Print Current Page - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Schließen
1. Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
2. Themen
3. Nachrichten
Die Wahrheit steht (nicht) in den Akten
Nachricht von Petra Pau, 20. Januar 2017
Von Gerd Wiegel
Man habe dem abgetauchten NSU-Trio keine Straftaten zuordnen können, deshalb sei es zu den
spektakulären Fehleinschätzungen des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) zur Frage
Rechtsterrorismus in den 2000er Jahre gekommen. So begründete der damalige Abteilungsleiter
Rechtsextremismus des BfV, Wolfgang Cremer, die vom Amt vertretene Einschätzung zu Beginn der
2000er Jahre, es gäbe keine rechtsterroristischen Strukturen, keine „braune RAF“ in der
Bundesrepublik. Zu diesem Zeitpunkt (September 2003) hatte der NSU bereits vier Morde, zwei
Sprengstoffanschläge und fünf Raubüberfälle verübt. Cremer, der in seiner Zeugenvernehmung
wenig bis keine Erinnerung zu den damaligen Abläufen haben wollte, war in seiner Funktion als
Abteilungsleiter Rechtsextremismus für diese Einschätzung maßgeblich mitverantwortlich. Das Trio
sei von den Ämtern als „Bombenbastler“ eingeschätzt worden, die nicht wirklich zur Tat geschritten
seien. Mithin habe man sie, so wollte es der Zeuge darstellen, für Aufschneider gehalten und
unterschätzt. Nach zwei Untersuchungsausschüssen und mehr als fünf Jahren Recherche zum NSU
stellt sich die Wahrheit aber schlimmer dar. Das Trio war von V-Leuten des Verfassungsschutzes so
umstellt, dass diesem die Radikalisierung der drei kaum entgangen sein kann. Länderegoismus und
fehlende Informationen an das BfV werden dann als weitere Abwehr eigener Verantwortung in
Stellung gebracht. So auch vom Zeugen Cremer.
Bei der VP des Landesamtes Brandenburg, Carsten Szczepanski alias „Piatto“ gingen 1998 diverse
SMS des NSU-Unterstützers Jan Werner ein, aus denen hervorging, dass das Trio auf der Suche
nach „Waffen“ war. Weiter berichtete Piatto dem Amt, das Trio wolle einen „weiteren Überfall“
begehen und sich dann nach Südafrika absetzen. Laut Cremer habe man im BfV von diesen
Meldungen nichts gewusst, denn sonst hätte dem BfV ja klar sein müssen, dass das Trio Straftaten
beging. Ein Blick in die Akten zeigt, dass diese Version nicht stimmen kann, denn zu anderen
Meldungen von „Piatto“, in denen im Zusammenhang mit dem Trio von „drei sächsischen
Skinheads“ die Rede ist, heißt es: „Nach Angaben des BfV könnte es sich jedoch bei den hier
genannten sächsischen Skinheads um Personen aus Jena handeln.“ Das BfV war also über die
„Piatto“-Meldungen informiert.
Ansonsten verschanzte sich der Zeuge immer wieder hinter fehlender Erinnerung und verwies auf
die Akten, in den alles stehen müsse. Das kann, wer die Akten liest, nicht bestätigen. Schwärzungen,
Entnahmen, fehlende Zulieferungen – das ist die alltägliche Erfahrung bei der Lektüre. Weder wollte
sich Cremer an Aufträge in die VP des BfV „Primus“ alias Ralf Marschner erinnern, der in Zwickau
im direkten Umfeld des Trios platziert war und in dessen Firmen nach Zeugenaussagen Mundlos
und Zschäpe zeitweilig gearbeitet haben könnten, noch konnte er Angaben dazu machen, wer bei
der Suche nach dem Trio (Operation „Drilling“) für das BfV alles beteiligt war. Ob zum Beispiel der
BfV-Mitarbeiter Lothar Lingen daran beteiligt war, wäre eine wichtige Erkenntnis, ist doch Lingen
der Beamte, der unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU in großem Umfang Akten im BfV
schreddern ließ.
Schwerkrimineller V-Mann als kleineres Übel
Der zweite Zeuge des Tages war der pensionierte ehemalige Abteilungsleiter und Vizepräsident des
Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Brandenburg Jörg Milbradt. Milbradt hatte mittelbar mit
der Anwerbung und Führung von „Piatto“ zu tun. Seine Aussage war von einem großen
Rechtfertigungsbedürfnis gekennzeichnet, denn der Fall „Piatto“ gilt bis hin zur Union als
Sündenfall in Sachen V-Leute. Milbradt beschrieb die Anwerbung eines wegen versuchten Mordes
verurteilten rechten Gewalttäters als „moralisches Übel“, mit dem einem noch größeren „Übel“
abgeholfen werden sollte. Mit Hilfe von „Piatto“ sei es gelungen, die aktive und gefährliche
Naziszene in Brandenburg unter Kontrolle zu bekommen, dazu haben man sich auch eines
unmoralischen Mittels wie „Piatto“ bedienen müssen.
Während der Zeuge an dieser Stelle Verständnis für das eigene Dilemma einforderte, präsentierte er
danach nur die entlastende Sicht des LfV auf den Umgang mit dieser Quelle. Die auf sanften Druck
des LfV erlassenen Haftvergünstigungen für Szczepanski, die Freigänge die er mit Hilfe des LfV
bekam, das ihm sogar eine Art Fahrdienst zu seinen Nazikameraden in Sachsen organisierte, wo er
im Laden der NSU-Unterstützerin Antje Probst ein Praktikum absolvierte, all das wurde vom Zeugen
verniedlichend dargestellt. Sogar aus der Zelle im Knast heraus war es „Piatto“ möglich,
gewaltverherrlichende Artikel für Nazifanzines zu verbreiten. Die im Abschlussberich des 1. NSUUntersuchungsausschusses detailliert aufgeführten Vergünstigungen und Unterstützungsleistungen
des LfV für „Piatto“ lesen sich wie eine Aneinanderreihung von Ungeheuerlichkeiten (vgl.
Beschussempfehlung und Bericht (PDF), Suchwort „Piatto“).
Bis heute behauptet man im LfV Brandenburg, die SMS von Jan Werner, in der dieser sich nach
Waffen für das Trio erkundigt, nie gesehen zu haben. Begründung: Am Tag dieser SMS seien Handy
und SIM-Karte von „Piatto“ ausgetauscht worden, so dass die Nachricht auf einem toten Handy
angekommen sei. So viel Unprofessionalität würde nicht einmal DIE LINKE dem Verfassungsschutz
zutrauen, dass das aussortierte Handy eines V-Mannes nicht auch danach auf eingehende
Nachrichten überprüft wird.
Letzter Zeuge des Tages war in geschlossener Sitzung ein Bekannter des Trios aus dem Naziumfeld
in Jena, der am Tag des Abtauchens diverse Unterstützungsleistungen für die drei erbrachte. Für die
Fragen nach Gruppenstruktur, Planungen des Trios und weiteren Helfern war dieser Zeuge von
Interesse, zur Aufklärung der Fragen des Untersuchungsausschusses konnte er jedoch nicht
beitragen.
Die nächste Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses findet am 26. Januar ab 11 Uhr statt.
Tagesordnung und Zeugen können auf der Website des Bundestags eingesehen werden.
Auch interessant
Entschlossener Protest gegen Sammelabschiebungen nach Afghanistan erforderlich
Pressemitteilung von Ulla Jelpke
Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch stellen Strafanzeige gegen Björn Höcke
Pressemitteilung von Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht
Zum NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Pressemitteilung von Petra Pau
Kriminalisierung von Cannabispatienten im Straßenverkehr bleibt große Baustelle
Pressemitteilung von Frank Tempel
Raus aus dem Hamsterrad
Im Wortlaut von Jan Korte
NSA-Ausschuss: In dubio contra Grundrechte
Im Wortlaut von Martina Renner