The Inquisitor in the Hat Shop. Inquisition, Forb - H-Soz-u-Kult

F. Barbierato: The Inquisitor in the Hat Shop
Barbierato, Federico: The Inquisitor in the Hat
Shop. Inquisition, Forbidden Books and Unbelief in Early Modern Venice. Farnham: Ashgate
2012. ISBN: 978-1-4094-3547-1; 430 S.
Rezensiert von: Mona Garloff, Historisches
Institut, Universität Stuttgart
1709 hatte sich Nicolò Natali auf Anzeige des
Inquisitors in Belluno vor dem Sant’Uffizio in
Venedig zu verteidigen. Nicht die Tatsache,
dass sich der aus Dalmatien stammende Natali als Arzt ausgegeben hatte, sondern seine
religiösen Ansichten hatten ihn in Bedrängnis gebracht. So hatte er die menschliche Seele mit dem einem Kochtopf entströmenden
Wasserdampf verglichen, der nach dem Kochprozess vergeht. Dieses anschauliche Bild hatte schnell Verbreitung gefunden und war auf
dem lokalen Marktplatz und anderenorts diskutiert worden. Vor dem Inquisitionsgericht
beteuerte Natali seine Rechtgläubigkeit. Das
Infragestellen der römisch-katholischen Lehre hatte keine weiteren Konsequenzen für ihn,
und er wurde nach dem Verhör mit einer Verwarnung entlassen.
Dieser Inquisitionsfall und eine Vielzahl
weiterer Beispiele, in denen Barbiere, Buchhändler, Handwerker, Nonnen oder Priester ihre religiösen Ansichten vertreten, bilden
die reiche Quellenbasis von Federico Barbieratos vorliegender Studie. Das Buch beschäftigt sich mit vielfältigen Formen des Glaubens
und Unglaubens und Fragen religiöser Devianz in der Republik Venedig im Zeitraum
der 1640er- bis 1740er-Jahre. Der Übersetzung
zugrunde liegt Barbieratos 2006 erschienenes
Werk „Politici e ateisti. Percorsi della miscredenza a Venezia fra Sei e Settecento“.
Barbierato zeichnet mit profunder Kenntnis der archivalischen Überlieferung ein dichtes Profil der Glaubensansichten in der Stadt
Venedig und der Terraferma, wie es für Vergleichsfälle kaum durchführbar sein dürfte.
In fünf thematisch gegliederten Kapiteln wird
Venedig zunächst als Ort des kulturellen und
religiösen Austauschs untersucht. In Kaffeehäusern, botteghe di acquavite, Barbierläden
wie auch auf der Piazza San Marco und in
häuslichen gesellschaftlichen Kreisen wurden
politische und religiöse Ansichten diskutiert.
Diese Orte förderten auch die Verbreitung
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heterodoxer Ideen, da hier Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten aufeinandertrafen. Die jeweiligen Positionen wurden
von einem Amalgam kursierender religiöser
Standpunkte genährt. Barbierato schreibt der
öffentlichen Äußerung und Diskussion individueller Glaubensansichten im 17. Jahrhundert eine hohe Bedeutung zu: „The new factor in the period of question was the social
role assumed by such elements and manifestations. [...] Fragments of these doctrines were expressed by individuals who now personally identified with an imaginary society of
nonconformists rather than with the Church.“
(S. xxv) Solche Positionen wurden nur mittelbar durch den Wissenserwerb aus Büchern
geprägt, sondern vielmehr durch mündliche
Kommunikation. Es entstand eine Art „patchwork philosophy“ (S. xxiii). Im Titel der englischen Übersetzung werden zu starke Akzente
auf die Rolle der schriftlichen Wissensverbreitung gesetzt. Die Bedeutung des Buchhandels
in Venedig etwa wird am Beispiel von Giovanni Giacomo Hertz und Stefano Combi nur
punktuell betrachtet.
Selbst in Buchläden fand man sich nicht nur
zum Kauf von Büchern ein, sondern vor allem, um über sie zu sprechen. Häufig waren
solche Diskussion über entsprechende Werke der Ausgangpunkt: heterodoxe Positionen wurden sodann aus dem gelehrten Kontext gelöst, radikalisiert und fanden in weiteren städtischen Kreisen Verbreitung. Themen wie die Unsterblichkeit der Seele waren
dabei wiederkehrend, es ging darum, möglichst originelle Argumentationswege zu finden und sich einer bildhaften Sprache zu bedienen, wie das eingangs gewählte Beispiel
demonstriert.
Gelungen werden im Buch Zusammenhänge zwischen dem wachsenden Informationsmarkt des 17. Jahrhunderts, dem kommunikativen Prozess über politische Nachrichten und
der Ausprägung individueller (a)religiöser
Standpunkte aufgezeigt. Eine zentrale Frage
der Studie ist, wie Unglaube zu einem sozial übergreifenden Phänomen im 17. Jahrhundert werden konnte und welche Mechanismen des Wissenstransfers hier wirkten.
Barbierato greift auf Forschungsdebatten zurück, die im Zusammenhang mit Carlo Ginzburgs Arbeit zum Inquisitionsfall des Müllers
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Menocchio aus Montereale geführt wurden.1
Wie bildeten sich heterodoxe oder atheistische Glaubensvorstellungen unter Vertretern
des ,einfachen Volks‘ aus? Die Ausgangslage
im Friaul des 16. Jahrhunderts unterscheidet
sich dabei deutlich von der Venedigs im 17.
und frühen 18. Jahrhundert: „In a certain sense, in the special urban context of Venice, the
problem was not so much the presence of a
person like Menocchio but the fact that there where hundreds of similar figures divulging statements, ideas, depictions and visions
of the world, which each individual then interpreted for himself.“ (S. 171f.)
Das Buch widmet sich schließlich der Rolle heterodoxer Bücher und entsprechender
Zensurmaßnahmen. Besonders in den beiden letzten Kapiteln werden die komplexen
Rahmenbedingungen deutlich, die der Handlungsfähigkeit des kirchlichen Inquisitionsgerichts, nicht zuletzt durch die staatliche Jurisdiktion, in der Republik Venedig enge Grenzen setzten. Als Institution trug es jedoch dazu bei, die gespannten Beziehungen zwischen
Venedig und Rom zu entlasten.
Am Ende der vielen anschaulichen Beispiele steht die titelgebende, detailreiche Fallstudie zu Bortolo Zorzi: Der Hutmacher Zorzi
war 1739 von der Inquisition angeklagt worden, in seinem Geschäft auf dem Campo della
Fava regelmäßig Gesprächskreise zu atheistischen und anderen religionskritischen Themen veranstaltet zu haben. Die Teilnehmer,
unter denen sich sowohl Adelige als auch
einfache Kaufleute befanden, bedienten sich
zum Zweck der gemeinsamen Lektüre der
reich ausgestatteten Bibliothek im Hause Zorzis. Beim Durchsuchen der Bibliothek stießen
die Inquisitoren 1741 auf 71 verbotene Texte.
Ihr Verzeichnis bildet den Anhang des Buchs.
Es ist sehr aussagekräftig für die Verfügbarkeit dieser Werke in Venedig und das Unvermögen der Zensurbehörden, die Zirkulation solcher Titel (häufig in handgeschriebener Kopie) zu kontrollieren. Es ist bedauerlich, dass in dem Verzeichnis editorisch nicht
trennscharf zwischen ergänzten bibliographischen Angaben (bspw. Verlegern) und den
transkribierten Informationen unterschieden
wird. In einem vier Jahre währenden Prozess
hatten sich Zorzi und ein Kollege stellvertretend für den Kreis zu verantworten. Die fünf-
jährige Freiheitsstrafe war mit Ende des Prozesses 1744 beinahe abgegolten.
Barbierato hat mit seiner Studie neue Zugänge zu frühneuzeitlichen Glaubenspraktiken geschaffen und der generell unterbeleuchteten Phase des 17. und frühen 18. Jahrhunderts einen stärkeren Eigenwert verliehen. Starre Kontinuitätslinien eines Aufklärungsnarrativs werden vermieden. Die untersuchte Phase, die Barbierato dennoch als
„age of transition“ (S. xxxi) zwischen Reformation und Aufklärung beschreibt, sieht er
durch einen rapiden Anstieg von abweichenden Glaubensvorstellungen, Irreligiösität und
Skeptizismus im späteren 17. Jahrhundert geprägt. Solche Formen der Devianz weisen
über den Bereich des Religiösen hinaus und
werden von Barbierato als „libertine“ Vorstellungen beschrieben. Zwar wird der Forschungsbegriff des frühneuzeitlichen Libertinismus über das Buch hinweg fundiert reflektiert, es wird jedoch eine eigenständige
Definition des beobachteten Phänomens vermisst (vgl. punktuell S. 97).2 Es geht in dem
Buch weniger darum, eine Sonderrolle Venedigs herauszuarbeiten, als vielmehr Kommunikationspraktiken und Wege des frühneuzeitlichen religiösen Wissenstransfers zu erörtern, die über die gesellschaftlichen Eliten –
und damit das ältere Paradigma der „libertinage érudit“ – hinaus verfolgt werden können. Seit ihrer Erstpublikation vor zehn Jahren hat Barbieratos faszinierende Studie der
Forschung zu frühneuzeitlicher religiöser Devianz wichtige Impulse gegeben, im deutschsprachigen Bereich hat sie bislang, selbst in ihrer englischen Übersetzung, leider nur vereinzelt angemessene Resonanz erfahren.
HistLit 2017-1-030 / Mona Garloff über Barbierato, Federico: The Inquisitor in the Hat
Shop. Inquisition, Forbidden Books and Unbelief
in Early Modern Venice. Farnham 2012, in: H1 Ginzburg,
Carlo, Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un
mugnaio del ’500, Turin 1976, deutsch: Der Käse und
die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt
am Main 1979.
2 Vgl. für eine forschungsgeschichtliche Verortung Andreas Pietsch, Libertinage érudit, Dissimulation, Nikodemismus. Zur Erforschung gelehrter Devianz, in:
Herbert Jaumann / Gideon Stiening (Hrsg.), Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein
Handbuch, Berlin 2016, S. 163–196.
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F. Barbierato: The Inquisitor in the Hat Shop
Soz-Kult 13.01.2017.
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2017-1-030