Süddeutsche Zeitung

A M WO C H E N E N D E
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HF1
MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 14./15. JANUAR 2017
73. JAHRGANG / 2. WOCHE / NR. 11 / 3,40 EURO
Wo ist
Luther?
ILLUSTRATION: DIETMAR REINHARD; FOTOS: SZ-GRAFIK, SHUTTERSTOCK, BEN BAKER/REDUX/LAIF
Eine Deutschlandreise
zu den Wirkungsstätten des
Reformators. Im Gepäck
die Frage, was nach 500 Jahren
von seinen Thesen bleibt
Buch Zwei, Seite 11
Gesellschaft, Seite 45
Die Seite Drei
MACHT UND MODE
Stil, Seite 55
42–44
14
36
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29–31
63002
4 190655 803401
BETR.: LYNCHMORD
Ein freundlicher Beamter
wurde im Netz so lange
bedroht, bis er aufgab
Für die First Lady
zu entwerfen,
war über Jahrzehnte
das Hochamt der
Designer. Nur die
Neue will niemand
einkleiden
Die Ewiggestrigen
„Muss mit dem
Chef sprechen“
Am Dienstag urteilt das Bundesverfassungsgericht darüber, ob die NPD verboten wird.
Eine historische Entscheidung? In Zeiten des Rechtspopulismus hat sie an Brisanz verloren
VW-Skandal: Kronzeugen bringen
Winterkorn in Erklärungsnot
von wolfgang janisch
Am kommenden Dienstag wird der
Schlusspunkt hinter eine anderthalb Jahrzehnte währende Debatte gesetzt, und eigentlich müsste vibrierende Spannung
herrschen. Wird das Bundesverfassungsgericht die NPD verbieten? Wird die
rechtsextremistische Splitterpartei aus
den Wahllisten getilgt und von der Parteienfinanzierung abgeschnitten? Oder ist eine finanziell klamme Ein-Prozent-Partei
den Richtern einfach zu unbedeutend, um
sie mit dem scharfen Schwert des Parteiverbots zu erledigen?
Von fiebriger Erwartung des Karlsruher Dienstags ist nicht viel zu spüren. In
der Politik scheint man sich auf eine Ablehnung des Verbotsantrags einzustimmen, eher achselzuckend – von der vorbeugenden Empörung, mit denen erwartete Niederlagen sonst gern vorbereitet werden, ist nichts zu hören. Irgendwie ist es
nicht mehr so wichtig, was aus den Ewiggestrigen am rechten Rand wird.
Denn die NPD ist von der AfD an den
Rand gedrängt worden. Das gilt zum einen ganz konkret: Mit dem Aufstieg von
Frauke Petry & Co. ist die NPD im vergangenen Herbst aus dem letzten Landesparlament hinausgewählt worden. Aber auch
der politische Blick auf die NPD hat sich
gewandelt. Anderthalb Jahrzehnte lang
war sie der Platzhalter, wenn es um Radikalismus im rechten Milieu ging. Im Jahr
2000 war es ein Brandanschlag auf eine
Synagoge, der das Verbotsverfahren ins
Rollen brachte (ein Anschlag, der, wie sich
später erwies, gar nicht von Neonazis begangen worden war). Auch nach dem desaströsen Scheitern der Anträge im Jahr
2003 herrschte nur kurzzeitig Ruhe. Bald
Temperaturunterschiede müssen ausgeglichen werden. So wollen es die Gesetze
der Thermodynamik. Das gilt schon für
die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch: Die
Differenz zur Raumtemperatur ist kein
haltbarer Zustand. So ist das auch mit
dem Wetter. Wenn die winterliche Arktis
mangels Sonnenstrahlung besonders
kalt ist, versucht die Atmosphäre mit aller
Macht, das Temperaturgefälle zu wärmeren Gefilden auszugleichen. Meist geht
das über Mitteleuropa recht glimpflich
ab, weil die dort vorherrschende „Westlage“ mit stabilen Tiefdruckwirbeln im
Nordostatlantik für einen dauernden, wenig spektakulären Austausch der Luftmassen sorgt. Doch manchmal verläuft
die Sache ruppig. So wie in diesen Tagen.
Die Menschen in Mitteleuropa erleben
dann plötzlich polare Temperaturen wie
am vergangenen Wochenende, gefolgt
von einem Sturmtief wie Egon am Ende
dieser Woche. Zwischendurch ist es – wie
in Baden-Württemberg – vergleichsweise warm. Und für die kommenden Tage
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schon waren wieder die Rufe nach einem
NPD-Verbot zu hören, sobald irgendwo
rechtsradikale Ausschreitungen zu beklagen waren. Es war, als wollte man dem Problem von Neonazi-Gewalt und HooliganÜbergriffen eine feste Adresse geben; als
müsste das Bundesverfassungsgericht
nur ein Verbotsurteil an die NPD schicken,
damit das Problem verschwände.
Das war schon immer eher Suggestion
als praktische Politik. Aber mit dem Siegeszug der AfD ist überdeutlich geworden, dass die Probleme größer und komplexer sind, als es die Fokussierung auf
die Winz-Partei der Revisionisten und Antisemiten vermuten ließ. In der AfD sam-
meln sich Ausländerfeinde und Islamophobe, aber auch Abgehängte und Protestwähler, denen harte Anti-Flüchtlingshetze nicht wirklich behagt. Jedenfalls ist
klar, dass Politik und Gesellschaft gefragt
sind, nicht Gerichte. Ausländerhass ist
nicht verbietbar, gegen eine Radikalisierung bis hinein in die Mitte der Gesellschaft helfen keine Paragrafen. Die politische Welt hat sich dramatisch verändert,
seit der Bundesrat im Dezember 2012 den
Verbotsantrag beschloss; damals war die
AfD noch nicht einmal gegründet.
Wird Karlsruhe den Verbotsantrag ablehnen? Wegen des Zwei-Drittel-Quorums beim Parteiverbot genügen dafür
Die NPD
4,3
Ergebnisse
bei Bundestagswahlen
7200
Zahl der
Mitglieder
8000
2007
7000
Angaben in Prozent
5200
2015
6000
5000
4000
3500
2,0
SZ-Grafik; Quellen: Verfassungsschutz, Bundeswahlleiter
(SZ) Im vergangenen Jahr erlebte die Welt
zwei Wahlkämpfe um die Präsidentschaft der USA. Noch im alten Winter
ging Francis J. Underwood ins Rennen, zu
Beginn des neuen Winters gewann Donald J. Trump das seinige. Die Wahlbeobachter hatten leider selten gute Sicht, deswegen ist nun völlig unklar, welcher der
beiden Präsidenten der echte ist und welcher nur der einer Fernsehserie. Als Sieger fühlen dürfen sich vorerst nur jene,
die sich für modernen Machiavellismus
interessieren, denn diesbezüglich lässt
sich von beiden Männern lernen und dies
nicht allein zu deren Gunsten. Donald
Trump ist noch vor seiner Inauguration
von einer Waffe russischer Bauart bedroht worden, dem Kompromat. Als Kompromat bezeichnet man kofferwortwitzig
kompromittierendes Material sowie die
Bereitschaft, einen Dritten mit Veröffentlichung desselben zu bedrohen.
Es geht also um eine moralisch selbst
zweifelhafte moralische Erpressung, und
diese wird nicht besser dadurch, dass das
Kompromat schon immer zum Instrumentenkoffer der Mächtigen gehörte.
Ägyptische Pharaonen, römische Senatoren, Karrierekaltblüter aus dem chinesischen Volk der Apparatschiken – sie alle
handelten mit Bergen von Dreckwäsche
vor allem solcher Menschen, die öffentlich vorgaben, nur weiße Westen im
Schrank hängen zu haben. Explizit den
Russen ist das Kompromat also nur etymologisch unterzuschieben, wenngleich
die Erpresser dort besonders robust vorgehen. Es ist ja selten so, dass Betroffene
das Material selbst produzieren und vorlegen wie es der heutige britische Außenminister Boris Johnson vor Jahren getan
hat. Johnson begleitete ein TV-Team bei
einer Drogenrazzia. Als der Trupp einen
Verdächtigen überrumpelte, begrüßte
dieser Johnson mit glaubhaft kenntnisreicher Überraschung: „Ach du liebe Scheiße, Boris, was machst du denn hier?”
Die politische Sprengkraft des Kompromats liegt üblicherweise in der Enthüllung, selbst darin aber folgt die Zeit nicht
mehr ihren Läuften. Gleich was passiert
ist, gleich welche Verfehlungen noch bekannt werden, man wird mit allem bereits gerechnet haben, die Entrüstung ist
ja schon jetzt aufgebraucht. Weshalb darin eine wesentliche Tragik besteht, erzählt wiederum der Wahlkampf von Francis J. Underwood. Er ist als Machiavellist
und Mörder längst an die Macht gelangt,
als ihm auf einmal die noble Figur der
Heather Dunbar im Weg steht. Dunbar
versucht zunächst, ohne miese Tricks Präsidentin zu werden. Als ihre Chancen
schwinden, erwirbt sie in einem Versuch
richtigen Lebens im falschen kompromittierendes Material über Underwoods
Frau. Es ist die Sekunde, in der die Heldin
ihre Unschuld verliert. Der Präsident lächelt sie daraufhin an und sagt, stellvertretend: „Endlich bist du eine von uns geworden.“
Medien, TV-/Radioprogramm
Forum & Leserbriefe
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AUF DER LEITUNG
So kann Deutschland
den digitalen
Reformstau überwinden
3000
1996
1,6
2000
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–
1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013
Egon der Ruppige
Eiszeit, Stürme, Verkehrschaos: Was das turbulente Wetter
in Mitteleuropa mit der Arktis zu tun hat
ist wieder klirrender Winter angesagt. Besonders Egon war das Bilderbuchbeispiel
eines kräftigen, schnell wandernden Tiefdruckgebiets – ein Phänomen des turbulenten Austauschs zwischen dem Süden
und der Arktis.
Vor allem den Norddeutschen haben
Schnee und Wind am Freitag Glatteisunfälle und Verkehrsprobleme beschert. In
einigen Landkreisen und Städten konnten sich die Schüler über einen freien Tag
freuen. Mehrere Menschen, vor allem in
Schleswig-Holstein, wurden bei Unfällen
verletzt. In manchen Landkreisen krachte es innerhalb kurzer Zeit Dutzende Ma-
le. Auch in Nordbayern blieben Schulbusse auf der Strecke. Auf einigen Autobahnen waren Anschlussstellen durch querstehende Lastwagen blockiert. „Im Schüttorfer Kreuz ging in den frühen Morgenstunden gar nichts mehr“, sagte ein Polizeisprecher.
Doch insgesamt blieb Egon gnädig. Ein
oder zwei Grad weniger, und es hätte weit
schlimmer werden können, sagen Meteorologen. Dass Fernzüge zeitweise nicht
schneller als 200 km/h fahren durften,
wird manche Reisende geärgert haben.
Gleichzeitig relativiert eine solche Meldung das Ausmaß der Katastrophe.
zwei Nein-Stimmen der sieben verbliebenen Richter, aber das muss nichts heißen.
Und in der dreitägigen Anhörung im März
hat sich immerhin der Eindruck verfestigt, dass es sich bei der NPD um eine radikal anti-demokratische Partei handelt,
die die Menschenwürde mit Füßen tritt.
Der Ausgang ist also offen. Aber es gibt
zwei Indizien, die für die Ablehnung des
Verbotes sprechen. Erstens: Spielentscheidend ist Artikel 21 Grundgesetz, wonach
nur Parteien verboten werden dürfen, die
„darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“. An diesem Punkt
haben an Tag zwei der Anhörung fast alle
Richter mit wechselnden Formulierungen
dieselbe skeptische Frage gestellt: Bedeutet „darauf ausgehen“ nicht, dass die Umsturzpläne zumindest eine geringe Erfolgschance haben müssen? Klingt das
nicht nach einer Bagatellgrenze oder Gefahrenschwelle? Anders ausgedrückt:
Würde mit dem Verbot einer Kleinstpartei
aus Maulhelden nicht eine Gefahr beseitigt, die gar nicht existiert – auf Kosten
des demokratischen Prozesses? Das KPDVerbot von 1956 trug Züge eines Gesinnungsverbots; das werden die Richter bei
der NPD nicht wiederholen wollen.
Das zweite Indiz hat mit der Karlsruher
Vorbildfunktion zu tun. Wenn das weltweit geachtete Bundesverfassungsgericht
eine politisch irrelevante Partei verböte,
dann könnte dies von Autokraten missbraucht werden, die ihren Demokratieabbau gern hinter einer Art Rechtsstaats-Camouflage verbergen. Seht her, auch in
Deutschland verbietet man Parteien, werden sie sagen. Das werden die Karlsruher
Richter, die derzeit besorgt nach Polen
und Ungarn blicken, nicht wollen.
Bedeutenden Einfluss auf das Gesamtgeschehen hat in diesen Tagen der sogenannte Jetstream. Das ist ein zusammenhängendes Band aus Höhenwinden, das
sich etwa fünf Kilometer über dem Erdboden um die nördliche Erdhalbkugel
schlängelt. Der Jetstream wirkt wie ein
Wall, der südliche Regionen vom kalten
Polar abschottet. Doch diese Höhenwinde
sind nicht stabil wie ein Gürtel, sondern
winden sich in wechselnden Bögen wie eine Schlange. Manchmal bricht eine der
Windungen nach Süden aus und macht
Platz für polare Kaltluft. So war das am vergangenen Wochenende über der Ägäis. Es
brachte Kaltluft nicht nur nach Deutschland, sondern Schnee bis in die Türkei.
Ein ähnliches Phänomen erwarten die
Wetterforscher in den kommenden Tagen. Ein erneutes Ausschlagen des Jetstreams wird Polarluft über dem zentralen Mittelmeer kreisen lassen. Nicht nur
in Deutschland wird es wieder kalt: Von
Korsika bis Sizilien müssen die Bewohner
mit Schnee rechnen. patrick illinger
München – Im Skandal um manipulierte
Abgaswerte bei VW legen neue Indizien
nahe, dass der einstige Vorstandschef
Martin Winterkorn früher informiert war
als bisher bekannt. Kronzeugen haben
im Gespräch mit US-Ermittlern ausgesagt, sie hätten 2012 und 2014 mit einem
engen Vertrauten Winterkorns über eine
illegale Software in den Diesel-Fahrzeugen auf dem US-Markt gesprochen. Einer der Zeugen sagte, er sei davon ausgegangen, dass dies an den Vorstandschef
weitergereicht werde. 2014 soll der Vertraute Winterkorns dann sogar gesagt haben: „Ich muss mit dem Chef sprechen.“
Im Juli 2015 schilderte ein Ingenieur die
Problematik bei einem Termin mit Winterkorn, wobei dieser so gewirkt habe, als
wisse er davon längst. Nach offizieller
Darstellung von VW erfuhr Winterkorn
erst im Spätsommer 2015 von den Manipulationen. sz Seite 4, Wirtschaft
Kölner Polizei
revidiert Aussage
Köln – Die in der vergangenen Silvesternacht nach Köln gereisten jungen Männer waren entgegen früherer Äußerungen wahrscheinlich nicht mehrheitlich
aus Nordafrika. Die Kölner Polizei teilte
am Freitag mit, dass man von 674 Personen Daten aufgenommen habe, von diesen stamme die Mehrheit aus dem Irak,
Syrien und Afghanistan. Nur etwa 30 kamen demnach aus nordafrikanischen
Ländern. sz
Seite 6
MIT STELLENMARKT
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Dow ▲
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Xetra 16.30 h
11614 Punkte
N.Y. 16.30 h
19915 Punkte
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Schneeglätte. An der Küste und im Alpenvorland stürmische Böen mit 70 bis 90
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fünf Grad.
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