverantwortung wecken • Stärkung der elterlichen Erziehungs- und Bildungsverantwortung • elterliche Handlungsmöglichkeiten erweitern 64 I-JOURNAL Jänner 2017 • Eltern für das Verhalten ihrer Kinder sensibilisieren • Eltern als Unterstützung bei der Zielerarbeitung • familiäre Kommunikation stärken • Aufstellen von Regeln und Konsequenzen für Schule und zu Hause • positives Erleben von Schule • Wir-Gefühl in Familien stärken • Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus • Entlastung der Lehrkräfte in der Stammschule • Unterstützung beim Verbleib in der Regelschule Familienarbeit in der Klasse FiSch ist ein von dem deutschen Therapeuten Eia Asen kreiertes Modell der Multifamilienarbeit, das auf Erkenntnissen der systemischen Familientherapie basiert. Dieses Konzept wird in verschiedenen Ausprägungen in Deutschland, Großbritannien, Dänemark, der Schweiz und mittlerweile auch in Österreich angewendet. Die Mehrfamilienarbeit, also die Arbeit mit mehreren Familien gleichzeitig, ist das wichtigste Instrumentarium des Konzepts. Hierdurch lernen Eltern in der Familienklasse ressourcenorientierter, selbständiger und situationsadäquater zu handeln und sich bei schwierigen Situationen gegenseitig zu unterstützen. 65 I-JOURNAL Jänner 2017 Die Arbeit mit Familiengruppen bedeutet ein völliges Umdenken bezüglich unserer Rolle als PädagogInnen. Es geht nicht mehr darum, mit Interventionen oder pädagogischen Ideen einzugreifen und Krisensituationen zu regeln, sondern die Eltern als Experten für ihr Kind zu sehen und dessen Problematik zu akzeptieren. Bei der Mehrfamilienarbeit liegt der Fokus darin, den Familien einen sicheren Platz zu schaffen, der Veränderungen zulässt und sie ermutigt neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Die Eltern sollen eigenständige Initiativen ergreifen und sich gegenseitig unterstützen und beraten. Wichtig ist es - entgegen unserer Gewohnheiten -, die Interaktion nur kurze Zeit auf sich als Coach/LehrerIn zu lenken und diese möglichst bald in Richtung anderer Familien zu öffnen. Die daraus resultierenden Vorteile sind: • Überwindung von Isolation und Stigmatisierung: „Wir sind ja nicht die einzigen.“ • Neue Perspektiven anregen: „Bei anderen sehe ich sehr genau Dinge, für die ich bei mir selbst blind bin.“ • Förderung von Solidarität: „Wir sitzen alle im selben Boot.“ • Positiver Nutzen des Gruppendrucks: „Hier kann ich nicht kneifen.“ • Gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung: „Ich finde es super, wie ihr das macht, wie seht ihr uns?“ • Voneinander lernen: „Wie die anderen das machen finde ich gut, das will ich auch probieren.“ • Hoffnung wecken: „Die haben es geschafft, da sehe ich Licht am Ende des Tunnels – auch für uns.“ • Neue Verhaltens-/Erziehungsmuster im „Schonraum“ üben: „Ich kann hier etwas ausprobieren, auch wenn einmal was schief geht.“ (vgl. Eia Asen, 2015) Wie sieht ein Vormittag in der FiSch-Klasse aus? Für die SchülerInnen beginnt der Morgen mit einem Anfangsritual, während die Eltern sich in der Elternrunde gemeinsam mit dem Coach über die vergangene Woche und allfällige Themen für den Tag austauschen. Anschließend treffen sich alle in einem Morgenkreis. Hier werden die Wochenbilanzen in einem anschaulichen Diagramm an die SchülerInnen verteilt. Bei Erreichung eines Zieles erntet das Kind Applaus von allen. Nachdem sicher ist, dass die Kinder sich ihrer Ziele bewusst sind und auch die Eltern sich Beobachtungsaufgaben gestellt haben, beginnt der Unterricht, der zwei Einheiten umfasst. 66 I-JOURNAL Jänner 2017 Hier werden die individuellen Arbeitsaufgaben mit Unterstützung der Lehrkraft bearbeitet. Die Eltern begleiten den Unterricht, je nach Anforderung, unmittelbar bei ihrem Kind oder beobachten von der Elternzone aus. Ihre Aufgabe dabei ist es, darauf zu achten und unterstützend und korrigierend einzugreifen, damit ihr Kind sich an die Zielvorgaben hält. An dieser Stelle setzt bei Bedarf das Elterncoaching ein. Wenn die Eltern nicht achtsam genug oder sich eines Fehlverhaltens ihres Kindes nicht bewusst sind, werden sie vom Coach darauf hingewiesen. Sollten die Eltern bei auftretenden Problemen keine geeigneten Lösungsstrategien entwickeln können, haben sie die Option, die Hilfe des Coaches oder der anderen Eltern in Anspruch zu nehmen. Die zweite Hälfte des Vormittags ist den Mehrfamilienübungen gewidmet. Bei diesen praktischen Übungen liegt das Hauptaugenmerk auf der Interaktion zwischen Eltern und Kindern. Dabei sollen die Eltern mit ihren Kindern gemeinsam ein Ergebnis erzielen. Die Mehrfamilenarbeit umfasst sowohl Übungen, die den Zusammenhalt der Gruppe stärken als auch solche, die die einzelnen Familien betreffen und zu Verhaltensänderungen anregen. Typische Konfliktsituationen werden hier sichtbar und werden mit viel Verständnis, Einfühlungsvermögen und Lösungskompetenz von der gesamten Gruppe bearbeitet. Wieder sind die Lehrkräfte und der Coach zur Unterstützung da. Die Eltern sind dabei einander behilflich und werden damit in ihrer Rolle gestärkt. Den SchülerInnen wird dadurch mehr Sicherheit geboten. Auch hier kommt es zu einem Austausch und einer starken Annäherung unter den Familien. Behandelte Themenkreise: • Regeln • Konsequenzen • Grenzen • Konflikte • Gesprächsregeln • Gefühle • Familienstruktur • Ressourcenarbeit • Erziehung - Werte • Freizeitgestaltung • Umgang mit Medien • Ernährung In der Abschlussrunde erhält jedes Kind seine Auswertung. Zunächst schätzen sie sich selbst ein, ob sie die vorgegebenen Ziele erreicht haben. Anschließend geben die Eltern ihren Eindruck des Vormittags wieder. Danach bekommen das Kind und die Familie von jedem Gruppenmitglied ein Feedback. Die endgültige Bewertung wird von den FiSch-Lehrkräften vorgenommen. 67 I-JOURNAL Jänner 2017 Kevin, 7 Jahre (Name geändert) Kevin ist ein adipöses Kind, das aufgrund häufiger Arztbesuche viele Unterrichtstage versäumte. Er ist im Klassenverband sehr unsicher und zurückgezogen. Im Pausenhof schubst er andere SchülerInnen. Im Unterricht braucht Kevin viel Aufmerksamkeit und Unterstützung, um seine Arbeiten erledigen zu können. Seine Mitschüler mögen ihn wegen seines übergriffigen Verhaltens nicht, er ist zum Außenseiter geworden. Seine Mutter reagiert verärgert oder mit Weinen und Schreien auf Bemerkungen bezüglich dieser Probleme von Seiten der Lehrerin. Sie unterläuft Anweisungen der Lehrerin und will Konflikte für ihren Sohn klären, wodurch es immer wieder zu Streitereien unter den Müttern kommt. Sie behauptet, ihr Sohn werde von den Mitschülern gemobbt und die Lehrerin möge ihn nicht. Sie kommt jeden Tag vor dem Unterricht in die Klasse um sich bei der Lehrerin zu beschweren. Bei einem Treffen mit der Familie und der Klassenlehrerin von Kevin einigt man sich auf vier Verhaltensregeln. Am ersten Vormittag in der FiSch-Klasse war die Mutter noch zurückhaltend, weil sie unsicher war und sich etwas schämte. Erst als sie die anderen Familien beobachtete und bemerkte, dass hier alle „im gleichen Boot“ saßen, konnte sie Kontakt zu den anderen Müttern und Vätern aufnehmen. Das Verhalten ihres Sohnes überraschte sie sehr. Sie sah, dass die Beobachtungen der Lehrerin der Wahrheit entsprachen. Anfangs empfand Kevins Mutter es schwierig, ihm Grenzen aufzuzeigen oder Konsequenzen bezüglich seines Benehmens durchzusetzen. Seine Launen lächelte sie weg und ignorierte sie. Als Erklärung gab sie an, dass er ja noch so klein und lustig sei. Auch zu Hause ließ sie sich von seinem Verhalten dirigieren. Allmählich begann sie anderen Familien zuzuhören und akzeptierte deren Beobachtungen. Sie empfand die Kritikpunkte an ihrem Kind nicht mehr als Vorwurf, konnte zuhören und beginnen ihr Verhalten ihrem Sohn gegenüber zu ändern, anstatt wie bisher in die Verteidigungsrolle zu gehen. Mit Hilfe der anderen Eltern in der Gruppe konnte sie einen anderen Blickwinkel bezüglich des kleinkindhaften und inadäquaten Verhaltens ihres Sohnes einnehmen. In den Kaffeepausen der Eltern erzählte sie von ihrem zweiten Sohn, der mit 16 ins Gefängnis kam und sie sich deshalb große Vorwürfe machte. Ihr war es ein Anliegen Kevin nur Liebe zu zeigen, damit er nicht auf die schiefe Bahn geriete. Nach und nach sah sie ein, dass Veränderungen schneller von statten gingen und langlebiger sind, wenn Familien zusammen arbeiten und fühlte sich durch die Erfolge der anderen Familien ermutigt. Sie konnte sich gut in die Gruppe einbringen und fühlte sich in der Mutterrolle gestärkt, indem sie anderen Familien bei ihrer Problembewältigung half. Kevins Mutter schaffte es im Laufe der 12 Wochen, mithilfe der Elterngruppe ihrem Sohn Grenzen zu setzen und klare Anweisungen zu geben. Durch die Arbeit in der FiSch-Klasse konnte sie Kevin als Schulkind akzeptieren, der seine Arbeiten und Konflikte in der Schule alleine lösen kann. Zusätzlich verbesserten die gemeinsamen Evaluationsgespräche das Klima und die Zusammenarbeit zwischen ihr und der Klassenlehrerin. Kevin konnte so gemeinsam mit seiner Mutter an seinen Verhaltenszielen arbeiten. Es war eine deutliche Verbesserung erkennbar. 68 I-JOURNAL Jänner 2017 Geändert hat sich ... Eine kleine Auswahl von Rückmeldungen aus dem ersten FiSch-Jahr: „Mir hat das gemeinsame Spielen mit der Mama gut gefallen.“ „Rasche, unkomplizierte Hilfe mit sehr hohem Wirkungsgrad.“ „ „Ich bin viel geduldiger mit M.“ „Die Zusammenarbeit mit den Eltern hat sich verbessert.“ „Er kann jetzt über seine negativen Gefühle und Wünsche sprechen.“ „Mir hat sehr gut gefallen, dass wir alle sehr offen miteinander sprechen konnten.“ „In der Elternrunde kriegt man Unterstützung von Leuten mit den gleichen Problemen.“ „Ich versteh mich jetzt mit meiner Lehrerin besser.“ Literatur Asen, Eia; Scholz, Michael (2015): Praxis der Multifamilientherapie. Carl- Auer-Systeme Verlag, Heidelberg, 3.Aufl. Behme-Mathiessen, Ulrike; Pletsch, Thomas u.a. (2012): Handbuch Familienklasse. Multifamiliencoaching im Unterricht. Shaker Verlag, Aachen. Andrea Murth Mag. Lisa Rest Mag. Christian Kraus SonderschullehrerinVolksschullehrerin NMS-Lehrer BeratungslehrerinHeilstättenpädagogin AHS-Lehrer Dipl. Lebens- u. Sozialberaterin Sozial-/Sonder- und Heilpädagogin Beratungslehrer Standort: VS Siebenhirten, Baslergasse 43; 1230 Wien Kontakt ZIS 13, Hackinger Kai 15, 1130 Wien tel/fax: 01 / 877 25 98 [email protected] [email protected] 69 I-JOURNAL Jänner 2017 Mosaikklassenkinder im Rudolf Ekstein Zentrum* Von der Kunst, Momente des Verstehens einzufangen, Wege der Veränderung zu erkennen und miteinander zu gehen * Das Rudolf Ekstein Zentrum – kurz REZ – unter der Leitung von Frau Diplompädagogin Madeleine Castka ist eines von acht Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik, von denen ein jedes Zentrum über die Jahre hinweg sein eigenes Profil entwickelt hat. Mosaikklassen stellen gleichsam die Förderklassen des REZ dar. Im Rahmen des Symposiums „Schule als Ort hilfreicher Beziehungserfahrungen - 40 Jahre PsychagogInnen/40 Jahre BeratungslehrerInnen in Wien“ präsentierten drei Psychagoginnen, die in Mosaikklassen des Rudolf Ekstein Zentrums emotional-sozial belastete Volksschulkinder als Team betreut und unterrichtet haben, eine Falldarstellung. Diese Fallgeschichte ermöglichte Einblicke in die konkrete Arbeit mit einem Mosaikklassenkind und veranschaulichte darüber hinaus, in welcher Weise in der Mosaikklasse über verhaltensauffällige Kinder und deren Beziehungserfahrungen nachgedacht wird. Es wurde auch nicht beschönigt, wie schwierig dieser Erkenntnisprozess ist, und wieviel Zeit und Geduld es braucht, ehe durch ein allmähliches Verstehen und nachfolgendes Tun wichtige Entwicklungsschritte beim Kind angestoßen werden. Schließlich verdeutlichte die Präsentation der Fallgeschichte auch, dass die tiefenpsychologisch orientierte Haltung, die enge Zusammenarbeit sowie die spezielle Professionalisierung des Teams nicht nur wesentliche Aspekte innerhalb der Arbeit in der Mosaikklasse sind, sondern Voraussetzung dafür, dass dieses spezielle Fördersetting zu einer positiven Entwicklung des Kindes beiträgt. Die Aspekte Team, Zusammenarbeit und psychoanalytisch-pädagogische Professionalisierung als wichtigste Bausteine einer entwicklungsfördernden Mosaikklassenarbeit stehen im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen. Sie sollen verdeutlichen, in welches REZ-interne Gesamtkonzept die Mosaikklasse eingebunden ist. Es soll ein „Bild der Inklusion“ entstehen und eine Kenntnis darüber, in welcher Weise die unterschiedlichen Teams des REZ, mit ihren unterschiedlichen Aufgabenbereichen zur schulischen Integration der Mosaikklassenkinder beitragen – ähnlich wie ein Mosaik, das aus vielen kleinen Teilchen besteht und nur in der Gesamtheit ein Mosaikbild, ein inklusives Ganzes ergibt. Der Begriff Mosaikklasse hat bereits eine lange Tradition im Rudolf Ekstein Zentrum. Er wurde gewählt, weil die Individualität eines Kindes ein vielfältiges und buntes Mosaikbild darstellt, das aus unzähligen Mosaiksteinchen des Lebens entstanden ist und die einzigartige Persönlichkeit des kindlichen Wesens bildet. Der Begriff passt aber auch sehr gut, um zu beschreiben, wie schwierig es mitunter ist, diese Mosaikteilchen zu einem Bild, zu einem Ganzen, zusammenzufügen. In der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern verstehen wir erst allmählich die Bedeutung und die Zugehörigkeit einzelner Teile – erst nach und nach erschließt sich uns, welche individuellen Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle, und welches Erleben jedes Mosaiksteinchen enthalten dürfte. Wenn wir die schulische Integration verhaltensauffälliger Kinder mit dem Legen eines Mosaikbildes vergleichen, wird auch nachvollziehbar, dass dies eine mühsame und langatmige Arbeit ist. Der Erfolg dieser Arbeit hängt wesentlich davon ab, dass nicht nur Einzelpersonen diese Mosaikteilchen aufnehmen und deren Bedeutung deuten, sondern auch ein gut aufeinander abgestimmtes Team mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen in einer speziellen Weise zusammenarbeitet. Im Rudolf Ekstein Zentrum wird ein Mosaikklassenkind im Aufnahmeprozess, in der Klasse, während der psychagogischen Betreuung und im Rückführungsprozess von Teams und Personen, die unterschiedlichen Arbeitsbereichen angehören, betreut und begleitet. Innerhalb dieser Bereiche gibt es eine enge Zusammenarbeit und einen regelmäßigen Austausch. 70 I-JOURNAL Jänner 2017 1. Die Aufnahme in die Mosaikklasse Kinder können auf einschneidende, belastende oder kaum zu ertragende biografische Erfahrungen, die sie oft bereits in früher Kindheit gemacht haben, mit auffälligem Verhalten reagieren. Es ist ein Verhalten, das sich „(…) in Aggressionen und Übergriffen ebenso auszudrücken vermag wie in Angst, Rückzug und Verstummen“ (Stein/Müller 2015, 36). Wenn dieses Verhalten mit pädagogischem Alltagsverständnis kaum nachvollziehbar ist und unverständlich bleibt oder dieses Verhalten die Sicherheit und Unversehrtheit anderer (Kinder, MitschülerInnen) zu beeinträchtigen droht, und darüber hinaus angenommen werden kann, dass sich diese Kinder aufgrund ihrer emotional-sozialen Beeinträchtigung in der Großgruppe der Volksschule (Grundstufe 1) nicht zurechtfinden, kann eine Aufnahme in eine Förderklasse/ Mosaikklasse in Erwägung gezogen werden. Dafür ist ein Antrag notwendig, den die zuständige Schule stellt. Dieser ergeht an eine regelmäßig tagende Förderkommission, der die zuständige Pflichtschulinspektorin sowie die LeiterInnen der Zentren für Inklusiv- und Sonderpädagogik angehören. Die Kommission entscheidet in einem gemeinsamen Austausch darüber, ob ein Kind in eine Förderklasse/Mosaikklasse aufgenommen wird. Das Angebot der Mosaikklasse richtet sich an junge Volksschulkinder in ihren ersten drei Lernjahren (Vorschule, erste und zweite Schulstufe). Es sind Kinder, die bereits im Kindergarten Auffälligkeiten zeigen und bei denen eine Einschulung in die Vorschulklasse oder erste Klasse der Regelschule nicht sinnvoll erscheint. Darüber hinaus können auch jene Kinder Aufnahme in die Mosaikklasse finden, die bereits in einer Volksschule beschult werden, dort über einen längeren Zeitraum emotional-soziale Auffälligkeiten zeigen und integrative Bemühungen und Fördermaßnahmen am Schulstandort nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Für die Aufnahme in eine Mosaikklasse ist das Einverständnis der Eltern und eventuell eine klinischdiagnostische Abklärung notwendig. Vorarbeiten durch das Beratungsteam Schulstart 20 - Mobiles Mosaikteam Im Vorfeld der Überlegungen steht eine Kontaktaufnahme mit dem Beratungsteam Schulstart des Rudolf Ekstein Zentrums in Wien (BTS 20 Mobiles Mosaikteam). Dieses Team stellt seine fachliche Expertise zur Verfügung, um in einem diagnostischen Prozess mit allen Beteiligten (bisherige Betreuungspersonen, ElementarpädagogInnen oder Lehrkräfte des Kindes, involvierte Institutionen, wie Amt für Jugend und Familie, …) zu klären, ob das intensivpädagogische Angebot einer Förderklasse/Mosaikklasse geeignet ist, um Entwicklungsschritte beim auffälligen Kind anzustoßen. Dabei geht es auch um die Frage, welche schulischen Erfahrungen das Kind braucht, und ob die schulischen Beziehungserfahrungen im Kontext einer Förderklasse/Mosaikklasse im Entwicklungsinteresse des Kindes sind. Das Herstellen eines Arbeitsbündnisses Vor einer konkreten Aufnahme in die Mosaikklasse steht das Herstellen eines Arbeitsbündnisses mit allen Verantwortlichen. Die Kontaktaufnahme mit der Stammschule des Kindes dient nicht nur dazu, die organisatorische und administrative Zusammenarbeit (Schulbuchbestellungen, Bekanntgabe der Fehlstunden, Zeugnis, …) sicherzustellen. Vielmehr wird der Stammschule ein Austausch über den Entwicklungsstand des Mosaikklassenkindes angeboten, mit dem Ziel, über gelungene und noch ausständige Entwicklungsschritte des betreffenden Kindes zu berichten. Es gilt aber auch, Eltern oder Erziehungsberechtigte dafür zu gewinnen, dem Erleben des Kindes in Entwicklungsgesprächen mit dem zuständigen LehrerInnenteam nachzuspüren. Die Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Gesprächen wird in einem Aufnahmevertrag geregelt. In der Elternarbeit des REZ geht es um eine Stärkung der Beziehungs- und Wahrnehmungskompetenz und um regelmäßige gemeinsame Überlegungen, welche Veränderungen es braucht und mit welchem Ziel (vgl. Prinz 2016, 143). Der Erfolg dieser Elternarbeit ist jedoch eng daran geknüpft, dass die Äußerungen und Vermutungen der Eltern oder Erziehungsberechtigten zur Problemlage des Kindes wohlwollend und interessiert aufgenommen werden, moralisierende Wertungen keinen Platz haben und es innerhalb dieser positiven Übertragung gelingt, mögliche Verbindungen zwischen den aktuellen Beziehungserfahrungen des Kindes und unbewältigten Belastungen aus der kindlichen Lebensgeschichte herzustellen (vgl. Figdor 2003, 80-83). 71 I-JOURNAL Jänner 2017 2. Die konkrete Arbeit in der Mosaikklasse Das Setting der Mosaikklasse vor dem Hintergrund einer speziellen Professionalisierung Maximal sechs Kinder werden durch zwei speziell ausgebildete Lehrkräfte betreut und unterrichtet. Die spezielle Ausbildung der MosaikklassenlehrerInnen ergibt sich aus dem Umstand, dass die Mosaikklassen organisatorisch dem Zentrum der PsychagogInnen angehören und auch viele der Lehrkräfte, die dort unterrichtet haben eine psychagogische Ausbildung hatten. Eine tiefenpsychologische Ausrichtung und Professionalisierung setzte sich in den letzten Jahren fort, weil derzeit viele AbsolventInnen des „PsychagogikLehrgangs“ als MosaikklassenlehrerInnen eingesetzt sind. Verstehenszugänge zum auffälligen Verhalten des Kindes entfalten sich in der Mosaikklasse vor dem Hintergrund tiefenpsychologischer Theorien: Unter Einbeziehung des familiären Umfeldes sollen bestimmte kindliche Verhaltensweisen als Ausdruck eines innerpsychischen Geschehens verstanden und bestmögliche Entwicklungen beim Kind angebahnt werden. Die Mosaikklasse wird zu einem Schutzraum für individuelle Bedürfnisse indem die betroffenen Kinder Anerkennung, aber auch Grenzsetzungen durch verlässliche und liebevolle PädagogInnen erfahren. Ziel der Mosaikklasse ist es, den Entwicklungsbedürfnissen dieser Kinder gerecht zu werden und belastende Beziehungserfahrungen so zu überarbeiten, dass diese Kinder altersgemäße Entwicklungsaufgaben bewältigen, ihre Fähigkeit zu Gruppenbeziehungen ausbauen und wieder Freude und Leistungsbereitschaft bei der Meisterung schulischer Aufgaben zeigen. Mosaikklassenkindern wird im Rudolf Ekstein Zentrum ein differenzierter Unterricht geboten, der dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angepasst ist. Es erfolgt eine curriculare Einstufung nach dem Lehrplan der Vorschulstufe, der ersten oder zweiten Schulstufe. Ein Großteil der Mosaikklassenkinder ist aus verschiedenen Ursachen und Belastungen und in unterschiedlicher Ausprägung nicht in der Lage, sich auf altersgemäßes schulisches Tun, Lernen oder Gruppenaktivitäten einzulassen. Theoriegeleitetes Nachdenken und Verstehen An diesem Punkt setzt die eigentliche Arbeit von den Mosaikklassenlehrerinnen ein, weil pädagogischdidaktisches Wissen allein nicht ausreicht, um die Bandbreite des auffälligen Verhaltens zu verstehen und zu verändern. Dies liegt daran, dass theoretisches, bewusst repräsentiertes Wissen nicht ausreicht, um das Verhalten schwieriger Kinder zu verstehen. Vielmehr müssen wir uns praxisbezogen auch um implizites Wissen bemühen. Der Fokus liegt einerseits beim kindlichen Erleben (der Blick in die „innere Welt des Kindes“), andererseits beim eigenen Erleben in der Interaktion mit dem auffälligen Kind („meine emotionale Involviertheit“). Es geht darum, unbewusste Beziehungsdynamiken in Überlegungen zum auffälligen Verhalten miteinzubeziehen. Psychoanalytisch-pädagogische Theorien unterstützen dabei, die unbewusste Bedeutung des auffälligen, unverständlichen Verhaltens einzuordnen. Im Folgenden werden exemplarisch zwei Ansätze vorgestellt, die sich in der pädagogischen Praxis der Mosaikklasse bewährt haben. Die psychoanalytisch-pädagogische Theorie des „szenischen Verstehens“ und die psychoanalytische Sichtweise zur Bedeutung des Spiels bieten ein fundiertes Hintergrundwissen, um auf verschiedene Entwicklungsbedürfnisse des auffälligen Kindes einzugehen und werden zur Grundlage des pädagogischen Handelns (vgl. Datler 2012, 171-174; Gerspach 2009, 117f; Heinemann/Hopf 2015). Szenisches Verstehen Mosaikklassenkinder bringen über ihr auffälliges Verhalten (Angst, Rückzug, verbale Beschimpfungen, körperliche Attacken, austestende Provokationen in Gruppensituationen) jene innerlichen Schwierigkeiten zum Ausdruck, für die sie noch keine Sprache haben. In der Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern fällt auf, dass sich bestimmte schwierige Situationen häufen bzw. wiederholen und diese in ihrer (unbewussten) Bedeutung nicht verstanden werden (vgl. Finger-Trescher 2012, 36-38). 72 I-JOURNAL Jänner 2017 Ein psychoanalytisches Konzept, das die unbewusste Beziehungsebene miteinbezieht, ist das „Szenische Verstehen“. Das auffällige Verhalten wird als Ausdruck einer innerpsychischen Situation und als Wiederholung einer inneren Erfahrung gesehen. Die Aufgabe der MosaikklassenlehrerInnen liegt darin, diese Wiederholung (Reinszenierung) innerer Probleme und unbewältigter Lebensthemen zu „entschlüsseln“. In konflikttypischen Szenen, in die das auffällige Kind sich und andere immer wieder verstrickt, wird dieser Konflikt auf eine verschleierte Art und Weise erzählt. Lorenzer, ein deutscher Psychoanalytiker und Soziologe, nennt eine solche Interaktion, die plötzlich im Klassengeschehen entsteht, eine „Szene“. Die Bedeutung dieser Szene ist aus dem logischen, aktuellen Geschehen heraus nicht erklärbar, sie bleibt unlogisch und merkwürdig. Wenn etwa ein Mosaikklassenkind wiederholt die Nähe zu seinen LehrerInnen sucht, um diese Nähe dann rasch und körperlich aggressiv zu beenden, wäre das ein Beispiel für so eine unverständliche Szene. Die unverstandene Szene kann durchaus unangenehme Gefühle und Irritationen in den Lehrkräften auslösen. Das Kind wiederholt diese Szene (manchmal auch in leicht abgeänderter Form) und bindet die Lehrkräfte immer wieder in eine konflikthafte Art von Szene ein. Dies liegt auch daran, dass verhaltensauffällige Kinder, besonders belastende Erfahrungen gemacht haben und diese mit anderen wichtigen Personen (dazu zählen auch Lehrkräfte) wiederholen bzw. die Beziehung mit ihnen in einer ähnlich konflikthaften Weise gestalten. Kinder, die etwa in der frühesten Kindheit einen Mangel an Zuwendung und Fürsorge erlitten und statt dessen Aggressivität erfahren haben, versuchen auch in der Schule ähnliche Situationen herzustellen, wie jene, die sie erlebt haben dürften. Die Kinder zeigen diese innere Not aber nicht nur in der Beziehungsgestaltung – etwa mit LehrerInnen oder MitschülerInnen – sie nützen dafür auch das Spiel. Die Bedeutung des Spiels in der Mosaikklasse Im Setting der Mosaikklasse nimmt das Spiel einen wichtigen Raum ein. Das Spiel verbindet Wirklichkeit mit Möglichkeit (vgl. Freiheit 2012). So nutzen Kinder, die sich an ihre Erfahrungen und Erlebnisse nicht bewusst erinnern, das Spiel, um sich vor dem bewussten Erleben bedrohlicher Gefühle zu schützen. Gefühle der Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut, Beschämung, Schuld, … können im Spiel in Szene gesetzt werden. Für Melanie Klein ist das Spiel symbolischer Ausdruck unbewusster Konflikte, eine Symbolisierung des psychischen Geschehens (vgl. Heinemann/Hopf 2015, Kapitel 5). Die Kinder erlangen so ein wenig Kontrolle darüber, was ihnen bedrohlich erscheint. Die nicht immer leichte Aufgabe, die MosaikklassenlehrerInnen dabei zufällt, ist es, diese Gefühle aufzunehmen, nachzuerleben und zu ertragen, auch wenn zunächst keine passende Erklärung dafür gefunden werden kann. Wenn sich Lehrkräfte im Spiel, aber auch in anderen schulischen Alltagsituationen derart zur Verfügung stellen, verarbeiten sie die bedrohlichen Gefühle der auffälligen Kinder stellvertretend für sie. Gleichzeitig erfahren schwierige und aggressive Kinder, dass Lehrkräfte sich trotz dieses Verhaltens um sie bemühen, dass ihnen Unterstützung und Vertrauen entgegengebracht wird und bedrohliche Gefühle ausgehalten werden können. Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass Lehrkräfte (unterstützt durch Supervision und Teambesprechungen) eine „Szene“ angemessen deuten und dies den betroffenen Kindern nach und nach auf behutsame Weise versprachlichen. Damit setzt die Lehrkraft andere, als vom Kind unbewusst provozierte Reaktionen. Die Erfahrungen in der Mosaikklasse zeigen, dass verhaltensauffällige Kinder mit der Zeit neue Beziehungsmuster entwickeln. Dieser Prozess ist sehr individuell, verläuft nicht immer geradlinig, und ist nicht selten von Rückschlägen gekennzeichnet. Das Rudolf Ekstein Zentrum bietet Mosaikklassenkindern neben einer individuellen Lernförderung und Entwicklungsförderung im Klassenverband auch psychagogische Einzelbetreuung im Einzelsetting an (kontinuierliche Einzelfallbetreuung). Mosaikklassenkinder bleiben mindestens ein Jahr und maximal drei Jahre in diesem speziellen Fördersetting. 73 I-JOURNAL Jänner 2017 3. Rückführung Spätestens mit dem Beenden der Grundstufe 1 werden die Kinder in ihre Stammschule oder eine andere passende Schule rückgeschult. Ob ein Kind vor dem Ablauf von drei Jahren rückgeschult werden kann, entscheidet sich in einem Teamprozess, unter Berücksichtigung der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung des Kindes. Die Kontinuität der bisherigen Entwicklungsarbeit mit dem Kind wird durch ein integratives Rückschulungskonzept innerhalb der Regelschule abgesichert. Die begonnene Entwicklungsarbeit wird in der Regelschule mithilfe integrativer Maßnahmen fortgesetzt. Ehemalige Kinder der Mosaikklasse können im Schulalltag ihrer Regelschule von einer mobilen Lehrkraft aus dem Team der mobilen MosaiklehrerInnen des Rudolf Ekstein Zentrums begleitet und betreut werden. Diese mobilen Lehrkräfte unterstützen aber nicht nur ehemalige Mosaikklassenkinder bei der schulischen Integration, sie bieten auch Volksschulkindern mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen mittel- oder langfristig schulische Hilfestellungen und Betreuung des betreffenden Kindes im Klassenverband direkt an ihrer Stammschule an. Sie bemühen sich um eine intensive Zusammenarbeit mit der Lehrkraft der Klasse, regen Reflexionsprozesse in Bezug auf das Kind und die Klassengruppe an. Neben der entwicklungsfördernden Arbeit mit dem Kind ist die mobile Lehrkraft auch für die Beratung des kindlichen Umfeldes zuständig. Diese Unterstützung wird bei erfolgreicher Integration schrittweise reduziert (vgl. Prinz 2016, 144). 4. Die Bedeutung des multiprofessionellen Nachdenkens vieler Beteiligter Im Rudolf Ekstein Zentrum entfalten die Aspekte Team, Zusammenarbeit, Professionalisierung und eine damit verbundene Haltung ihre förderliche Wirkung auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Arbeitsbereichen: Im Aufnahmeprozess, in der konkreten Arbeit in der Mosaikklasse, in der psychagogischen Betreuung und auch im Rückführungsprozess beeinflussen sie das multiprofessionelle Nachdenken vieler Beteiligter und erzeugen so einen differenzierten Verstehenszugang zum auffälligen Verhalten dieser Kinder. Eine gelingende Entwicklungsbegleitung des auffälligen Kindes setzt regelmäßige Gespräche unter den beteiligten Professionellen voraus. Bei REZ-internen Fallbesprechungen kommen – in unterschiedlicher Zusammensetzung – Schulleitung, mobiles Mosaikteam, PsychagogInnen, LehrerInnen und mobile LehrerInnen zusammen, um aus der Arbeit mit dem Kind beziehungstheoretische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse abzuleiten und individuelle Entwicklungsziele zu formulieren. Einen wichtigen Beitrag zu einem differenzierten Verständnis des Kindes und seinem sozialen Umfeld können auch regelmäßige Vernetzungsgespräche mit außerschulischen Institutionen, Therapieeinrichtungen und Kliniken leisten. Das Arbeitsbündnis mit der Stammschule in Form eines regelmäßigen Austausches über den Entwicklungsstand des Kindes kann entscheidend zu einer gelingenden Rückführung in die Regelschule beitragen. Schlusswort Das Fördersetting „Mosaikklasse“ kann im Sinne von Inklusion nur dann erfolgreich sein, wenn die Aufnahme, die Arbeit in der Klasse, die psychagogische Betreuung im Einzelsetting sowie die schulische Rückführung dieser Kinder von verschiedenen Personen und Teams des Rudolf Ekstein Zentrums wahrgenommen werden, diese eng miteinander kooperieren, in engem Austausch stehen, es einen gemeinsamen Verstehenszugang vor dem Hintergrund entwicklungspsychologisch fundierter Theorien gibt und wenn darüber hinaus eine hohe Bereitschaft besteht, supervisorische Unterstützung bei der Klassen-, Eltern- und Teamarbeit in Anspruch zu nehmen. Neben diesem Reflexionsvermögen wird das Team des REZ durch eine inklusive Haltung geeint. Sie ermöglicht es, in dieser intensiven Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern dranzubleiben, Neugierde auf das sich entwickelnde Kind zu verspüren, die Einzigartigkeit jedes Kindes anzuerkennen, und sich Achtsamkeit, Wertschätzung und professionelles Verstehen auch in schwierigen 74 I-JOURNAL Jänner 2017 Zeiten zu bewahren. Und schließlich eint auch die Überzeugung von der positiven Wirkung der Beziehungsarbeit, die sich im Leitsatz des Rudolf Ekstein Zentrums abbildet: „Es ist die Beziehung die heilt“. Autorinnenverzeichnis: Regine Prinz, MA (Psychagogik), MEd, Dipl. Päd., Lehramt Hauptschule von 2013 bis 2016 als Mosaikklassenlehrerin im Rudolf Ekstein Zentrum tätig derzeit Psychagogin an zwei Wiener Pflichtschulen Nina Setaffy, MA (Psychagogik), BEd, Lehramt Allgemeine Sonderschule seit 2014 als Mosaikklassenlehrerin im Rudolf Ekstein Zentrum tätig Tijana Wandl, MA (Psychagogik), Dipl. Päd., Lehramt Volksschule; seit 2014 als Mosaikklassenlehrerin im Rudolf Ekstein Zentrum tätig Literaturverzeichnis Datler, M. (2012): Die Macht der Emotion im Unterricht. Eine psychoanalytisch-pädagogische Studie. Psychosozial Verlag: Gießen Figdor, H. (2003): Psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberatung. Theoretische Grundlagen. In Finger-Trescher, U. et al (Hrsg.): Professionalisierung in sozialen und pädagogischen Feldern. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 13. Psychosozial-Verlag: Gießen, 70-90 Finger-Trescher, U. (2012): Psychoanalytisch-pädagogisches Können und die Funktion gruppenanalytischer Selbsterfahrung. In: Datler, W./Finger-Trescher, U./Gstach, J. (Hrsg.): Psychoanalytisch-pädagogisches Können. Vermitteln-Aneignen-Anwenden. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 20. Psychosozial-Verlag: Gießen, 34-52 Freiheit, Katja (2012): Spielend zum Lernerfolg. Möglichkeiten und Grenzen einer Pädagogisierung des Spiels. AV - Akademiker Verlag Gerspach, M. (2009): Psychoanalytische Heilpädagogik. Ein systematischer Überblick. Kohlhammer: Stuttgart Heinemann, E./ Hopf, H. (2015): Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Symptome-Psychodynamik-Fallbeispiele-psychoanalytische Therapie. 5. aktualisierte und erweiterte Auflage. Kohlhammer: Stuttgart Prinz, R. /unter Mitarbeit von Peyrl, B. (2016): Professionalisierung als Voraussetzung für Inklusion - Vorschulförderung verhaltensauffälliger Kinder durch psychoanalytisch- pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte. In: Göppel, R./Rauh, B. (Hrsg.): Inklusion. Idealistische Forderung, individuelle Förderung, institutionelle Herausforderung. Kohlhammer: Stuttgart, 137-147 Stein, R./ Müller, T. (2015): Verhaltensstörungen und emotional-soziale Entwicklung: zum Gegenstand. In: Stein, R./Müller, T. (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Kohlhammer: Stuttgart, 19-43 75 I-JOURNAL Jänner 2017 Projekt Gewaltprävention „Miteinander statt gegeneinander“ Unser Angebot richtet sich an Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule und bis zur 2. Klasse NMS, die gewaltpräventiv mit ihrer Klasse arbeiten wollen. Im Fokus unserer Beratung steht der Blick auf die Gruppe/Klasse und das soziale Geschehen. Wir unterstützen Lehrerinnen und Lehrer, ihre Ressourcen im Umgang mit der Klasse zu erkennen und in ihrer Beziehung zur Klasse bewusst einzusetzen. Begleitend bieten wir je nach Themenstellung mehrere Workshops mit der Klasse im Beisein der Lehrerin an, die anschließend gemeinsam reflektiert werden. Es umfasst: • Beratung der Klassenlehrerin/des Klassenlehrers an ihrer Schule • eine Außensicht auf die Gruppendynamik in der Klasse und die Beziehungsdynamik zwischen Lehrperson und den Kindern • Entwickeln von Arbeitshypothesen zu den aktuellen sozialen Themen in der Gruppe • Unterstützung der Lehrerin beim Entwickeln von Interventionen und Deeskalationsideen • Informationen über die Bedeutung des Spielens für Kinder und über das soziale Lernen • Wissen über Gruppenprozesse und Konfliktaustragung auf der jeweilige Entwicklungsstufe • Workshops mit der Klasse • Literaturtipps und Vernetzung mit anderen Institutionen Im Schuljahr 2015/16 haben wir 14 Klassen in 13 Schulen betreut - sechs VS Klassen, sechs NMS Klassen, zwei ZIS Klassen. Anhand einer kurzen Prozessbeschreibung wollen wir unsere Arbeitsweise darstellen und verdeutlichen: Arbeit in einer 1. Klasse NMS – 12 Schülerinnen und 11 Schüler Im Erstgespräch mit den Klassenlehrerinnen (KV und Co-KV) schildern die Lehrerinnen, dass die Kinder im Unterricht gut arbeiten, in den Pausen und in den Turnsaalgarderoben komme es jedoch zwischen den Burschen immer wieder zu Eskalationen, die auch körperlich ausgetragen werden. In einer Beobachtung in dieser Klasse und aufgrund der Informationen der Lehrerinnen nehmen wir viele schwer belastete und traumatisierte Kinder wahr. Zwei Kinder leben in einer WG und ein Bub kommt direkt aus der Förderklasse. Ein Bub hat akut eine schwere Krise in der Familie. Bei einem dieser Kinder haben wir am Ende auch eine neuropsychiatrische Abklärung empfohlen. Die Lehrerinnen wünschen und erwarten sich, dass wir mit den Kindern Strategien zur Deeskalation der Konflikte erarbeiten. Wir bieten den Lehrerinnen und der Klasse an, dass wir mit ihnen die Hintergründe und den Bedarf der Kinder erforschen. 76 I-JOURNAL Jänner 2017 Beim ersten Workshop boten wir der Klasse gruppenstärkende Spiele an, wobei sich zeigte, dass es besonders unter den Burschen viel um Rangordnung und um den eigenen Platz in der Gruppe geht. Wir entwickelten mit den Lehrerinnen die Arbeitshypothese, dass der Grund für die Eskalationen möglicherweise der Kampf um Gruppenpositionen sein könnte. Das hat uns bewogen mit den Lehrerinnen im Reflexionsgespräch für den zweiten Workshop ein Soziogramm vorzubereiten. Das Lehrerinnenteam leitete die Schülerinnen und Schüler an, einen individuellen kleinen Fisch als Symbol der eigenen Persönlichkeit zu zeichnen. In unserem Workshop durften die Kinder ihren Fisch auf einem Plakat nach ihrer momentanen Empfindung und Beziehung zueinander legen. Unsere Anleitung lautete: „Leg den Fisch dort auf, wo du deinen Platz in der Gruppe in Bezug auf die anderen in der Gruppe siehst.“ Die Kinder bekamen von uns die Einladung, ganz nach ihrem eigenen Impuls schweigend nacheinander – ohne vorgegebene Reihenfolge – ihre Fische einzeln auf ein vorbereitetes leeres Plakat zu legen. Im zweiten Schritt durften die Kinder Veränderungen ihrer Position vornehmen und begründen. Dabei wurde gut sichtbar, dass es eine klare Trennung zwischen Burschen und Mädchen in dieser Klasse gab. Außerdem zeigte sich, dass sich ein Bub ausgeschlossen fühlte, weil die anderen Burschen immer wieder ihren Fisch von seinem Fisch weg bewegten. Er konnte seine Frustration und Kränkung mit unserer Unterstützung deutlich ausdrücken und einige MitschülerInnen nahmen ihre Betroffenheit darüber wahr. Sie entwickelten daraufhin gemeinsam konstruktive Lösungsmöglichkeiten, wie sie dem Jungen Angebote zum Mitspielen oder zum miteinander Reden machen könnten. Am Ende konnten alle, auch der betroffene Bub, eine gute Position in der Gruppe finden, und es war eine deutlich entspannte Atmosphäre in der Gruppe für uns spürbar. Den Kindern wurde deutlich, wie es sich anfühlt von anderen ausgeschlossen zu sein, und einige Kinder waren in der Lage, darauf einfühlsam zu reagieren. In den Reflexionsrunden mit den Kindern wurde thematisiert, dass jeder gut auf seine Position und auf die Abstände zu den anderen achten und diese regulieren kann. Ein aus seiner Vorgeschichte sehr belasteter Bub brachte ein, dass für ihn ein großer Abstand viel Schutz bedeutet und er so einen guten Platz etwas abseits von den anderen gefunden hat. Es erschien uns eine bedeutsame Erkenntnis für die Kinder und die Lehrerinnen, dass sich nicht jedes Kind, das auf Abstand zu anderen wahrgenommen wird, als Außenseiter fühlt, sondern dass es nur im gemeinsamen Dialog feststellbar ist, wie ein Kind sich und seine Rolle in der Klasse wahrnimmt. In der Mädchengruppe zeigte sich sehr viel Nähe und das Bedürfnis „aufs aufeinander Schauen“. Wir erlebten unter den Mädchen einen starken Zusammenhalt und einen fürsorglichen Umgang miteinander. Einige Mädchen thematisierten, dass ein Stück mehr Nähe und Verbindung zu den Burschen für sie möglich wäre. Der Gruppenprozess und die Reflexion waren in dem wertschätzenden Rahmen erstaunlich intensiv, die Kinder hatten viel Interesse aneinander und am Geschehen und konnten mit unserer respektvollen Unterstützung und Anleitung ihre Bedürfnisse und Ängste gut ansprechen. Es war für die Lehrerinnen und uns berührend, wie offen die Kinder ihr eigenes Erleben ausdrückten und wie dieser, von uns empathisch begleitete gruppendynamische Prozess das Vertrauen der Kinder zueinander vertiefen konnte. Aufgrund unserer Beobachtungen in den Pausen konnten wir den Lehrerinnen die Anregung mitgeben, wie wichtig ihre fallweise Anwesenheit (auch bei Gangaufsichten) aufgrund ihrer stabilisierenden Wirkung auf die Klasse sei. Dadurch hätten sie die Möglichkeit, Konflikte rechtzeitig zu deeskalieren und der Gruppe damit mehr Sicherheit zu geben. Weiters haben wir erarbeitet, dass Spieleangebote für eine konstruktive Pausengestaltung sinnvoll wären. Um den Prozess weiter zu begleiten und abzurunden, boten wir nach einem Monat einen Folgeworkshop an. In diesem griffen wir noch einmal das Soziogramm, das in der Klasse an der Pinnwand gut sichtbar war, auf. Wir leiteten die Kinder an, die Gruppenposition vom Plakat vom letzten Workshop genau anzuschauen und sich dementsprechend in der Kreismitte aufzustellen. Damit konnte noch einmal spürbar werden, welche Position jede/jeder in dieser Gruppe hat. Sie sollten nachspüren, wie sich das heute anfühlt, ob es noch passt, oder ob es Veränderung bräuchte. 77 I-JOURNAL Jänner 2017 Mutig wurden Veränderungswünsche angesprochen, gleich ausprobiert und neue Positionen entdeckt. Diesmal kam es auch zu einer leichten Annäherung zwischen Mädchen und Burschen. Damit ermöglichten wir den Kindern und Lehrerinnen die Erfahrung, dass Rollen und Positionen im Beziehungsgefüge nicht festgefahren sind, sondern immer wieder Veränderungen unterliegen. In der Nachbesprechung meldeten uns die Lehrerinnen zurück, dass die Eskalationen in der Gruppe deutlich abgenommen haben und dass auch während der Schullandwoche ein besseres Gruppenklima wahrnehmbar war. Bei der Reflexion mit den Kindern am Ende des dritten Workshops äußerten alle Kinder den Wunsch, dass wir im nächsten Schuljahr wiederkommen sollten. Auch die Lehrerinnen gaben uns bei der Nachbesprechung die Rückmeldung, dass sie sich von uns gut unterstützt gefühlt hatten und an einer Fortsetzung des Projektes interessiert wären. Michaela Sodl Anna Maria Böckl Psychagoginnen Rudolf Ekstein Zentrum, ZIS 20 Kontakt: 0664/559 25 29 78 I-JOURNAL Jänner 2017 „Stärke durch Beziehung - Zum Wohle des Kindes und Jugendlichen“ „Neue Autorität“- Pilotprojekt Floridsdorf Die Etablierung des Pilot-Projekts „Stärke durch Beziehung - Zum Wohle des Kindes und Jugendlichen“ in Floridsdorf wurde durch die PSI DOPPLER-EBNER und PSI Mag.a SCHÜTZELHOFER mit initiiert und tatkräftig forciert. Dadurch konnte die Haltung der „Neuen Autorität“ im APS-Bereich des 21. Wiener Gemeindebezirks - in einem gemeinsamen Bestreben - gut unterstützt auf den Weg gebracht werden. Das Projekt bietet durch seine praxisbezogene Umsetzbarkeit konstruktive Möglichkeiten, den gesellschaftlichen Herausforderungen und den damit verbundenen neuen pädagogischen Ansprüchen gelingend begegnen zu können. Gearbeitet wird nach dem wertvollen Instrumentarium der „Neuen Autorität“ von Prof. Dr. Haim OMER, einem Konzept der pädagogischen und elterlichen Präsenz mit systemischem Ansatz: 1. Die derzeit zu lösenden Themen sind im Alleingang nicht zu „stemmen“ und erfordern ein bewusstes Miteinander aller BündnispartnerInnen (Sicherheitsgefühl). In diesem Netzwerk werden mögliche weitere Vorgehensweisen kreiert und gemeinsam umgesetzt. 2. Um den Ängsten der Menschen und den daraus resultierenden Aggressionshandlungen gelingend statt ohnmächtig - entgegen treten zu können, erfordert es gemeinschaftliche Strategien der kleinen Schritte, welche dann flächendeckend umgesetzt werden. Dem bestehenden Führungsproblem wird durch Stärkung der Pädagogik, Legislative und Exekutive begegnet (Couragierte Gemeinschaft). 3. Der Wesens-Kern des „gelebten“ Konzepts von Prof. Dr. Haim OMER ist die innere wertschätzende Haltung, getragen durch persönliche Präsenz und Wachsame Sorge, welche die konstruktive Beziehungsgestaltung als wichtigste Ressource sieht. Verfügbare Netzwerke werden mit einbezogen, die Praxis des Gewaltlosen Widerstands (GANDHI) mit beharrlicher Entschlossenheit angewandt. Das Gelingen eines guten Miteinanders erfordert vom Individuum und Gemeinschaftswesen Mensch vor allem • das Setzen von Grenzen • ein positives Beziehungsangebot unabhängig vom Verhalten • das In-Gang-Setzen eines konstruktives Prozesses, um Überzeugungen und Haltungen im Sinne eines respektvollen gewaltlosen Miteinanders zu ändern • das Mobilisieren des Umfeldes im Interesse des Kindes. Um als Gemeinschaft dem problematischen Verhalten von Kindern und Jugendlichen entschlossen und beharrlich gegensteuern zu können, wächst stetig eine achtsam bewusste Kooperation mit allen, mit den Kindern und Jugendlichen befassten, Institutionen. Durch gemeinsame Treffen im Sinne der Haltung einer konstruktiven Autorität konnten potentiell unterstützende Bündnispartnerschaften und Netzwerke mit dem Amt für Jugend und Familie, Polizei, Justiz, Staatsanwaltschaft, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädagogische Hochschule, usf. geschlossen, gepflegt und weiter vertieft werden. Diese so entstandene wohlwollende „Wir“-Qualität unserer neu inspirierten Zusammenarbeit hat unsere Handlungsfähigkeit erweitert und zusätzlich die soziale Sicherheit gestärkt. 79 I-JOURNAL Jänner 2017 Die bewusst gelebte Beziehungskultur, wie auch gemeinsam klar gegen destruktives Verhalten wider die Gemeinschaft aufzutreten, wirkt sich systemisch aus, neue Projekte sind entstanden, entstehen und entwickeln sich: UNA (Unterstützung Neue Autorität) besteht aus speziell ausgebildeten Lehrerinnen, welche das Instrumentarium des Konzepts von Prof. Dr. Haim OMER (Stärke durch positive Beziehung) durch Vorträge und Workshops mit-unterstützend an die Schulen und in andere Institutionen bringen. Ziel ist es, zur Haltung der Neuen Autorität zu inspirieren, zu ermächtigen, zu helfen, diese umzusetzen und sie gemeinsam zu leben. Im Konzept BERATUNGSTEAM SCHULSTART/POP-UP wirken LehrerInnen im Volksschulbereich im Sinne der Neuen Autorität vor Ort in den Klassen, in welchen ein Kind durch Dissozialität die Gruppe überfordert. Gemeinsam mit den, im System mit dem Kind Befassten wird durch beziehungsorientierte Haltung ein Unterstützungsplan und -setting entwickelt. Ziel ist, den Schüler/die Schülerin inklusiv im Klassenverband bei gleichzeitigem Durchführen von Verhaltensmodifikationen zu halten. Ein Kooperations- und Präventions-Projekt der Justiz, Polizei und Schule ist JUDGE4U, welches von der Jugendstrafrichterin Mag.a NACHTLBERGER initiiert wurde. Ziel ist es, „gefährdete“ oder straffällig gewordene Jugendliche über Beziehungsangebote und durch verschiedene pädagogisch-methodische Zugänge, ein Gefühl für Recht und Unrecht spürend wahrnehmen zu lassen und sie so zur Einsicht und Selbstverantwortungsübernahme für ihr Tun zu bringen. Die Wirkungsweise und Resonanz ist bei allen Projekten positiv hoch. Mag.a Dr.in Ilse Paulnsteiner Leiterin im SES/ZIS 21 80 I-JOURNAL Jänner 2017 Das dynamische Konzept der „Neuen Autorität“ und des gewaltlosen Widerstands nach Haim Omer Neue Autorität in Floridsdorf SES/ZIS 21 Viele Erwachsene erleben sich im Umgang mit Kindern und Jugendlichen zunehmend handlungsunfähig. PädagogInnen und Erziehende brauchen eine neue Form von Autorität, weil sie merken, dass sie manchen Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen hilflos und ohnmächtig gegenüber stehen. • • • • respektloser Umgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenen verschiedenste Formen von Mobbing verschiedenste Formen von sexuellen Übergriffen verbale und körperliche Aggression • verschiedenste Formen von Gewalt Prof. Dr. Haim Omer, Lehrstuhlinhaber für Psychologie an der Universität Tel Aviv hat den Begriff der „Neuen Autorität“ in Erziehung und Gemeinwesen basierend auf der sozialpolitischen Idee Mahatma Gandhis geprägt. Das Konzept beschreibt die Notwendigkeit, Autorität neu zu definieren, um Personen mit pädagogischer/ erzieherischer Verantwortung Mittel in die Hand zu geben, Regeln aufzustellen und deren Einhaltung einfordern zu können. Die verantwortlichen Personen lernen über die Haltung der Präsenz und durch Interventionsmöglichkeiten des gewaltlosen Widerstandes aus den Machtkämpfen auszusteigen, Unterstützungssysteme zu nützen und den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen mit Wertschätzung und Achtsamkeit zu begegnen. Wesentliche Aspekte der „Neuen Autorität“ sind in folgender Grafik zusammengefasst: „ Das neue Bild von Autorität hat ganz andere Assoziationen: von Stärke, von einem Anker, den wir anbieten, von Beharrlichkeit und Selbstkontrolle.“ Prof. Haim Omer, Universität Tel Aviv 81 I-JOURNAL Jänner 2017 Neue Autorität in Floridsdorf Durch die intensive Auseinandersetzung unseres Teams mit den Prinzipien der Neuen Autorität und des Gewaltlosen Widerstands hat sich im 21. Bezirk ein Unterstützungsnetzwerk mit unterschiedlichen BündnispartnerInnen gebildet. Verschiedene VertreterInnen schulischer und außerschulischer Institutionen haben sich zur Mitarbeit bereit erklärt. Mit großer Offenheit wird das Projekt von PSI Mag.a Schützelhofer sowie PSI Doppler-Ebner mitgetragen und gefördert. Dadurch sind in Floridsdorf bereits einige innovative Projekte im schulischen Kontext entstanden (Judge4U, Pop-up, UNA). SES/ZIS 21 - Perspektive Unterstützungssysteme & Bündnisse Neue Autorität Ziel dieses Pilotprojektes ist ein professioneller Umgang mit Konflikten und Gewaltphänomenen. Das gesamte verfügbare Netzwerk (siehe Grafik) wird nach Bedarf in den Prozess von Problemlösungen miteinbezogen und als Unterstützungsgruppe genützt. So entstehen Bündnisse für das Erreichen von gemeinsamen pädagogischen Zielen, was wiederum den Kindern und Jugendlichen zugute kommt. Das Projekt „Neue Autorität“ soll hinkünftig an allen Pflichtschulen des Bezirks Floridsdorf umgesetzt werden. 82 I-JOURNAL Jänner 2017 UNA - Unterstützung Neue Autorität In Form von Impulsreferaten und Vertiefungsseminaren werden vom UNA-Team Pflichtschulen im 18., 19. und 21. Bezirk betreut. Inhalte und Ziele: • Vermittlung der Grundlagen der Neuen Autorität • Reflexion bzw. Neudefinition des Autoritätsbegriffes • Stärkung der PädagogInnen durch das Gefühl des Miteinanders und des Unterstützt-Werdens • Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit • Widerstand bei unerwünschten/destruktiven Verhaltensweisen durch Präsenz und Beziehung • Bewusstmachung von Eigenverantwortung • Erlangung einer positiven Fehlerkultur „Ich darf Fehler machen“ • Unterbrechung von Eskalationskreisläufen • Wahrung einer respektvollen Haltung - auch in Krisensituationen Durch das UNA-Team werden je nach Bedarf Schulen über einen längeren Zeitraum prozessorientiert begleitet. Dipl. Päd.in Brigitte Gartner-Denk Dipl. Päd.in Jacqueline Krenn-Knafl Dipl. Päd.in Barbara Reinwald Dipl. Päd.in Jutta Wlceck–Abdank SES/ZIS 21 – Leitung: Mag.a Dr.in Ilse Paulnsteiner 83 I-JOURNAL Jänner 2017 Pop-Up Das allgemeine Bildungsziel zum Umgang mit SchülerInnen mit sozialem und emotionalem Förderbedarf ist im Lehrplan der Sondererziehungsschule wie folgt definiert: „Den Schülerinnen und Schülern soll ein Lernumfeld geboten werden, welches einen Verbleib an der allgemeinen Schule bzw. die Reintegration in diese und den erfolgreichen Abschluss der jeweiligen Schulart sowie die Entwicklung von Berufsperspektiven ermöglicht.“ Den Kindern im Verbleib an der allgemeinen Schule die notwendigen Fördermaßnahmen zu ermöglichen, gab es bisher nur unzureichend. Stattdessen wird der Unterricht in Förderklassen unter speziellen Rahmenbedingungen an die individuellen Bedürfnisse der SchülerInnen angepasst und hat neben herkömmlichen Unterrichtsmethoden auch einen erzieherischen Charakter. Allerdings geht mit Eintritt in die Förderklasse der Kontakt zur Regelklasse für das Kind verloren, was wiederum die Reintegration zusätzlich erschwert. Das Pop-Up Konzept sieht nun vor, Kinder in der Normalität zu halten und die Vorteile der Förderklasse zu nutzen. Was bisher in der Exklusion (Förderklasse) geschah, soll nun mit Hilfe des Pop-Up Konzepts in den Klassen und im gewohnten sozialen Umfeld passieren: „Die Schülerinnen und Schüler sollen • Einsicht in die eigenen Verhaltens- und Bewältigungsmuster gewinnen und Verhaltensalternativen entwickeln, • ihre Lebenserfahrung und ihre Lebensbedingungen reflektieren und verstehen, • Möglichkeiten der Verhaltensänderung kennen lernen und in der Lage sein, Unterstützung anzunehmen, • sich der eigenen Ressourcen bewusst werden und diese einsetzen sowie nutzen können, • Selbstwert und Selbstvertrauen sowie Beziehungs- und Bindungsfähigkeit auf- bzw. ausbauen und • Zukunftsperspektiven entwickeln.“ (BGBl. II 2012, S. 2) Dabei baut das Pop-Up Konzept auf den Grundgedanken der „Neuen Autorität“ nach Haim Omer auf. Durch die enge Zusammenarbeit mit den LehrerInnen und Eltern basiert die Arbeit der Pop-Up LehrerInnen auf der Säule „Unterstützungssysteme und Bündnisse“. Im Sinne der „Transparenz und Öffentlichkeit“ werden Bündnispartner kontinuierlich über die Vorgänge an der Schule informiert. Durch „Präsenz und Wachsame Sorge“ wird die Stabilität in der Klasse von den Pop-Up LehrerInnen wiederhergestellt. Der Erfolg des hier vorliegenden Konzepts ist neben den organisatorischen Rahmenbedingungen auch an Menschen gebunden, die nach den gleichen Grundgedanken handeln, um eine gemeinsame innere Haltung zu entwickeln, mit welcher sie auftreten. Um dies zu gewährleisten, werden KlassenlehrerInnen, die mit der „Neuen Autorität“ noch nicht vertraut sind, von den Pop-Up LehrerInnen dahin gehend geschult. Das Ziel des Pop-Up Konzepts ist es, die Vorteile einer Förderklasse, nämlich das intensive Arbeiten an sozialen und emotionalen Fähigkeiten, an die Regelschulen zu bringen. Auffällige SchülerInnen werden im Klassenverband und somit der Normalität gehalten. Durch das rasche Agieren in Eskalationsprozessen kann auch die Stabilität innerhalb der Stammklasse erhalten bleiben. Dadurch bleibt der Kontakt zum üblichen sozialen Trainingsfeld bestehen und eine mögliche Stigmatisierung durch die Exklusion wird vermieden. Die Pop-Up LehrerInnen arbeiten mit der gesamten Klasse und auch den LehrerInnen, wodurch die Arbeit an einer Verhaltensänderung nicht alleine vom Kind getragen wird. Anders als für das jetzige Konzept der Förderklasse besteht somit für auffällige SchülerInnen noch die Möglichkeit, sich innerhalb der Stammklasse weiterzuentwickeln und diese als soziale Ressource zu nützen. 84 I-JOURNAL Jänner 2017 Ablauf Das Pop-Up Konzept für die Vorschulklasse läuft in folgenden Phasen ab: 1. Phase: Vorbereitung Nach der Meldung eines auffälligen Kindes an das ZIS 21 wird dieses in Zusammenhang mit der Klasse von den FörderklassenlehrerInnen beobachtet und die Bedürfnisse abgeklärt. Ziel ist es, eine rasche, konkrete, jedoch zeitlich begrenzte Hilfestellung für alle Beteiligten zu installieren. Dazu wird ein, auf die Klasse maßgeschneidertes, Programm erstellt und den LehrerInnen angeboten. Dieses Programm kann umfassen: • Soziales Kompetenztraining • Arbeit am Verhalten (Belohnungssystem, etc.) • Klassenmanagement (non-verbal) • Elterngespräche • LehrerInnengespräche • SchülerInnengespräche • Vernetzung • Entlastung der betroffenen LehrerInnen durch Halten von Unterrichtseinheiten (Blickwinkel verändern) 2. Phase: Praktische Unterstützung In der zweiten Phase wird nun das spezifische Wissen über den Umgang mit Kindern mit sozialem und emotionalem Förderbedarf von FörderklassenlehrerInnen in die Stammklasse getragen und in der Klasse umgesetzt. Diese Umsetzung übernehmen die FörderklassenlehrerInnen selbst, indem sie nach der Vorbereitungsphase mit der gesamten Klasse arbeiten und soziale Unterrichts-Einheiten durchführen. Neben der Hilfestellung im Unterricht werden zusätzlich, je nach Bedarf, unterschiedliche Unterstützungssysteme in der Schule und zu Hause installiert. Dies erfolgt durch: • Vorstellen und Üben non-verbaler Unterrichtstechniken • Einführen von Belohnungssystemen • Halten von sozialen Lerneinheiten (Umgang mit Konflikten, Klassenregeln, Spielregeln, Lob, Respekt, Selbstwahrnehmung, ...) • Erarbeiten von Deeskalationsmaßnahmen • Absprechen von erziehungstechnischen Methoden, Belohnungssystemen und Konsequenzen mit den Eltern • Miteinbeziehen der betroffenen Kinder in den Veränderungsprozess • Führen von SchülerInnengesprächen So wird in dieser Phase der Schwerpunkt darauf gelegt, das Kind im vertrauten Umfeld zu belassen und mit der gesamten Klasse soziale Handlungsfähigkeiten zu trainieren. Die Unterrichtseinheiten werden dabei individuell an die Bedürfnisse des Kindes und der Klasse angepasst und von den FörderklassenlehrerInnen gehalten. Durch den direkten Kontakt mit der Klasse können sich die FörderklassenlehrerInnen besser an den Kindern und der Klassendynamik orientieren, wodurch der weitere Verlauf besser geplant werden kann. Die jeweiligen Unterrichtseinheiten werden mit den KlassenlehrerInnen nachbesprochen und reflektiert, um herauszuarbeiten, welche Handlungsalternativen sich für die KlassenlehrerInnen anbieten, um in weiterer Folge gestärkt und alleine mit schwierigen Situationen umgehen zu können. 85 I-JOURNAL Jänner 2017 Wichtig ist es, LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern wieder in die eigene Handlungsfähigkeit zu bringen. Die Aufgabe der FörderklassenlehrerInnen besteht darin, diesen Veränderungsprozess durch ihre Methoden und Erfahrungen einzuleiten und zu begleiten. 3. Phase: Nachbetreuung und Abschluss Nach der starken Präsenz in der zweiten Phase ziehen sich die FörderklassenlehrerInnen nun wieder aus dem Unterrichtsgeschehen zurück, und unterstützen die KlassenlehrerInnen bei der Umsetzung der verhaltenspädagogischen Maßnahmen. Dabei stehen die FörderklassenlehrerInnen den KlassenlehrerInnen im weiteren Verlauf stundenweise in der Klasse oder telefonisch zur Verfügung, um die weitere Entwicklung zu reflektieren. Wenn nötig werden Unterstützungssysteme mit den Ressourcen der Stammschule installiert, die auch ohne FörderklassenlehrerInnen weiterlaufen können. Mit diesen drei Phasen ist die Arbeit der Pop-Up Klasse grundsätzlich beendet. Aus unserer Erfahrung in der Praxis, ist in den meisten Fällen keine Exklusion notwendig. In Fällen, in welchen sich jedoch alle Beteiligten schon sehr tief in einem Eskalationsprozess befinden, kann es allerdings hilfreich sein, das Kind aus der Klasse zu nehmen. Ob die angedachten und ergriffenen Maßnahmen innerhalb des Klassenverbandes ausreichen, um positive Veränderungen zu erzielen, ist erst nach der zweiten Phase ersichtlich. Aus diesem Grund wird eine etwaige, kurzfristige Exklusion erst danach in Erwägung gezogen (siehe Grafik): AblaufExklusion in der Stammklasse: in der Förderklasse: 1.Phase: Vorbereitung 2.Phase: Praktische Unterstützung Exklusion 3.Phase: Nachbetreuung Exklusion (in Ausnahmefällen) Sollten die Ressourcen in der Klasse nach der zweiten Phase ausgeschöpft sein und sollte es weiterhin zu Krisensituationen kommen, so kann zur Entspannung aller Beteiligten angeboten werden, das Kind (mit Einverständnis der Eltern) für kurze Zeit aus der Klasse zu nehmen und in der Förderklasse im ZIS 21 zu unterrichten. Die FörderklassenlehrerInnen wechseln mit dem Kind in die Exklusion. In diesem Zeitraum wird besonders und vorrangig verhaltensmodifizierend an den sozialen Kompetenzen des Kindes gearbeitet mit dem Ziel, es so bald wie möglich wieder in den Klassenverband zu reintegrieren. Während dieser Zeit bleibt auch ein enger Kommunikations- und Informationsaustausch mit den PädagogInnen der Stammklasse erhalten, um das Angebundensein des Kindes in der Gruppe zu wahren. Dipl.Päd. Susanne Propst Joachim Seiler BEd 86 I-JOURNAL Jänner 2017 Judge4U Eine Maßnahme im Rahmen des Projektes zur Bekämpfung der Jugendkriminalität in Floridsdorf Die Erfahrung mit straffällig gewordenen Jugendlichen zeigt, dass es sich meist nicht um pubertätsbedingte, vorübergehende Phasen in der Entwicklung heranwachsender Menschen handelt, in der sie sich durch die Begehung strafbarer Handlungen "erproben wollen", oder "versehentlich in etwas hineinrutschen". Zumeist handelt es sich um Jugendliche, deren Entwicklung schon früh durch Beziehungsabbrüche und damit einhergehenden Bindungsstörungen, Gewalt, Fremdunterbringung, Alkoholmissbrauch, psychische oder physische Erkrankungen sowie Kriminalität innerhalb des familiären Systems geprägt ist. Die Ressourcen im erzieherischen häuslichen und schulischen Umfeld sind oft nicht ausreichend, um all jene Defizite auszugleichen, die eine kriminelle Entwicklung bedingen bzw. begünstigen. Aufgrund der Komplexität der Problematik ist ein Zusammenwirken sämtlicher Behörden, die mit der jugendlichen Existenz in den unterschiedlichsten Kontexten konfrontiert sind, anzustreben. Die Maßnahme Judge4U versteht sich als vertrauensbildender und das Rechtsbewusstsein fördernder Brückenschlag zwischen Schule und Jugendgericht. Viele Jugendliche der betreffenden Zielgruppe haben bereits Erfahrungen mit dem Gesetz gemacht. Diese Erfahrungen werden subjektiv zumeist negativ empfunden. Der gefährdete Jugendliche begreift sich als ohnmächtiges Opfer, fühlt sich ungerecht behandelt und übt sich im ganzheitlichen Widerstand. Hier gilt es präventiv gegenzusteuern. Gefährdeten Jugendlichen einen persönlichen Kontakt zur staatlichen Autorität in einem geschützten, informellen, begleiteten Rahmen zu ermöglichen, kann die Scheu, bzw. Angst vor dieser Institution nehmen und das Gericht "erfahrbar" machen. Projektablauf Das Projekt Judge4U besteht aus vier Workshops bzw. Terminen. Zielgruppe sind SchülerInnen aus Neuen Mittelschulen des 21. Bezirks, die bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder stark gefährdet sind. Im Vorfeld werden durch die betreuenden LehrerInnen Kurzcharakteristika der SchülerInnen verfasst und der Jugendrichterin und Budopädagogin Frau Mag.a Nachtlberger und dem Präventionsbeamten der Polizei übermittelt, um einen Eindruck über die individuellen Risiko- wie Schutzfaktoren in Hinblick auf gezielte Kriminalprävention zu verschaffen. Der Präventionsbeamte der Polizei ist kein Ermittlungsbeamter, sondern ist in den Schulen unterwegs und steht den SchülerInnen und Schülern als Kontakt- und Ansprechperson – auch nach der Veranstaltung - zur Verfügung. An den beiden ersten Terminen werden die Jugendlichen von schulischer Seite mit dem Themenschwerpunkt „Was ist Recht und Unrecht?“ konfrontiert. Ziel ist es, sich mit dieser Thematik ernsthaft auseinanderzusetzen und das eigene Handeln zu reflektieren. Zusätzlich werden in der Gruppe gemeinsam weitere Themenschwerpunkte wie Kinderrechtskonvention, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Straftaten, Staatsanwaltschaft und Gericht, Folgen einer Straftat, Jugendschutzgesetz und politische Hintergründe altersgemäß erarbeitet und besprochen. 87 I-JOURNAL Jänner 2017 Beim dritten Termin haben die Jugendlichen die Möglichkeit - erstmals - einer Richterin und einem Präventionsbeamten der Polizei neutral, unvorbelastet und unvoreingenommen zu begegnen, um mit Experten über Recht/Unrecht, Straftaten, Gesetze, Konsequenzen und deren damit verbundenen Erfahrungen zu sprechen, zu diskutieren und auch ein wenig über diese Begriffe zu philosophieren. Die Vertreter des Rechtsstaates werden dabei von einem (von der Richterin in der Vergangenheit verurteilten und für diese Veranstaltung speziell instruierten) jungen erwachsenen Ex-Straftäter begleitet, der über seinen Werdegang und die Zeit im Gefängnis berichtet. Das Projekt bietet hier den Schülern eine wichtige Identifikationsfigur, die einen wesentlichen Anteil an der Glaubhaftigkeit des Projekts für die Schüler bildet. Zum Ablauf des dritten Termins bzw. Workshops ist noch zu ergänzen, dass die Jugendlichen mit der Richterin und dem Präventionsbeamten in einem Sitzkreis sitzen - diese agieren abwechselnd und ergänzend - wobei sowohl paternales als auch maternales Fürsorgeprinzip gleichzeitig verwirklicht werden. Innerhalb des Sitzkreises befinden sich verschiedene Gegenstände wie Strafgesetzbuch, Richtertalar, Polizeikappe, Einsatzstab der Polizei, Handfesseln, ein Bokken (Japanisches Holzschwert, Symbol für Klarheit, Zielstrebigkeit, Durchsetzungsvermögen und Schärfe, richterliche Entscheidungsmacht), Baseballschläger und Schlagring. Das Berühren der Gegenstände wird anfangs erklärend verwehrt, später wird der Kontakt zu den Gegenständen kontrolliert erlaubt und reflektiert, wobei es um die spürbare Veranschaulichung verschiedener Themen geht (z.B. Gefährlichkeit von Waffen, Freiheitsentzug, Straftatbeständen). Anhand der Materialien ergeben sich verschiedene Erzählungen aus dem eigenen Erleben der Schüler, und so findet eine Vertiefung der Themen auf individuelle – fast unbemerkte – Weise statt. Das Setting ist fernab eines Frontalvortrages gestaltet, versucht vielmehr in menschlicher, erlebnispädagogisch geprägter Begegnung, einen Zugang zu den Schülern zu finden und diesen gleichzeitig Führung und Orientierung erfahrbar zu machen. Das bedeutet auch, dass diese Einheit zwar einerseits locker gestaltet ist, um auf die Bedürfnisse zum Thema jeweils spontan eingehen zu können, andererseits jedoch, auf Respekt, Höflichkeit und Haltung geachtet wird und diese von Richterin und Polizeibeamten eingefordert werden. Den Schülern gelingt es innerhalb des geschaffenen Rahmens darauf einzusteigen und es hat sich insgesamt ein großes Informations- und Redebedürfnis gezeigt, wobei Letzteres sich zu philosophischen Fragen um Gerechtigkeit, der Suche nach persönlichem Frieden und dem Sinn des Lebens allgemein hin entwickelt. Es ist sehr wichtig, hier auf die Schüler einzugehen, und diesen Herzensfragen Raum zu geben. Beim vierten und letzten Termin dürfen die Jugendlichen gemeinsam mit dem Präventionsbeamten drei Gerichtsverhandlungen - geleitet von der Jugendrichterin Frau Mag.a Nachtlberger - verfolgen und im Anschluss die Polizeiwache besuchen. Abschließend wird gemeinsam mit der Gruppe über das Erlebte reflektiert. Durch diese Erfahrungen vor Ort kann ein positives Bild von Gericht und Polizei erzeugt werden. Ängste, Hass und Vorurteile können abgebaut und andererseits auch die Konsequenzen von Straftaten beeindruckend nähergebracht werden. Resümee (Ralf John) Während die Wissensvermittlung und Einführung in die Thematik am Schulstandort ZIS 21, Theodor-Körner-Gasse 25, stattfand, begleitete ich in meiner Tätigkeit als Beratungslehrer die Jugendlichen während des Projektes und achtete besonders auf deren Reaktionen, Eindrücke und Emotionen. Einige der Burschen hatten schon häufig Kontakt mit der Polizei und dem Gericht. Bei diesem Treffen konnten sie mit Beamten der Justiz in Kontakt kommen und ganz unbelastet über die bereits gemachten Erfahrungen sprechen, ohne selbst angeklagt oder verhaftet zu sein. 88 I-JOURNAL Jänner 2017 Die Jugendlichen fassten schnell Vertrauen und erzählten über Ihre negativen Erfahrungen im Leben, die sie geprägt hatten, und auch über die bereits begangenen Straftaten. Beeindruckend waren die Erfahrungen des jugendlichen Ex-Straftäters, der über die Zeit im Gefängnis berichtete. Herrschte zuerst die Meinung, der Strafvollzug sei nicht so schlimm, gute Verpflegung sowie TV und Sport würden den Tag schnell vergehen lassen, so führte der Gefängnisalltag mit seinen Hirarchien und Gefahren bei den Jugendlichen schnell zur Ernüchterung. Besonders bei jenen, die schon Kontakterfahrungen mit der Polizei hatten, aber nie verurteilt wurden, da sie noch unter 14 Jahre alt waren. Vieles bekam eine völlig andere Perspektive. Großer Respekt wurde dem jugendlichen Ex-Straftäter für seinen Mut, so offen über seine Fehler und Erfahrungen zu sprechen und zu reflektieren, entgegengebracht. Hat die Schule Bündnispartner - wie Polizei und Justiz - kann präventiv gut angesetzt werden, um Jugendliche vor Straftaten zu bewahren. Es wäre - flächendeckend in Wien eingeführt - eine sehr sinnvolle Präventionsarbeit und Chance für gefährdete Jugendliche und sicher kostengünstiger als die spätere Erhaltung und Rückführung von Straftätern. Mag.a Doris Nachtlberger Richterin am Bezirksgericht Floridsdorf Budopädagogik-Master, Budo-Therapeutin Ralf John Msc 89 I-JOURNAL Jänner 2017 Wildnis macht Schule Das Pferde-Wildnis-Projekt des ZIS 6, Mittelgasse Seit September 2012 leitet Frau Mag. Waltraud Marsoner, Beratungslehrerin und ausgebildete Natur- und Wildnispädagogin das, von ihr erdachte und initiierte Pferde-Wildnis-Projekt des ZIS 6, Mittelgasse 24. Auf einem großen Wiesen- und Waldareal in der Lobau wurden zwei große Weidezelte aufgestellt, die als Aufbewahrungslager für Gerätschaften und Pferdefutter, sowie als Unterstellmöglichkeit für die beiden Therapiepferde „Flicka“ und „Fee“ bei Schlechtwetter dienen. In Handarbeit wurde außerdem eine beheizbare Jurte aus Naturmaterialien erbaut. Abgesehen davon und dem solarbetriebenen Elektrozaun, der das Grundstück umgibt, handelt es sich um ein naturbelassenes Stück Wildnis, auf dem man den Rhythmus der Jahreszeiten und die damit einhergehenden Veränderungen in der Natur hautnah miterleben kann. Strom gibt es nicht, die Wasserversorgung ist durch einen Hydranten gewährleistet, der an der Straße vor dem Grundstück positioniert ist. Durch diese Voraussetzungen ergeben sich viele täglich nötige Tätigkeiten, angefangen vom Beseitigen des Pferdemists über das Heranbringen von Trink- und Waschwasser, dem Einsammeln und Zerkleinern von Feuerholz sowie Arbeiten zur Instandhaltung des Grundstücks, zum Beispiel Gras mähen oder Äste stutzen, bis hin zur Pflege und Versorgung der Pferde. Ziel des Projektes ist es nicht nur, Kindern und Jugendlichen in Problemsituationen oder mit Benachteiligungen die Möglichkeit zu geben, unter Anleitung von Frau Mag. Marsoner Voltigierübungen auf den Pferden zu erlernen oder Ausritte in ein nahes Waldstück zu unternehmen, sondern vor allem auch, ihnen die Chance zu geben, sich einzubringen, ihre Talente und Fähigkeiten zu erkennen und zu verbessern, selbstständig mitzuarbeiten und so die Erfahrung zu machen, durch eigene Tätigkeit einen wertvollen Beitrag zum Gesamtablauf des Projektes zu leisten. Dadurch, dass die Stunden zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter stattfinden, bietet sich den Teilnehmern auch die Chance, neue Naturerfahrungen zu machen und persönliche Grenzsituation zu erleben und zu meistern. Von all diesen Informationen war mir selbst recht wenig bewusst, als ich mich im September des Schuljahres 2014/15 zum ersten Mal mit D., einem unserer Schüler, auf den Weg in die Lobau machte. Unsere Beratungslehrerin hatte ihm diese Möglichkeit vermittelt und wir waren übereingekommen, dass ich mit D. gemeinsam fahren sollte, da ich ihn seit seinem Schulantritt kenne, auch schon im Rahmen von Projektwochen betreut hatte und es im Schulalltag größte Schwierigkeiten mit ihm gab, sobald ein Ortswechsel oder eine Abweichung vom üblichen Tagesablauf anstanden. D., der über einen eingeschränkten Wortschatz verfügt und mit wenigen Ausnahmen nur Laute von sich gibt, neigte dazu, sich auf den Boden zu setzen und das Aufstehen zu verweigern, wenn er Arbeitsaufträge nicht befolgen wollte, was auf Grund seines Körperbaus eine fast unüberwindliche Herausforderung darstellte. Anweisungen von ihm fremden Personen lehnte er kategorisch ab. Ich hatte relativ wenig Hoffnung auf einen problemlosen Ablauf der Unternehmung und fühlte mich auch gleich bestätigt, als D. bereits beim Verlassen der Klasse und anschließend auch beim Anziehen seiner Schuhe und Jacke in Opposition ging und ich ihn nur mit größter Mühe dazu bewegen konnte, überhaupt in den Bus einzusteigen. Am Areal in der Lobau angekommen, stieg er zwar aus und begleitete mich zur Jurte, weigerte sich aber, meine Hand loszulassen, was ein für mich unbekanntes Verhaltensmuster darstellte. Bei der Begrüßung durch Frau Mag. Marsoner war D. sehr zurückhaltend, man erkannte auch deutlich, dass ihn die Pferde zwar sehr interessierten, ihm aber auch Respekt einflößten. Als Begründung meiner Anwesenheit gab ich nur an, dass ich bei eventuell auftretenden Schwierigkeiten als Verstärkung gedacht war, wollte aber nicht zu viel von Ds. üblichem Verhalten erzählen, um die Lehrerin nicht gleich gegen ihn einzunehmen. 90 I-JOURNAL Jänner 2017 Kurz darauf war ich darüber doppelt froh, denn zu meinem großen Erstaunen ließ sich D. dazu bewegen, beim Einsammeln und Entsorgen der Pferdeäpfel mitzuhelfen – dazu ließ er auch nach nur wenigen Minuten meine Hand los. Er schaffte es, sich den Pferden soweit zu nähern, dass er sie streicheln konnte, erledigte, manchmal nach mehrmaliger Aufforderung, manchmal sofort, alle Arbeitsaufträge. Generell hatte man den Eindruck, dass es ihm richtig Spaß machte. Auf den Boden fallen ließ er sich kein einziges Mal. Die einzige Gelegenheit in seiner ersten Wildniseinheit, bei der D. vehement in Opposition ging und sich nicht dazu bewegen ließ, einer konkreten Aufforderung nachzukommen, war, als er aufgefordert wurde, auf ein Pferd aufzusteigen. Es sollte sich herausstellen, dass er dies auch nachhaltig, und zwar bis jetzt (Stand Oktober 2016) verweigern würde, obwohl wir immer noch daran arbeiten. Abgesehen davon profitiert D. aber enorm von dem Projekt. Schon nach wenigen Stunden wusste er, dass meine Ankunft in der Klasse mit der Aufforderung, sich anzuziehen, einen Ausflug in die Lobau bedeutete und kam ihr nach. Bald begrüßte er mich mit den Worten „Baba?“ und machte ein Geräusch, das dem Wiehern eines Pferdes sehr ähnelt. D.s Klassenlehrerin hatte die Idee, Fotos von seinen Ausflügen, den Gegebenheiten dort und den Pferden zu machen und informierte mich, dass er diese auch während der Woche gerne anschaut und mit Pferdegeräuschen kommentiert. Obwohl im Lauf der inzwischen mehr als zwei Jahre, die D. an dem Projekt teilnimmt, auch immer wieder Situationen entstanden sind, in denen er unerfreuliche Handlungsweisen an den Tag legte, beziehungsweise er die ihm zugewiesenen Aufgaben nicht oder nur teilweise erfüllte, kommt er doch dem Großteil der an ihn gestellten Anforderungen nach. Er begrüßt Frau Mag. Marsoner und die Pferde sehr freudig, sobald wir auf dem Grundstück ankommen und beginnt teilweise selbstständig, offensichtlich anstehende Arbeiten zu erledigen. Er sammelt mit Begeisterung Pferdeäpfel, hilft bei der Zubereitung des Futters und beim Führen der Pferde, schiebt die Mülltonnen, in denen die Pferdeäpfel gesammelt werden, fährt mit dem Schubkarren und trägt diverse Utensilien dorthin, wo sie benötigt werden. Immer wieder überrascht mich D. aufs Neue, indem er Aufgaben ausführt, deren Erledigung ich ihm keinesfalls zugetraut hätte. Im Rahmen seiner Teilnahme am Pferde-Wildnis-Projekt wird erkennbar, dass er über deutlich mehr körperliche und auch kognitive Fähigkeiten verfügt, als er bis jetzt gezeigt hat. In Zusammenarbeit mit seiner Klassenlehrerin war es möglich, ihm durch gezieltes Einsetzen dieser Erkenntnisse auch im Schulalltag Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Zum Beispiel hatte sich D. immer vehement geweigert, seine Schuhe und Jacke anzuziehen, und uns den Eindruck vermittelt, dass er dazu gar nicht in der Lage wäre. Mit der Aussicht darauf, in die Lobau zu fahren, war er aber bald bereit, dies doch zu tun, anfangs noch mit meiner Unterstützung, irgendwann auch ohne Hilfestellung. Inzwischen zieht er sich auch dann selbstständig an, wenn ein anderer Ausflug oder das Unterrichtsende dies erforderlich machen. Es ist auch viel seltener geworden, dass D. sich auf den Boden setzt und das Aufstehen verweigert, ebenso wie er inzwischen auch im Schulalltag vielen Arbeitsaufforderungen nachkommt. Wie viele andere Kinder auch scheint es D. in seiner persönlichen Entwicklung zu begünstigen, die Möglichkeit zu haben, in der Natur zu sein und dort körperliche „Grenzerfahrungen“ zu sammeln, die ihm im normalen Schulalltag nicht authentisch geboten werden können. Genau darin besteht das Konzept des Projekts und ich kann aus meiner persönlichen Erfahrung berichten, dass es voll und ganz aufgeht. Wer neugierig geworden ist und gerne mehr über das Pferde-Wildnis-Projekt erfahren möchte, kann die Homepage des ZIS Mittelgasse besuchen – www.zis6.schule.wien.at oder Kontakt mit der Projektleiterin, Fr. Mag.a Waltraud Marsoner aufnehmen - 0699/171 370 99 91 I-JOURNAL Jänner 2017 Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass sich das Pferde-Wildnis-Projekt fast ausschließlich über Spenden finanziert, was eine große Herausforderung darstellt, da es sehr zeitintensiv ist, Sponsoren aufzutreiben. Mit einer Sach- oder Geldspende würden Sie nicht nur ein großartiges Projekt unterstützen, sondern den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen auch weiterhin ermöglichen, ihre Fähigkeiten und Talente zu erkennen und bestmöglich einzusetzen! Siehe auch: www.zis6.schule.wien.at Anna Dorfbauer Hortpädagogin ZIS 3, Paulusgasse 92 I-JOURNAL Jänner 2017 Unterricht in der „segelnden Wohngruppe“ Schiff Noah © Herbert Siegrist, Geschäftsführer des AK Noah Eine Schülerin und drei Schüler starten mit einem Teil des Noah-Teams in einem kleinen Hafen in Norddeutschland in der Mündung der Ems gelegen, dem Grenzfluss zu den Niederlanden. Nach einer Ankommens- und Orientierungszeit heißt es ablegen und Segel setzen für die erste Segelfahrt Richtung Südengland - Abenteuerfeeling in geschützter Atmosphäre. Die Reise der „segelnde Wohngruppe“ bietet einen neunmonatigen Rahmen für erlebnisorientiertes Lernen auf verschiedenen Ebenen. Jede „Klasse“ auf der Noah benötigt ihr spezifisch angepasstes Setting, um schützende Inselerfahrungen für den Aufbau und die Stärkung von Selbstachtung und Selbstwirksamkeit bei den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen. Der 21. Noah - Langzeittörn baut auf 32 Jahre Erfahrung im Gestalten dieser „Erziehungshilfe“ auf. Die NOAH ist ein aus Eichenholz gebauter Nordseefischkutter und wurde zu einer Gaffelketsch mit zwei Masten und einem Klüverbaum umgebaut. Mit 23,4 m Gesamtlänge, ca. 6 m Breite, 50 t Gewicht und 220 m2 Segelfläche ist die bald siebzigjährige „Dame“ eine recht stolze Erscheinung. Nach kurzen Testfahrten im Sommer 1983 in der Nordsee startete 1984 der erste Noah - Langzeittörn. Im Schuljahr 89/90 gab es erstmals Beschulung in Form eines eigenen Lehrers an Bord des 5. Noah 93 I-JOURNAL Jänner 2017 Törns. Die spezielle Form dieser Pädagogik wurde durch den vom ORF gedrehten Film „Das Schiff Noah“ bekannt. Inhaltlich fokussiert dieser Film, der damaligen Zeit und dem wachsendem Interesse geschuldet, das Thema „sexuelle Gewalt / sexueller Missbrauch“. Seit 2007 segelt die Noah, als Ursprungsprojekt der Vertragseinrichtung AKs Noah, für die Mag 11 Wien. Der Arbeitskreis Noah, Verein für Sozialpädagogik und Jugendtherapien, begleitet zurzeit an acht verschiedenen Standorten in Wien ca. 70 Kinder und Jugendliche stationär und somit auch deren Eltern oder andere Bezugspersonen. NoGu in Maria Gugging in NÖ versteht sich als Übergangswohngruppe um den Transfer nach dem dichten Betreuungssetting Schiff in eine individuell passende oder autonome Wohnform zu gestalten. Neben dem professionsübergreifendem Knowhow für Trauma-sensible Sozialpädagogik dienen auch psychologische und psychiatrische Diagnostik als Entscheidungshilfe für diese Form einer stationären Kinder und Jugendhilfe. Die Kosten für die öffentliche Hand liegen unter vergleichbaren Angeboten in Österreich. Fünf Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, unterstützt von zwei Skippern mit der Befähigung die Noah zu führen und nach Bedarf ergänzt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus den Wiener Standorten, werden von der Jungendhilfe und einem kleinen Spenderkreis finanziert. Sobald die Lehrerin der Heilstättenschule anreist, gibt es Unterricht in einem dafür organisierten „Klassenzimmer“ an Land, in der Nähe des Hafens. Wenn nach der Schulphase die Skipper wieder kommen, wird für die nächste Segeletappe der Hafen verlassen und die Reise geht weiter. Ob die Route über Schottland zurück nach Deutschland, oder von Wales nach Spanien führt, wird sich im Laufe des Winters herauskristallisieren. Wir orientieren uns in unserem erlebnisorientierten Ansatz an bewährten sozialpädagogischen Traditionen (Erlebnispädagogik, Circle of Courage nach Larry Brendro, integrative KJ-Therapie nach Hilarion Petzold, Systemische Sprache nach Mathias Varga von Kibed und Insa Sparrer, aktuell diskutierten bindungsgeleiteten Prinzipien) unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der Psychotraumatologie. Regelmäßige Supervision und Praxisanleitung des Teams vor Ort, dienen der Fall- und Selbstreflexion als sozialpädagogische Diagnostik. Die haltgebenden Strukturen des Overheads, der pädagogischen Leitung und des Bordalltages vermitteln jedem Einzelnen und der Gesamtgruppe (Team und SchülerInnen) Klarheit und Orientierungshilfe. Mit den Eltern wird kooperiert und manche nehmen die Möglichkeit eines Besuches ihres Schulkindes im Ausland war. Segel- und Schulphasen wechseln sich in einem drei- bis vierwöchigen Rhythmus ab. Dank der Möglichkeit auf der Noah Alltag entschleunigen zu können, Reize zu reduzieren oder zu intensivieren, individuell in einer überschaubaren Gruppe sozialpädagogisch zu intervenieren, können Selbstwirksamkeitserfahrungen generiert und internalisiert werden. Kleine Erfolge werden verkraftet und chronische Misserfolgsorientierung kann beachtet, irritiert bzw. verhandelt werden. 94 I-JOURNAL Jänner 2017 Die Kinder erleben sich und die Erwachsenen als Lernende auf unterschiedlichen Ebenen. Sie und die Bezugspersonen können selbst langsam Vertrauen entwickeln mit ihrem so Da-Sein schulisch erfolgreich sein zu können. JU: „Ich glaubte selber, dass ich zu doof bin und es nicht lernen kann.“ KM: „Mein Kind redet seit sehr langer Zeit wieder positiv über die Schule“ KV: „Er bekommt wieder gute Noten“. Eine Reise mit der Noah über neun Monate bildet. Sie vermittelt Bildung in einer Form bzw. Art und Weise, die den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ermöglicht, durch gestärkte Selbstanbindung und Selbstachtung mit ihrem Entwicklungs- und Risikopotential förderlicher umzugehen. Herbert Siegrist Geschäftsführer des AK Noah 95 I-JOURNAL Jänner 2017 Das erste Jahr des Campus Seestadt oder vom … „Viele sagten: Das geht nicht. Dann kamen welche, die wussten das nicht und haben es einfach gemacht!“ Der Bildungscampus liegt im neu entstandenen Stadtteil Seestadt Aspern, wurde auf dem ehemaligen Flugfeld Aspern im 22. Bezirk gebaut und am 7. September 2015 eröffnet. Die Bildungseinrichtung Campus Seestadt besteht aus einem 11- gruppigen Kindergarten, einer Ganztagsvolksschule mit Integrationsklassen und Klassen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Schwerpunkt körperliche Beeinträchtigungen. Diese Campusform ist für Wien neu und erfordert daher auch neue, innovative Wege der Zusammenarbeit, die neben dem Schulaufbau die größte Herausforderung des ersten Schuljahres darstellten. Zunächst möchte ich jedoch noch einige grundsätzliche Informationen über die Konzeption der Bildungseinrichtung Campus geben: • Für das Campusmodell sind ganztägige und ganzjährige Öffnungszeiten vorgesehen. • Schulform: Ganztagsvolksschule nach dem verschränkten Modell (Unterricht, Lernstunden und Freizeit werden im Wechsel angeboten) • Früh- und Spätdienst, orientiert an den Rahmenöffnungszeiten des Kindergartens, werden unentgeltlich angeboten. • An schulautonomen Tagen und während der Ferien ist ein dem Bedarf angemessener Betrieb aufrecht zu erhalten. Die Kinder werden, wie auch im Früh-und Spätdienst, sowie beim Mittagessen, von PädagogInnen der MA 10 betreut. • Externe Kurse von verschiedenen Sportvereinen und Musikschulen werden nach Unterrichtsende und am Wochenende angeboten. • Durch die Implementierung der kollegialen Führungsebene (Schulleitung – Kindergartenleitung) wird die Zusammenarbeit beider Bildungseinrichtungen im Sinne einer Bildungspartnerschaft forciert. • Die Kooperation der Einrichtungen zielt auf die optimale Nutzung der vorhandenen personellen, räumlichen und strukturellen Ressourcen ab. Wien hat bereits 5 Campusstandorte, weitere sind in Bau oder befinden sich im Planungsstadium. Nun zu den standortspezifischen Besonderheiten des Campus Seestadt: Gestartet wurde 2015/16 mit einer Vorschulklasse, fünf ersten Volksschulklassen, davon zwei Integrationsklassen, je einer zweiten, dritten und vierten Volksschulklasse, sowie drei Basalen Förderklassen. Heuer kamen vier erste Volksschulklassen, davon eine Integrationsklasse und eine erste Klasse für körperbehinderte Kinder, dazu. Somit werden derzeit 250 SchülerInnen von mehr als 70 PädagogInnen (VolksschullehrerInnen, SonderschullehrerInnen, MA 10 HortpädagogInnen, MA 10 SonderpädagogInnen, FachbetreuerInnen) unterrichtet und betreut. Im Endausbau sind 17 Volksschulklassen und 9 Klassen für körperbehinderte Kinder vorgesehen. Neben den mit digitalen Boards ausgestatteten und jenen für Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen speziell ausgestatteten Klassen (unterfahrbare Waschbecken, Lifterschienensystem), stehen behindertengerechte Pflegeräume, ein Physiotherapieraum, ein Ergotherapieraum, zwei Snoezelenräume (aktiv und 96 I-JOURNAL Jänner 2017 passiv), zwei Turnsäle (einer mit spezieller Ausstattung für körperbehinderte Kinder), zwei Werkräume, eine Bibliothek, eine Miniküche, ein Medienraum, ein Forscherraum, ein Kreativraum für künstlerisches Gestalten, ein Ruheraum, ein Spieleraum, sowie ein Speisesaal zur Verfügung. Der ca. 8000 m2 große Garten ist mit zwei Sportplätzen, einer Kletterwand, Sand- und Wasserstellen, behindertengerechten Spielgeräten, Hochbeeten und Trinkwasserbrunnen ausgestattet. Bedingt durch die architektonische Gestaltung und Ausstattung unserer Schule ist die Integration aller SchülerInnen möglich. Leider ist die kostenfreie therapeutische Versorgung (Logopädie, Physio- und Ergotherapie) der SchülerInnen mit Beeinträchtigungen trotz intensiver Bemühungen, auch von Seiten des Elternvereins, nach wie vor nicht gewährleistet. Deshalb bevorzugen einige Eltern die Beschulung ihrer Kinder in einer der drei Spartenschulen für körperbehinderte Kinder, um die, für diese so wichtigen, Therapien zu erhalten. Der Bauherr unserer Schule ist die BIG (Bundesimmobiliengesellschaft mbH). Da wir auch weiterhin von der BIG betreut werden, gibt es am Campus keine Schulwarte, sondern von der BIG angestellte Gebäudewarte. Die Reinigung wird von einer externen Firma durchgeführt.Die MA 56 und die MA 10 sind Mieter und Nutzer des Campus. Zur bereits beschriebenen kollegialen Führung wurde aufgrund der Klassen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen die Funktion einer sonderpädagogischen Leitung implementiert, die dem 18. IB angehört. Kurz zusammengefasst arbeiten an und für unsere Schule PädagogInnen aus dem 15., 17. und 18.IB mit ihren Leiterinnen und BezirksschulinspektorInnen, MA 10-PädagogInnen (Kindergarten/Freizeitbereich) mit ihrer Leitung, FachbetreuerInnen (Basale Förderklassen) der Wiener Sozialdienste, Förderung und Begleitung mit ihrer Leitung, eine Administratorin (MA 56) mit ihrem Vorgesetzten, vier Gebäudewarte mit ihren Vorgesetzten der BIG, Reinigungskräfte einer externen Firma mit ihren Vorgesetzten, das Küchenpersonal von der Firma Wien Work mit ihren Vorgesetzten… Das erste Schuljahr war geprägt von unzähligen Gesprächen mit allen VertreterInnen der verschiedenen Professionen, um einander kennen zu lernen und Zuständigkeiten zu klären, damit Anliegen von Seiten der kollegialen Führung auch an die jeweils richtige Ansprechperson gelangen. Das zu klären war nicht immer leicht. So dauerte es zum Beispiel das gesamte erste Schuljahr, um herauszufinden, ob unserer Schule ein Zivildiener zugeteilt wird und wenn ja, von wem. Auch die Zuständigkeit von drei Inspektionsbezirken für den Schulstandort erwies sich als äußerst kompliziert. Mittlerweile gehören alle LehrerInnen organisatorisch zum 15. IB. 97 I-JOURNAL Jänner 2017 Abseits dieser „Nebenschauplätze“ galt es aber vor allem, unseren pädagogischen Schwerpunkt: „Eine Bildungseinrichtung für alle Kinder“ von der Möglichkeit in die Realität zu transferieren. Regel- und Sonderpädagogik machten sich also auf den Weg, ihre Vorstellungen und Sichtweisen dem jeweils anderen darzulegen und gemeinsam einen guten Weg für alle Beteiligten - SchülerInnen und PädagogInnen - zu finden. Wir lernten und lernen viel über und miteinander, das war und ist nicht immer einfach. Aber Wege entstehen im Gehen – und wir gehen voran, Schritt für Schritt! Schritt 1 • Gründung einer „Vernetzungsgruppe“ mit MitarbeiterInnen aus allen Bereichen, um bei regelmäßigen Treffen gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln und zu organisieren. Schritt 2 • Gegenseitige Hospitationen aller PädagogInnen in den jeweils Kindergarten – Freizeit - Volksschulklasse – Basale Förderklasse Schritt 3 • Gemeinsame Feste mit Angeboten von und für alle Kinder »» Laternenfest »» vier Adventfeiern »» Faschingsfest »» Sommerfest 98 anderen Arbeitsfeldern I-JOURNAL Jänner 2017 Schritt 4 • Kennzeichnung aller Räume mit METACOM - Symbolen als Orientierungshilfe Schritt 5 • Die Gebärde der Woche: An den Eingängen (Schule/Kindergarten) wird jede Woche eine neue Gebärde zum Üben angeboten. Dabei ist das Gebärdenbild mit Text und einer Sprechklammer versehen. Schritt 6 • Während des gesamten Schuljahres finden klassen- und bereichsübergreifende Aktivitäten und Projekte statt. Dazu zählen gemeinsames Turnen, Musizieren, Kochen, kreatives Gestalten, Vorlesen, gemeinsame Ausflüge … Der Kreativität der PädagogInnen sind keine Grenzen gesetzt! Schritt 7 • Das Entwickeln unseres Leitbildes „Eine Bildungseinrichtung für alle Kinder!“ steht im Fokus unserer Bildungstage sowie bei den Fortbildungen der PädagogInnen. Seine Bedeutung wird noch dadurch unterstrichen, dass es dem frei gewählten SQA-Schwerpunkt unserer Schule entspricht. Schritt 8 • Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem Kindergarten, um die Transition in die Schule noch fließender zu gestalten. Viele weitere Schritte müssen und werden noch folgen, denn: Das Anderssein der anderen als Bereicherung des eigenen Seins zu begreifen; sich verstehen, sich verständigen, miteinander vertraut werden, darin liegt die Zukunft der Menschheit. Rolf Niermann Dipl. Päd. Martina Neuhold-Pulker Sonderpädagogische Leitung am Campus Seestadt © Foto: Petra Spiola 99 I-JOURNAL Jänner 2017 Liebe Leserin! Lieber Leser! Wir freuen uns, Ihnen die neueste Ausgabe des I-Journals präsentieren zu dürfen. Sie ist anlässlich des Symposiums „40 Jahre BeratungslehrerInnen und PsychagogInnen“ entstanden und widmet sich daher schwerpunktmäßig dem Bereich der Arbeit mit SchülerInnen mit besonderen Bedürfnissen im sozial-emotionalem Bereich. Wir planen die Herausgabe des nächsten I-Journals im SJ 17/18, diesmal mit der aktualisierten Ausgabe „Unterstützende Systeme für SchülerInnen im Pflichtschulbereich“ (Erstausgabe Juni 2012). Online finden Sie unser Journal unter der Internetadresse: www.lehrerweb.at Das Redaktionsteam: Verena Lieser (Redaktion) Andrea Schützhofer (Redaktion, Layout) Gerda Kargl (Redaktion, Layout) 100 Renate Dirnberger, MA (Lektorat) I-JOURNAL Jänner 2017 101 I-JOURNAL Jänner 2017 Herausgegeben von der Integrationsberatungsstelle im Stadtschulrat für Wien Verantwortliche Herausgeberinnen: Verena Lieser, Mag.a Andrea Schützhofer, Gerda Kargl, Renate Dirnberger, MA, Für den Inhalt verantwortlich: Alle Autorinnen und Autoren sind eigenverantwortlich für den Inhalt der Artikel und die Genderformulierung. Layout: Gerda Kargl, Mag.a Andrea Schützhofer Druck: Eigendruck 102
© Copyright 2024 ExpyDoc