Hier die pdf-Datei herunterladen

1
2
Inhalt
Vorwort
S. 3
Der Widerspenstigen Zähmung:
Der Kampf gegen den ‚Aberglauben‘
S.4
Das pädagogische Arbeitslager:
Pestalozzis Roman
‚Lienhard und Gertrud‘
S.82
Volksaufklärer an der Macht:
Das Beispiel Zürichs
und der reformierten Schweiz
S. 163
3
Vorwort
Denken wir an die Aufklärung, dann fallen uns Namen ein
wie Kant, Lichtenberg, Voltaire, Lessing, Nicolai usw. Ihre
Schriften haben uns Nachfahren ein Monument
intellektueller Redlichkeit und luziden Denkens errichtet.
Dessen Strahlkraft weckt heute noch die Erinnerung an
unsere Befreiung aus der Nacht der religiösen Mythen und
des despotischen Absolutismus.
Wie bei einem Eisberg sehen wir aber auch nur den
leuchtenden Gipfel der Hochaufklärung, der zaubergleich
über den Wassern schwebt. Neun Zehntel aller
aufklärerischen Bestrebungen bleiben dabei unter der
Wasserlinie verborgen. Die europäische Aufklärung richtete
sich regelhaft nicht nur gegen ein Oben, sondern – und
zwar in der Mehrheit – immer auch gegen ein Unten.
Hier war der Feind eine ländliche Volkskultur, deren
Widerständigkeit es zu schleifen galt. Die feudale Sklaverei
sollte durch eine rationale Sklaverei ersetzt werden. Von
diesem vergessenen Schauplatz der Geschichte erzählt
dieses Buch.
4
1. Der Widerspenstigen Zähmung:
Der Kampf gegen den ‚Aberglauben‘
Heftige Kritik an seinen Zeitgenossen übte der
Magdeburger Pfarrer Christian Ludwig Hahnzog im Jahr
1788. Er leugnete alle bisherigen Erfolge bei der
Unterrichtung des Volkes. Vom Gegenstand ihres
pädagogischen Strebens hätten die Aufklärer so gut wie
keine Ahnung. Bei einem beliebigen Buchhändler fände
man doch außer „ein Paar schlesischen Vorlesungen von Garve“1
kaum
naturkundliche
Schilderungen
des
realen
Bauernlebens, dafür aber „199 Predigt- Religions- Sitten- ArztWirthschafts- Volks- und andere Lesebücher für Bauern, von denen
dreyviertel wie die Faust aufs Auge passen (…)2. Diese
mangelnde Kenntnis, klagte Hahnzog, stünde im Gegensatz
zu der Kenntnis des Publikums vom Alltag der entlegensten
Barbarenstämme in Asien und Amerika:
„Wir wissen, was die Chineser, Hottentotten, Otaheiter,
Irokesen, Kalifornier u.s.w. für Kleider, Karrikaturen, Sitten
und Gewohnheiten bey ihren Hochzeiten und Begräbnissen
haben; was für Grimassen sie bey ihren Besuchen, Festen
und Gastmahlen machen; ja! was für Stirnen, Nasen,
Mäuler, Haare, Physiognomie und Visage sie haben. Und
wir wissen nicht was es damit z.E. unter dem Landvölklein,
das um uns herum wohnt, für eine Bewandtniß hat. Und dies
sollten wir doch wol noch eher wissen, da uns diese Leutlein
mit Korn, Butter, Käse, Eyer, Rostbeef, Schöpfen- und
1
Christ[ian] Ludew[ig] Hahnzog: Charakteristik des
Magdeburgischen Bördebauern, nebst Prologus. In: Jahrbuch für die
Menschheit, 1788, Bd. II, S. 396 – 443, hier: S. 400
2
Ebda.
5
Kälberbraten versehen (…) Wir beobachten gierig den
afrikanischen, den kolombischen oder abusive den
amerikanischen Barbaren und sehen dem unter uns
wohnenden deutschen Bauern nicht ins Gesicht.“3
Der Prolog zum Aufsatz schloss mit dem Aufruf, die
dringend benötigte Kenntnis über den Alltag der Bauern zu
vermehren, indem gebildete Bürger, die das Landvolk erlebt
haben, „an den Herrn Redacteur dieses Jahrbuchs, dessen eine
Hauptabsicht auf die Kenntniß des deutschen Landmanns hinzielt,
die gebetenen Bauerngemälde (…) senden“4.
Hahnzogs Position, die auf eine ethnologische
Feldforschung im Innern Deutschlands drängte, stellte
einen Bruch dar zu älteren Formen der Volksaufklärung,
welche der Verfasser mit dem Verweis auf die Religionsund Ökonomiebüchlein für den Bauersmann streifte.
Konfrontiert mit den frustrierenden Resultat des Versuchs,
das Landvolk naiv als aufklärungsbedürftige Bürger zu
sehen, stand die Volksaufklärung nun vor der Aufgabe, sich
über die Gründe ihres Scheiterns Rechenschaft abzulegen.
Die Volksaufklärung vollzog den Wandel zur Volkskunde.
Der Vorstoß des Magdeburger Pfarrers befand sich in einer
nahezu unüberschaubaren Gesellschaft. Seit den achtziger
Jahren des 18. Jahrhunderts erschien eine Vielzahl
binnenethnologischer Studien, die von nun an den Diskurs
der Volksaufklärung maßgeblich bestimmen würden.
Erstaunlich ist hierbei ein Paradigmenwechsel: Die
bäuerliche Bevölkerung galt nicht länger als ein Brachfeld,
3
4
Ebda., S. 397
Ebda., S. 402
6
das bloß mit dem Wissen der Aufklärer gedüngt werden
müsse, um die allgemeine Glückseligkeit zu befördern – im
Gegenteil: Der Bauer war nicht länger ein defizitäres
Wesen, er litt vielmehr an einem Zuviel an Wissen. Einem
Wissen, das demjenigen der Aufklärung fundamental
widersprach.
Im Zentrum aller ‚Irrthümer und Vorurtheile‘ stand als
Chiffre nun stets der ‚Aberglaube‘. Dessen semantisches
Feld begann die Volksaufklärung jetzt zu beackern:
„Ein Abergläubischer ist der, welcher mehr als wahr ist,
glaubt. Er ist also das Gegentheil von dem Ungläubigen,
welcher weniger glaubt, als wahr ist. Denn das Wort aber
hieß ehedem so viel als über oder mehr. Der Aberglaube
äußert sich durch ungegründete oder verkehrte Meinungen
von Dingen, und durch die daraus entstehenden
Handlungen: Daher muß die wahre Ursach von den Dingen
gezeigt, das thörigte und lächerliche in den abergläubischen
Handlungen dargestellt, und zur Erreichung sichre Mittel
angegeben werden. Bei den Mitteln die der Abergläubische
wählt, leidet die gute Sache der Religion, und der Nächste;
sie entehren die Vernunft, wirken grössere Unwissenheit,
und thun der Lasterhaftigkeit oft den gewünschtesten
Vorschub.“5
Der Aberglaube wurde nicht länger belächelt, sondern
dämonisiert. Er erschien als Feind alles Guten und
5
[Heinrich Ludewig Fischer:] Das Buch vom Aberglauben. Neue
verb. Aufl. Leipzig 1791, Vorrede
7
Nützlichen. Weil „die Pest des Aberglaubens immer fortwüthet“6,
weil „die mörderische Quacksalberey unter dem Landvolke
aus[ge]rotte[t]“7 werden müsse, weil die „falschen Propheten“
des Aberglaubens „die fürchterlichsten und gefährlichsten Feinde
der häuslichen und bürgerlichen Glückseligkeit“8 seien, zogen die
Volksaufklärer aus zu einem „Kriege wider den Aberglauben“9.
Sie nannten sich jetzt „Antipoden des Aberglaubens“10. Der
Aberglaube hinderte den ‚pursuit of happiness‘ der
Aufklärung, weil er das Grundaxiom der Vernunftfähigkeit
dieser Weltordnung bestreite. Er sei das Haupthindernis
jedes ökonomischen und moralischen Fortschritts und er
wurde als Erkrankung des Verstandes psychiatrisiert:
„Tugend und Wohlstand stehen also mit der Aufklärung in
innigster Verbindung, und jede Verbesserung und
Beglückung des Volkes mag so lange unter die frommen
und nie zu realisierenden Wünsche gehören; als bis alle
Stände von dem herrschenden Aberglauben, von jener
allgemeinen Krankheit des Verstandes geheilt (…) sind.“11
6
[Anonym:] Briefe zur Bildung des Landpredigers, Bd. 1, Hof und
2
Plauen 1789, S. 291
7
Christian August Struve: Ueber Gesundheitswohl und
Volksvorurtheile, Bd. 1, Breslau, Hirschberg und Lissa in
Südpreussen 1797, S. 129
8
Heinrich Ludwig Fischer: Beiträge zur Beantwortung der Frage: ob
Aufklärung schon weit genug gediehen oder vollendet sey? Als
Anhang zu dem Buch vom Aberglauben. Hannover 1794, S. 78
9
3
Ernst Urban Keller: Das Grab des Aberglaubens. Stuttgart 1785, S.
21
10
Ebda., Vorrede, unpaginiert
11
Bonaventura Andreß: Abhandlung ob und wie der Prediger das
gemeine Volk aufklären solle? In: Magazin für Prediger zu
8
Der Zustand der Realität bot den Aufklärern geradezu ein
Scheidebild für die Herrschaft des Aberglaubens. Dort, wo
es an Prosperität mangelte, wo wirtschaftlicher Verfall und
ungenügende Landwirtschaft sich zeigten, dort widerstrebe
allemal
ein
fest
verwurzelter
Aberglaube
den
kameralistisch-ökonomischen
Zielsetzungen
der
Volksaufklärung:
„Wo Dummheit und blinde Vorurtheile herrschen, da liegen
Ackerbau, Künste und Handel darnieder; da sind Pfuscher,
Quacksalber und Beutelschneider zu Hause.“12
Die Volksaufklärung setzte sich damit nicht länger das Ziel,
neues Wissen und Kenntnisse unter dem Landvolk zu
verbreiten. Sie wollte dem Landmann vielmehr ein
überschüssiges Pseudo-Wissen nehmen, das im ländlichen
Raum barock ins Kraut geschossen wäre. Es gehe darum,
den erwünschten ‚schlichten Sinn‘ des Landmanns
überhaupt erst zu erschaffen, indem man die wilden Triebe
kupiere, so wie die Zweige am Obstbaum:
„Der sogenannte gemeine Mann soll nicht viel wissen, aber
das, was er weiß und wissen muß, sollte er recht wissen
und nach und nach von Aberglauben und Vorurtheilen
geheilt werden werden, die doch immer eine Krankheit des
Geistes sind.“13
Beförderung des praktischen Christenthums und der populären
Aufklärung. Bd. 1, Würzburg 1789, S. 1 – 56, hier: S. 24
12
Bonaventura Andreß: Abhandlung …, a.a.O., S. 23
13
Friedrich Erdmann August Heydenreich: Ueber den Charakter des
Landmanns in religiöser Hinsicht. Ein Beytrag zur Psychologie für
9
Der Aberglaube war damit nicht länger eine skurrile Folge
bloßer Dummheit, er wuchs sich aus zum geistigen
Gegenspieler der Aufklärung, ein kaum zu überschätzender
Gegner, der den unausweichlichen Siegeszug der Vernunft
auf dem flachen Land nach Kräften behinderte. Seine
magischen Grundannahmen stellten ein konkurrierendes
Deutungsmuster bereit, dessen übernatürliche Gesetze im
Widerspruch standen zu den auf Wissenschaft, auf
empirischer Beobachtung und auf Ursache und Wirkung
beruhenden der Aufklärung.
Denn die Realität, auf welche diese frühen Volkskundler bei
ihrer Inspektion der sittlichen und ökonomischen Zustände
des Volkslebens stießen, gab wenig Anlass zu Optimismus:
Der Glaube an Hexerei war ungebrochen. Die
‚Volksmedizin‘ stand in voller Blüte. Bauern verschluckten
zur Heilung ihrer Krankheit kleine Zettel mit einem
Bibelspruch, ein reger Verkehr in Sachen ‚Aberglaube‘
herrschte auf allen Landstraßen. In den Hütten der ‚klugen
Leute‘ drängten sich die Bauern, kleine Urinfläschchen in
der Hand, auf die der Harnbeschauer seinen
kenntnisreichen Blick werfen sollte. Wahrsager ermittelten
mit ihren divinatorischen Eigenschaften die Namen von
Dieben und die Einflüsse schwarzer Magie. Unter
Segensprüchen drückten Hebammen den Neugeborenen
das Blut aus der zerschnittenen Nabelschnur in den Mund.
Bei allen Unpässlichkeiten warf der Landmann einen Blick
auf den Kalender und ließ an ‚guten Tagen‘, wenn das
Aderlassmännchen erschien, mit dem Blut zugleich die
‚bösen Säfte‘ abfließen. Amulette wurden von der
alle, welche auf das religiöse Bildungsgeschäft desselben Einfluß
haben – vorzüglich für Landprediger; Leipzig 1800, S. 77
10
Landbevölkerung ebenso häufig getragen, wie von einem
Indianerstamm im exotischen Amerika. Dass den
Volksaufklärern der Vergleich zu den wilden Stämmen
leicht fiel, ist verständlich, angesichts des real
existierenden Volkslebens:
„Auf manchen Dörfern wimmelt es von Quacksalbern; dort
ist das Asylum dieser verderblichen Menschen. Ausser dem
Gesichtskreise der medizinischen Polizei morden sie
ungestört, und niemand achtet darauf. (…) Der Schäfer, der
Scharfrichter, der Jäger, alles quacksalbert um die Wette;
auch Weiber maaßen sich das Verdienst an, die Menschen
um Leben und Gesundheit zu bringen. Verdorbene
Feldscherer und Bartputzer setzen sich aufs Land, und
kuriren, oder morden ungestört. Diese Quacksalber
benutzen und erhalten die Vorurtheile und den Aberglauben
des gemeinen Mannes so viel in ihren Kräften steht, denn
sie leben davon; sie unterstützen den Wahnglauben an
Hexerei und Teufelsbesitzung, an Kobolte und
Harnbeschauen.“14
Harnbeschau, Aderlass, Körpersäfte … auf weite Strecken
hatte in den Heilmethoden des Volkes die Humoraltherapie
samt der Lehre von den Temperamenten überlebt.
Verfahren, die noch einhundert Jahre zuvor auch die Eliten
der Gesellschaft heilten – oder auch ‚mordeten‘. Beim
Aberglauben handelte es sich in mancherlei Hinsicht nur
um eine Form retardierter oder überlebter ‚Wissenschaft‘.
Und beim Streit der Aufklärer mit den Dorfgesellschaften
um eine Sonderform der ‚querelle des anciennes et
modernes‘.
14
Struve: Über Gesundheitswohl, a.a.O., Bd. 1, S. 122
11
In jedem Fall aber zielte die aufklärerische Offensive gegen
den Aberglauben auf die Geschäftsgrundlage und auf die
Existenz einer oft prekären Schicht im ländlichen Raum. Da
der Aberglaube vornehmlich den Unterschichten
Subsistenzchancen einräumte, wäre ‚der arme Mann‘ von
einem Sieg der Vernunft zuvörderst betroffen gewesen.
Diese pauperisierten Menschen begegnen uns in den
Texten in vielfältiger Gestalt:
„Es sind Zigeuner, Wahrsager, Bärenführer, Hanswürste,
Bänkelsänger, Zahn- und Wurmdoctores, Seiltänzer,
Klopffechter,
Kunstreiter,
Ratten-,
Mäuseund
Wanzenmörder, Unglücksauschreier, die von einem halben
oder ganzen Bogen bekannte und unbekannte, wahre und
erlogene, interessante und uninteressante Ereignisse
ablesen, den Wisch um ein paar Dreyer verkaufen, (…)
Liederverkäufer, welche Gesänge voll Albernheiten und
Zoten feil tragen, und leider! Käufer genug finden. Diese
Auswürfe der Menschheit sollte man, wie ein schädliches
Thier aus dem Dorfe treiben, oder noch besser, die Kraft zu
schaden ihnen dadurch nehmen, daß man sie in keinem
Lande, wenigstens in unserem teutschen Vaterlande nicht
duldete.“15
Bei ihrem Rencontre mit der Pauper- und Vagantenwelt
begegnete die Volksaufklärung ihrem Erzfeind. Der Kampf
gegen den Aberglauben entwickelte sich damit zu einem
sozialen Konflikt, der wie über die mentale Ebene
hinausreichte: Die tugend- und sittenverbreitenden ‚Lehrer
15
Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O. S. 67 f
12
des Volkes‘ standen den
Landstreichern“16 gegenüber.
„Immoralität
verbreitenden
Der Herrschaftsdiskurs der bestallten Volksaufklärer blieb
zumeist wirkungslos, sobald er von den Kanzeln herab und
in der gemeinnützigen Literatur dem Landmann ein
vernünftigeres Leben predigte. Denn außerhalb der Kirchen
und Schulen existierte ein intaktes oppositionelles
Kommunikationssystem. In den Spinnstuben17, in den
Wirtshäusern und auf den Jahrmärkten wurden die
Aufklärer verlacht. Ein Heer von Bettlern, Gauklern,
Heilkundigen und Büchertrödlern durchkreuzte die
wohltätigen Absichten der Herrschaft. Als Mulitiplikatoren
traditionaler und magischer Weltsicht wurden die
vagierenden Unterschichten in den Augen der aufgeklärten
Beamten zu Staatsfeinden:
„Die Feinde der Aufklärung sind also wahre Feinde des
Staates und der ganzen menschlichen Gesellschaft,
meistens selbst verdorbene Menschen, welche nur darum
Apostel der Dummheit sind, weil sie aus dem allgemeinen
Verderbnisse Nutzen zu ziehen hoffen.“18
Für die staatlich-fiskalischen Pläne der Volksaufklärung im
Reformabsolutismus stellte der Aberglaube auch
ökonomisch einen zentralen Störfaktor dar. Die Intentionen
der Volksaufklärung reichten ja weit über literarische und
klerikale Absichten hinaus: Mit den Mandaten und PoliceyVerordnungen sollten sich die praktische Wirksamkeit der
16
Ebda., S. 192
Das deutsche Verb ‚kungeln‘ illustriert noch heute die soziale
Funktion der damaligen Kunkel- oder Spinnstuben
18
Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 24
17
13
Musterbetriebe, die Ermahnungen der Pädagogen und
Prediger zu einem Ganzen verbinden, wo ein Rad in das
andere greifen sollte. Eine ‚künstliche Maschine‘ sollte
entstehen, wo Tugend, Uneigennützigkeit und werktätiges
Christentum besteuerbaren Wohlstand erzeugen:
„Einrichtungen des Gottesdienstes, Schulanstalten,
Policeygesetze,
Beförderung
der
Wissenschaften,
Aufmunterung guter Köpfe, Begünstigung einer vernünftigen
Lektüre, besonders durch gut abgefasste Volksschriften,
Bildung und Anstellung guter Erzieher, Lehrer und
Staatsbediensteten u.d.g. sind die Mittel, wodurch ein kluger
Regent die wahre Aufklärung verbreitet. (…) Alles diese
Mittel müssen wie in einer künstlichen Maschine
ineinanderwirken (…).19
Doch das Volk war widerständig, es fügte sich nicht, und es
wollte die neuen Grundsätze einfach nicht praktizieren:
„Den weisesten Gesetzen“ folge es oft nicht, weil es „entweder
keine, oder falsche, oder gar entgegengesetzte Überzeugungen
hat“.20
Es ist klar, dass die Volksaufklärer, oftmals selbst in
prekärer Beschäftigung lebend, ihr Programm auch ‚pro
domo‘ verfassten. Das störrische Landvolk stand somit
auch ihrer Karriere im Wege, weil der Erfolg der ‚neuen
Ökonomie‘ allemal auch am Produktivitätsfortschritt zu
messen war – jeder aufklärerisch gesinnte Landesherr
erwartete ein ‚return on investment‘.
19
20
Ebda., S. 12 f
Ebda., S. 11
14
Für die Bauern wiederum mangelte es den ‚patriotischen
Missionaren‘ der Volksaufklärung oftmals an Rationalität,
an erfahrungsgesättigtem Alltagsverstand. Der Primat der
‚Staatszwecke‘, ein an ‚Policey‘ und Verwaltung orientierter
Blickwinkel der Volksaufklärer widersprach dem Diskurs
einer intakten Dorfkultur.
Wechselseitige Beschimpfungen waren die Folge: Die
Bauern schimpften über ‚falsche Propheten‘, ‚Ungläubige‘
und ‚Volkstäuscher‘, die Volksaufklärer klagten über ‚blinde
Anhänglichkeit‘, ‚Dummheit‘, irriges Vertrauen auf Gott‘
oder ‚schädlichen Schlendrian – generell über ‚Vorurtheile‘
und ‚Irrthümer‘.
Verdichtet entstand so in der Weltsicht der Aufklärer jener
‚Dämon des Aberglaubens‘, der unaufhörlich neue
Gliedmaßen gebar:
„Bey dem allen hat der Aberglaube noch immer die Art der
Polypen an sich. Wenn man ihm auch ein Glied nach dem
anderen abreisset, entstehen andere. Die Wahrsagerey aus
der Coffeetasse, abergläubische Künste, um in Lotterien
glücklich zu sein, u.d. sind neue Gliedmasen.“21
Die Folge des großen Schlendrians war die ‚Faulheit‘, die
unmittelbar aus dem Aberglauben resultiert. Den Bauern
mangelte es schlicht an Einsicht in volkswirtschaftliche
Notwendigkeiten:
„(D)amit ich mit wenigen Worten alles sage: eine tief
eingewurzelte Unempfindlichkeit gegen alles, was die
21
Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., S. 18
15
arbeitenden Kräfte in Thätigkeit setzen, und die öffentlichen
Quellen der Erwerbnisse empor bringen kann.“22
Der Aberglaube wurde so als systematischer Oberbegriff alles
Widerstands konstruiert, mit dem sich die Aufklärung auf
dem Land konfrontiert sah:
„Aberglauben (sei) blinde Anhänglichkeit an Irrthümer und
Vorurtheile“23, der Aberglaube bilde „de(n) Brenn-Punct,
worinn alles, was unvernünftig, schändlich und böse ist,
zusammenläuft“.24
Durch die Überzeichnung des Aberglaubens zu einem solchen
metaphysischen Popanz war es natürlich nicht länger
notwendig, rationale und ökonomische Gründe zu
diskutieren, welche den praktischen Zielsetzungen der
Volksaufklärung
widersprachen.
Ob
Mergeldüngung,
Stallfütterung oder Obstbaumzucht - all die ‚Mustergüter‘ der
Aufklärung prosperierten nur selten. Die neue Wissenschaft
hielt einfach nicht, was die Propaganda versprach.
Da war es einfacher, die Schuld auf einen übermächtigen
Gegner zu schieben – auf die Mentalität und Dummheit
abergläubischer Bauern. Die Volksaufklärung verwendete
einen äußerst extensiven Begriff des Aberglaubens, der alles
umfasste, was auf dem Land der Verwirklichung
volksaufklärerischer Pläne im Wege stand. Durch seine
vermeintliche Größe wurde der Aberglaube zum mächtigsten
22
Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 22
Ebda., S. 22
24
Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., S. 193 f
23
16
Gegner vor den Toren der Städte. Und dies vor allem für die
Volksaufklärer.
Vorsicht beim Angriff auf ‚abergläubische Vorurtheile‘ wurde
so, der Größe des Gegners entsprechend, zum Gebot
praktischer Wirksamkeit. Die Volksaufklärer entdeckten die
Langsamkeit.
Als ‚Feldforscher‘ - dank ihrer Nähe zum Volk - galten Pfarrer
als besonders geeignet. Sie sollten zu Kundschaftern und
Agenten in einer fremden Welt werden, wo nur ein
diplomatisches Vorgehen, das jesuitisch seine wahren Ziele zu
camouflieren wusste, mittelfristig Aussicht auf Erfolg bot:
„Der Prediger lerne also vor allen die Leute kennen, deren
Gesinnungen er umändern will; er kundschafte ihre
verschiedenen Vorurtheile aus, und nachdem er sie
gefunden hat, so gehe er doch noch ganz unvermerkt zu
Werke, und greife das Gebäude nicht mit zerstöhrender
Hand an, daß er es prasselnd einzureißen drohe; sondern
untergrabe es langsam (…). Die Menschen sollen es
anfangs gar nicht wissen, daß es ihren Vorurtheilen gilt
(…)“25
Die Bauern aber witterten den Braten dennoch, schimpften
über die Ungläubigen und Staatspropheten auf den Kanzeln,
über die „reißenden Wölfe in Schaafskleidern“26 - ein Vorwurf der
auch in der Gegenrichtung funktionierte, wo die aufgeklärten
25
26
Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 49
Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 31
17
Prediger „dem Reiche des Satans, des Unglaubens, des
Aberglaubens, der Dummheit und Thorheit Abbruch thun“27 wollten.
Der Konflikt zwischen Deismus und Orthodoxie war damit
auch auf dem Lande präsent, er trennte die religiösen
Kulturen. Der oft kolportierte Vorwurf der Landbevölkerung,
dass die Pfarrer nicht mehr christlich predigten, sondern
weltliche Staatszwecke religiös verbrämten, bestand
keineswegs zu Unrecht. Er korrespondierte mit dem
Selbstbild eines aufgeklärten Klerus auf dem Land:
„Die Prediger (…) sind Diener des Staates, so gut als
Minister und Räthe“.28
Übermäßiger Eifer bei der Umsetzung solcher Staatszwecke
schade allerdings nur, weil diese Hast das Volk ‚kopfscheu‘
machen könne, womit man die Herzen der Bauern für lange
Zeit allen ‚wohlthätigen Belehrungen‘ verschließe:
„Wenn ein hitziger Volkslehrer (…) hastig auf die Vorurtheile
der Menschen losstürmt und den gemeinen Ständen bittere
Vorwürfe darüber macht; so zieht er sich für itzt und allzeit
Feinde, Verfolgungen, Druck und so viele bittere Stunden
zu, daß er endlich muthlos die Hände in den Busen
steckt.“29
27
Elias Caspar Reichard: Vermischte Beiträge zur Beförderung einer
nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich. Zur Verminderung und
Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens. Erstes Stück. Helmstedt
1780; Vorbericht / unpag.
28
Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 31
29
Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 50
18
Die Gefahr drohte aber auch aus entgegengesetzter Richtung,
Dann nämlich, wenn der Aberglaube ersatzlos ausgeräumt
würde. Ohne eine neugepflanzte ‚positive Religion‘ wäre alle
Volksaufklärung vergebens, ja sogar gefährlich. Die
gefürchtete ‚falsche Aufklärung‘ würde dann politische
Ansprüche und unerwünschten Skeptizismus erzeugen:
„Das Aufräumen ohne Ersatz ist äusserst gefährlich; man
schlägt gleichsam eine Mauer ein, um Licht in das Gebäude
zu bringen. Gemeiniglich wird unter dem Volke eine
gefährliche Zweifelsucht rege, woraus Gährungen und
Verwirrungen
entstehen.
Frevelnder
Unglaube,
Karakterlosigkeit und allgemeines Verderben sind die
Folgen einer zweckwidrigen Aufklärungsmethode. Es wäre
oft besser, man hätte dem Volke seinen Aberglauben
gelassen, als daß einem pöbelhaften Unglauben
unbesonnener Weise Thür und Thor geöffnet wurden. Den
Vorurtheilen muß so in der Ferne entgegen gearbeitet
werden, daß sie durch entgegengesetzte Wahrheiten
allmählig ihre Kraft und Anhänglichkeit verlieren.“30
Die Leerstelle, welche der eliminierte Volksglaube hinterlässt,
sollte gewissermaßen durch einen neuen, rationalen
Aberglauben ersetzt werden, der zumeist als ‚thätiges
Christenthum‘ oder als ‚wahrer Glaube‘ firmierte. Dieser
angestrebte Neuglaube beruhe dann auf asketischen Werten
wie Arbeitsdisziplin, Berufstreue und Tugendhaftigkeit:
„Wenn wir also das lebendige, das thätige Christenthum
recht weit ausbreiten, wenn wir einen rechten Felsen
30
Ebda., S. 50 f
19
Glauben an Gott in die Seelen pflanzen könnten, so bekäme
dadurch das Reich des Aberglaubens den größten Stoß.“31
Wir haben es mit einem mentalen Duopol zu tun: Dem
‚thätigen Christentum‘ stand der ‚tote Glaube‘ gegenüber, der
als
‚Buchstabenfrömmigkeit‘
und
als
‚äußerlicher
Gottesdienst‘ dem Verdikt verfiel. Die bloß ritualhafte
Beachtung äußerer Sakralformen gehörte gleichfalls zum
Großreich des Aberglaubens - der alte Glaube bildete
geradezu seinen Nährboden.
Niemand darf glauben, das reale Volksleben hätte jemals dem
Ideal aus den Kalendergeschichten entsprochen. Solche
Märlein der frühen Aufklärung zeichneten nur eine Utopie.
Nicht der Tugendkanon, den der Pfarrer von der Kanzel
verkündete, bewegte das Landvolk zum sonntäglichen
Kirchgang. Eine ‚freymüthigen Bemerkungen‘ des Diakons
Johann Gottfried Kessel aus dem Jahr 1789 schildern plastisch
das reale Geschehen unter dem dörflichen Kirchendach:
„Ein Hogarth könnte in manchem Gotteshaus den Stoff zu
einem geistlichen Carricaturgemälde sammeln (…). Der
Eingang in den Tempel ist voll Unehrbietigkeit; der Ausgang
der Menge wild, oft tobend, wie der Ausfluß der Menschen
aus einem Comödienhaus. Der Gesang ist oft mehr Geplerr,
gedankenloses, wildes Geschrey, als ruhige, sanfte,
andächtige harmonische Zusammenstimung der Töne zum
Ausdruck dankbarer, froher, preisender und auch
wehmütiger Gefühle und Empfindungen. Hier steht der
Lehrer voll heiligen Ernstes und Feuer’s; oder voll geistigen
31
[Anonym:] Briefe zur Bildung des Landpredigers, a.a.O., S. 286
20
Phlegma, und lehrt; oder schwäzt: dort sizt ein Trupp
Jünglinge, und scherzt, lacht, und erzählt sich die nächste
Nachtgeschichte; oder wirft den Mädchen buhlende Blicke
herab. Hier ruht eine Gruppe, eingepredigt in Schlaf; der
Leib ist starr, wie der nebenstehende Pfeiler, und die Seele
im Traum. Nur hie und da ragt ein Kopf mit
halbverschlossenem Auge, mit gaffender Miene hervor;
selten einer, beseelt von Andacht, (…) der nur den Contrast
der Toden [!] entschlummernden Andacht erhöht. Auch das
Gebet wird in dieser Vergessenheit seiner selbst, des Orts
und des Lehrers in diesen Wirthshausstellungen zugebracht.
Der erste Orgelschlag weckt oft erst die Schlummernden
zum Augenauswischen und zum Aufrichten der geistlos
gewesenen Maschine. Das geringste Getöse, [das kl]einste
Ereignis in der Kirche, das Bellen eines Hundes, der Irrthum
des Klingelsackträgers sezt die ganze Versammlung in
Alarm; nimmt die Andacht weg; und zerstreut die Gedanken,
wie der Wind die Spreu. Heilige Stille; andachtsvoller Ernst;
ehrwürdige Stellungen und Geberden; sichtbares
Bewußtseyn wo, und vor wem man steht (…); dies alles
sieht und findet man in vielen ländlichen (…) Gotteshäusern
nicht.“ 32
Ein Dorfpfarrer zu jener Zeit war nicht zu beneiden, er war
der einsame Vorposten der Aufklärung auf dem Land. Seine
Worte fanden keinen Eingang, die eindringlichsten
Ermahnungen donnerten unverstanden über Bauernschädel
hinweg. Auch der erste Hofdiakon Quedlinburgs, Johann
32
Johann Gottfried Kessel: Freymüthige Bemerkungen über
Hindernisse der Volksglückseligkeit vorzüglich in Hinsicht auf
Religions- und Sittenverbesserung. Für Patrioten und Volksfreunde
zur Beherzigung. Hildburghausen 1789, S. 64 f
21
August Ephraim Goeze, beklagt die Mentalität des Landvolks,
das den Weg zur ewigen Seligkeit nur in der formelhaften
Beachtung des ‚äußerlichen Gottesdienstes‘ sucht:
„Ich sage es euch zwar nicht gerne, lieben Leute! Aber es ist
doch die Wahrheit, daß die meisten unter euch, nur nach
dem äußerlichen Buchstaben des Christenthums fromm
sind. (…) Ihr gehet in die Kirche, weil es der Tag erfordert.
Ihr geht zur Beichte und zum Abendmahl, weil euch der
Kalender daran erinnert. Ihr leset euren Morgen- und
Abendsegen pünktlich auf die Stunde, wie ihr ihn von
Kindheit auf habt lesen müssen. Ihr singet und betet, wie es
in eurem Gesangbuche, und in euren auswendig gelernten
Formeln stehet. Wie aber das alles? Aus Gewohnheit. Blos
nach dem Buchstaben. Euer Herz aber, eure Gesinnungen
sind um nichts gebessert. (…) Seht, das nenne ich eure
Buchstabenfrömmigkeit.“33
Wo sich die Volksaufklärung von der Verbreitung ‚wahrer‘
und mentalitätsformender Grundsätze des Christentums die
Erzeugung eines neuen ländlichen Sozialcharakters versprach,
da hatte die Kirchlichkeit für die Landbevölkerung ganz
andere Funktionen. Die Dörfler sahen sich keinesfalls als
‚reformbedürftig‘ an.
Im Kern zielt das religiöse Anliegen der Volksaufklärer auf
eine religiös motivierte Steigerung der Produktivität und auf
eine
Intensivierung
des
Arbeitsverhaltens.
Dieses
unverhohlen fiskalische Interesse der Aufklärung - wie
33
Johann August Ephraim Goeze: Nützliches Allerley aus der Natur
und dem gemeinen Leben für allerley Leser. Zweiter Band. Neue
verbesserte Auflage, Leipzig 1788, S. 346 f
22
generell des Reformbeamtentums - kleidet sich dabei stets in
die Rhetorik vom „Geist der Uneigennützigkeit, der
Selbstverläugnung und Aufopferung und des ächten Patriotismus“34,
den es zu erwecken gelte.
Das Landvolk hingegen pflegte eine eher magische Auffassung
des christlichen Glaubens. Im Zentrum stand dabei der
Gedanke der Schadensabwehr durch Formeln und
Gebräuche. Nicht der Inhalt eines Gebetes war wesentlich,
sondern deren Anzahl und Zeitpunkt. Nicht die hohe
Bedeutung der Taufe bei der Aufnahme eines Kindes in die
Gemeinde Christi war der zentrale Gedanke, nebst der hohen
Verantwortung, welche die Eltern hiermit übernähmen,
sondern das Ritual, das sich vollzog, das den Täufling vor
dämonischem Zugriff schützen sollte. Nicht der Inhalt der
Predigten war wesentlich, schon gar nicht die Befolgung der
moralischen Prinzipien in ihnen, sondern der Kirchgang und
die sinnbildliche Darstellung der gesellschaftlichen Ordnung
im Kirchenraum.
Die dörfliche Kirche, die ein Bauer betrat, war ein Spielbild
der sozialen Ordnung. Vor dem Eintritt in den Sakralraum zog
der Bauer die Mütze vom Kopf, als stünde er vor seinem
Gutsherrn. Der Kniefall vor dem Gebet entsprach dem
bräuchlichen Verhalten angesichts der Obrigkeit. Weltliche
Herrscher residierten bei Visitationen hinter Türen auf einer
eigenen Empore. Die Kirchbänke des Landadels waren
geschmückt mit Wappen und mit der Autorität von
Bibelzitaten. Der Gutsherr und seine Familie nahmen
34
Heydenreich: Charakter des Landmanns. a.a.O., S. 193
23
gewissermaßen auf einer Bühne Platz. Die feudale Ordnung
der Welt wurde durch ihre Spiegelung im sakralen Raum als
Gottesordnung legitimiert.
Im ‚Parterre‘ saßen die mächtigsten alteingesessenen
Bauernfamilien auf eigenen Bänken, seit Generationen schon.
Einige besonders ‚Ehrenfeste‘, wie sie der Pfarrer
anerkennend nannte, saßen als Sittenrichter getrennt von
ihren Standesgenossen. Sie nahmen eine Mittlerstellung ein
zwischen der Herrschaft und den Untertanen. Vorn vor dem
Altar glänzte der Reichtum, er war Gott am nächsten. Fern
davon, neben dem Ausgang, drängten sich die Häusler, Kätner
und Armen. Diese sinnliche Ordnung war eine eindringlichere
Predigt als abstrakte Tugendlehrern von der Kanzel herab.
Der Kirchgang war aber auch ein soziales Ereignis – durch
Geschäftsverbindungen, die vor der Kirche getroffen wurden,
durch die Bekanntgabe weltlicher Erlasse durch den
Pfarrherrn, durch die Gelegenheit, soziale Beziehungen zu
anderen Familien zu knüpfen, nicht zuletzt auch durch den
Diskurs, der nach dem Gottesdienst im Wirtshaus geführt
wurde. Jeder, der sich dem Kirchgang entzog, löste sich aus
der Kontrolle des Dorfverbandes, er wurde als ‚Eigenbrötler‘
oder Schlimmeres stigmatisiert.
Solche Aspekte der Religiosität waren für Dorfbewohner und
ihren Alltag bedeutsamer als klare und theologisch
einwandfrei abgesicherte Vorstellungen von religiösen
Dogmen, oder die Fähigkeit, sich einen ‚wahren Begriff‘ von
Gott zu machen. Der Versuch der obrigkeitlichen
Indoktrination fiel in die Jugendzeit, wo Jungen und Mädchen
24
den Katechismusunterricht besuchten und die gültigen
Glaubenssätze mechanisch herzubeten lernten. Die Fähigkeit
ihrer Kinder, den ‚Heidelberger‘ oder einen anderen
Katechismus fehlerfrei herunterzuleiern, machte dann auch
den Stolz bäuerlicher Familien aus. Jeder Versuch aber, nach
den Inhalten der göttlichen Lehre leben zu wollen, hätte ihren
Nachwuchs zum Spott des Dorfes gemacht.
Hier wurden die Maximen eines ‚moralischen Lebenswandels‘
nicht länger vom Pfarrer durch ‚freundschaftliche
Ermahnungen‘ befestigt, sondern von anderen Institutionen
durchgesetzt. Es gab Berichte der Hofbewohner über ihre
Vorfahren, wodurch die Tradition eines angemessenen
Verhaltens vererbt wurde. Da waren die ‚Knabenschaften‘,
deren
Rügepraxis
moralisch
fehlbares
Verhalten
sanktionierte. Und es gab den Diskurs in den ‚Spinn- oder
Kunkelstuben‘, wo sich das Gesinde und die anderen
Unverheirateten des Dorfes bei gemeinsamer Arbeit
kommunikativ ihrer verbindenden Normen vergewisserten, in
zahllosen Erzählungen, Sagen und Märchen. Was wiederum
den ‚Aberglauben‘ schürte und verfestigte, was die
Volksaufklärer nach drastischen Maßnahmen rufen ließ:
„Glückte es mir nur einmal, an den Wochen- und
Kunkelstuben Wetterableiter anbringen zu können, damit
der pestartige Dunst sich daraus exonoriren, und mit
einemmal zur Hölle stürzen müßte, so wäre die Sache
schon halb gewonnen.“35
35
Keller: Das Grab des Aberglaubens, a.a.O.; Vorrede /unpag.
25
Nahezu allen Pfarrern blieben pessimistisch stimmende
Erfahrungen nicht erspart, weil der existierende
staatskirchliche Religionsunterricht die Menschen nicht zur
Tugend führte, weil dessen Worte, Beispiele und Vergleiche
einer völlig anderen Kultur entstammten. Die Situation der
Pfarrherrn glich derjenigen von Missionsbeamten auf
überseeischen Außenposten:
„Da wussten manche nicht, was Gott, wie viel Götter, was
Sünde, was nach den zehn Geboten recht und unrecht, zu
thun und zu lassen sey, und die Gebote selbst nicht, ferner,
wer Christus, was Busse, was Glaube sey, wer sie erlöset,
wer das heilige Abendmahl eingesetzet habe, was sie
darinnen empfiengen, u.s.w.“36
Während die Aufklärung auszog, um die religiös basierte
Rezeptur einer ‚vernünftigen Lebensführung‘ auf dem Land zu
verbreiten, während sie sich an der „Aufklärung der
Volksreligion“37 versuchte, hielten die Bauern an einer
alltagspraktischen Religionsausübung fest, wodurch zugleich
die Grenze zwischen Religion und Aberglaube verschwamm.
Der dörfliche Umgang mit der Bibel ist hierfür nur ein
Beispiel.
Dass die Bibel politisch instrumentierbar sei, dass sie sich
nicht nur für herrschaftliche Zwecke, sondern auch zur
36
Johann Georg Meintel: Natürlich- und geistliche Feld- Garten- und
Land-Betrachtungen, auf alle Tage des ganzen Jahrs, nach Anleitung
so vieler Sprüche H. Schrift, zur Beförderung des wahren
Christenthums, sonderlich auf dem Lande. Anspach 1752
37
Johann Rudolph Gottlieb Beyer: Zur Aufklärung der Volksreligion.
2
Ein Beitrag in Predigten. Leipzig 1794
26
Abwehr von Zumutungen nutzen ließ, gehörte unter Bauern
zum Common Sense. Bibelkenntnisse existierten durchaus im
dörflichen Raum: In buchstäblich jedem Haus fand sich ein
Exemplar, nahezu jede Familie verfügte über einen
‚Lesekundigen‘:
„Das Dogma von der Inspiration der Bibel durch Gott oder
heiligen Geist wirkt sich naturgemäß im Volksglauben dahin
aus, daß die Bibel als absolut geltende Norm für alles
menschliche Tun anerkannt wird.“38
Allerdings sagte der Besitz einer Bibel noch nichts über die
Innigkeit der Lektüre aus. Oft diente die Bibel ganz anderen
Zwecken als der Lektüre. In jedem Ort gab es darüber hinaus
ein ‚Dorforakel‘, welches Bibelstellen auszudeuten wusste.
Eine weitverbreitete religiös-prophetische Kolportageliteratur
gab zudem den Bauern Anlass, geistlichen Scharfsinn zu
zeigen:
„Wer rümpft die Nase nicht, wenn er in den Händen solcher
Leute (…) einen elend gedruckte Bogen voll Wahrsagungen
erblickt, die sie mit ernsthaftem Gesicht durchlesen, und
denen sie mit der Mine eines tiefsinnigen Staatsministers
nachdenken.“39
Dass ein Gott sei, auch dass die Bibel von Gott sei, daran
hegten Bauern keinen Zweifel. Zum Bedauern der Aufklärer
enthält die Bibel aber auch ‚bedenkliche Stellen‘. Man denke
an die Apokalypse des Johannes, sowie an dessen
38
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Reprint
Berlin/New York 1987, Bd.1, Sp. 1211
39
Keller: Das Grab des Aberglaubens, a.a.O., S. 9
27
Prophezeiung vom Sturz der ‚Hure‘ und des ‚Tieres‘, woran
sich wenig friedvolle Betrachtungen über das Schicksal von
Kirche und Staat anknüpfen ließen. ‚Vernünftige
Bibelauszüge‘ gehörten daher zum Standardrepertoire
volkspädagogischer Maßnahmen. Auch die Kolporteure, die
wandernden Buchhändler, sollten in die Pflicht genommen
werden:
„Zu fernern Werkzeugen von Verbreitung müßten die LandWallfahrts- und hausirenden Bücher- und Bilderkrämer
gebraucht werden, wie sie bisher die Apostel des
Aberglaubens und allerlei Unsinns unter dem Volke
waren.“40
Die Bibelexegese durch Laien war der aufgeklärten
Geistlichkeit suspekt, denn „(w)enig Bücher (…) werden von dem
Landmann so mißverstanden als die Bibel“41. Hochgefährlich
wurde die Lektüre von Gottes Wort immer dann, wenn aus
den Versen politische Ansprüche abgeleitet wurden oder eine
religiös fundierte Legitimation, die Maßnahmen der
Aufklärung zu sabotieren:
40
[Anonym:] Gedanken über das allgemeinste Mittel, aufgeklärtes
praktisches Christenthum, und vernünftigen Gottesdienst unter
dem Volke zu verbreiten, durch den Weg der Belehrung, zur
Prüfung und Ausführung vorgelegt. In: Mainzer Monatsschrift von
geistlichen Sachen 2 (Mainz 1786), Bd. 1, S. 322 – 334, hier: s. 330
Ähnlich: W. Beneken: Lieder- und Büchertrödler, Apostel des
Aberglaubens und der Sittenlosigkeit unter dem großen Haufen. In:
Jahrbuch für die Menschheit, 1788, Bd. 2, S. 79 – 91
41
Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 319
28
„Haben denn nicht von jeher fanatische, separatistische,
revolutionäre u.d.m. Bauern mit der falschverstandenen
Bibel in der Hand, ihr pflichtwidriges Verhalten zu
rechtfertigen gesucht, und sind es nicht vorzüglich diese,
welche den, an ihrer Verstandes-Aufklärung und
Herzensbesserung arbeitenden Religionslehrer mit vielen
Schwierigkeiten und nicht selten fruchtlos arbeiten
lassen?“42
Doch nicht nur die abweichenden Deutungen, zu denen die
Bauern bei ihrer Interpretation des göttlichen Willens aus der
Schrift gelangen, führen zu einer ablehnenden Haltung der
Volksaufklärer bäuerlichen Bibelkursen gegenüber.
Der ‚Buchstabenglaube‘, die Auffassung der Heiligen Schrift
als eines Buches, das Gott gleichsam den Aposteln in die
Feder diktiert habe, war nur ein Aspekt bäuerlichen Umgangs
mit der Bibel, und vielleicht noch nicht einmal der
bedeutendste. Die Inhalte des Buches samt der Bedeutung
der Worte ergänzte der zauberkräftige und magische Wert
der Bibel als einer Art Amulett für alle Lebenslagen. Hier
verschwammen die Grenzen zwischen Volksfrömmigkeit und
Aberglaube vollends.
Im bäuerlichen Haushalt war die Bibel ein Kultgegenstand
voller magischer Kräfte, die mit dem Alter des Trösters noch
zunahmen. Sie war – nach einer unvollständigen Aufzählung
des Stichworts ‚Bibel‘ im Handwörterbuch des deutschen
Aberglaubens – ein Zauber zur Abwehr böser Geister; sie half
in medizinischen Fällen, wenn sie aufgeschlagen unter dem
42
Ebda., S. 320
29
Kopfkissen des Kranken oder der Kindbetterin lag; sie brachte
Segen, wenn sie als erster Gegenstand zusammen mit Brot
und Salz in ein neues Haus getragen wurde; sie gab Rat in
Zweifelsfällen, wenn durch ‚Losen‘ oder ‚Däumeln‘ der
Benutzer aufs Geradewohl einen Bibelspruch wählte und
ausdeutete; sie zwang beim Schatzgraben das Gold empor.
Bibelsprüche an den Stalltüren dienten der Abwehr von
Hexerei, wie auch bei Unpässlichkeiten das Verschlucken von
Bibelzitaten als probates Mittel galt. Rudimentär finden wir
selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft Reste dieser
magischen Vorstellungen, zum Beispiel dann, wenn vor
Gericht Zeugen ihre Hand auf die Bibel legen müssen.
Die
Möglichkeiten
zum
Missbrauch,
welche
‚Buchstabenfrömmigkeit‘ und ‚Aberglaube‘ dem dörflichen
Milieu eröffneten, waren für die Volksaufklärer Anlass zu
unaufhörlicher Sorge. Das Landvolk wollte einfach nicht
vernünftig werden, weil eine falsch verstandene Religiosität,
dem Fortschritt im Wege stand:
„Recht sehr muß man über den vielfachen Mißbrauch
klagen, der unter den Landleuten mit der Bibel getrieben
wird. Der einfältige, leichtsinnige, abergläubische und
bigotte Bauer treibt gleichsam sein Spiel mit diesem
ehrwürdigen Buche. Der Einfältige nimmt alles gerade so
an, wie die Worte lauten, ohne zu fragen, was bedeutet es?
Und denkt, redet und handelt dem gemäß; woraus natürlich
viel Sonderbares entstehen muß. – der Leichtsinnige fragt
und antwortet, tadelt und entschuldiget mit biblischen
Worten und Sentenzen, welches bey dem sinnlichen Bauer
ein verführerisches Gelächter zur übeln Folge hat. -. Der
30
Abergläubische schreibt der Bibel als Bibel, den Buchstaben
als Buchstaben eine gewisse, geheime, übernatürliche Kraft
zu; glaubt mit Hülfe eines dicti biblici mehr als durch
natürliche Mittel entziffern und ausrichten zu können. Dieser
Aberglaube spuckt in manchen Gegenden noch recht sehr
unter den Bauern. Oder, wie soll man es sonst nennen,
wenn er z.B. an kranken Tagen die Bibel unter das
Kopfkissen legt, wenn er das mit einem Spruch aus der
Bibel beschriebene Papier verschluckt; wenn er, ehe er
etwas unternimmt, oder gleich beym Aufstehen die Bibel
selbst oder ein Buch wie Bogazkys Schatzkästlein (…) aufs
Gerathewohl aufschlägt, und aus den zufällig
vorgefundenen Worten sich, Gott weiß, was für Glück oder
Unglück weißaget; wenn er seinen Kindern, wohl gar dem
Vieh, einen Zettel, auf welchem ein Spruch aus der Bibel
befindlich ist, anhängt, um die physische Heilung derselben
zu befördern; wenn er so genannte religiöse Figuren mit
Sprüchen umschrieben an die Haus- Stuben- und
Stallthüren schreibt, damit, ich weiß nicht wer?
hineinkomme.“43
Die Bibel selbst wurde durch den ‚unvernünftigen Gebrauch‘,
den die Bauern von ihr machten, zu einem Hindernis der
Aufklärung, da sie ihren ‚alten Schlendrian‘ und ihre
‚Unsittlichkeit‘ mit biblischen und quasi-religiösen
Sprichworten rechtfertigen konnten:
„Mit den Gemeinsprüchen: wir sind alle allzumal Sünder; die
Welt liegt im Argen; es steckt mir nun einmal im Blute; ich
habe mich nicht so gemacht, u.s.w. treibt der große Haufe
43
Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 323 f
31
das schändlichste Spiel, um seine Immoralität zu
beschönigen.“44
Die bräuchliche Auslegung religiöser Gebote durch das
Landvolk ermöglichte einen Lebensstil, der den ökonomischsittlichen Geboten entgegenstand, welche die Aufklärer
propagierten. Die neuen Tugenden sollten – dies deren
Intention – eine andere Auffassung des Christentums im
ländlichen
Raum
durchsetzen,
der
mit
einem
Mentalitätswandel zugleich den ökonomischen Fortschritt
beförderte. Der Bauer hingegen rechnete die Fragen von
Moral und Tugend nicht zum ‚geistlichen‘, sondern zum
‚weltlichen‘ Bereich der Lebensführung, der daher anderen
Kontrollinstanzen als der kirchlichen Aufsicht unterläge. Die
Religion vollzog er als bloßes Ritual:
„Aber [der Bauer] glaubt, daß er durch Anbau der
Aussenwerke der Religion oder durch genaue Abwartung
der äusseren Religionsübungen seine Hochachtung und
Ehrfurcht vor Gott am kräftigsten beweise, und sich seiner
Freundschafft werth mache. (…) Es wird ihm zwar von allen
Religionslehrern, von jedem rechtschaffenen Prediger
gesagt, und sehr oft gesagt, daß Christenthum und
Gottesdienst in einer durchgängigen Herzens- und
Lebensfrömmigkeit
bestehe
und
daß
jene
Religionszeremonien
zwar
heilig,
wichtig
und
beobachtungswürdig,
aber
doch
nur
eigentlich
Beförderungs- und Befestigungsmittel der wahren
44
Ebda., S. 366
32
Gottseligkeit sind. Das aber kann und will er nicht
begreifen.“45
Im ‚weltlichen‘ Bereich des Alltags, für den Umgang
miteinander in den Familien, für das Verhalten bei
Schadensfällen und bei Krankheiten stellte für das Landvolk
nicht die Religion, sondern der Aberglaube einen
Regelungskomplex bereit, der mit der Tugendreligion der
Aufklärer um die Vorherrschaft über den Alltag stritt, dessen
Gesetze
oftmals
der ökonomischen
Verbesserung
widerstrebten:
„Der Aberglaube macht [das] Auge [des Bauern] noch ganz
so finster, wie ein von rauch geschwärztes Glas, durch
welches kein Strahl zum Erleuchten fallen kann; er befestigt
den Steifsinn immer mehr, und giebt dem Charakter das
Unbeugsame, Wiederspenstige und Verhärtete, das alle
Wege zum Eingang des Hellern, Bessern und Edlern
verschließt(, a)uch eine geheime Antipathie gegen die
Höhern, gegen die befehlende Klasse, so bald sie am Glück
der Niedern arbeiten will; ein dunkles Mißtrauen gegen ihre
Verbesserungen, und heilsamen Anstalten (…).46
Die wissenschaftliche Forschung heute betrachtet den
Aberglauben
nicht
länger
als
einen
Wust
unzusammenhängender, irrationaler und willkürlicher
Annahmen über das Weltgeschehen. Obwohl sich dieser
45
Christian Ludwig Hahnzog: Ueber den Einfluß des Ackerbaues und
der dahin gehörigen Geschäffte auf die Charakterbildung des
Landmanns. In: Jahrbuch für die Menschheit 1788, Band 1, S. 541 –
581; hier: S. 571 f
46
Kessel: Freymüthige Bemerkungen, a.a.O., S. 147
33
Eindruck aufdrängt, wenn man die Stichworte in den zehn
dickleibigen Bänden des ‚Handwörterbuchs des deutschen
Aberglaubens‘ überfliegt. Für Anthropologen und Ethnologen,
zumindest seit dem Erscheinen der bahnbrechenden Arbeiten
des Malinowski-Schülers Evans-Pritchard47, ist die soziale
Funktionalität
magischer
Denkprämissen
eine
Selbstverständlichkeit.
Die Übertragung von Kategorien, wie sie die anthropologische
Feldforschung entwickelt hat, auf den Aberglauben der
traditionalen deutschen Bauerngesellschaften, nimmt
einerseits Hahnzogs eingangs gemachte Forderung ernst, und
versucht im historischen Rückblick andererseits, jenes
Wissen, das heutige Feldforscher vom Innenleben stammesund gemeindezentrierter Bauerngesellschaften gewannen,
auf jene ‚wilden Stämme‘ anzuwenden, die unsere Aufklärer
vor den Toren ihrer Städte trafen und als Missionsobjekte
entdeckten.
Als Einstieg in die komplexe Materie wähle ich einen Text des
amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz, weil er den
kulturellen Sachverhalt in das anschauliche Bild von Altstadt
und Neustadt fasst:
„Wenn wir dieses Bild auf den Bereich der Kultur ausweiten,
können wir sagen, daß die Ethnologen traditionellerweise
die Altstadt zu ihrem Gebiet gemacht haben, indem sie
durch ihre planlos angelegten Gassen streiften und dabei
versuchten, eine grobe Kartenskizze anzulegen. Erst
47
U.a. E.E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracle and Magic among the
Azande. Oxford 1937
34
neuerdings beginnen sie sich zu fragen, wie wohl die
Vororte, die sich in letzter Zeit anscheinend mehr und mehr
um sie herumdrängen, gebaut sein mögen, in welcher
Verbindung sie zur Altstadt stehen (…), und wie das Leben
an derart symmetrisch angelegten Orten wohl beschaffen
sein mag. Der Unterschied zwischen den Gesellschaften,
die Ethnologen traditionellerweise untersuchen – den
traditionellen – und denjenigen, die sie normalerweise
bewohnen – die modernen -, wurde gewöhnlich mit dem
Begriff der Primitivität gefaßt. Doch könnte man diesen
Unterschied vielleicht eher daran ablesen, in welchem
Ausmaß um das alte Wirrwarr überkommener Praktiken,
einmütiger Glaubensvorstellungen, gewohnheitsmäßiger
Urteile und selbstverständlicher Emotionen jene geglätteten
und begradigten Handlungssysteme gewachsen sind –
Physik, Kontrapunkt, Existenzialismus, Christentum,
Technik, Jurisprudenz und Marxismus -, die unsere eigenen
Landschaft so nachhaltig prägen, daß wir uns eine Welt, in
der sie oder vergleichbare fehlen, nicht vorstellen können.“48
Inzwischen – so Geertz – glaube kaum noch ein seriöser
Wissenschaftler, dass es ‚Primitive‘ überhaupt gebe, „schlichte
Pragmatiker, die sich durch einen Nebel von Aberglauben zu ihrem
physischen Wohlbefinden vortasten“49. Nur sehr unbefriedigend
sei dennoch die Frage geklärt, worin der „Unterschied zwischen
den entwickelten Formen der erlernten und den groben Formen der
Alltagskultur“50 besteht. Geertz schlägt den Begriff des
48
Clifford Geertz: Common Sense als kulturelles System. In: C.G.:
Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme.
Frankfurt a. M. 1983, S. 261 – 288, hier: S. 261 f
49
Ebda,, S. 262
50
Ebda., S. 263
35
‚common sense‘ vor, um diesen Unterschied zu benennen.
Der ‚common sense‘ als Bereich der Erfahrung und des
gesunden Menschenverstandes, als Bereich des Wissens, das
doch jeder weiß:
„Die Weisheit des common sense ist schamloses und
vorbehaltloses ad-hoc-Wissen. Sie zeigt sich in
Epigrammen, Sprichwörtern, Spruchweisheiten, Witzen,
Anekdoten, Fabeln, einer Flut von Aphorismen, nicht aber in
formalen Doktrinen, axiomatisierten Theorien und
dogmatischen Lehrgebäuden. (…) In welcher Form solches
Wissen auch auftreten mag, nicht die Stimmigkeit macht
seine Weisheit aus, sondern eher das Gegenteil: ‚Eile mit
Weile‘, aber ‚frisch gewagt, ist halb gewonnen‘, ‚der kluge
Mann baut vor‘, aber ‚genieße den Tag!‘51
Der common sense bietet damit das Bild eines frühen
Vorortes der Altstadt. Systematische und kohärente
Ordnungsstrukturen sind erst rudimentär vorhanden,
trotzdem stellt der common sense grundsätzlich für alle
Ereignisse eine sozial zureichende Erklärung bereit:
„Als eine der ältesten Vorstädte der menschlichen Kultur –
nicht sehr regelmäßig, nicht sehr gleichmäßig angelegt,
doch der Form nach schon vom Wust der kleinen Straßen
und Plätze durch ihre weniger zufällige Anlage
unterschieden – stellt [der common sense] in besonders
deutlicher Weise die Motive dar, auf denen solche
51
Ebda., S. 284
36
Entwicklungen beruhen: das Bestreben, die Welt eindeutig
zu machen.“52
Auf seine Weise kann der common sense damit auch den
Zufall in sein Weltbild integrieren. Buchstäblich für jedes
Ereignis stellt er eine passende Erklärung bereit. Eine
Erklärung, die dann nicht auf empirischer Untersuchung oder
systemischer Logik beruht, sondern den unerschöpflichen
Fundus der Alltagsweisheit heranzieht.
Übertragen auf den Aberglauben, verhext zu sein, kommt
Geertz mit Blick auf Evans-Pritchard‘s Zande-Forschung zu
dem Schluss, dass magische und abergläubische Praktiken
nicht auf eine Transzendierung der Welt zielen, sondern die
Verteidigung und den Schutz des diesseitigen Alltagswissens,
das sich im common sense artikuliert, vor der allzeit
drohenden Irrationalität bewirken sollen:
„Der Glaube an Hexerei formuliert und verteidigt die
Wahrheitsansprüche der alltäglichen Vernunft. (…) Und aus
diesem Geflecht von common-sense-Annahmen, nicht aus
irgendeiner primitiven Metaphysik, gewinnt die Vorstellung
von Hexerei ihre Bedeutung und Kraft. Hexerei hat – auch
wenn man meint, sie fliege nachts umher wie die
Glühwürmchen – nichts mit einer unsichtbaren Ordnung zu
tun, sie bezieht sich vielmehr auf eine sichtbare. / Erst dann,
wenn sich die gewöhnlichen Erwartungen nicht erfüllen, (…)
kommt der Gedanke an Hexerei auf. Zumindest in dieser
Hinsicht ist er eine Art Scheinvariable im common-senseDenken. Der Hexenglaube transzendiert dieses Denken
52
Ebda., S. 267
37
nicht, sondern bestätigt es eher, indem er eine allen
Zwecken dienliche Idee bereitstellt, die die Zande versichern
soll, daß ihr Bestand an Alltagswissen, wenn es auch einen
gegenteiligen Anschein haben mag, verläßlich und
angemessen ist.“53
Die Übertragung eines solchen ethnologischen Konzepts auf
die traditionale Bauernwelt, mit der sich die Volksaufklärer
konfrontiert sahen, ist sicherlich problematisch, nur wird man
sich die ‚Vorstadt‘, in der die Bauern mitsamt ihres Hexenund Wunderglaubens lebten, eben auch nicht ‚primitiver‘
vorstellen dürfen, als die Welt der Zande.
Einen Fall von Hexenglauben zur Zeit der Aufklärung
beschrieb ein anonymer Verfasser in einem gemeinnützigen
Wochenblatt aus Schwaben. Ein Bauer beklagte sich bei
seinem Pfarrer, verhext worden zu sein:
„Was ich ihnen nun sagen will, so ist das ein schlimmer
Umstand für mich, und ich weis mir nicht zu rathen und nicht
zu helfen. Seit etlich Monat kommt vom nächsten Dorf
alleweil ein Bettelweib zu uns ‚rüber, ‚s ist’n altes Muster, Ihr
wohlehrwürd. Ich glaub gar, Gott sey bey uns, daß sie nicht
so gar richtig ist, und mit’m Bösen Verkehr hat. Neulich hat
sie bey mit gebettelt, ich hab nicht gleich was bei der hand,
und laß sie also in Gottes Namen ziehen. Seitdem wird mir
53
Ebda., S. 268 f
38
alle Milch blau, die Säu kriegen d’Bräune, und fast alle
Nacht drückt mich der Alp zum Erbarmen.“54
Auf diesem Bauernhof hatten sich unvorhersehbare
Ereignisse und Anomalien im Ablauf des Alltags eingestellt:
Das Vieh, obwohl es gepflegt wurde wie an allen anderen
Tagen auch und wie es die Erfahrung vieler Generationen
verlangt, erkrankte dennoch. Der common sense war mit
seinem Latein am Ende und griff wie selbstverständlich zur
Explikation des Geschehens auf die Hexerei zurück.
Wo das Alltagswissen versagte, richteten sich die
Überlegungen der Betroffenen wie selbstverständlich auf eine
‚Schuld‘ oder auf eine grobe Verletzung bräuchlicher Normen.
Die lagen auch wirklich auf der Hand: Der Bauer hatte eine
übliche Sozialleistung, das Almosen, verweigert. Deshalb
verfiel er auf die für ihn ‚natürlichste‘ Erklärung der Welt für
sein Mißgeschick, auf die abgewiesene Pauper-Frau, die ihn
verhext haben musste.
Wie tief die Anhänglichkeit an die Normen, Werte und
Bräuche dörflichen Zusammenlebens gewesen sein muss, ist
an der Selbstverständlichkeit zu sehen, mit der zwischen
widrigen ökonomischen Zufällen und dem Bruch von Normen
nahezu unausweichlich ein Bezug hergestellt wurde, wie auch
an der psychosomatischen Zwangsläufigkeit, mit der dieses
Fehlverhalten gesundheitliche Folgen – das Alpdrücken –
nach sich zog. Zumindest in dem beschriebenen Fall hat der
54
Gemeinnüzziges Wochenblatt für Bürger ohne Unterschied des
Standes und der Religion, besonders in Schwaben, Kaufbeuren
1780, 1. Quartal, Heft 1, S. 4
39
Hexenglaube eine ähnliche Funktion, wie sie Keith Thomas für
die Volkskultur Englands beschreibt:
„Unter diesen Umständen trug der Hexenglaube dazu bei,
die traditionellen Verpflichtungen zur Wohltätigkeit und zum
gutnachbarlichen Verhalten in einer Zeit zu stützen, da sich
andere soziale und wirtschaftliche Kräfte vereinten, um sie
zu schwächen. Die Furcht davor, der Rache von Hexen
ausgeliefert
zu
sein,
war
ein
wirksames
Abschreckungsmittel gegen die Nichtbeachtung des alten
Moralkodex; denn am schnellsten zog man sich ein Unglück
dann zu, wenn man einem Nachbarn gegenüber knauserig
war. Mit Recht wurde behauptet, daß die Hexen denjenigen
keinen Schaden zufügen konnten, die den Armen mit
Großmut begegneten. Die Wohltätigkeit war die
allerchristlichste Vorsichtsmaßnahme gegen die Hexerei.“55
Die Antworten des aufgeklärten Pfarrers an seinen von
Hexerei überzeugten Bauern56, beschreiben das Dilemma, in
das die Volksaufklärung geriet, wo sie einerseits den
Aberglauben bekämpfen, aber andererseits soziales Verhalten
bewahren wollte. Zugleich illustriert die Entgegnung die
soziale Funktion eines ‚wahren Christentums‘, das die
Volksaufklärung als Substitut zum Aberglauben propagierte.
Für die aufgetretenen ökonomischen Misshelligkeiten werden
dem Bauern zunächst ‚vernünftige Erklärungen‘ angeboten:
55
Keith Thomas: Die Hexen und ihre soziale Umwelt. In: Claudia
Honnegger: Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte
eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt/M. 1978, S. 256 –
308, hier: S. 292
56
Gemeinnüzziges Wochenblatt, a.a.O., Heft 2, S. 9 - 12
40
die Milch würde blau, weil sie in einem Raum stünde, der von
schlechten Dünsten erfüllt sei. Obwohl dies doch der gleiche
Raum gewesen sein dürfte, wo die Milch seit jeher stand,
ohne blau zu werden. Die Schweine wiederum erkrankten,
weil sie sich wohl erkältet hätten. Der Alp drücke letztlich den
Bauern, weil entweder sein Blutdruck zu hoch oder der
Magen überladen wäre. Trotzdem möge der Bauer, auch
wenn alle Zeichen eines hexerischen Einflusses lächerlich
gemacht werden, die Armen nicht vergessen.
Das aufklärerische Kalkül zählte also darauf, dass an die Stelle
internalisierter abergläubischer Furcht jene Prinzipien ‚wahrer
Christlichkeit‘ treten könnten, die dann aus Erbarmen das
Almosen ebenso erzwingen würden, wie dies zuvor aus Furcht
geschah. Nicht der ‚soziale Sinn‘ des Aberglaubens wird damit
kritisiert, sondern nur die Prämissen, auf denen er ruhte.
Die erwünschte Funktionalität des Aberglaubens, sein
‚sozialer Sinn‘, wurde von den Volksaufklärern häufig
konstatiert. Ernst Urban Keller beschrieb die Funktion, welche
der ‚Aberglaube‘ von den ‚zwölf heiligen Nächten‘ zwischen
dem Christfest und dem alten Neujahrsfest für die
Landbevölkerung hatte. Für jeden Bauern sollte es
katastrophale Folgen haben, begänne er in dieser Zeit
schwere Arbeiten:
„Der Ursprung dieses Aberglaubens ist sehr natürlich. Das
Gesinde, welches mit dem Ende eines Jahres seinen Dienst
verläßt, unterziehet sich in den lezten Tagen seines
Dienstes nicht vieler Arbeit mehr, und der hauswirth
übersieht die leztere Mängel seines Gesindes. Das neue
41
Gesinde will in den ersten sogenannten Flitter-Tagen zu
schwerer Arbeit gleichfalles ungern angetrieben seyn; daher
verfließen die zwölf Nächste gemeiniglich ohne Säuberung
der Ställe. Ueberdiß öffnet man auch die Ställe bey den
allerkürzesten Tagen, wo zumal die Kälte sehr groß zu seyn
pflegt, sehr ungern.“57
Mit Hilfe des Aberglaubens konnte das Gesinde hier einen
rudimentären ‚Urlaubsanspruch‘ durchsetzen, der zudem so
in die Ökonomie des Jahres eingepasst war, dass er kaum
betriebswirtschaftlichen Schaden nach sich zog.
Für das System des Aberglaubens gilt, dass er von außen den
Menschen die Praxis sozialen Handelns aufzwingt, schlicht
durch das Postulat eines unaufhörlichen Einwirkens
dämonischer Kräfte. Der Aberglaube kann somit aus falscher
Furcht das Richtige bewirken. Hierbei reguliert der
Aberglaube soziales Handeln oft ebenso gut und effektiv wie
der Tugendkanon der Aufklärung, wenn nicht sogar besser.
Von den Volksaufklärern wurde der Aberglaube daher
weniger in seinen Folgen, sondern als Prinzip bestritten. Zwar
sei es kein Problem, die „Erörterung des natürlichen, und zum
Theil sowohl unschuldig als nüzlichen Ursprunges solcher
unzählichen zum Mißbrauch und Aberglauben gemachten
Gewohnheiten an Hand zu geben“58, dennoch müsse der
Aberglaube als Prinzip der Welterklärung bekämpft werden.
weil er dem rational basierten Diskurs der Aufklärung
widerspreche:
57
58
Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., Bd.2, S. 183 f
Ebda., S. 200
42
„Die wahre Weisheit bedienet sich der besten Mittel, zu
einem guten Zweck zu gelangen; der Aberglaube aber eines
schlimmen Mittels, wenn er etwas gutes erreichen will,
solcher Mittel, welche wider das Wort GOttes und die
Vernunft laufen (…).59“
Faktisch aber hatte der ländliche Aberglaube vor allem eine
sozialmagische Funktion. Auf den Dörfern lebten bekanntlich
keine Heiligen, die materiellen Verteilungskämpfe waren hart,
auch und vor allem innerhalb der Familien und Sippen. Daher
wurde die magische Furcht mit drastischen Bildern über
mögliche Folgen geschürt:
„Dieß geht soweit, daß der Bauer, mit Hülfe abergläubischer
Meinungen Andere von etwas Schädlichem abzubringen
sucht. Z.B. Thue Keinem, auch heimlich Gewalt an; denn
einem heimlich Gemordeten fließt Blut aus Mund und Nase,
wenn sich der unbekannte Mörder dem Leichnam nähert –
schlage das Gevatterstehen nicht leichtsinnig ab; denn,
wenn man den Gevatterbrief nicht gleich erbricht, so lernt
das Kind schwer sprechen – schwöre nicht falsch; denn
sonst wird dir die Zunge schwarz, und die Finger bleiben
steif stehen – schlage die Eltern nicht; sonst wächst dir die
Hand aus dem Grabe.60“
‚Welch ein Hokuspokus!‘, dachten sich manche Aufklärer
wohl. Sie glaubten eben nicht an solchen Aberglauben. In
einem System aber, wo dieser Glaube allabendlich in den
Spinnstuben fern der Kirche verstärkt wird, ist ein solcher
59
60
Ebda., S. 194
Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 288 f
43
Glaube durchaus funktional. Selbst die dörflichen Gerichte
griffen auf magische Praktiken zurück:
„Die verdächtige Person mußte die Wunden, den Mund und
Nabel des Erschlagenen berühren, und sich durch einen Eid
von dem Verdachte reinigen. Fing nun während dieser
Handlung das Blut des todten Körpers an zu gähren, so
glaubte man, daß der Verdächtige dadurch seines
Verbrechens sattsam überführt sey. Freilich war dieß wol
äusserst selten der Fall; aber Gewissensangst und das
ganze Benehmen der verdächtigten Person brachten oft den
Thäter ans Licht.“61
Man ist versucht, in solchen Fällen von einem ‚Kommissar
Aberglaube‘ zu sprechen. Denn in einem intakten
Glaubenssystem übt der Aberglaube auf jeden seiner
‚Gläubigen‘ Wirkungen aus, die weniger übernatürlich sind,
sondern vielmehr durch den Glauben an Magie natürliche
Resultate zur Folge haben können.
Nehmen wir an, ein Bauer des 18. Jahrhunderts wählte ein
Bibelorakel oder konsultierte eine ‚kluge Frau‘, um den Dieb
entwendeten Geräts zu finden. In der Folge wirkte dann nicht
die angewandte Magie, sondern das ‚Kundtun‘ seines
Handelns. Das Öffentlichmachen magischen Handelns konnte
den Täter, sofern der selbst abergläubisch war, zur
Rückerstattung des Geraubten geradezu zwingen. Solche Fälle
sind durch viele volksaufklärerische Schriften bezeugt.
61
Fischer: Beiträge, a.a.O.; S. 107
44
Es waren auch weniger diese aufdeckenden Wirkungen des
Aberglaubens, die den Volksaufklärern Sorgen machten. Es ist
die hindernde Wirkung, die ‚konservative Kraft‘, die der
Aberglaube zu entwickeln vermochte. Der Aberglaube kehrte
sich dann gegen die Träger der Modernisierungsmaßnahmen
auf dem Dorf.
Heinrich Ludwig Fischer, der darauf pochte, dass sich alles,
was er erzähle, „sich wirklich ereignet habe“62, schildert den Fall
eines zugezogenen Reformlandwirtes, der sein Haus verliert,
vermutlich durch Brandstiftung. Um den Fremden, den
Zugezogenen, der sich nicht den sozialen Normen des
Dorfverbandes fügte, wieder zu vertreiben, dichtete man ihm
einen Kobold an, der letztlich auch sein Haus angezündet
hätte:
„Man macht dem Unglücklichen sogar die kränkendsten
Vorwürfe darüber, wünscht nicht mehr in seiner
Nachbarschaft zu wohnen, und sähe es überhaupt gern,
wenn er das Dorf verließe.“63
Diese zwei Aspekte des Aberglaubens, der sich gegen eine
‚Verbesserung des Herzens‘ ebenso stemmte wie gegen eine
‚Verbesserung der Landwirtschaft‘, dieser Duopol ist es, der
im Zentrum der Kritik der Volksaufklärer stand:
62
63
Ebda., S. VI
Ebda., S. 13
45
„Durch Aberglauben, der überall in Handlungen ausbricht,
[wird] mehr als durch irgend ein Uebel das Wohl der
menschlichen Gesellschaft gestört.“64
Häufig genug gab der Aberglaube den Volksaufklärern schlicht
Rätsel auf, zum Beispiel dann, wenn seine ‚Erfolge‘ keine
rationale Erklärung oder Ableitung zulassen. Ein Hexereifall,
den Johann Ferdinand Schlez im ‚Jahrbuch für die
Menschheit’
schildert,
illustriert
die
Hilflosigkeit
aufklärerischer Explikation angesichts magischer Praktiken in
einer Zeit, wo der „Aberglaube (…) überall seine Tempel (hat) und
allenthalben asa foetida auf seinen Altären (dampft).“65
Seiner Erfahrung nach, schreibt Schlez, sei „unter allen
Gattungen des Aberglaubens (…) keiner so fest eingewurzelt und
nachteilig, als der Glaube an Hexereien.66“ Schlez schildert im
Folgenden den Fall eines Fleischers aus seiner Pfarre.
Friedrich Krauß - dies der Name jenes Mannes - sei seit seiner
Geburt mit einem krätzeartigen Ausschlag behaftet gewesen.
Alle Hilfsmittel der Schulmedizin brachten keine Linderung,
woraufhin Krauß den Ratschlag eines Quacksalbers befolgte
und in der Walpurgisnacht in fließendem Wasser badete. Der
Ausschlag verschwand auch wirklich, nur zog sich Krauß durch
64
Heinrich Ludwig Fischer: Das Buch vom Aberglauben. Zweyter
Theil, Hannover 1793; S. IV
65
J[ohann] F[erdinand] Schlez: Ein Beytrag zur Kenntniß des
Aberglaubens unter dem Volke. In: Jahr für die Menschheit, 1788,
Bd. 2, S. 304 – 310, hier: S. 304
(Schlez war der Verfasser des aufklärerischen Musterdorf-Romans
‚Geschichte des Dörflein Traubenheim‘)
66
Ebda., S. 304
Formatiert: Schriftart: Arial Narrow
Gelöscht: u
Formatiert: Schriftart: Arial Narrow
Gelöscht: ¶
Formatiert: Schriftart: Arial Narrow,
Kursiv
Formatiert: Schriftart: Arial Narrow
46
die Kälte des Wassers eine schmerzhafte Gicht zu, die ihn
fortan begleitete.
Anderthalb Jahre vor seinem Tod brach diese Krankheit mit
zuvor unbekannter Wucht aus. Der Chirurgus des Dorfes
konnte keine Linderung schaffen, tausenderlei Mittel kamen
zum Einsatz.
Der Bruder des Kranken hätte dann die ‚wahre Ursache‘ des
Gichtanfalls aufgedeckt: Einige Zeit zuvor habe der Fleischer
eine alte Frau verklagt, die einige ‚krumme‘ Schweine
außerhalb des Dorfes schlachten ließ. Diese Frau, die von der
Obrigkeit wegen ‚Unterschleifs‘ daraufhin zu einer Geldstrafe
verurteilt wurde, fragt den Bruder nach dem Befinden des
Kranken. Als sie vom üblen Zustand erfährt, sagt sie: „Ja ja! so
geht’s – das hab ich ihm angewünscht – lahm wie meine
Schweine!“67 Für die Dorfbevölkerung steht es nun fest, dass
ihr Fleischer verhext wurde.
Auf dem öffentlichen Kirchwege, so beschließt es der
hexereierfahrene Diskurs der Dorforakel, müsse der Fleischer
die alte Frau dreimal im Namen Gottes um Hilfe bitten. Dies
geschieht – und eine sofortige merkliche Besserung des
Gesundheitszustandes tritt ein.
Dann aber interveniert die ‚Aufklärung‘, die ihre rationalen
Prinzipien verletzt sieht – und die Katastrophe nimmt ihren
Lauf: Der obrigkeitliche Beamte und der Pfarrer Schlez
zitieren den Fleischer und die alte Frau zu sich. Beide werden
gezwungen, sich gegenseitig Abbitte zu leisten. Prompt
67
Ebda., S. 307
47
kommt es zu einem Rückfall, an dem der Fleischer wenig
später stirbt:
„Bald darauf erfuhren wir aber zu unserer Bestürzung, zu
welch einem Fehler uns die Unbekanntschaft mit dem
Volksaberglauben verleitet hatte. Krauß bekam einen
Rückfall der Krankheit, war in etlichen Tagen schon wieder
an den Krücken und der abergläubische Theil des Volks gab
der Abbitte die Schuld. ‚So bald man einer Hexe
Ehrenerklärung thut, hieß es, hat sie siebenfache Gewalt‘.“68
An einem realen Fall beschreibt Johann Ferdinand Schlez hier
die Funktionsweise des abergläubischen Systems – und die
Dysfunktionalität aufgeklärter Interventionen. Die beiden
Ebenen sind zueinander inkompatibel.
Die Klärungen des Geschehens durch den Dorfdiskurs waren
zunächst hilfreich, beseitigten die Krätze sowohl, wie sich
auch die Gicht linderten. Kaum aber greift die Obrigkeit – und
damit die ‚Aufklärung‘ – ins Geschehen ein, verschlimmert
sich der Zustand des ‚Behexten‘ bis hin zum Tode.
Für Schlez stellt die Sachlage einen aporetischen Komplex dar,
ganz ohne ‚Lehre‘ oder ‚Moral‘, die sich daraus ziehen ließe.
Ein „Psycholog wird manche interessante Bemerkung dabey
machen“ und für den Volkslehrer „kann der Aufsatz vielleicht in
mancher Hinsicht lehrreich seyn“, mit diesen Worten endet der
Text.
68
Ebda., S. 308
48
Der Hinweis auf die Psychologie hat sicher seine
Berechtigung, da im volksmedizinischen Denken die
Krankheiten nicht nur Folgen sind von Erkältungen, von
Keimen, falscher Ernährung, Infektionen und anderen
kausalen Herleitungen, die wir gewohnt sind, als Ursachen
anzuführen.
Die Landbevölkerung kennt auch eine ‚soziale Somatik‘ insbesondere dann, wenn Wunden nicht heilen, die Medizin
nicht wirkt oder Krankheiten chronisch werden. Sobald das
Erfahrungswissen des common sense nicht weiter weiß, wird
eine moralische Ursächlichkeit angenommen.
Nahezu zwangsläufig wird dann nach Indizien für ‚Hexerei‘
gefahndet. Das Opfer nimmt eine Selbstüberprüfung seines
sozialen Handelns vor und stößt unter Umständen auf
‚Fehlverhalten‘, auf eine soziale Situation, die einem anderen
Anlass zu Hass gegeben haben könnte. Da der Behexte kein
bloßes Objekt der auf ihn angewandten ‚Erklärung‘ seiner
Krankheit ist, sondern selbst in solchen Kategorien denkt und
lebt, folgt auf die erkannte soziale Devianz eine
psychosomatische Reaktion. Erstaunlich ist dabei, dass im
dörflichen Glauben nur selten die ‚Hexe‘ den bösen Part
spielt, sondern nahezu allemal der Kranke sich ‚schuldig‘
macht.
Modellhaft schildert Schlez‘ Fallstudie, wie der Körper des
Fleischers auf sein soziales Fehlverhalten reagiert: Er, der eine
Frau verklagt, welche ein paar ‚krumme Schweine‘, kaum gut
genug für den Abdecker, unzünftig schlachten ließ, um dann
auch noch – zumindest ebenso verwerflich – zur Regelung
49
eines innerdörflichen Konflikts die Hilfe der Obrigkeit in
Anspruch zu nehmen, der geht zurecht schon bald darauf
wieder an Krücken. Das Dorf ist in solchen Fragen
erbarmungslos – und es nimmt in der Regel Partei für die
‚Hexe‘, nicht für deren Opfer.
Die sozialen Ursachen von Krankheiten, welche der
volksaufklärerische Diskurs ‚natürlicher Ursachen‘ bestreitet,
die sind für das Dorf ein Faktum, zumindest solange alle an
die Existenz von Hexerei glauben. Überdies war der Standard
‚aufgeklärter Medizin‘ am Ende des 18. Jahrhunderts auch
eher erbärmlich als erfolgreich zu nennen, weshalb zwischen
‚Dorfmedizin‘ und ‚Stadtmedizin‘ zu jener Zeit kaum ein
Unterschied bei Heilerfolgen bestand.
Es sind daher die Grundannahmen, welche die beiden
Systeme unterscheiden. Die Volksaufklärung verweist auf ein
System teils individueller, teils natürlicher Ursachen für alles
Geschehen. Das Dorf aber lebt in einem Moralsystem auf der
Basis kollektiver Sanktionen, die durch Furcht wirken. Die
Resultate mögen in beiden Fällen gleich sein, für Aufklärer
sind es die Grundlagen, die abzulehnen sind:
„Unsere Tugend, welche aus freiem Triebe, und ihrer
lohnenden Vortreflichkeit wegen geübt werden soll, könnte,
durch Bilder des Schreckens erweckt und unterhalten, nicht
Tugend seyn.“69
Hexerei ist eine Chiffre für die Differenz der beiden Systeme,
und sie ist verblüffend selbstverständlich. Der Bruder befragt
69
Fischer: Beiträge zur Beantwortung, a.a.O., S. 42 f
50
die bestrafte Frau, und diese bejaht den Verdacht ohne
Umschweife. Der Bruder hätte Anlass zu Hass gegeben, sie
habe ihn deshalb verflucht und ihm das Schlimmste an den
Hals gewünscht. Kurzum: Die Hexerei ist in der alten
Dorfgesellschaft kein Ausbildungsberuf, sondern schlicht eine
soziale Reaktion.
Vielleicht sollte an dieser Stelle noch darauf hingewiesen
werden, dass Scheiterhaufen, Wasserproben, Streckbetten
und eiserne Jungfrauen eher auf der ‚bürgerlich-kirchlichen
Seite‘ des Hexenglaubens zu verorten sind. Dies waren
obrigkeitliche Reaktionen auf einen Volksglauben, der einfach
nicht auszurotten war:
„Die Verfolgungen [wurden] nicht von Bauern, sondern von
Richtern ausgelöst (…). Dem wäre hinzuzufügen (…), daß
der Beweggrund der Richter dabei die Furcht von der
Gegenkultur der Schwachen war. Es war bedrohlich für die
christliche Ordnung, daß die Bauern, unter Berufung auf
Satan und die Hexerei, auf ihre Weise und anderswo als in
der Kirche Begierde, Gewalt und den Kampf gegen
biologisches Unglück ausagierten.“70
Auch für nachfolgende Zeit der Aufklärung gilt, dass „Hexerei
(…) einzig in den Augen der Schriftgelehrten Verbrechen und Frevel
ist“71, während die Hexe im Dorf durch ihre Macht sozialer
Sanktionen ein mit Furcht gepaartes Ansehen genießt.
70
Jeanne Favret: Hexenwesen und Aufklärung. In: Cl. Honnegger
(Hg.); a.a.O., S. 336 – 366; hier S. 343
S. a. die ausführliche Biographie zum Thema dort.
71
Ebda., S. 352
51
Allerdings wandelte sich die Natur der Anklage. Während die
Hexerei zur Zeit der großen Verfolgungen ein Sakrileg, ein
Kardinalverbrechen war, das den Tod auf dem Scheiterhaufen
nach sich zog, so lautet die Anklage in der Aufklärung schlicht
auf Betrug. Der Beweis wird mit detektivischen Mitteln und
dem Rohrstock statt durch Folter geführt. Johann Gottfried
Heinrich Müller schildert mit unverkennbarem Behagen und
mit dem starken antiklösterlichen Impetus des Josephinismus,
wie eine solche ländliche Betrügerin angesichts städtischer
Verhörmethoden ihr falsches Spiel aufgeben muss:
„[Der Stadt-Syndicus] ließ sie denn von zween seiner
Bediensteten niederlegen, und so lange prügeln, bis sie den
ganzen Betrug mit dem Guardian [einem Teufelsaustreiber
aus dem Kapuzinerkloster] Harr klein erzählte, und
offenherzig gestunde: es wäre nur darum geschehen, daß
sie Geld, und der Guardian einen grossen Ruf bekämme. Er
protokollierte alles auf, ließ es von denen Zeugen
unterschreiben, und übergab es dem Magistrat; da dann das
Weib ins Zuchthaus, und der Guardian an einen
unbekannten Ort kamme.“72
Im ländlichen Raum hingegen hat jene Frau, von der Schlez
berichtete, keine Prügel und auch sonst keinerlei Sanktionen
zu fürchten. Der ‚quacksalberische Rat‘, den der Dorfdiskurs
beschließt, führt zur völligen Absolution der Hexe. Nicht sie,
sondern der Fleischer muss sich auf dem Kirchweg, diesem
Paradigma dörflicher Öffentlichkeit, einem Reinigungsritual
72
Johann Gottfried heinrich Müller: Versuch, das Landvolk über
herrschend-tägliche Vorurtheil und Aberglauben natürlich denken
lernen. 2 Theile, Wien 1791, 1. Th., S. 34
52
unterziehen. Zugleich bestätigt er hiermit die Gültigkeit
dörflicher Normen. Die Krankheit, deren moralischer ‚Infekt‘
durch die rituelle Reinigung aufgehoben wird, weicht von
ihm. Keith Thomas konstatiert bei der Analyse ähnlicher Fälle,
dass das Krankheitsverständnis der populären Medizin mit
der Diagnose des ‚Behext-‚ oder ‚Besessenseins‘
psychosoziale Faktoren reflektiert, die erst moderne
psychologische Theorien wieder ins Kalkül ziehen werden.73
Der Aberglaube - Schlez‘ Feldforschungsbericht illustriert dies
- ruht daher nicht nur auf Anwendung eines untauglichen,
vorwissenschaftlichen
und
daher
unvernünftigen
volksmedizinischen Instrumentariums, er regelt auch soziale
73
K.Th.: Religion and the Decline of Magic, a.a.O.; S. 206 f:
„The stubborn reluctance of the lower sections of the seventeenthcentury population to forgo their charmers and wise men resembles
the unwillingness of some primitive peoples today to rely
exclusively upon newly introduced Western medicine. They notice
that men die, even in hospitals, and that the Europeans have
virtually no remedy for such complaints as sterility or impotence.
They therefore stick to their traditional remedies, some of which
afford a degree of psychological release and reassurance not to be
found in Western medicine. They cherish the dramatical side of
magical healing, the ritual acting-out of sickness, and the symbolic
treatment of disease in its social context. Primitive psychotherapy,
in particular, can compare favourably with its modern rivals. If this
is true today, when medical technique has made such striking
advances, we can hardly wonder at the attitude of seventeenthcentury villagers.“
Vgl. auch die folgenden Texte brit. Sozialanthropologen:
Alan McFarlane: Witchcraft in Stuart und Tudor England. London
1970
Brian Easlea: Witch-Hunting, Magic and the New Philosophy,
Brighton 1980
53
Konflikte innerhalb der Gemeindegrenzen. Es sind höchst
diesseitige Zwecke, die er damit verfolgt. Als Ordnungskraft
des dörflichen Alltags wird er zum zentralen
sozialkonservativen Widerpart bei allen Reformbemühungen
der Volksaufklärung, die prinzipiell eine Neuordnung eben
jenes ökonomisch-bäuerlichen Alltags durch ‚verbesserte
religiöse Grundsätze‘ bezweckte. Der große Raum, den die
Volksaufklärung dem Aberglauben in ihren Schriften
einräumt, wird erst durch diese Funktion verständlich:
„Diese
Aufzählung
des
religionspolizeilichen
Maßnahmekatalogs mag als Beleg für die These genügen,
daß es eben neben den religiös orientierten und theologisch
argumentierenden Reformern damals noch eine Denkschule
gab, die zwar sachlich mit jenen weitgehend
übereinstimmte, die aber die Religion ganz diesseitig als
Instrument der Verhaltenssteuerung einer Gesellschaft
betrachtete, deren Wertordnung massiv geändert werden
sollte.“ 74
Der Kampf der Volksaufklärung gegen den Aberglauben ist
daher in seiner Heftigkeit nur zu verstehen, wenn man sieht,
dass
die
abergläubischen
Prämissen
eben
jene
Funktionsstellen besetzen, an denen die aufgeklärte
Tugendideologie mit ihren ‚Pflichten des wahren Christen‘
andocken möchte. Das Reden von der ‚Herrschaft des
Aberglaubens‘ ist ein Topos der Zeit, der zugleich zeigt, an
74
Christof Dipper: Volksreligiosität und Obrigkeit im 18.
Jahrhundert. In: Wolfgang Schieder (hG.): Volksreligiosität in der
modernen Sozialgeschichte. Göttingen 1986 [GuG Sonderheft 11], S.
73 – 96, hier: S. 83
54
welch exponierter Stelle der Gegner zu suchen ist. Der
Aberglaube usurpiert eine Gegenherrschaft über die - höchst
diesseitig gedachten - ‚Geister‘. Er wird in der
zeitgenössischen Metaphorik mit allen Insignien der Macht
ausgestattet: „Sein Gözen Thron (ist) unter dem Pöbel am meisten
befestiget“75.
Die strategischen Vorschläge der Volksaufklärer zielen
einerseits auf die Kriminalisierung aller Multiplikatoren des
Aberglaubens:
„Es gibt endlich auch gewisse Personen (…), die Säug
Ammen des Aberglaubens genennt werden können. Unter
die (…) zähle ich die so genannten klugen Leute, solche, die
mit Crystallsehen, Zettelanhängen, Viehbewahren, und
vermeintlichen sympathetischen Kuren umgehen. Hieher
gehören auch Schaz Gräber, Ziegeuner, Wahrsager,
Taschen Spieler. Alle diese Leute breiten den Aberglauben
aus, vornämlich diejenigen, welche als kluge Leute
berüchtigt sind, und dem zulauffenden Pöbel thörichten Rath
geben. (…) Man sollte auf solche Leute fleisig lauern, und
diejenigen, welche als kluge Leute aberglaubischen Rath
geben, sowohl als die, welche ihn suchen, nachdrüklich
strafen.“76
75
[Anonym:] Briefe zur Bildung des Landpredigers, a.a.O., S. 282
Ebda., S. 291
Skeptisch über den Erfolg polizeilicher Maßnahmen äußert sich
Fischer: Beiträge zur Beantwortung, a.a.O., S. 126: „Verbote,
solchen Charletans sein Leben und Gesundheit nicht anzuvertrauen,
können so wie oft selbst würkliche Bestrafungen der Quacksalber,
das Hin- und Hertragen des Harns und der Arzneien nicht steuren;
76
55
Der Oberbegriff ‚kluge Leute‘ in diesem Zitat verweist darauf,
dass insbesondere die eingeborene ‚Volksintelligenz‘, die
‚Medizinmänner und –frauen‘ also, das primäre Ziel solcher
volksaufklärerischen Pönitenz-Phantasien waren.
Auf der anderen Seite erhofften sich die Volksaufklärer vom
Ersatz der Volksbücher durch volksaufklärerische Lektüre
Erfolge. Ein zweiter Literaturkanon sollte geschaffen werden:
„Es mangelt uns nicht an den vortreflichsten populären
Schriften; allein sie kommen viel zu wenig in die Hände
derer, für die sie geschrieben sind. Die Mittel zur
Verbreitung der Volksschriften sind folgende: Man benutze
die vorhandenen Bücher des gemeinen Mannes, theils um
nützliche Anweisungen zur Gesundheitspflege ihnen
beizufügen, theils durch Veränderung ihres Inhalts sie
gemeinnütziger zu machen (…) Ferner bediene man sich
der Jahrmarktsbuchhändler, von welchen der gemeine
Mann seine Bücher kauft, und gebe diesen nützliche
Volksschriften in die Hände; die jedoch ebenso wohlfeil als
ihre bisherigen Artikel seyn müssen.“77
Mit Umdichtung und Verfälschung, wie auch mit
Kampfpreisen sollen die ‚nützlichen‘ Schriften der
Volksaufklärer den Markt eines keineswegs illiteraten Volkes
denn dadurch wird der unaufgeklärte Mann noch nicht deutlich
überzeugt, daß jene Pfuscher unwissende Leute sind, sondern er
glaubt, es geschehe nur, um den Aerzten keinen Abbruch zu thun.“
Der Verweis, dass die ‚bürgerliche Medizin‘ am Ende des 18.
Jahrhunderts noch kaum höhere Heilerfolge aufwies als die
‚Volksmedizin‘, erübrigt sich hier.
77
Struve: Ueber Gesundheitswohl und Volksvorurtheile, a.a.aO., Bd.
1, S. 13
56
erobern. Tatsächlich setzte in diesen Jahren eine wahre
Bücherschwemme volksaufklärerischer Literatur ein, wo
‚Musterbauern‘ mittels Mergeldüngung, Pünktlichkeit,
Obstbaumzucht und einem tugendhaften Leben zu Reichtum
und Gottseligkeit gelangen. Auch der ‚Kalender‘, zugleich
„Orakel“ und „Gesez-Buch“78 der Landleute, vollzog den
Umschwung von den Aderlasstagen hin zur vernünftigen
Landwirtschaft.
Neben der Polemik gegen hartnäckige Vorurteile und
finsteren Aberglauben findet sich hier dann stets die
Exposition des ‚Kleinjogg-Modells‘. Dieser ‚Zürcher
Musterbauer‘ gelangte durch seine Exzeptionalität zu
europäischem Ruhm. Er bot erstmals einen lebenden Beleg
dafür, dass der bürgerliche Tugendkanon auf dem Land
reüssieren konnte. Seine Singularität schuf seinen Ruhm.
Zugleich wird Kleinjogg, der ‚Städter auf dem Land‘,
inszeniert als ein ‚Produkt der Natur‘, der allein durch eigenes
Nachdenken zur Aufklärung gelangte. Im Kern aber setzte er
sich nur über die bräuchlichen Normen seines
Sozialverbandes hinweg. Er durchbrach die sozialen
Reziprozitätsnormen, die Ketten von Gabe und Gegengabe,
welche den sozialen Zusammenhalt der Dorfgemeinden
sicherten:
„So hatte er [ = Kleinjogg] zum Gesetz gemacht, weder von
Gevattern für seine Kinder und von Verwandten, noch von
78
Ernst Urban Keller: Das Grab des Aberglaubens. Vierte und lezte
Sammlung, Frankfurt u. Leipzig 1778, S. 205
57
irgendjemand Geschenke anzunehmen, auch keine zu
geben."79
Kleinjogg isolierte seine Kinder konsequent von den
Sozialisationsinstanzen der Dorfkultur80 und machte aus der
Arbeit sein Glaubensbekenntnis:
„Seine Religion ist diese: Arbeite getreu in deinem Berufe;
Thue allemahl das, was du in diesem Augenblick
empfindest, das du thun solltest. Erwarte keinen Seegen
zum Lohn, als nur nach einer überlegten und getreuen
Arbeit.“81
Arbeit und Glaube wurden hier gleichgesetzt. Mit einer
Religion hingegen hatte dieser blanke Utilitarismus nur noch
entfernt etwas zu tun.
Seit der Zürcher Patrizier Hirzel seinen Kleinjogg vor den
Toren der Stadt entdeckte, wuchs die Zahl der beispielhaften
Bauernfiguren in den Texten der Volksaufklärung ins
Endemische. Eine unüberschaubare Reihe, die sich bis hin zu
Gotthelfs ‚Uli der Knecht‘ erstreckt. Alle diese Texte, von der
Intention her für die ‚Hände des Volkes‘ bestimmt, wollten
nicht durch die Schrecken der alten Ordnung wirken, sondern
durch die sanfte Macht des Beispiels. Deshalb ist die Macht
79
[Anonym:] Calender fürs Volk, Hannover 1783, S.75
Ebda., S. 76 F: „Als Schulmeister wußte er das nächtliche
Herumschwärmen der Dorfschüler und ihre Besuche des
Weinhauses durch ernste Vorstellungen, gegen den Willen des
ganzen Dorfes abzuschaffen.“ Dieser Kalender-Kleinjogg hat mit
dem lebenden Kleinjogg natürlich nur noch wenig zu tun; aus der
Rezeption erwuchs die aufklärerische Fälschung.
81
Ebda., S. 79
80
58
des Aberglaubens in ihnen auch nur als dunkle Folie präsent,
vor der die illuminierten Protagonisten ihre ökonomischen,
sozialen und moralisch-religiösen Erfolge entfalten. Eine
direkte Polemik gegen die ‚Irrthümer‘ hätte die Zwecke
solcher Texte gefährdet und das gesellschaftliche Ziel der
Volksaufklärung in Frage gestellt:
„Sagen darf mans dem Volke eben nicht, daß man es
aufklären wolle; das Wort ist schon zu verhaßt und
verdächtig geworden. Es soll die nächste Absicht der
Empfehlung nicht merken.“82
Die Bedeutung des ‚Aberglaubens‘ als sozialintegratives
Element im Volksleben verschwindet in den fiktionalen
Texten hinter der Utopie prosperierender Mustergüter. Die
Quacksalber und Harnbeschauer sind jetzt nur noch
Randgestalten und bloße Schurken im Stück, die allesamt
lügen, betrügen und rauben. Ihnen gegenüber steht die
Kunstgestalt des ‚philosophischen Bauern‘, den der Pfarrer
zur Linken und der Gutsherr zur Rechten in neue Methoden
einweist. Mit literarischen Mitteln werden so ‚Kollaborateure‘
der Aufklärung auf dem Dorf geschaffen, beispielhafte
kulturelle Vermittler. Sie seien die „(e)delsten Werkzeuge zur
Aufklärung, wenn sie nicht durch Kabalen gehemmt, oder durch
Druck unthätig gemacht werden“83.
Dass in der Realität diese neuen physiokratischen Methoden
oft genug in der Praxis scheiterten, sei nur am Rande
erwähnt. Die jahrhundertealte bäuerliche Erfahrung siegte
82
83
[Anonym:] Gedanken über das allgemeinste Mittel, a.a.O., S. 331
Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 8
59
zumeist über den Erfindungsgeist der Theoretiker und über
seine Pläne zur Mergeldüngung und Stallfütterung.
Verführt vom Bild des grassierenden ‚Aberglaubens‘ auf dem
Land sahen die Aufklärer nicht, dass es auch mit der
‚Frömmigkeit‘ der Landbewohner nicht weit her war. Das Volk
praktizierte in der Realität bloß einen ‚äußerlichen
Gottesdienst‘, hielt sich an Regeln, aber kaum an Gebote. Der
grassierende ‚Aberglaube‘ regulierte das Sozial- und
Alltagsverhalten, das Christentum hingegen war für die
Landbevölkerung bestenfalls ein Ritual mit magischen
Qualitäten. Keinesfalls diente es der ‚Herzensbildung‘ in der
Nachfolge Christi. 1784 schrieb der lippische Landprediger
Georg Conrad von Cölln:
„Ich kenne hier viele denkende Männer, die glauben, das
Volk neige allgemein hier zum Aberglauben, aber Unglaube
wäre seine Sache nicht. Aber meine Erfahrung komt damit
nicht überein. Ich habe selbst von vielen gehört; daß alle
Religionslehren nur blos in der Absicht gelehret würden, um
die Leute im Zaum zu halten. Manche lassen sich von
Unsterblichkeit und ewigen Leben nichts einreden. Wie der
Baum fällt bleibt er liegen ist gemeines Sprichwort.“84
84
Georg Conrad v. Cölln, In: Volker Wehrmann: Der Lippische
Landmann am Ende des 18. Jahrhunderts in zeitgenössischer
Beurteilung. Lipp. Mitteilungen 47 (1978); S. 111 – 150, hier: S. 134f
60
Ins gleiche Horn stößt Johann Georg Meintel, der seinen
Bauern attestiert, dass sie „ganz irdisch und zum Theil viehisch
gesinnt sind“85:
„Es lassen sichs auch manche wohl merken, daß sie von
den Grund-Articuln des Glaubens, von dem Daseyn GOttes,
von der göttlichen Fürsehung, von der Wahrheit und
Göttlichkeit der heiligen Schrift, von der Unsterblichkeit der
Seele, von der Auferstehung Christi und der Todten, mithin
von der Wahrheit der christlichen Religion, gar nicht
überzeuget seyn. Und vielleicht giebt es auf dem Lande, in
den Dörfern, der Atheisten und Gottes-Verleugner,
Naturalisten und Vernünftler, Indifferentisten, oder solcher,
denen alle Religionen gleichgültig sind, und dergleichen, so
viele, als in Städten und Höfen“86.
Eine Sozialgeschichte des Atheismus auf dem Land ist noch
nicht geschrieben. Das Bild des ‚frommen Landmanns‘
jedenfalls ist erst ein Produkt der Romantik.
Auch ein Mann aus dem Volk, wie der Garnhändler Uli Bräker,
hält ähnliche atheistische Gedankenmuster fest. In einem
seiner ‚Baurengespräche‘ reden zwei Landleute über ihr
Verhältnis zur Religion, das sich im Kern auf die Beachtung
des ‚üßerlichen Gottesdienstes‘ beschränkt, ansonsten aber
zu gottlosen Konsequenzen gelangt:
85
Johann Georg Meintel: Natürlich- und geistliche Feld- Garten- und
Landbetrachtungen, a.a.O., Vorrede unpag.
86
Ebda.
61
„Und ich glaube, daß mich die Erde hervorgebracht hat wie
ein ander Thier und daß ich wieder in ihrem Schooß
vermodere wie eben dieselben.87“
Bei Bräker ist es erst die ‚moderne Landbevölkerung‘, die eine
christliche Religiosität entwickelt. Die Rede ist von den
Heimarbeitern im Gefolge der Protoindustrialisierung, die
pietistische und separatistische Gemeinden in kultureller
Distanz zur Landbevölkerung aufbauen.
Paradoxerweise greifen aufgeklärte Aufklärer oft selbst zum
Aberglauben, um den Aberglauben zu bekämpfen. Sie geben,
zumindest in ihren literarischen Texten, in Kalendern und
Predigten, den Bauern auf fast schon jesuitische Weise die
eigene Medizin zu schmecken. Ein frühes Beispiel ist Beers
‚Mercks Baur‘, der ein verheerendes Unwetter in
aufklärerischer Absicht instrumentiert:
„Durch folgende sehr vernünftige Muthmassungen als I,
sollet ihr wissen mein Jac! daß dieses Wetter nur auf dem
Land so übel gehauset, und nicht in denen Städten, welches
dann, Mercks Baur, schon ein Zeichen ist, daß der
Allerhöchste hierdurch das Land-Volck besonders habe
warnen wöllen, absonderlich aber II. Mercks Baur! so ist es
abermahl gewiß, daß die Donner-Streich dieses so
entsetzlichen Wetters, überall anfänglich, und jederzeit nur
allein in die volle Städel oder Scheuren der Baurschafft
geschlagen, selbe auch angezündet und verbrennet,
wordurch erst sodann, Mercks Baur! eure Wohnungen oder
87
Ulrich Bräker: Räisonierendes Baurengespräch über das
Bücherlesen und den üßerlichen Gottesdienst. Hg. V. Alois Stadler u.
Peter Wegelin, St. Gallen 1985; Bd. 2: Umschrift, s. 48
62
die Häußer anderer so vielen Bauren auch von dem Feuer
ergriffen, und in die Aschen gelegt worden seynd“88.
Eine lange Kette ähnlich konstruierter Koinzidenzen, wo die
sittlichen Verfehlungen der Bauern allemal Gottesstrafen zur
Folge haben, zieht sich von nun an durch die Volksliteratur
der Aufklärung, bis hin zu Jeremias Gotthelfs ‚Wassernot im
Emmenthal‘. Die Aufklärer nutzen selbst das Instrument des
Aberglaubens.
Auffällig ist hingegen der Unterschied dort, wo die Obrigkeit
weisungsbefugt ist, wie in den Zürcher Untertanengebieten.
Dort, wo sich die aufklärerisch und physiokratisch gesinnten
‚ökonomischen Patrioten‘ der Naturforschenden Gesellschaft
unter Führung von Johann Caspar Hirzel versammeln,
ergehen Weisungen an Bauernschaft, die so genannten
‚Reskripte‘. Kritik an der mentalen und religiösen Verfassung
der Dorfbewohner wird hier kaum geübt, kritisiert werden
ökonomische Faktoren: z.B. dass eine Gemeinde nicht
genügend bevölkert sei, dass die Bürger in städtischen
Diensten und in militärischem Sold ihr Glück suchten, statt
88
[Johann Christoph Beer:] Mercks Baur. Das ist: Heilsame,
geistliche Lehren, und Ermahnungen, An die Christliche Baurschafft,
Zur absonderlichen Vermeidung der Ungerechtigkeit und
Unkeuschheit, Wegen welchen die Baurschafft sehr mutmaßlich
durch das Anno 1750, den 27. August entstandene erschröckliche,
auch ungemeine Donner-Wetter von dem Allerhöchsten mit dem
Feur von den Himmel hergenommen, und gewarnet worden ist,
Sehr nutzlich nicht allein den Predigeren zur Abmahnung, als auch
denen Haus-Vätteren zur Verbesserung und Verhütung solcher
Sünden, welche in X. Geistlichen Gesprächen vorgestellet und
beschrieben worden. 7. Auflage, Augsburg 1765, S. 11
63
sich auf die Bearbeitung der Felder zu konzentrieren, dass
keine Vermischung der Erden versucht werde, oder dass das
Verhältnis der Wiesen zu den Äckern einer besseren
Landwirtschaft im Wege stünde89.
Wo Hirzel über Volkslaster klagt – zum gleichen Zeitpunkt
übrigens, wo er seine ‚Entdeckung‘, den Bauern Kleinjogg, als
moralisches Vorbild preist – da zielt er nicht länger auf die
Tradition und den Glauben, sondern auf ‚moderne Unsitten‘.
Vor allem ist es der zunehmende Luxuskonsum im Volksleben,
der einen Geldabfluss aus dem patrizischen Stadtstaat Zürich
bewirke. Hirzel hofft hier geradezu auf Krisen, damit diesem
luxuriösen
Lotterleben
durch
die
aufgeklärte
Instrumentierung des Aberglaubens Einhalt geboten werden
könne:
„Die Verdorbenheit der Sitten ist so groß, so allgemein und
so bekannt, daß ein Detail überflüßig wäre, sie ist zum Theil
eine Frucht des Luxus, und der Luxus selbst die größte
Verdorbenheit; (…). Bey den gemeinen Leuten aber finden
die best-gemeynte Vorstellungen keinen Eingang,
Züchtigungen von oben herab durch Mißwachs, Theuerung
und andere allgemeine Landplagen sind allein vermögend,
sie zur Demuth, Arbeitsamkeit, Treue und Redlichkeit, zur
Wahrheit oder Verläugnung des Lügen-Geistes und der
Schmähsucht, zur Sittsamkeit und Gehorsam zu zwingen,
89
Beispielhaft das ‚Rescript an die Ehrsame Gemeinde Henggart‘, In:
Protokoll der ökonomischen Commission der Naturforschenden
Gesellschaft, 2r Band (1769 – 1774), Archiv der naturf. Ges. im
Staatsarchiv Zürich, Sign: B IX, 67 a; S. 33 - 41
64
und sie von denen diesen entgegen gesetzten, ihnen
angewöhnten Lastern abzuziehen.“90
Hirzel sieht den ‚Aberglauben‘ und die Volksreligion nicht als
Hindernis an, vielmehr seien dies eher Zügel, die - richtig
angewandt - das Landvolk sogar lenken könnten. Später, als
er seinen ‚philosophischen Bauern‘ einer neuen Prüfung
unterwirft, ist auch hier die religiöse Reformation in das
Zentrum seiner Überlegungen gerückt:
„Unstreitig ist eine vernunftgemäße, vom Aberglauben
gereinigte Religion, das wahre Mittel der Volksaufklärung.“91
Offenbar hat ein Paradigmenwechsel im Zürcher Patriziat
stattgefunden. Die großen Hungerkrisen der 70er Jahre haben
auch Zürich nicht verschont.
Um den Sachverhalt in der zeitgenössischen Metaphorik der
frühen Volksaufklärung zu beschreiben, genügt es jetzt nicht
mehr, ‚Licht in die dunklen Hütten des Landvolks zu tragen‘,
den Bauern muss zuvor ‚der Star gestochen‘ werden, damit
sie fähig sind, dieses Licht überhaupt zu sehen. Besonders der
„Aberglaube (wirft) Staub in die Augen des Landvolks“92.
Die Volksaufklärung hat jedenfalls zur Kenntnis genommen,
dass die Landbevölkerung nicht schlicht ‚unaufgeklärt‘ ist. Sie
90
Johann Caspar Hirzel: Denkmal Herrn Doctor Laurenz Zellweger
aus Trogen im Appenzeller-Land von der Helvetischen Gesellschaft
errichtet. Zürich 1765, S. 23 f
91
Hans Caspar Hirzel: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers
nebst einigen Bliken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere
den Menschen intreßierende Gegenstände. Zürich 1785, S. 158
92
Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., Bd. 1, S. 21
65
verfügt über eine grundlegend andere Perzeptionsweise der
Realität. Die große Desillusionierung der Reformer, ihr
Abschied vom naiven ökonomisch-patriotischen Optimismus
der 60er und 70er Jahre, führt dazu, dass die Kritik des
Aberglaubens an die Stelle der Kritik an der bloßen
‚Dummheit‘ und ‚Unwissenheit‘ der Landbevölkerung tritt.
Diese zweite Stufe der Volksaufklärung klagt vermehrte
Kenntnisse über die Volkskultur ein und wünscht sich eine auf
das Volk berechnete Literatur. Sie reflektiert das Bewusstsein
gebildeter Männer der Praxis, die als Außenposten der
urbanen Kultur auf dem Lande, eine ganz andere Lebensweise
entdecken mussten. Selbstkritik am bisherigen Verfahren
bleibt da nicht aus:
„Größtentheils sind diese Phantasien von der herzigen
Einfalt und Lenkbarkeit des Landmanns, durch Prediger und
Kandidaten in den Städten geträumt, die alle gewünschte
Fruchtbarkeit des Predigtamtes auf dem Lande finden, weil
sie selbige vergebens innerhalb ihrer Mauern suchen.“93
Das Erscheinungsdatum von Schlez‘ Text ist nicht untypisch.
Der große Paradigmenwechsel, der auf der Entdeckung des
Volkes durch die Aufklärung beruht, setzt in den achtziger
Jahren ein und kulminiert in der Mitte des Jahrzehnts.
Verantwortlich für ihn ist daher keinesfalls das Trauma der
Revolution, das Schreckbild bewaffneter Bauernhorden und
entfesselter Pöbelmassen. Die neue Strategie trachtet
93
Johann Ferdinand Schlez: Vorlesungen gegen Irrthümer,
Abergaluben, Feler und Misbräuche, in Bethstunden dem Landvolke
gehalten. Nürnberg 1786; Vorrede / unpag.
66
keinesfalls aus sozialdefensiven Motiven heraus danach, aus
dem Volk ‚wahre Christen‘ zu machen.
Als Motiv der Umkehr darf man wirtschaftliche Motive der
Reformer vermuten. Vor allem die dicht aufeinander
folgenden Jahre des Misswachses, beginnend mit der
Hungerkrise des Jahres 1771, hatten alle Aufmerksamkeit auf
Ertragssteigerungen gerichtet, wohl auch, um das
Staatsbudget von teuren Getreidekäufen zu entlasten. Der
‚wahre Christ‘, wie ihn die Volksaufklärung forderte, wurde
jetzt zum ‚homo oeconomicus‘. Sein Wirtschaftspotential
sollte nicht länger durch abergläubische Annahmen über
soziale Pflichten behindert werden. „Zeugen von
Volksaufklärung“, schrieb Johann Caspar Hirzel jetzt, finde der
Beobachter überall dort:
„(…) wo Gottesdienst wahrer inbrünstiger Dank gegen Gott
ist, dessen Seegen man alle Tage und Stunden bey
getreuer Ausübung seiner Pflichten fühlt: wo man nicht
sogleich auf verborgne Ursachen, Zauberkraft boshafter
Menschen, Einflüsse böser Geister einen Verdacht wirft,
wenn die Werke nicht gelingen, sondern seine
Aufmerksamkeit verdoppelt, die Einflüsse der Natur näher
kennen zu lernen, oder seine eigne Fehler zu entdecken, die
den Schaden zuwegegebracht; wo man eben so wenig
Wunder erwartet, seine Felder fruchtbar zu machen, seine
Vieh gesund und stark zu erhalten und zu vermehren, (…)
und solche Wunder durch abergläubische Zeremonien und
Gebette vom Himmel zu erzwingen sucht; wo man hingegen
dies Alles, durch getreue Anwendung seiner Leibs- und
Seelenkräfte, wofür man Gott täglich von Herzen danket,
67
und ihn um die Gnade einer getreuen und geschickten
Anwendung bittet, zu erhalten sich bestrebt.“94
Der ‚wahre Christ‘ wurde jetzt zugleich zum ‚produktiven
Untertanen‘, der Utilitarismus beherrschte fortan die
Volksaufklärung. Am Zustand der Felder konnte man den
Fortschritt der Religion erkennen, Aberglaube war hingegen
alles, was die Melioration der Felder behinderte. Der Motor
des Fortschritts sollte eine neue Art von ‚Volksbüchern‘
werden.
In Christian Gotthilf Salzmanns Buch ‚Sebastian Kluge‘, das
den Aufstieg eines Betteljungen zum angesehen Mitglied
einer Dorfgemeinde exemplarisch beschreiben soll, trifft der
Protagonist eines Nachts auf das Gespenst eines
verstorbenen Dorfbewohners. Dieser Sebastian Kluge,
Repräsentant einer vernünftigen Lebensweise im Roman,
sucht für die unheimliche Erscheinung jedoch nicht länger
nach Erklärungen, die auf eine soziale oder moralische
Verfehlung hindeuten würden. Da er gelernt hat, das
Wirtshaus zu meiden, diesen Mittelpunkt des alten sozialen
Diskurses im Dorf, da er stattdessen des Abends zu
volksaufklärerischer Lektüre greift, entpuppt sich ihm das
Gespenst rasch als ein verkleideter Dorfbewohner, der mit
seinem Mummenschanz keinerlei soziale Absicht gehegt
habe. Die Rezeptionsziele der volksaufklärerischen Literatur
wirken hier ganz unmittelbar:
„Da fiel mir zum Glücke ein, daß ich denselbigen Abend, da
ich das erstemal aus der Schenke blieb, in einem Buche
94
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 155 f
68
gelesen hatte, man dürfe sich vor keinem Gespenste
fürchten, sondern müsse nur gerade drauf losgehen, so
würde man immer finden, daß man entweder nicht recht
gesehen hätte, oder daß er Betrügerey wäre. (…) Bey der
Gelegenheit erfuhr ich wieder, was mir der Abend, den ich
dazumal zum Lesen anwendete, itzo für Nutzen brachte.“95
Salzmann setzt bereits auf die aufklärungstypische Isolation
und Herauslösung einzelner Individuen aus ihrem sozialen
Kontext, formuliert ansonsten aber eine höchst naive und
optimistische Strategie, die sich von der bloßen Lektüre einer
Aufklärungsschrift bereits den Sieg über den Aberglauben
erhofft. Er hofft auf die Selbstverwirklichungskraft der
besseren und richtigeren Begriffe, und besitzt wenig Gespür
für die hindernde Wirkung der bäuerlichen Opposition auf
dem Dorf.
Völlig anders verfährt Johann Ferdinand Schlez. Dieser
dorferfahrene Mann berücksichtigt durchgängig die soziale
Macht des Aberglaubens und die Meinungsführerschaft
seiner Multiplikatoren, all der „lüderlichen Landführer“ und der
bettelnden „hausäsigen Betrüger“96. Diese veränderte
Sichtweise bewirkte praktische Erfahrungen, die er mit der
widerstrebenden Landbevölkerung machen musste:
„Vor 6 – 8 Jahren habe ich manches gewagt, was ich itzt
nicht mehr wagen würde, manches anders angefangen (…),
95
C[hristian] G[otthilf] Salzmann: Sebastian Kluge ein Volksbuch,
Leipzig 1790, S. 47 f
96
Schlez: Vorlesungen gegen Irrthümer, a.a.O., S. 71
69
manchen Kummer
getragen“97.
über
verkannte
gute
Absichten
Zu diesen Erkenntnissen zählt Schlez die Umdeutung der
sozialen Rolle, welche die Träger des Aberglaubens im Dorf
einnehmen. Es sind keineswegs Außenseiter, sondern
Menschen, die als besonders fromm und geistlich gelten.
Schlez hat gelernt, „daß oft die bösesten Menschen am fleißigsten
bethen“98.
In seinem Roman ‚Geschichte des Dörfleins Traubenheim‘
reflektiert Schlez diese Erfahrungen, wenn er die Anstößigkeit
einer aufgeklärten, utilitaristischen Glaubenslehre für die
Bauern schildert. Diese betrachten die aufgeklärten
Grundsätze des ‚wahren Christenthums‘, die ihnen ihr neuer
Pfarrer ans Herz legt, als irreligiöse „Policey-Predigten, die er
hält, und keine christerbaulichen, wie sich’s für das Haus Gottes
schickt“99. Womit die Kritiker keineswegs Unrecht haben.
Literarisch arbeitet der Roman mit dem Stilmittel der
Denunziation. Die Träger der orthodoxen Volksfrömmigkeit
und des Aberglaubens werden nirgends argumentativ
widerlegt, sondern stets charakterlich in den schwärzesten
Farben gemalt in ihren Motiven verdächtigt. Ein Verfahren,
das fortan die gesamte volksaufklärerische Literatur prägt.
97
J[ohann] F[erdinand] Schlez: Landwirthschaftspredigten. Ein
Beytrag zur Beförderung der wurthschaftlichen Wohlfahrt unter
Landleuten. Nürnberg 1788, S. XIII
98
Schlez: Vorlesungen gegen Irrthümer, a.a.O., S. 16
99
Johann Ferdinand Schlez: Geschichte des Dörfleins Traubenheim.
Fürs Volk von einem Volksfreunde. (1791/92), 3. Aufl., Gießen 1817,
S. 299
70
Allemal, so Schlez, verberge sich hinter der Frömmigkeit und
dem Aberglauben der krasseste Eigennutz. Eine Insinuation,
die in einer materialistisch gesinnten Bauernwelt leicht
verfängt, nur dass die Bauern bisher die Herrschaft derart
verdächtigten. Die Volksaufklärung trachtet danach, das
sprichwörtliche bäuerliche Misstrauen umzukehren. Es soll
sich künftig gegen die abergläubisch abgesicherte
Normativität der alten Ordnung im Dorf richten.
Eine zweite Strategie kommt hinzu, welche gewissermaßen
abergläubische Mittel gegen die Träger des Aberglaubens
einsetzt. Es genügt den Aufklärern nicht länger, jene
Menschen, die abergläubische Praktiken anwenden,
literarisch als Betrüger zu entlarven. Sie verfallen allesamt
einer göttlichen oder auch einer teuflischen Strafe.
Die Handlung der Erzählungen wird damit strategisch an die
Mentalität der erhofften Leserschaft angepasst, der Autor
versucht, sie am Leitseil ihres Aberglaubens zum Guten zu
führen. Da es sich – so Schlez – um eine Sammlung „nur auf
das ungebildete Volk berechneter Aufsätze“100 handelt, greift er
stereotyp auf abergläubische Muster zurück: Alle
uneinsichtigen Dorfbewohner sterben auf Grund ihrer
schändlichen Taten oder werden sonstwie hart bestraft, sie
fallen von hohen Gerüsten oder verlieren ihre gesamte Ernste
100
Johann Ferdinand Schlez: Kleine romantische Volksschriften.
Erste und Zweyte Sammlung. Heilbronn u. Rothenburg o.d.T. 1802,
Band I, Vorrede / unpag.
71
durch himmlische Unwetter, was dann vom Leser zurecht als
„Strafe Gottes“101 betrachtet werden darf:
„Da siehst du nun, wie es den Leuten geht, die sich aller
Vernunft widersetzen“102.
In fast schon jesuitischer Weise bedient sich diese
volksaufklärerische Vernunft der blanken Unvernunft, dort,
wo es in ihrem ökonomisch-pädagogischen Interesse liegt.
Johann Ferdinand Schlez, der einerseits gegen die Furcht vor
göttlicher Strafe und den Glauben an die Möglichkeit
magischen Schutzes vor natürlichen Ereignissen polemisiert,
der
die
Feldbegehungen
und
Erntegebete
der
Dorfbevölkerung kritisiert, sichert den erzieherischen
Landgewinn ab, indem er die Denk- und Ordnungsmuster der
vorrationalen alten Gesellschaft zum Schutz der neuen
Ordnung anzurufen sucht.
Dieses Verfahren, das die Modernisierung der Dorfwelt durch
den Einsatz irrationaler Beweggründe des Handelns
vorantreiben möchte, findet sich auch bei Pestalozzi. In
seinem Roman ‚Lienhard und Gertrud‘, der sich als
literarische Umsetzung seiner pädagogischen Prinzipien
begreift, ist bspw. die Aufteilung des Gemeinlandes mit
vernünftigen Argumenten gegen den Widerstand der
gesamten Bauernschaft nicht zu erreichen. Erst als die
Dorfreformer den fest verankerten Teufelsglauben der
101
102
Ebda., Bd. 2, S. 104
Ebda., Bd. 2, S. 180
72
Bauern ausnutzen, gelingt es die Resistenz des Dorfes zu
überwinden.
Ein zweiter Aspekt kommt hinzu, der sich auf einen realen
Aspekt des magischen Volksglaubens bezieht. Im ‚System des
Aberglaubens‘ sind die sozialen Verhältnisse immer
zementiert: Die Reichen bleiben reich, und die Armen arm,
und zwar über die Generationen hinweg. Deshalb greift
Pestalozzi als volkspädagogischer Reformer auch die sozialen
Verhältnisse an, im Interesse der dörflichen und
protoindustriellen
Unterschichten.
Die
traditionalen
bibelfesten Großbauern werden als eigensüchtige Ausbeuter
der Armut und Feinde der Vernunft charakterisiert, als das
„Hartknopfengeschmeiß“103 im Roman.
Pestalozzi selbst war kein Christ104. Das ‚wahre Christentum‘
ist für ihn nur eine nützliche Industriereligion für das einfache
Volk, ein pädagogisches Hilfsmittel. Jenseits der Texte fürs
Volk hat er sich über sein Verfahren offen ausgesprochen:
„Ich will mit ihnen vor dem Altar ihrer Gözen hinkieen und
nichts weiter thun als mitwürken, sie am Faden ihrer
103
Johann Heinrich Pestalozzi: Werke, Bd. 1: Lienhard und Gertrud.
Nach dem Text der Erstdrucke hg. u. komm. v. Gertrude CeplKaufmann u. Manfred Windfuhr. München 1977, S. 545 et al.
104
„Ich bin ungläubig, nicht, weil ich den Unglauben für Wahrheit
achte, sondern weil die Sume meiner Lebenseindrücke den Segen
des Glaubens vielseitig aus meiner innersten Stimmung
verschoben.“
[J. H. Pestalozzi: Sämtliche Briefe. Hg. v. Pestalozzianum u.v.d.
Zentralbibliothek in Züch, Zürich 1946 ff, Bd. 3, S. 300]
73
Teufelsforcht zu dem Grad an Menschlichkeit hinzulenken,
zu dem diese Forcht den Menschen fehig macht“105.
Die neue Volksreligion, die Pestalozzi in der Bauernwelt
durchsetzen will, ist eine höchst diesseitige Arbeitslehre, die
von den tugendhaften Protagonisten in Pestalozzis zweitem
großen Volksbuch, in ‚Christoph und Else‘, vorgelebt wird –
als Gegenentwurf zu den schriftkundigen Bauern im Dorf,
„deren zweytes Wort ein Spruch aus der Bibel ist“106:
„Das ist nicht die rechte Religion, die sich den Menschen als
ein Götz aufdringt, mit dem er täglich und stündlich bis zum
Tändeln viel Geschäft und Wesens haben soll (…). Die
ächte Religion lehret und stärket den Menschen, die Welt zu
brauchen (…). Der Weg zum Himmel ist di eErfüllung der
Pflichten der Erden und das Todbett ist die Vollendung
dieser Erdenpflichten“107.
Im Gefolge Pestalozzis entstanden ähnliche Volksbücher, die
vom Volk aber wohl auch kaum rezipiert wurden. Der Basler
Volkspädagoge Sebastian Spörlin wendet sich Vorwort seines
Buches ‚Hanns und Bethe‘ zunächst gegen den Vorwurf, ein
vorwiegend utilitaristisch angelegtes, weltlich-neologisches
Religionsverständnis zu predigen. Auf die empirische
Bauernwelt, die das ‚fromme Geschätz‘ zu ihrem Gottesdienst
gemacht habe, nimmt er dennoch kaum Bezug. An die Stelle
der Wirklichkeit treten individualistisch konzipierte
105
Ebda., S. 309
J. H. Pestalozzi: Christoph und Else. In: Pestalozzi: Sämtliche
Werke. Hg. v. Arthus Buchenau, Eduard Spranger, Hans Stettbacher.
Berlin u. Leipzig 1927 ff, Bd. 7, S. 303
107
Ebda., S. 306
106
74
Tugendgestalten, welche die Zufriedenheit zu ihrem
Lebenszweck gemacht haben, gewissermaßen literarische
Utopien auf zwei Beinen:
„(K)önnen wir uns einen glükseligern Menschen vorstellen
als aber einen Landmann, der, wenn er gleich nur mäßig
begütert ist, zugleich ein guter Christ ist? Vergnügt mit
seinem Stande, in welchen ihn die gütige Vorsehung seines
Gottes gesezt hat, geht er des Morgens freudig an seine
Arbeit, und verrichtet sie mit Lust, weil er weiß, daß ihm die
Religion selbige als Pflicht auferleget. Voll Vertrauen gegen
das gütigste Wesen erwartet er von seiner Hand den Segen
über seiner Hände Werk. Ruhig in seinem Gewissen, das
ihm keine Verbrechen vorwirft, geht er mit seinem geliebten
Weibe und Kindern des Abends in die Ruhe, und genießt
des süssesten Schlaf, den ein zufriedenes Gemüth, und ein
von der Arbeit ermüdeter Leib verschaffen kann, frey vom
Sturm heftiger Leidenschaften, fridlich mit seinem Nächsten,
und von keinen ehrgeizigen Absichten dahingerissen,
mischet er sich in keine fremden Händel, die ihn von seiner
Arbeit und von seinem Berufe abziehen“108.
Das Ziel der Volksaufklärung ist nicht die Emanzipation des
Landvolks aus dem geistigen Dunkel des Aberglaubens,
sondern die Schaffung funktionierender Untertanen, die
dafür sorgen, dass die große Staatsmaschinerie ohne
Stockungen Wohlstand produziert.
108
[Sebastian Spörlin:] Hanns und Bethe. Versuch eines nach den
Bedürfnis unsrer Landleute zu bearbeitenden Lesebuchs. 2 Hefte.
Basel 1790 und 1792; Heft 1, S. 118 ff
75
Um den Protagonisten seines Textes das bukolische Glück
eines
beschaulichen
und arbeitsamen
Landlebens
vorzugaukeln, ist auch bei Spörlin die soziale Isolation von der
Dorfgemeinschaft notwendig. Auch Hanns Bethe meiden die
bäuerlichen Orte der Kommunikation, sie sitzen „nicht etwa in
der Schenke des Dorfes, wo sonst der gröste Teil der Landleute (…)
seine Zeitverkürzung sucht, sondern nah bei ihrer Hütte unter dem
kühlenden Schatten eines obstreichen Baumes“109. Dies ‚Glück im
Winkel‘ ist es, was die Volksaufklärung auf ihrem
Kulminationspunkt den Dorfbewohnern anpreist. Erst
hierdurch wird das Bündnis erweckter Landleute mit den
gebildeten Vertretern der städtischen Aufklärung möglich.
Hanns und Bethe müssen ihre soziale Bezugsgruppe
verlassen, um „mit dem Prediger und Schulmeister gleichsam
gemeinschaftliche Sache [zu] machen“110.
Spörlins Text hat die Form eines Katechismus der
Volksaufklärung. Wöchentlich besucht der Pfarrer zu
wohlmeinenden Unterredungen die ‚Hütte‘ dieser
Bauersleute und fragt die volksaufklärerischen Grundsätze ab.
Die Eheleute sind hierbei bereits entwickelte Prototypen
eines aufklärungsadäquaten Sozialcharakters, ohne dass der
Leser je erfährt, wie sie zu ihren Überzeugungen gelangten.
Der Volksaufklärer spielt in den Dialogen die Rolle des
‚Versuchers‘, der die Festigkeit der Maximen erprobt. Am
Ende jeder Unterredung fasst er moritatenhaft die Lehre des
jeweiligen Gesprächs zusammen. Das Konstruierte und
Deviante solcher Sozialcharaktere, die Realität des
109
110
Ebda., Heft 1, S. 9
Ebda., Heft 2, S. 12
76
Dorflebens, wird nur noch ‚ex negativo‘ deutlich, an den
Lastern, denen sich das fromme und gelehrige Bauernpaar
verweigert.
Zu diesen Lastern zählt der weitverbreitete Aberglaube an
vergrabene Schätze, die sich mit magischen Mittel
emporzwingen ließen. Ein psychologisch verständlicher
Wunderglaube, wenn man die materiellen Bedingungen der
Bauernwelt näher betrachtet.
In dieser Gesellschaft mit ihren altrechtlich abgesicherten
Besitzstrukturen gab es keinen sozialen Aufstieg. Der Grund
und Boden, eine unvermehrbare Ressource, lässt materiellen
Erfolg
nur
auf
Kosten
des
Besitzes
anderer
Gemeindemitglieder zu. Die Verteidigung des Besitzes und
seine unverminderte Übergabe an die folgende Generation
wurden so zu Normen wirtschaftlichen Handelns.
Die zentrale Rolle der Besitzwahrung im bäuerlichen Denken
wurde durch eine Unzahl ‚abergläubischer‘ Riten gefestigt.
Man denke nur an jene Praktiken, die der Entdeckung von
Diebstahl und der Wiederbeschaffung verlorener Güter
gelten, von dem Aberglauben, der alle Grenzen umgab, und
jene Bauern straft, die sie verletzen. In einem solchen System,
das die Achtung und die Wahrung des Besitzes in das Zentrum
‚moralischen Verhaltens‘ stellt, das die Verletzung dieser
Norm mit dem Verlust von ‚Ehre‘ und ‚Ruf‘ koppelt, mit dem
Verlust ‚symbolischen Kapitals‘ also im Sinne Bourdieus, ist
Besitzmehrung nur durch plötzliche Glücksfälle oder durch die
Beherrschung von Magie möglich.
77
Obwohl
jede
Akkumulation
auf
Kosten
der
Dorfgenossenschaft sanktioniert wird, ist die alte
Bauerngesellschaft vom Gedanken an Reichtumsgewinn auf
‚legalem‘ oder ‚halblegalem‘ Wege förmlich besessen. Legal
ist zum Beispiel eine kluge Heiratspolitik, die das emotionale
Einverständnis des Paares in den Hintergrund stellt.
‚Halblegal‘ aus bäuerlicher Perspektive ist die Schädigung der
Obrigkeit beim Zehnten oder bei ‚Wilderei‘ und ‚Holzfrevel‘ in
obrigkeitlichen Wäldern, zumal dann, wenn sich die
Gemeinde im Besitz von älteren Titeln glaubt, also im Besitz
der so genannten ‚alten Rechte‘ der Gewohnheit.
‚Legal‘ ist es aber auch bei der Göttin Fortuna sein Glück zu
suchen, was die ‚Lottosucht‘ des gemeinen Mannes zur Folge
hat, welche die Volksaufklärer beklagen. Oder aber, mit dem
abergläubischen Instrumentarium des Höllenzwanges
verborgene Schätze auf magischem Wege zu Tage zu fördern.
Alle diese Wege zum materiellen Glück sind hingegen in den
Augen der Aufklärer höchst ‚illegal‘. Wer auf ihnen wandelt,
den trifft die geballte Kritik der Volkspädagogen.
Misst man die Volksaufklärungstexte an der Häufigkeit der
Jeremiaden über den Schatzgräberaberglauben, so muss ein
wahrer ‚Goldrausch‘ die ländliche Gesellschaft zu jener Zeit
befallen haben, ohne das ihm irgendwo die Existenz eines
Klondyke entspräche. Die starr verfasste, traditionale
Bauernwelt, die allen reale Chancen auf Besitzmehrung
verwehrte, findet für die sozial und bräuchlich blockierten
materiellen
Eigeninteressen
im
Aberglauben
ihr
psychologisches Ventil. Diesem Interesse versucht die
Volksaufklärung ein Ziel zu geben, ein wirkliches materielles
78
Substrat. Dies sei der aus ökonomischer und sittlicher
Tugendhaftigkeit folgende Wohlstand, der aber - wie die
verborgenen Schätze im Volksglauben – auch am Ufer der
Aufklärung zumeist nur eine Chimäre blieb:
„Ja wol sind Arbeitsamkeit, Mässigkeit und Häuslichkeit die
einige Goldgrube, woraus wir zuverlässig Schätze sammeln,
sagte Hanns, wie er im Hinkenden Bothen von 1789, die
sich zu G. zugetragene Schazgräbergeschichte gelesen;
hätten wenigstens, fügte er bey, diese einfältig Betrognen
für ihr weggeworfenes Geld Dung gekauft, und ihre magern
Felder damit gebauet, wären sie ihre Nuzens sichrer
gewesen“.111
Selbstvertrauen auf die eigene ökonomische Kraft
kennzeichnet Spörlins Bauernpaar. Beim Aberglauben
handele es sich um „Possen und weiter nichts“112, der
abergläubische Kalenderkram wird verworfen, weil „nicht der
Mond und das Gestirn, sondern Gottesfurcht und Fleiß im Berufe die
Quellen allen Segens sind“113. Die Ungebräuchlichkeit solcher
Maximen auf dem Dorf wird aber im Resumée des Pfarrherrn
deutlich, in dessen Lob seiner literarischen Tugendbolzen die
Klage über die wirklichen Verhältnisse auf dem Land stets
einfließt:
„Ja wol, mein guter Hanns! Und ich freue mich mit dem
wärmsten teilnehmenden Herzen über eure getahne
Aeusserungen gegen den ganzen Kram so viler unter
unserm
Landvolk
immerzu
noch
herrschender
111
Ebda., Heft 2, S. 37 f
Ebda., Heft 2, S. 41
113
Ebda., Heft 2, S. 45
112
79
abergläubischer Torheiten, nichtiger Fabeln und Gebräuche,
wodurch Gott entehret, und seine Macht und Fürsehung so
offenbar beleidigt wird. Wie lange wird’s noch währen, bis
wahre Aufklärung die Finsternisse des Irrthums und
Aberglaubens zerstöhret?“114
Die resignative Stimmung, die Spörlins Text hier umflort,
verdankt sich der Erfahrung der Volksaufklärer, deren
Reformen auf breiter Front ins Stocken geraten waren. Immer
wieder scheitern sie am ‚Aberglauben‘, mit dessen Prämissen
eine andere Kultur ihre Lebensweise verteidigt.
Der Aberglaube ist zum zentralen Mentalitätshemmnis
geworden, an dessen Einspruch alle volksaufklärerischen
Maßnahmen scheitern. Die andere Auffassung des Volkes
vom guten Leben und von der Religion, sein Gottvertrauen,
„sein Glück ohne seine Arbeit, ohne eigene Mühe von Gott zu
erwarten und die Ursache seines Unglücks in Gott zu suchen“115,
hindert jedes Ansteigen der obrigkeitlich höchst erwünschten
Produktivität. Der Aberglaube hindert den ökonomischen
Fortschritt.
Drastisch beschreibt der Ökonom Johann Friedrich Mayer,
was ihm wiederfuhr, als er neue Anbaumethoden wie
Gipsdüngung einzuführen trachtete:
114
Ebda., Heft 2, S. 46 f
Johann Friedrich Mayer: Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe
in der pragmatischen Geschichte der gesammten Land- und
haußwirthschaft des Hohenlohe-Schillingfürstschen Amtes
Kupferzell, Nürnberg 1773 (Faks.Dr. Schwäbisch-Hall 1980), S. 194
115
80
„(M)ir und dem Gyps schrieb man Hagel, Schlossen,
Donnerwetter, Feuersbrünste, di eletzten zween harten
Winter selbst zu und ich war zufrieden, daß wir nicht gar als
Anstifter des Türkenkrieges in der Crim angesehen
wurden.“116
Hinter der Polemik der Volksaufklärer gegen den Aberglauben
und das rituelle Religionsverständnis der Landbevölkerung
verbirgt sich mehr als bloß das Anliegen human gesinnter
‚Volksfreunde‘, den gemeinen Mann zu ‚befreien‘ von
magischer Furcht. Denn der Aberglaube ist nicht schlechthin
irrational, oft genug verteidigt er die Lebensform einer
dörflich-traditionalen Alltagskultur gegen die ökonomischen
und
sittlichen
Zumutungen
des
aufklärerischen
Reformprogramms. Die sozioökonomische Dysfunktionalität
der Bauerngesellschaft in zunehmend aufgeklärten
‚Verwaltungsstaaten‘, wofür Volksreligiosität und Aberglaube
als Chiffren verantwortlich gemacht werden, ist das treibende
Motiv der Aufklärer bei dem Versuch, „dem Ungeheuer –
Vorurtheil und Aberglaube – tödtende Stöße bey(zubringen)“117.
Für diese Sicht spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass die
Entdeckung des Aberglaubens erst dann erfolgt, als der
vorangegangene Versuch einer bloß ökonomischen Reform
gescheitert ist. Die Entdeckung der traditionalen
116
Johann Friedrich Mayer: Kupferzell durch die Landwirthschaft im
besten Wohlstande. Das lehrreichste und reizendste Beyspiel für
alle Landwirthe, sich durch und in ihrem Berufe sicher, froh und
bestens zu beglücken. Leipzig 1793, S. 113 f
117
Johann Gottfried Heinrich Müller: Versuch, das Landvolk über
herrschend-tägliche Vorurtheile und Aberglauben vernünftig
denken lernen. Zweyter Theil, Wien 1791, Vorrede / unpag.
81
Bauerngesellschaft, ihres Alltags wie ihrer Mentalität,
erforderte einen Bruch mit bisherigen, stark rousseauistisch
geprägten Annahmen über die Natur des Menschen. Die
volkskundliche Wende ist verantwortlich für das geradezu
militaristische Vokabular, das die Volksaufklärer zuunehmend
zur Beschreibung ihres mentalen Opponenten verwenden. Sie
stoßen „auf eine solche Menge von Vorurtheile und
Aberglauben“, dass ein Vernichtungsfeldzug gegen die Träger
des Aberglaubens geführt werden muss. Sie beschließen,
„denen selben den Krieg anzukündigen, und so lange mit ihnen zu
kämpfen, bis (sie) sie alle entlarft zu (ihren) Füßen liegen sehen“118.
118
Ebda.
82
2. Das pädagogische Arbeitslager:
Pestalozzis Roman ‚Lienhard und Gertrud‘
2.1. Die Vorgeschichte
Der berühmteste Roman der Volksaufklärung war ein Produkt
schriftstellerischer Spekulation119. Nachdem er mit der ‚neuen
Landwirtschaft‘ auf dem Neuhof gescheitert war und auch
das Projekt einer Armenerziehungsanstalt dort fehlschlug,
stand Johann Heinrich Pestalozzi vor dem Ruin. Von der
schriftstellerischen Betätigung erhoffte er sich, „daß es möglich
sein möchte, meine ökonomische Lage auf dieser Bahn zu
bessern“120.
Zugleich war das Buch aber auch eine subjektive Abrechnung
mit den Gründen seines Scheiterns an der ländlichen Welt.
119
Die folgenden Siglen finden in diesem Text Verwendung:
LG -> Johann Heinrich Pestalozzi: Werke, Bd. I: Lienhard und
Gertrud. Nach dem Text der Erstdrucke herausgegeben und
kommentiert von Gertrude Cepl-Kaufmann und Manfred Windfuhr.
München 1977
SW -> Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Buchenau, Eduard
Spranger u. Hans Stettbacher. Berlin u. Leipzig 1927 ff
GA -> Heinrich Pestalozzi: Werke in acht Bänden. Gedenkausgabe zu
seinem zweihundertsten Geburtstage. Hg. v. Paul Baumgartner,
Zürich 1945 – 49
B -> Johann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Briefe. Hg. v.
Pestalozzianum u. v. d. Zentralbibliothek in Zürich. Zürich 1946 ff
120
GA VIII, S. 455
83
Für ein tieferes Verständnis des Volksromans muss daher die
Geschichte
von
Pestalozzis
Neuhof-Unternehmung
vorangestellt werden.
Für den jungen Pestalozzi, der aus einer verarmten, wenn
auch ratsfähigen Familie Zürichs stammte, war ein Beruf in
städtischen Diensten illusorisch geworden. Die Züricher
Regierung hatte den ‚jungen Patrioten‘ der Helvetischen
Gesellschaft zur Gerwe, die in einem ‚Bauren-Gespräch‘
Missstände im Patriziat beklagt hatten, den Prozess gemacht.
In diesem ‚Bauren-Gespräch‘ hatten die Patrioten die Zürcher
Landbevölkerung
aufgerufen,
nicht
an
einem
Truppenaufgebot teilzunehmen, mit dem die patrizische
Herrschaft ein unliebsames Wahlergebnis in der
Schwesterstadt Genf gewaltsam ‚korrigieren‘ wollte.
Bevor Christian Heinrich Müller als wahrer Autor dieses
Aufrufs bekannt wurde, hatte man Pestalozzi der
Verfasserschaft verdächtigt. Wer zu jener Zeit ländlichen
Untertanen ein Recht auf Widerstand predigte, und sei dieser
auch passiv, der gefährdete die Herrschaft des Zürcher
Stadtpatriziats. Die Obrigkeit griff hart durch. Einige Patrioten
– unter ihnen Pestalozzi – wurden verhaftet, Müller wurde
aus der Stadt verbannt, die Schriften der Patrioten
verbrannt121. Für Pestalozzi hieß dies, „daß bei diesem Urteil
eine Anstellung im öffentlichen Dienst für ihn vorerst nicht erreichbar
121
Vgl. zu den Vorgängen: Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien
Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Göttingen und Zürich
1984, S. 287 ff
84
war, zumal es ihm auch im Verwandtenkreis an einflussreicher
Protektion fehlte“122.
Pestalozzi, der die theologische Laufbahn aufgegeben hatte,
um Jurist zu werden, sah nun auch diesen Karriereweg
verschlossen und suchte einen Ausweg, der zudem
renditeträchtig sein musste. Denn er warb inzwischen um
Anna Schulthess, um die älteste Tochter aus einer der
reichsten Patrizierfamilien der Stadt. Die ‚neue
Landwirtschaft‘, wie sie der Berner Patrizier J. R. Tschiffeli in
Kirchberg betrieb, schien in dieser Lage der geeignete
Ausweg, da diese Ökonomie ein standesgemäßes
Auskommen versprach. Zudem entsprach – zumindest in der
bukolischen Theorie – das Landleben mit seiner ‚Simplizität
der Lebensführung‘ und der ‚Einfalt der Sitten‘ unter
benachbarten Bauern einer Existenz, die den asketischen
Grundsätzen eines Patrioten entsprach.
Nach einer knapp einjährigen Lehrzeit bei Tschiffeli begann
Pestalozzi 1769 mit dem Ankauf von Weiden und Äckern auf
dem öden Birrfeld in der Nähe Zürichs, nachdem er den
langdauernden Widerstand seiner Brauteltern überwunden
hatte. Ein Kredit von Verwandten seiner Frau gab ihm die
notwendigen Mittel an die Hand. Mit der Errichtung des
Neuhofs auf dem Birrfeld begann Pestalozzis Lebensweg als
Spekulant sans fortune. Rückblickend schrieb Pestalozzi 1835
im ‚Schwanengesang‘:
122
Max Liedtke: Johann Heinrich Pestalozzi in Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten. 6. Aufl. Reinbek 1979, S. 27
85
„Ich war bei meinen Nachforschungen nach einer in
landwirtschaftlicher Kultur noch in einem hohen Grade
zurückstehenden Gegend, in der ich mich einkaufen wollte,
durch Herrn Pfarrer Rengger in Gebistorf mit dem Zustand
des Birrfelds bekannt, auf welchem seit undenklichen Zeiten
ein paar tausend Jucharten123 fast immer brach lagen und
die meiste Zeit vom Kloster Königsfelden als eine schlechte
dürre Schafsweide benutzt wurden und nicht anders benutzt
werden konnten, weil der ganze Umfang dieser großen
Heide nur an ihren äußersten Grenzen einige wenige
Jucharten schlechtes Mattland sowie nur wenige
unbedeutende Wasserquellen hatte. Das Mißverhältnis der
Matten und Äcker im ganzen Umfang dieses Bezirks war so
groß, daß man wohl dreißig Juchart trockenes Ackerland auf
eine Juchart schlechtes, trockenes Mattland zählen konnte.
Dabei waren die Besitzer dieser großen Weide allgemein so
arm, daß sie durchaus nicht imstande waren, durch Ankauf
von Heu und Stroh etwa allmählich etwas zur Verbesserung
ihrer öde liegenden Kornfelder beizutragen“124.
Gerade dieser trostlose Zustand ist es aber, der Pestalozzi
reizte, weil er sich von den ‚neuen Methoden‘ Wunderdinge
versprach, vor allem von Mergel und ‚Kunstgras‘125. Pestalozzi
hatte zuvor schon den ‚Musterbauern‘ Kleinjogg auf dem
123
Mit regionalen Unterschieden entspricht eine Schweizer Juchart
ungefähr einer Fläche von 4.500 Quadratmetern.
124
GA VIII, S. 443 f
125
Als ‚Kunstgras‘ bezeichnete man zu jener Zeit vor allem Luzerne,
Krapp und Klee, die – im Zuge der Dreifelderwirtschaft - mit ihrem
hohen Stickstoffanteil die Felder zugleich düngten und
Stallfütterung ermöglichten.
86
Katzenrütihof besucht und stand in regem Kontakt mit Johann
Caspar Hirzel, dem Entdecker des ‚philosophischen Bauern‘:
„Aber wenige Jahre, ehe ich diese Gegend kennenlernte,
hatte man im Dorfe Lupfig, das an Birr, woselbst ich mich
ankaufen wollte, anstoßt, eine Mergelgrube entdeckt, die zur
künstlichern Anlegung von Matten ganz ausgezeichnete
Wirkung hatte, und zugleich zeigte sich, daß in den
trockensten Gegenden des kalkartigen Bodens, der am Fuß
des Bruneggergebirges hinter Birr liegt, die Esparsette ohne
Dünger mit entschiedenem Erfolg angebaut werden könnte.
(…) Gestützt auf die ökonomischen Kräfte und die
Mitwirkung, die mir das Verhältnis mit dem Handelshause,
das sich zu diesen Endzwecken mit mir verband,
vollkommen zuzusichern schien, nahm ich augenblicklich
den Entschluß, sechs- bis achthundert Juchart von diesem
Land um den Spottpreis, um den es damals zu haben war,
so geschwind als es tunlich zusammenzukaufen“126.
Als Makler beim Ankauf des Landes bediente sich Pestalozzi
des Großbauern, Wirtes und Metzgers Heinrich Märki aus
Birr, der sich an dem Gimpel aus der städtischen Welt eine
goldene Nase verdiente: Märki „wurde ein reicher Mann um
Pestalozzi“127. Dieser Mann wird in Pestalozzis Rückblick zum
Urbild des ‚Vogt Hummel‘ im Roman.
Die Verbindung des dummen und kulturfremden Städters mit
dem reichen Großbauern führt in der ländlichen
Klassengesellschaft zu Spannungen, zumal jener durch seine
126
127
GA VIII, S. 444)
SW II, S. 467, Komm.
87
Ankäufe auf dem Birrfeld der armen Bevölkerung ihre
„schlechte dürre Schafweide“128 entzog. Sein Unternehmen
wurde selbst von den eigenen Arbeitern als ein
„Narrenstreich“129 glossiert, der unausweichlich zum Ruin
führen müsse. Pestalozzis Kreditgeber, die Familie Schultheß
zum gewundenen Schwert, kam diese ungünstige Prognose zu
Ohren. Sie schickte zwei ‚Wirtschaftsprüfer‘, Ludwig Meiß und
Hans Rudolf Schinz, die ungünstig über das Unternehmen
urteilten. Sie teilten im Kern die Meinung der
Dorfbevölkerung über den „vorwitzigen Herrenbauer(n)“130. Die
Kreditgeber zogen sich unter Verlusten aus dem Geschäft
zurück.
Natürlich gibt es die uferlose Apologetik der PestalozziJünger, die vor allem die Hungerjahre 1770/71 für die
Insolvenz des späteren Pädagogen verantwortlich machen
möchten. Ihnen aber widerspricht Pestalozzi selbst, der im
‚Schwanengesang‘ schreibt:
„(D)er Grund des Scheiterns meines Unternehmens lag
nicht in ihm, er lag wesentlich und ausschließlich in mir und
in meiner zu jeder Art von Unternehmung, die praktisch
ausgezeichnete
Kräfte
anspricht,
pronunzierten
Untüchtigkeit“131.
Angemessener ist wohl Otto Hunzickers Urteil über
Pestalozzis Scheitern:
128
GA VIII, S. 444
GA VIII, S. 445
B II, S. 357
131
GA VIII, S. 446
129
130
88
„Er hatte bei aller Billigkeit seine Landstücke zu teuer und
am unrechten Orte gekauft; die Krappkultur gedieh nicht, der
Hausbau verschlang unverhältnismäßige Summen“132.
So begann unter dem Druck der Verhältnisse eine neue Phase
ökonomischer Spekulation. Pestalozzi entwarf „ein neues
Unternehmen, zu dem ihn seine Traumsucht hinführte“133, die
Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof.
Der Grundgedanke besaß angesichts der wirtschaftlichen
Lage geschäftliche Plausibilität. Johannes Niederer,
Pestalozzis späterer Mitarbeiter, schreibt:
„Es war im eigentlichen Sinne ein ökonomischpädagogischer Spekulationsversuch. Sein Landeigentum
war kultivierbar, aber durchaus unangebaut und verwildert.
Er wollte es durch Benutzung ebenso vernachlässigter und
verwilderter menschlicher Kräfte anbauen und in Aufnahme
bringen“134.
Durch eine Verbindung von Waisenfürsorge, Pädagogik,
Landwirtschaft und Heimindustrie glaubte Pestalozzi,
ökonomisch überleben zu können. Er knüpfte Kontakte zu
Garn-Verlegern, bat in Iselins ‚Ephemeriden der Menschheit‘
132
Otto Hunzicker: Pestalozzi auf dem Neuhofe. In O.H.: Heinrich
Pestalozzi. Vorträge, Reden und Aufsätze. Zur hundertsten
Wiederkehr von Pestalozzis Todestag gesammelt und mit einer
Einführung versehen von Rudolf Hunzicker. 261. Neujahrsblatt der
Stadtbibliothek Winterthur 1927, Winterthur 1926; S. 36 – 64, hier:
S. 40
133
GA VIII, S. 447
134
zit. N. O. Hunzicker, a.a.O., S. 40
89
„Menschenfreunde und Gönner“135 um Unterstützung für sein
Projekt, wobei er kindliche Arbeitskraft wie Ware auf seinen
Hof orderte:
„Wegen dem Transport ist es mir unmöglich ein expresses
Gefehrt nach Basel zu schikken. Ich habe [den Basler
Kaufmann Sarasin] gebeten, (…) mit aller möglichen
Sorgfalt zu sorgen, daß die Kinder wohl besorgt auf Brugg
spedirt werden, wo ich sie dann abholen werde. Sie dörfen
also ruhig sie an ihn addressiren. Ich erwarte mit Vergnügen
die angezeigte Anzahl Kinder“136.
Es ist eine durchweg kaufmännische Sicht der Dinge, die sich
in der Wortwahl des vorgeblichen ‚Armenvaters‘ offenbart.
1778 schrieb er an Iselin:
„Die Sach selbst wird das Gescheft meines Lebens“137.
Noch deutlicher wird die ausschließlich profitorientierte
Natur von Pestalozzis Armenanstalt in einem Brief, den er im
September 1778 an seinen Schwager schickte:
„Aus diesen Betrachtungen über die Natur der
Unternehmung fließet, daß das Wesen des Plans darin
bestehet:
1. Es soll durch den Fortgang der Unternehmung die
Erhöhung des Capitalwehrts meiner Besizung erziehlet, der
Jahresabtrag sich merklich vermehren und die zum
Endzwek der Capitalerhöhung des Gutwerths vertheilhafften
135
SW I, S. 137
B III, S. 52
137
B III, S. 69
136
90
Umstände des Locals benuzet werden.
2. Der Jahrproduct des Gutes soll durch Daseyn eines
arbeitenden und ihn aufzehrenden Hauses in seinem innern
Werth erhöhet werden.
3. Wann den Bedürfnissen der Anstalt genug getan worden,
so soll dann kein weiter Persohn in der Anstalt stehen, die
nicht einzeln ihr Brod verdient, folglich die Anstalt nicht in
Risico gesezet werden.
4. Das Anwachsen der Kinder wird die Anstalt des Steigens
ihres Verdienstes in einer stärkeren Progression versichern.
5. Die Verfeinerung der Tücher soll durch Annahme guter
Webermeister und die Verfeinerung des Gespunstes durch
mitarbeitende Spinnerinnen zu erreichen gesucht werden.
6. Unter diesen Voraussetzungen soll die Vermehrung des
Volkes mit den genausten Anorden gesucht werden, weil sie
auf diesem Fuß ohnfehlbar Erhöhung des Abtrags der
Unternehmung seyn muß.
7. Man wird durch aljährliche Vermehrung der
Landesproducte aljährlich die Geldausgabe zu verringern
suchen.
8. Man wird nach in Ordnung gebrachter Unternehmung
alles thun, den Schuz der Obrigkeit und die Hülffe der
Wohlthettigkeit für das Unternehmen zu erhalten“138.
Von einem pädagogischen Impetus ist in diesem ‚BusinessPlan‘ nichts zu spüren. Selbst noch die Liebe, die der
Anstaltspatriarch zu erweisen gedenkt, ist Teil eines auf
Rendite gerichteten Kalküls:
138
B III, S. 63 f
91
„Es ist nicht möglich, daß diese Kinder alle, nachdem sie
viele Jahre mein Herz mit Vattertreu genossen und unter
ihren Bedürfnissen genugthuenden Umständen mit aller
Liebe, Aufmunterung und Entwicklung, die die Anstalt geben
kann, angeführt worden, nicht mein Haus, auch wann sie
ausgelehrt, anderen Arbeitsbläzen vorziehen werden“139.
Wir werden sehen, dass Möglichkeiten, dieser Fron zu
entkommen, für die ausgebeuteten Kinder sehr wohl
existierten. Klar ist, dass Pestalozzi kaufmännisch-industrielle
Interessen vertrat, auch um Unterstützung zu finden. Er
kannte die Ideenwelt der frühen Kapitalisten, er stand in
engem Kontakt mit den Basler Kaufmannsfamilien Sarasin
und Battier, und er war über die Familie seiner Frau auch mit
der Zürcher Verlegerideologie vertraut.
Pestalozzi wurde zum unbedingten Befürworter von ProtoIndustrie140 und Freihandel, gewissermaßen zum einem
‚Hayek ante Hayek‘: „Hindernis in Gewinn und Gewerbsamkeit (ist)
die Tyrannei“141, „(d)arum förchtet sich der weise Vater des Landes
vor allen willkürlichen Einschränkungen der Gewerbsamkeit“142,
denn die „Einschränkung der Einfuhr und des Gebrauchs fremder
Waren wird immer ein Beispiel eines unrichtigen Grundsatzes (…)
sein“143. Kaufmännische Interessen sollten die Leitlinien aller
139
B III, S. 59
Als ‚Proto-Industrialisierung‘ bezeichnet die
Geschichtswissenschaft jenen ersten industriellen Take-Off auf Basis
der Heimarbeit, welcher der eigentlichen Industrialisierung
vorausging.
141
GA IV, S. 107
142
GA IV, S. 118
143
GA IV, S. 171
140
92
vernünftigen und aufgeklärten Politik sein, denn „besonders
die Industrie, die muß man gehen lassen, wie sie geht, und sich
biegen und wenden und kehren lassen, wie sie sich biegt, wendet
und kehrt“144. In mittlerer Perspektive würde sich eh die
gesamte alte Ordnung durch die Einbindung der Gesellschaft
in Weltmarktprozesse verändern müssen:
„Aber das Gute und Böse, das diese Umstände hatten, ist
jetzt für Deutschland hin, und sein Bürger ist wahrlich
gegenwärtig an Ost- und Westindien, an Amerika und Asia
angebunden. Seitdem der Priester nichts mehr mit seinem
Mund und der Ritter nichts mehr mit seinem Arm ausrichtet,
seitdem das Geld aus den andern drei Weltteilen sich nach
dem unsern hinlenkt und jedermann alles, was er will, nur
mit diesem auszurichten sucht, seitdem ist der Kaufmann
Meister im Land, und dieser kann mit seinem Perpetuo
Mobili, das immer in seiner Hand ist, die andern Stände, die
sich nicht an ihn schmiegen wollen, gängeln, herumführen
und aufs trockne setzen, daß sie bald reustößig werden,
wenn sie unhöflich waren. Das begegnet sich jetzt zwar
selten mehr; selbst die Fürsten lieben den guten Mann, und
sie haben recht, denn er tut ihnen unvergleichliche Dienste.
Aber dem Bauer und Bürger und Edelmann bleibt nichts
übrig, als sich ins Joch der veränderten Umstände zu
schmiegen oder arm zu werden und sein Haus zu
vernachlässigen und zugrund gehen zu lassen. So tief wirkt
die wesentliche Änderung der Umstände Europas auf alle
seine Teile und jeden einzeln Menschen“145.
144
145
GA IV, S. 233
GA IV, S. 230
93
Von
diesen
irreversiblen
„Revolutionen“146
des
gesellschaftlichen Lebens leitete Pestalozzi die Prinzipien
seiner Armenerziehung ab. Wo die Freiheit nichts anderes
mehr war „als Befreyung von diesen guten Endzweken des
Burgers“147, wo den proto-industriellen Interessen der
patrizischen Kaufherren auf ihrem vorherbestimmten Weg zu
Profitmaximierung und selbstregulierender Marktwirtschaft
die Mentalität der Menschen zum Hindernis wurde, da
musste folglich die Mentalität den neuen Verhältnissen
angepasst werden:
„Der Flor der Handlung, der jetzt unumgängliches Bedürfnis
ist, hangt ganz von der Nationalbildung zu jedem
Raffinement und jeder Biegsamkeit der Industrie ab, und
das ist der Maßstab, nach welchem die Wichtigkeit und
Nutzbarkeit eines jeden Berufs für das Wohl des Vaterlands
abgemessen und beurteilt werden muss“148.
Wer das Wohl des Vaterlandes derart mit dem Wohl der
Industrie parallelisierte, der durfte auch hoffen, das
Wohlwollen und die Unterstützung der Verlegerkaufleute für
seine Projekte zu finden.
Wie eng er seine ‚Pädagogik‘ an die Profitinteressen
patrizischer Unternehmer koppelte, das war Pestalozzi ohne
Zweifel bewusst. Schließlich beruhte sein „große(s) Ideal der
Verbindung von Fabrik, Landbau und Sitten“149 nicht auf
146
Ebda.
SW I, S. 305
GA IV, S. 175
149
GA IV, S. 74
147
148
94
philanthropischer
Herzensgüte
und
auf
sozialem
Verantwortungsbewusstsein, sondern auf ganz handfesten
Argumenten materiellen Eigennutzes. Die Unterstützung, die
er für seine Armenanstalt erhielt, war ein kreditgestütztes
‚Investment‘, das auf die Renditeträchtigkeit pestalozzianisch
geformter Waisenkinder vertraute:
„Ich erwarte selbst nicht von dem Edelmuth und nicht von
der Weisheit meines Geschlechts, sondern nur von seinem
instinktmäßigen Haschen nach Komlichkeit und Gewinn
Handbietung zu meiner Kunst, die mitten in ihren höhern
Zwecken der Neigung zur Kommlichkeit und dem Haschen
nach Vortheil und Gewinn sich so wesentlich anpaßt. Die
Rechnung der Prozente und die Neigung zum Mittagsschlaf
wird mich gegen den ganzen Aufruhr politischer und
kirchlicher Routiniers, die mir entgegenstehen, beschützen,
nicht meine Wahrheit, sondern meine bessere Sorge für den
Instinkt wird mich schnell und sicher siegen machen“150.
Pestalozzis Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof
existierte von 1774 bis 1780. Mit der Produktion begann er in
einer Scheune seines Anwesens, wo er eine
Baumwollspinnerei, eine Färberei, eine Weberei und eine
Druckerei einrichtete. Den Vertrieb der fertiggestellten
Tücher versuchte er als ‚Fergger‘ oder Austräger zunächst
selbst zu übernehmen, scheiterte jedoch an der
Mehrfachbelastung als Fabrikant, Händler und Pädagoge151.
Er reduzierte schon bald das Anwesen auf die bloße
Spinnerei. Schon 1775 musste er die Öffentlichkeit um
150
151
B IV, S. 98
vgl. O. Hunzker, a.a.O., S. 41
95
Unterstützung angehen, allerdings mit beachtlichem Erfolg.
Der Zürcher Landpfarrer Rudolf Schinz, der Pestalozzis
Unternehmung kritisch betrachtete, schreibt:
„Für Zürich machte Pestalozzi mich zum Sammler. Ich
erhielt einen ziemlich bedeutenden Betrag auf mehrere
Jahre. Ratsschreiber Iselin in Basel erwies sich in jener
Stadt als vorzüglicher Beförderer und Gönner dieser Anstalt.
Sarasin und viele andere reiche Basler opferten beträchtlich
für diesen Zweck. In Bern wurden die Herren von
Graffenried, von Burgistein und Junker Effinger, Herr zu
Wildegg, ganz von Pestalozzis Idee belebt. Sie hielten diese
Privatanstalt der Aufmerksamkeit ihres Staates würdig, und
wirklich begünstigte der Stand Bern Pestalozzis Anstalt
durch verschiedene mittelbare Beiträge und ließ Kinder aus
verschiedenen Ämtern dahin versorgen“152.
Man könnte sagen, die reichen Kaufleute, Patrizier und
Verleger einer damals noch florierenden Heimindustrie
glaubten, mit Hilfe Pestalozzis zwei Fliegen mit einer Klappe
zu schlagen: Einerseits ließen sich so viele neue Hände für das
Fabrikgewerbe gewinnen, andererseits würde der
‚aufdringliche Bettel‘, also die vagierenden Unterschichten
und Schachenbewohner153, von den Straßen verschwinden.
Trotz aller Unterstützung war Pestalozzis Anstalt im Jahr 1780
insolvent. Die Ursache hierfür allein in Pestalozzis mangelnder
152
Zit. N. O. Hunziker, S. 42
Als ‚Schachen‘ bezeichnete man die engen, steinigen und
unfruchtbaren Bachtäler, wo sich die Armut drängte,
gewissermaßen die ‚Slums‘ der frühen Industrialisierung in der
Schweiz.
153
96
Geschäftstüchtigkeit suchen zu wollen, in den ökonomischen
Defiziten des fürsorglichen ‚Menschenfreundes‘ und
‚Armenvaters‘, greift jedoch zu kurz. Pestalozzi hatte schlicht
die ‚Objekte‘ seines Plans nicht in die Bilanz seines Projektes
eingestellt, ‚Objekte‘, die sich rasch als höchst widerspenstige
‚Subjekte‘ für seine Pläne erwiesen. Pestalozzis Ziele
scheiterten im Kern an der Volkskultur.
Die Klage über den ‚Undank‘ der Armen durchzieht nahezu
alle Zeugnisse Pestalozzis aus jener Zeit. Er litt unter den
Zornausbrüchen jener Eltern, die andere Zöglinge als „zu
Fabrikendzwecken gezogene Kinder“154 erwarteten:
„Mein Haus war alle Sonntage von Müttern und Verwandten
solcher Kinder, die den Zustand derselben ihren
Erwartungen nicht genugtuend fanden, voll. Alle
Anmaßungen, die sich verzogenes Bettelgesindel in einem
Hause, das weder öffentlichen Schutz noch imponierendes
Ansehen in seinem Äußern hatte, erlaubt, wurden von ihnen
gebraucht, um ihre Kinder in ihrer Unzufriedenheit zu
bestärken, und einige wagten es sogar, mir geradezu zu
sagen, der Herr von A., der Herr von B. und der Herr von C.,
auf dessen Rat sie mir ihre Kinder übergeben, werde ihre
diesfälligen Klagen gewiß ebenso wahr finden als sie selber.
Und es war wirklich so. Hie und da spürte ich gar bald den
Einfluß solcher protegierten Bettelväter und Bettelmütter auf
Personen, die mir diese Kinder übergeben oder empfohlen
hatten“155.
154
155
GA IV, S. 47
GA VIII, S. 450
97
Bruchlos, als Faktum der Realität, existierte jene
volkspädagogische Allianz aus Kirche, Lehrern und Obrigkeit
eben nicht, die Pestalozzi später in seiner Utopie von
‚Lienhard und Gertrud‘ so idyllisch beschreiben sollte. Jene
patrizischen Landvögte, auf die Pestalozzi in seinem Zitat
anspielte, verhielten sich nicht nur den Städtern gegenüber
diplomatisch, sondern auch ihrem dörflichem Umfeld. Sie
handelten ‚patriarchalisch‘ in einem gewohnheitsrechtlichen
und bräuchlichen Sinn.
Auch die Kontinuität im Projekt war stets gefährdet.
Pestalozzi hatte auf eine kurze zuschussbedürftige
Anlernphase gehofft, auf die viele Jahre gewinnbringender
Produktivität folgen sollten. Diese Hoffnung entpuppte sich
als eine Luftblase:
„Andere ganz verwilderte Kinder wurden mir bei Nacht und
Nebel, sobald sie gebildet waren, in ihren Sonntagskleidern
entführt, und ich fand an den Orten ihrer Wohnung gar oft
eine merkliche Unbereitwilligkeit der Behörden, sie mir mit
Vertrauen, ohne Umschweife und Weitläufigkeiten, wieder
zuführen zu lassen“156.
Für Pestalozzi hatte dieses eigensüchtige Verhalten der
Eltern, welche die Produktivität ihres Nachwuchses im
‚ganzen Haus‘ fortan selbst zu nutzen gedachten, die
Konsequenz, dass aus ihm der ‚Waisenvater‘ wurde. Er setzte
auf elternlose Kinder, da hier die Gefahr der Entführung nicht
bestand und sein Plan zur „Erhaltung der ausgebildesten
156
GA VIII, S. 450
98
Arbeiterpflanzschul, zum größten zur möglichsten Verfeinerung
emporstrebenden Etablissement“157 weiterhin realisierbar schien:
„Ich nehme gern Kinder von sechs Jahren, aber ich will denn
ihres Bleibens bis ins sechzehnte Jahr versichert syn.
Überhaupt ist das tiefste Ellend und würkliche Noth, woher
ich am meisten Kinder wünschte: Weysen“158.
Nicht nur die Eltern, auch die Kinder selbst waren eine
widerspenstige Meute, die sich den Anordnungen ihres
‚Armenvaters‘ mehr beugte als fügte. Das Benehmen der
Zöglinge beschrieb er 1778 unter dem Titel ‚Bruchstücke aus
der Geschichte der nidrigsten Menschheit‘: Einer von ihnen
„sträubte sich gewaltig gegen die notwendig geforderte
Arbeitsamkeit und Gehorsam“159, über einen anderen Zögling
heißt es, „Verdacht, Geiz, niedere Verschlagenheit sticht aus jedem
Blick hervor“160. Pestalozzi klagte über „eine unbeugsame
Halsstarrigkeit gegen alles Gute“161, ein anderes Kind wurde
beschrieben als „schlau, heimtückisch, argwöhnisch und
ungenügsam“162, das nächste als „mit gefährlicher Verstellung“163
begabt. Freude bereitete ihm allein „ein gebrochenes Kind“,
denn es besäße „Aufmerksamkeit, Andacht und Empfindsamkeit im
Beten“164. Resümierend stellte Pestalozzi fest, dass er „in der
157
B III, S. 58
B III, S. 56
159
GA IV, S. 78
160
GA IV, S. 79
161
GA IV, S. 88
162
Ebda.
163
GA IV, S. 91
164
GA IV, S. 90
158
99
Ungenügsamkeit, in dem Stolz und dem Undank des Armen die
größten wirklichen Schwierigkeiten finden (mußte)“165.
Ein zweites Problem kam hinzu: Die Verwandtschaft der
Kinder versuchte, selbst Profit aus dem erworbenen Können
zu ziehen. Pestalozzi litt unter der „Undankbarkeit naher Eltern
von Kindern in meiner Anstalt“:
„(S)ie verführen ihre zur Arbeit gezogenen Kinder zum
Weggehen, und der Schaden, den ich dadurch leide, macht
mir wegen der Verspätung meiner Endzwecke oft viel
Unmut“166.
Rückblickend schrieb Pestalozzi im ‚Schwanengesang‘ über
seine Erfahrung mit den dörflichen Unterschichten:
„(U)nter diesen waren sehr viele im höchsten Grad
verwilderte und, was noch schlimmer war, im Bettelstand in
einem sehr hohen Grad verzärtelte und dabei protegierte
und durch frühere Unterstützung anspruchsvolle und
anmaßliche Kinder, denen die kraftvolle Bildung, die ich
ihnen nach meinen Zwecken geben wollte und geben sollte,
zum voraus verhaßt war. Diese sahen den Zustand, in dem
sie bei mir waren, als eine Art Erniedrigung gegen
denjenigen, in dem sie sich vorher befanden, an“167.
Ganz offensichtlich war diese „kraftvolle Bildung“, die in täglich
acht Arbeits- und sechs Schulstunden168 bestand, den Kindern
165
GA IV, S. 85
GA IV, S. 82
GA VIII, S. 449
168
vgl. B IV, S. 24
166
167
100
wie auch den Eltern nicht vermittelbar. Die neue industrielle
Arbeitsnorm widersprach schlicht den Normen der ländlichen
Gesellschaft.
Das Neuhof’sche Erziehungsziel, dass der „Arme (…) zur Armut
auferzogen werden (muss)“169, scheiterte unter anderem
deshalb, weil das Modell kaum soziale Perspektiven bot. Die
Arbeitsverhältnisse sollten nicht etwa geändert werden, jeder
Aufstieg war ausgeschlossen, die bitteren sozialen
Verhältnisse blieben erbarmungslos wie zuvor. Pestalozzis
Welt kannte keinerlei Emanzipation:
„[Der Arme] soll die notwendigen Beschwerlichkeiten der im
Land üblichen Unterhaltungswege ohne Folgen tragen, das
heißt an einem Ort: er soll die Feuchte des Webkellers nicht
scheuen; an einem andern: er soll des Baumwollenstaubes
gewohnt sein, oder auch das ekle Fett der Wolle soll ihm
nicht widrig vorkommen. Hier ist der ekle Duft der
Dunglache Verdienst, dort – ich will mehrern Detail meiden,
aber es ist gewiß: offne Luft, Durchzug, geschlossene
Dümpfewärme soll keinen widrigen Einfluß auf ihre
Gesundheit machen. Seine Auferziehungsstube soll seiner
künftigen Wohnstube, soviel möglich, gleich sein; er soll in
der engen Arbeitsstube nach dem Willen anderer sich zu
schicken lernen“170.
Wo Pestalozzi in seinen Berichten die schwachen Nerven
seiner bürgerlichen Leser vor ‚mehrern Details‘ schonte, sah
seine Pädagogik keine Schonung für die Unterschichten vor.
169
170
GA IV, S. 40
GA IV, S. 42
101
Sie sollten ohne Barmherzigkeit an die proto-industriellen
Arbeitsverhältnisse angepasst werden.
In Briefen an seine Gönner, versuchte Pestalozzi die nahende
Insolvenz natürlich zu verschleiern. Von den Schwierigkeiten,
die ihm die Mentalität der Landbevölkerung bereitete, ist dort
keine Rede. An den reichen Basler Kaufmann Sarasin schrieb
er:
„Ja, mitten in allen Schwirrigkeiten erhöhet sich der Abtrag
der Arbeitssamkeit täglich, und der Kinder sind jez schon
vierzig; und im Frühjahr biete ich allen Krefften auf, sie sehr
zu versterken. Die Zeit, in der ich noch aufopfere, wird sehr
bald enden, und die Tage des Genusses aller dieser
Vorarbeit werden alles ersezen!“171
Bei allem zu Schau getragenen Optimismus war Pestalozzi
sozial in der ländlichen Gesellschaft längst völlig isoliert. Nach
dem Scheitern des Neuhof-Projektes berichtet Georg Heinrich
Nicolovius von einem Besuch bei Pestalozzi im Jahr 1791:
„Der arme Planmacher wurde der Einsamkeit und rohen
Landleuten überlassen, die keine Scham in der Verachtung
des Manns mehr kannten, der in der Vermessenheit, einer
ihre Gleichen zu werden, gescheitert ware. So lebte er eine
Reihe von Jahren in Schande und Schimpf, ohne Freund,
ohne Buch oder Feder, mit seiner ganzen Kraft auf sich
selbst eingeschränkt, und gerieth im Brüten über sich und
die Menschheit an die Grenzen des Wahnsinns“172.
171
172
B III, S. 54
zit. n. B III, S. 511
102
Der Konflikt mit der Landgesellschaft blieb eine Konstante in
Pestalozzis Leben. Später, schon zur Zeit der Helvetik, schrieb
er über sein Verhältnis zum Landvolk ringsum:
„Oeconomisch werde ich mißhandelt und ohne alles
Verheltnis ausgesogen. Und allenthalben streut man in den
Dörfern in meiner Nachbarschaft aus, ich sye die Schuld,
daß die Franzosen im Land syen, und sagt öffentlich, man
werde bei erster Gelegenheit mich todschlagen“173.
Der ‚Volksfreund‘ Pestalozzi genoss zeitlebens nur auf dem
Papier ‚Freundschaft im Volk‘. Schon sein erstes Scheitern als
‚Armenvater‘ auf dem Neuhof erweist sich damit als
fehlgeschlagener Versuch einer pädagogisch-ökonomischen
Spekulation, welche die Resistenz und die Widerstandskraft
der Dorfgesellschaft gegen volksaufklärerische Reformen
unterschätzte.
In dem Volksroman ‚Lienhard und Gertrud‘ aber, den
Unverständnis für die ländliche Realität, Hass gegen die
bäuerliche Mentalität und fehlende Einsicht in die eigene
Unfähigkeit prägen, würde Pestalozzi jetzt das gescheiterte
Armenerziehungsprojekt zumindest auf dem Papier gelingen
lassen. Hier konnte er in einer literarischen Utopie die
Bedingungen so stellen, wie er sie in der Realität nicht
vorfand.
Als erste Konsequenz aus dem selbstverschuldeten Ruin der
Armenerziehungsanstalt wurden hier nicht mehr nur die
Kinder der Pädagogik unterworfen, sondern die gesamte
173
B IV, S. 73
103
dörfliche Lebenswelt. Dieses fiktionale Neuhof-Projekt
umfasste ein ganzes Dorf mit allen Bewohnern. Hierin liegt
noch heute die literarische Bedeutung des Romans, weil ex
negativo immer die ‚wahren Verhältnisse‘ durchscheinen.
‚Lienhard und Gertrud‘ ist daher eine Form der literarischen
Bewältigung einer gescheiterten privaten Praxis, zugleich aber
auch eine erneute Spekulation auf einen überschäumenden
Markt für volkspädagogische Literatur. Wunschglaube und
vielleicht Bemühen um eine Stellung bleibt dennoch diese
Behauptung Pestalozzis über sein Buch:
„Vom Thron bis auf den Bettler vereinigten sich alle
Stimmen, daß mein Buch Wahrheit vom Volk und fürs Volk
redet“174.
Diese Bemerkung setzt einen Konsens zwischen Obrigkeit und
Landbevölkerung voraus, der zu jener Zeit einfach nicht
existierte. Weder Bauern noch Bettler lasen ‚Lienhard und
Gertrud‘. Das Buch blieb ein ‚Salonerfolg‘.
2.2. Mit den Bettlern gegen die Bauern
Die Bauerngesellschaft im Roman ‚Lienhard und Gertrud‘
prägt eine soziale Dichotomie, wie sie auch der Realität
entsprach. Klassen entstanden bekanntlich nicht erst durch
Industrialisierung und Kapitalismus. Auf den Dörfern
existierte eine ‚statische Klassengesellschaft‘. War ein Huber
oder Märkli erst einmal in die Unterschicht abgesunken, so
174
B III, S. 288
104
blieben seine Nachkommen auch Bettler und Häusler über
Generationen hinweg. Ein sozialer Aufstieg kam in diesen
Gesellschaften kaum vor.
Auch das Dorf Bonnal im Roman ist solch ein ‚traditionales
Dorf‘. Es zählt nicht zu den ‚Fabrikdörfern‘ rings um Zürich,
denen die Leinenkonjunktur einen kurzfristigen Wohlstand
bescherte, sondern zu den alten Dorfgemeinden, wie sie
Pestalozzi 1782 im ‚Schweizerblatt‘ in einem Aufsatz mit dem
Titel ‚Über den Bauern‘ beschrieb:
„Ich folge in meinem Urteil genau meinen Erfahrungen. Ich
kann nicht verleugnen: Ich finde Gegenden in tiefem,
erschröcklichem Elend; ich sehe das Volk ohne Kleider,
ohne Brot, ohne Fleiß, ohne Ordnung, ohne Treu, ohne
Ausbildung des Geistes und des Herzens, heute erdrückt
von Arbeit, morgen verfaulend im Müßiggang; ich sehe das
Volk eingeteilt in Bauern (Landeigentümer) und Tauner
(Tagelöhner); ich sehe diese ohne Eigentum, abhängig,
elend, niedergedrückt und lasterhaft, und ihre Herren wie sie
selber arm, unanstellig, unvermögend und entblößt von allen
beruhigenden Lebensgenießungen; ich sehe sie mitten im
Besitz großer Höfe ohne Genuß ihres Eigentums, hartherzig
und gewalttätig gegen die mehreren, die kein Eigentum
haben“175.
Hell und wie ein Gegenbild zu diesen versumpften Zuständen
leuchtet hingegen das utopische Beispiel der kurzatmigen
Proto-Industrialisierung. Gemeint sind die Fabrikdörfer rings
um den Zürichsee:
175
GA IV, S. 223
105
„Hingegen sehe ich dann wieder an Orten, wo der
Fabrikerwerb fast die einzige Quelle des Unterhalts ist, das
Hausglück des Volkes wohlgesichert“176.
Dieses Bild musste aber solange eine Utopie bleiben, bis es
die Pädagogik zu verwirklichen begann. Denn in den
Fabrikdörfern herrschten keineswegs jene Zustände, die
Pestalozzi hier verklärte. In ihrer ‚Sittlichkeit‘ unterschieden
sich die proto-industriellen Schachendörfer noch kaum von
den landwirtschaftlichen Bauerngemeinden:
„(W)enn die mehreren Einwohner unter dem Druck der
reichen Landbesitzer schon in tiefster Niedrigkeit und Armut
gesteckt und längst beinahe ohne Herdbesitzung und
Eigentum gelebt, so bleiben sie in den meisten Fällen auch
bei dem Verdienst der Fabrikarbeit ein Lumpengesindel, wie
sie es in ihrem vorigen Bettlerzustand schon waren. Bei dem
besten Verdienst nichts Übernächtiges haben, Fressen,
Saufen, Stehlen und alle Arten von wilder Unsittlichkeit und
Unordnung wird in dieser Lage des Dorfs allgemeine
Volkssitte“177.
Diese Schilderung entsprach der Ausgangslage Bonnals. Das,
was Pestalozzi zur Abhilfe im ‚Schweizerblatt‘ empfahl, wurde
das große volkspädagogische Thema des Romans. Die Tauner
und Häusler sollten mit Hilfe der protoindustriellen
Konjunktur aus bäuerlicher Abhängigkeit zu einem bürgerlichtugendhaften Leben geführt werden. Hierzu bedurfte es der
Hilfe der Obrigkeit:
176
177
GA IV, S. 224
GA IV, S. 211
106
„(D)er Mangel dieser aufmerksamen Sorgfalt der obern
Stände und eines der veränderten Lag des Volkes
angemessenen Einflusses scheint mir hie und da die
Hauptursach zu sein, warum der an so vielen Orten erhöhte
Volksverdienst das Hausglück desselben so wenig erhöht.
Die Erfahrung scheint auch meiner diesfälligen Vermutung
das Wort zu reden. Ich sehe nur da das Hausglück in
Fabrikdörfern gesichert, wo die Schulen wohlbestellt, wo die
Jugend in Ordnung gehalten, gute Sitten geehrt und die
Justiz mit einfacher, den frommen, stillen und unbeschützten
Mann im Land in ihre Arme aufnehmender Einfalt verwaltet
wird“178.
Die Umformung des landwirtschaftlichen Dorfes Bonnal zu
einem solch einfältigen-fleißigen Fabrikdorf, bewohnt von
sittlichen und obrigkeitstreuen Bewohnern, setzte sich
Pestalozzis Roman zum Ziel. Nicht nur literarisch, denn die
Handlung des Romans drängte auf Umsetzung in die Praxis.
Das Buch verstand sich als Handlungsleitfaden für das Projekt
der Volksaufklärung.
Pestalozzi selbst verwandte seinen Roman auch als
Programmschrift bei der Stellungssuche als Pädagoge. Unter
Verweis auf dieses Buch bot er sich sowohl der
österreichischen wie auch der französischen Regierung an als
Verwandler der Volkssitten von roher Verwilderung hin zu
arbeitsamer Einfalt. Die verschiedenen Umarbeitungen waren
Anpassungen an die politischen Bedürfnisse potentieller
Auftraggeber, denen er mit Hilfe seiner Methode ‚gute
Untertanen‘ versprach.
178
GA IV, S. 226
107
2.3. Die Schrecken der ‚alten Ordnung‘
Zwischen dem 1781 erschienenen ersten Teil des Romans und
den nachfolgenden nahm Pestalozzi eine strikte Trennung
vor. Nur der erste Teil sei ein ‚Volksbuch‘, die drei weiteren
Teile seien hingegen für ein gebildetes Publikum bestimmt:
„Die drei späteren Teile von diesem Buche sind als eine
bestimmte Folge dieses Vorsatzes und in dieser Rücksicht
in Verbindung mit dem ersten Teil als eigentlich für die
kultuvierten Stände geschrieben anzusehen, da hingen der
erste Teil an sich von mir immer als ein von den andern
gesondertes, in die hand der gemeinen Haushaltungen
gehörendes Volksbuch behandelt und betrachtet worden
ist“179.
Es empfiehlt sich daher, bei der Untersuchung ebenfalls eine
Trennung vorzunehmen. Dieser Aufsatz trennt, entgegen den
Intentionen Pestalozzis, allerdings die ersten beiden Teile von
dem dritten und vierten Buch. Die beiden ersten Bücher
behandeln die Verderblichkeit der alten Dorfordnung und
ihren Sturz, sowie die ‚moralische Erweckung‘ der
Dorfbewohner zu einem neuen Leben. Die Beschreibung
konkreter ökonomischer und administrativer Maßnahmen
setzt dann erst mit dem dritten Teil ein, erst hier wird auf
einem höheren Abstraktionsniveau argumentiert.
Zu Beginn des Romans herrscht über das Dorf Bonnal der
reiche Wirt Hummel. Der ist als Untervogt auch der dörfliche
Verwalter aller herrschaftlichen Angelegenheiten. Damit
179
GA VIII, S. 460 f
108
nimmt er eine Mittlerstellung zwischen der dörflichen und
der patrizisch-städtischen Lebenswelt ein. Seine Macht wird
von der Herrschaft, von dem alten Herrn von Arnheim, nie
hinterfragt. Adlige und bäuerliche Obrigkeit regeln anfänglich
die
dörflichen
Angelegenheiten
in
beiderseitigem
Einvernehmen, wobei die Obrigkeit in der Argumentation
Pestalozzis entlastet ist, weil sie der korrupte Dorfvogt
Hummel arglistig täuscht.
Der Roman beginnt mit dem Tod des alten Herrn. Sein Enkel,
Arner von Arnheim, tritt die Nachfolge an. Der verhält sich
gegenüber der alten Ordnung innovativ und versucht die
ökonomischen Grundsätze der Volksaufklärung umzusetzen,
von der Allmendaufteilung180 bis hin zum Verbot der
Quacksalberei. Der junge Arnheim gerät prompt in Konflikt
mit dem Untervogt Hummel, der diese neue Ordnung
öffentlich eine „Lumpenordnung“181 nennt. Und wirklich
protegiert Arner die Lumpen im Dorf, das „Bettelgesindel“182 in
den Augen der Bauern. Von dem neuen Herrn sagen sie: „Er
sei in keinem Punkt und in keinem Artikel von allen zwölfen mit dem
Alten des gleichen Glaubens“183. Das Credo Hummels und der
180
Die ‚Allmende‘ war – unter unterschiedlichen Bezeichungen –
europaweit jenes ‚Gemeinland‘, dessen Nutzung allen Dorfgenossen
zustand. Das System führte zwar zu stark vernachlässigten Flächen,
weshalb es den Aufklärern ein Dorn im Auge war. Andererseits
gestattete es den Armen, bspw. zumindest selbst eine Ziege – die
sog. ‚Bettlerkuh‘ – zu halten.
181
LG, S. 149
182
LG, S. 19
183
LG, S. 26
109
anderen Bauern hingegen lautet: „Wir wollen beim alten bleiben
(…). Es kömmt nie nichts Bessers hintennach“184.
Diese ‚Querelle des Anciens et Modernes‘ im ländlichen Raum
ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Die zahllosen
charakterlichen Defekte und die kriminelle Wirtschaft des
Dorfvogtes haben in diesem Zusammenhang die Funktion,
eine divergierende soziale Ordnung, nämlich die traditionale,
durch fiktionale Mittel anzuschwärzen. Die neue Ordnung
taucht Pestalozzi hingegen in mildes Licht. Im Kern zielt sie
darauf, die Herrschaft der Bauern über die dörflichen
Unterschichten zu brechen und durch die Herrschaft der
Obrigkeit (oder ‚der Stadt‘) zu ersetzen. Ein neues soziales
Bündnis wird im Dorf Bonnal geschmiedet, eines, das
geeignet scheint, die Widerständigkeit des Landvolks zu
überwinden. Symbolisch kommt dies zum Ausdruck, als im
zweiten Buch, nach dem Sieg der neuen Ordnung, die
Dorfvorgesetzten und großen Bauern unter den Augen Arners
vor den Tagelöhnern niederknien müssen, um Abbitte zu
leisten:
„(Arner) befahl hierauf den Weibel, er solle zwölf alte
Männer von den ärmsten aus der Gemeinde an die Plätze
der Vorgesetzten setzen, und die zweiundzwanzig Männer
sollen vor ihnen auf den Knien wegen ihres Vergehens
gegen die Gemeinde hier offentlich um Verzeihung
bitten“185.
184
185
LG, S. 27
LG, S. 292
110
Es ist sicherlich kein Zufall, dass Arner dank der ausgesuchten
Zahl von zwölf Bettel-Aposteln hier zu einer Erlösergestalt
wird. Das politische Ziel, das die neue Herrschaft von Beginn
an verfolgt, wird von dem Dorfvogt Hummel klar benannt:
„Wenn die Junker den Bettlern im Dorf höfelen, so helf Gott
den Bauern. Sie tun das nur, damit sie die Bauern
entzweien, und denn alleine Meister sein“186.
Durch eine Protektion der dörflichen Armut, dies die implizite
Logik des Romans, kann es gelingen, das ebenso
unvernünftige wie widerspenstige System der alten Rechte im
Dorf zu stürzen, um an seiner Stelle die Herrschaft der
Obrigkeit als System der Vernunft zu errichten. Umsturz und
soziale Revolution auf dem Dorf im vorgeblich gemeinsamen
Interesse von Obrigkeit und dörflicher Unterschicht, das ist
damit das große Thema des Romans ‚Lienhard und Gertrud‘.
Es sind eher schlichte Mittel, die Pestalozzi verwendet, um
dem einfachen Volk, den Bettlern und den Tagelöhnern,
einen Herrschaftswechsel plausibel zu machen. Alle Bauern
im Dorf werden einfach schwarz angestrichen. ‚Lienhard und
Gertrud‘ ist wohl der bauernfeindlichste Roman Europas, was
zugleich verdeutlicht, wie hinderlich die ‚alte Ordnung‘ von
den aufgeklärten Eliten wahrgenommen wurde. Die Bauern
Bonnals gönnen ihren Armen nicht das Schwarze unter den
Fingernägeln, sie versuchen ständig, ihnen auch noch das
Letzte zu nehmen. Im Kontrast hierzu handelt die Obrigkeit
aus blanker Menschenliebe, aus purem Wohlwollen und
reiner Gutherzigkeit.
186
LG, S. 35
111
Auch die Armen sind natürlich keine Engel, auch sie sind
verderbt, aber allemal doch zu einem besseren Leben zu
erwecken. Mit der einzigen Ausnahme des intriganten Joseph,
der jedoch als Dorffremder am Ende des ersten Teils ins
Nirgendwo entschwindet187.
Als unverbesserlich, als wahrer Dämon, figuriert hingegen der
Dorfvogt Hummel, der alles zu personifizieren hat, was der
neuen Ordnung im Wege steht. Er erscheint als wahrer
„Satan“188 und als „Schelm“189. Damit sind zugleich jene Werte,
die er kommuniziert, stigmatisiert: die alten Rechte, der
Väterglaube, das Autonomiebestreben, die dörfliche
Jurisdiktion, die in Sprichwörter gefasste Alltagsvernunft. All
dies ist schon deshalb hochkontaminiert, weil es aus dem
Mund des korrupten Dorfvogtes Hummel kommt. Nur die
anderen Bauern, die dumm genug sind, einen Hummel nicht
zu durchschauen, fordern ihn auf:
„Vergebt kein Haar von unseren Rechten!“190
Angestiftet von Hummel findet unter den Bauern eine
förmliche Verschwörung statt, die Solidarität untereinander
wird beschworen:
187
LG, S. 184
LG, S. 20
189
LG, S. 24 / Die Bezeichnung ‚Schelm‘ kam, anders als im heutigen
Sprachgebrauch, zu Zeiten Pestalozzis einer schweren Ehrverletzung
gleich.
190
LG, S. 34
188
112
„Eine Gemeind hat einen Arm, wenn sie zusammenhaltet,
und darf sich alle Stunden mit so einem Jünkerli messen,
wenn‘s Ernst gilt“191.
Buchstäblich alle Elemente und Traditionen einer auf
Erfahrung basierenden dörflichen Sozialverfassung werden im
Roman zu Elementen der Unvernunft, und natürlich auch zu
bloßen Hilfsmitteln des Vogtes, sich auf Kosten der Gemeinde
persönlich zu bereichern. Auf dieser Grundlage ist es in der
Logik des Romans legitim, dass Arner die Allianz von
Herrschaft und Bauern bricht, „daß der junge Herr seines
Großvaters Glauben changiert hat“192.
Pestalozzi setzt auf die Illusion, dass es dem Vogt Hummel nur
um die eigensüchtige Bewahrung seines Wirtsrechtes ginge.
An diesem Streitpunkt jedenfalls lässt er die Diskussion um
die „Rechte im Land“193 entbrennen. Die wahre
Konfliktstruktur wird deutlich, wenn die Reformmaßnahmen
im Detail betrachtet werden. So wird der Sand für einen
Kirchenbau nicht – wie es bräuchlich ist – aus der
gemeindeeigenen Sandgrube geholt, sondern bei einem
privaten Unternehmer gekauft. Ihn bezahlt die Kirche, eine
mögliche Einnahme entgeht somit der geplagten
Gemeindekasse. Zugleich ist hierzu eine Verletzung der
komplizierten Wegerechte erforderlich, welche die dörfliche
Zelgenwirtschaft regeln194.
191
LG, S. 277
LG, S. 26
LG, S. 34
194
LG, S. 50
192
193
113
Auch das medizinische Wissen des ‚Quacksalbers‘ bzw.
Dorfarztes Treufaug – nomen es omen – wird entwertet.
Hartknopf, der als Ehegaumer Angehöriger des dörflichen
Kirchenrates ist, der damit über die Einhaltung von Glaube
und Sittlichkeit zu wachen hat, wird als abergläubischer Tropf
lächerlich gemacht. Zugleich wird seine Kontrollfunktion über
die Rechtgläubigkeit des Pfarrers entwertet. Kurzum – alle
‚Funktionäre‘ der alten Dorfgesellschaft trifft der literarische
Bannstrahl Pestalozzis.
Als Hartknopf Arner auffordert, auf den neuinstallierten
Pfarrer Einfluss zu nehmen, damit der wieder den rechten
Glauben lehre, wird er dem aufgeklärten Spott preisgegeben,
seine Forderung auf Gespensterfurcht reduziert. Der Junker
solle dafür sorgen, „daß der Herr Pfarrer in Zukunft, wegen dem
Teufel, unsere Kinder auf den alten Glauben lehre, und nichts mehr
gegen die Gespenster rede, die wir glauben und glauben wollen“195.
Die soziale Funktion des Glaubens an Höllenstrafen wird hier
karikiert, während Pestalozzi an anderer Stelle eben diesen
Glauben dann wieder jesuitisch zu nutzen weiß. Indem
nämlich ein inszenierter Teufelsglaube den Vogt Hummel
daran hindert, einen Markstein Arners zu verrücken. Es ist
gewissermaßen ein doppeltes Spiel, das die Volkspädagogik
mit dem Aberglauben treibt. Auch anderer Stelle muss
Pestalozzi den Volksglauben nutzen, um das Bessere
durchzusetzen, so mit der magischen Wirkung des Fluchs196,
195
196
LG, S. 185
LG, S. 248
114
mit Wetterschlägen als Gottesstrafen197, und erneut mit dem
Teufelsglauben198. Der Verfasser selbst aber ist, wie bereits
erwähnt, persönlich ohne jeden Gottesglauben. Pestalozzi hat
die Aufklärung zu seiner Religion gemacht, er will „durch innere
Entwicklung des reinsten Gefühls der Liebe zur Herrschaft der
Vernunft über die Sinne (…) gelangen“ 199. Zur Erziehung des
Volkes aber sind jene Mittel, an die man selbst nicht glaubt,
durchaus erlaubt:
„Ich will mit ihnen vor dem Altar ihrer Gözen hinknien und
nichts weiter thun als mitwürken, sie am Faden ihrer
Teufelsforcht zu dem Grad von Menschlichkeit hinzulenken,
zu dem diese Forcht den Menschen fehig macht“200.
Zu diesem Zweck aber muss dem Volk die Möglichkeit, durch
eigene Interpretationen zur Gotteserkenntnis zu gelangen,
aus der Hand geschlagen werden. Pestalozzi fällt hier weit
hinter die Reformation zurück; er bestreitet dem Volk das
Recht auf Bibellektüre. Ein weiser Fremder mit dem Namen
Jost erläutert den erstaunten Bauern in einem
Wirtshausgespräch diesen emanzipatorischen Rückschritt:
„Tun, was in der Bibel steht, ist unsereinem seine Sache,
und davon erzählen des Pfarrers – Die Bibel ist ein Mandat,
ein Befehl, und was würde der Kommandant zu dir sagen,
wenn er einen Befehl ins Dorf schickte, man solle Fuhren in
die Festung tun, und du dann, anstatt in den Wald zu fahren,
und zu laden, dich ins Wirtshaus setztest, den Befehl zur
197
LG, S. 354 ff
LG, S. 315
s. B III, S. 300
200
B III, S. 309
198
199
115
Hand nähmest, ihn abläsest, und den Nachbaren bei
deinem Glas Wein bis auf den Abend erklärtest, was er
ausweise und wolle“201.
Schon die Kennzeichnung der Bibel als Befehl und Mandat,
zeigt einen neuen obrigkeitlichen Anspruch. Das regierende
Patriziat möchte den Pfarrer zum „zweiten Gesicht der
Herrschaft“202 auf dem Land machen.
Gegen den neuen Pfarrer richtet sich daher folgerichtig ein
Großteil des gesellschaftlichen Gegendiskurses, den die
Bauern in Pestalozzis Roman führen. Die Landbevölkerung
beschuldigt ihn, dass er „ungläubig lehre und predige“203, er sei
„ein Narr, und will nichts glauben“204, „in der letzten Predigt habe er
das Wort Christus kein einziges Mal in dem Mund gehabt“205.
Vertrauen bei den Bauern genießt hingegen ihr Sittenrichter
Hartknopf, er ist die große Autorität in allen religiösen Fragen:
„Er gibt in der Kirche Achtung wie ein Sperber, und ist
imstand, er zählt dem Pfarrer die Hauptwörter des
Christentums an den Fingern nach“206.
Die ‚Bibelfestigkeit‘ liegt damit ganz auf Seiten der Bauern,
weshalb ihnen dies verderbliche Buch auch nicht frommt.
201
LG, S. 113
Christian Simon: Untertanenverhalten und obrigkeitliche
Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im
ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels. Basel u. Frankfurt
a. M. 1981, S. 13
203
LG, S. 181
204
LG, S. 162
205
LG, S. 212
206
LG, S. 212
202
116
Neben der Kirche ist das Wirtshaus das zweite zentrale
Angriffsobjekt Pestalozzis, die Brutstätte des Dorfdiskurses.
Hier droht zu Beginn die Lichtgestalt des Romans, der Maurer
Lienhard, ins Elend und in die Abhängigkeit vom Vogt zu
geraten; hier werden auch die verschwörerischen und
volksverderbenden Pläne des Vogts ausbaldowert; hier zieht
er alle Dorfbewohner in seinen Bann. Kein Wunder, dass
diese Lasterhöhle im Roman zerstört werden muss.
Zu den vielen Inkohärenzen Pestalozzis zählt es, dass er den
örtlichen Gastwirt zum Dämon des Romans macht.
Sozialgeschichtlich waren ‚die Hummels‘ hingegen Motoren
der Innovation im Dorf207. Sie waren welterfahrener als die
Dorfgenossen, alle Neuigkeiten liefen bei ihnen zusammen,
sie
übernahmen
als
erste
eine
modernere
Wirtschaftsgesinnung. Nicht zuletzt Pestalozzi hatte beim
Neuhof-Projekt unter den modernen Spekulationen Märkis zu
leiden - seiner Blaupause für den Hummel im Roman.
Gewissermaßen praktiziert der Gastwirt von Bonnal bereits
eine kapitalistisch und kaufmännisch geprägte Wirtschaft,
allerdings unter dörflichen Bedingungen.
Nicht der Alkoholabusus – die damals kurrente
‚Brannteweinpest‘ – oder das Schuldenmachen stehen im
Zentrum der Kritik Pestalozzis am Wirtshaus. Er zielt vor allem
auf einen konspirativen Ort, auf das Kommunikationszentrum
des Gegendiskurses, auf jene Lasterhöhle, wo sich das
207
vgl. Georg C.L. Schmidt: Der Schweizer Bauer im Zeitalter des
Frühkapitalismus. Die Wandlung der Schweizer Bauernwirtschaft im
achtzehnten Jahrhundert und die Politik der ökonomischen
Patrioten. 2 Bde. Bern 1932, Bd. I, S. 91 u. Bd. II, S. 211
117
Bauerntum gegen die Aufklärung verschwört. Die politische
Funktion des Wirtshauses als Parlament des einfachen
Mannes gilt es zu zerstören, jenen Ort, wo die Bauern sicher
sind „vor den heiligen Knechten des Schwarzen“208. Das
Wirtshaus ist die dörfliche Sozialisationsinstanz schlechthin,
hier formiert sich die anti-obrigkeitliche bäuerliche
Gegenkultur:
„Bei allem Bösen, und selbst bei Schelmentaten wird alles
munter und mutig, wenn viel Volks beieinander ist, und
wenn die, so den Ton geben, herzhaft und frech sind; und
da das in den Wirtshäusern nie fehlt, so ist unstreitig, daß
sie das gemeine Volk zu allen Bosheiten und zu allen
schlimmen Streichen frech und leichtsinnig genug zu bilden
und zu stimmen weit besser eingerichtet sind, als es die
armen einfältigen Schulen sind, die Menschen zu einem
braven, stillen, wirtschaftlichen Leben zu bilden“209.
Das aber ist noch nicht alles. Die Wirtshäuser sind zugleich die
Treffpunkte der ‚dörflichen Intelligenz‘:
„Das größte Lumpenvolk hat die größten Anlagen, und läßt
das Arbeitsvolk Kopfe halber weit hinter sich zurück, auch
findet man fast immer den Baurenrechner im Wirtshaus“210.
Eine ähnlich, allerdings weniger zentrale Rolle weist Pestalozzi
auch den Kirchständen211, den Lichtstubeten212 und den
208
LG, S. 82 / gemeint ist der Pfarrherr
LG, S. 80 f
LG, S. 521
211
Orte, wo man nach dem Kirchgang noch beieinander stand
209
210
118
Gemeindplätzen213 zu – kurzum: allen Orten im dörflichen
Raum, wo ein Diskurs erfolgt214.
Pestalozzi selbst durchbricht verschiedentlich das Klischee
von der angeblichen Hartherzigkeit und Gnadenlosigkeit der
Bauern gegen die Armen, das ansonsten wie ein Leitmotiv
den Roman durchzieht. An solchen Stellen tritt dann die
verborgene Vernunft des bäuerlichen Gegendiskurses zu
Tage, der ansonsten als abergläubisch und unvernünftig
stigmatisiert wird. Für die Lage der Unterschicht im Dorf sind
aus bäuerlicher Sicht eindeutig externe Faktoren ursächlich,
die im Herrschaftssystem ihren Ursprung haben:
„In meinem Gewerb, auf einem Wirtshaus und auf
Bauernhöfen, wo alles auf den Heller muss ausgespitzt sein,
und wo man einen auch in allen Ecken rupft – da hat’s eine
andere Bewandtnis. Ich wette, wer da gegen Tagelöhner
und Arme nachsichtig und weichmütig handeln wollte, der
würde um Hab und Gut kommen – Das sind allenthalben
Schelmen“215.
Es ist die Höhe der Lasten, der Zehnten und Bodenzinsen,
welche die Bauern aus ihrer Sicht daran hindern mehr für die
Armen zu tun:
„Der Pfarrer kömmt immer mit dem, daß man die Armen
drücke. Wenn das, was er die Armen drücken heißt,
212
Gemeinsame Spinnplätze, wo beim geselligen Beisammensein
Licht und Heizung gespart wurde
213
Zentrale Orte der Dorftopographie, wie Dorfplatz oder Brunnen
214
vgl. LG S. 112
215
LG, S. 115
119
niemand täte, so wären, mich soll der Teufel holen, wenn es
nicht so ist, gar keine Arme in der Welt; aber wo ich mich
umsehe, vom Fürsten an bis zum Nachtwächter, von der
ersten Landeskammer bis zur letzten Dorfgemeinde, sucht
alles seinen Vorteil, und drückt jedes gegen das, das ihm
Weg steht. (…) Es drückt in der Welt alles den Niedern, ich
muß mich auch drücken lassen. Wer etwas hat, oder zu
etwas kommen will, der muß drücken, oder er muß das
Seine wegschenken und betteln“216.
Zieht man in Betracht, dass Arners jährliche Einkünfte seit den
Zeiten seines Großvaters um das Zehnfache wuchsen217, so ist
diese Klage nicht unberechtigt. Es sind die Umstände, welche
die Bauern hindern, ‚menschlicher‘ zu sein.
Da Pestalozzi gegen diese Tirade des Vogtes kaum
ökonomisch argumentieren kann, greift er zum Hilfsmittel der
charakterlichen Denunziation. Sein ‚schwarzes Herz‘ sei es,
das den Vogt so reden mache, und das, was eine Folge
sozialer Verhältnisse ist, wird prompt individualisiert:
„So redte der Vogt, und verdrehte sich selber in seinem
Herzen die Stimme seines Gewissens, die ihn unruhig
machte, und ihm laut sagte, daß der Pfarrer recht habe, und
daß er der Mann sei, der allen Armen im Dorf den Schweiß
und das Blut unter den Nägeln hervordrücke“218.
Der Leser könnte nun vermuten, dass der ausbeuterische
Vogt bei dieser Sachlage und durch seine Gnadenlosigkeit zu
216
LG, S. 115
LG, S. 637
218
LG, S. 115 f
217
120
großem Reichtum gelangt sein müsse. Doch weit gefehlt! Am
Schluss des ersten Buches lässt Pestalozzi seinen geläuterten
Hummel verarmen, und zwar an der Abgabe einzigen Wiese,
die er dem Hübelrudi zurückzugeben hat. Der Meyer, den
Arner als neuen Vogt einsetzt, muss Hummel fortan mit
jährlich hundert Gulden aus seinem Gehalt unterstützen, und
der Hübelrudi tritt dem alten Vogt einen Teil der Nutzung der
zurückgewonnenen Wiese gleich wieder ab, weil dieser
fürchtet, dass „ich (…) an den Bettelstab (komme), wenn ich sie
verliere“219.
Pestalozzi selbst bestätigt durch diese menschenfreundliche
literarische Lösung, die das unverbildete, gute Herz der
Armen illustrieren soll, die prekäre ökonomische Lage
ausnahmslos aller Dorfbewohner in Bonnal.
Im umfangreichen Paragraphen 69, der den zweiten Teil von
‚Lienhard und Gertrud‘ beschließt, greift deshalb Pestalozzi zu
einer Hilfskonstruktion, um seine Fiktion maßloser
Bereicherung aufrecht zu erhalten. In diesem Paragraphen
schildert der Pfarrer Ernst rückblickend die Lebensgeschichte
Hummels. Der sei in Wahrheit durch ein Gottesgericht
gestraft worden, das ihn in Armut stürzte. Pestalozzi verfährt
hier im Grunde abergläubischer, als jener Dorfaberglaube,
den er doch zu bekämpfen vorgibt.
Die Bodenlasten, Abgaben und Frondienste, welche die
Dorfwirtschaft am Aufblühen hindern, werden im Roman
dagegen nirgends thematisiert, weil eine Minderung dieser
219
LG, S. 163
121
Einkünfte die patrizische Stadtherrschaft empfindlich treffen
würde. Eine Aufhebung des Zehnten wird nur der Dorfarmut
für verteiltes Allmendland in Aussicht gestellt, als Belohnung
für eine zuvor geforderte jahrelange Sparleistung.
Als Vorbild für das Verhalten der Unterschicht zeichnet der
Roman das Maurer- und Spinnerehepaar Lienhard und
Gertrud. Ökonomisch zählen sie zu den Landhandwerkern,
ihre Dorfrechte entsprechen denen der Einlieger oder
Hintersassen. Um in ihre Stube zu gelangen, muss man eine
Treppe steigen220, was darauf hindeutet, dass sie kein
Hauseigentum besitzen, sondern ein Stockwerk zur Miete
bewohnen. Als Besitzlose ohne Haus- und Landeigentum
zählen sie nicht zu den stimmfähigen Gemeindegenossen.
Sozial gehören Handwerker in der alten Dorfgesellschaft zur
absoluten Unterschicht. Selbst noch der Knecht Jeremias in
Gotthelfs ‚Bauernspiegel‘ beschreibt die Distanz, die ihn von
jenen trennt:
„Ich war gewohnt, die Handwerker als eine untere Klasse
Menschen anzusehen, zu sehen, wie jeder Bauernknecht
auf den Handwerksmann von oben herabsah, sich besser
dünkte, und ihm befahl, wo es sich nur tun ließ. Ich sah
keinen Bauernsohn, und wenn ihrer sieben auf einem
magern Hofe waren, ein Handwerk lernen, viel lieber als
Lehnsleute von nimmersatten Bauern sich schinden lassen.
Ich sah, wie jeder Handwerker, sobald er zu einem Kreuzer
Geld kam, sich Land kaufte, ein Bauer zu werden strebte,
und das Handwerk an den Nagel hängte. Ich sah eine
220
LG, S. 18
122
Menge verlumpter Handwerksleute, Schuhmacher, die nicht
für sechs Kreuzer Leder kaufen konnten, Schneider im
Spital oder auf der Gemeinde, Schmiede im Umgang,
Schlosser als Diebsgesindel, Tischmacher ohne Arbeit,
Maurer in Hudeln, Wagner, die Schrecken aller Bauern, die
ein schönes Öschli oder ein gerades Buchli hatten, Bäcker
ohne Mehl, aber mit roten Nasen, Weber mit hungrigen
Augen und kurzem Atem; das sah ich, darum hätte ich mich
auch eines Handwerks geschämt“221.
Das unzünftige Handwerk auf dem Land bildete die Masse der
pauperisierten
Bevölkerung
innerhalb
der
alten
Dorfgesellschaft, es waren jene Menschen, die wir heute als
‚produktiven Mittelstand‘ bezeichnen würden. Die alte
Bauerngesellschaft zählte nicht Gulden oder Kreuzer zur
Währung, ihre Währung hieß Grund und Boden.
Für jene Menschen wurde in Zeiten der Not, in einer
Rezession, in Hungerkrisen oder beim Niedergang der
Leinenindustrie, der Bettel ein Teil ihres Lebensschicksals. Die
Bauern betrachteten sie als Landplage:
„Der handwerker wird von den übrigen gering geschäzet,
verspottet, weil er sich nicht im stande befinde, einen
Viehbau zu unterhalten. Eine große milchbrenten an dem
rüken, ist bey den einwohnern höher geachtet, als die
einträglichste Kunst“222.
221
Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden. Hg. v. Rudolf
Hunziker und Hans Bloesch, Erlenbach-Zürich 1911 ff, Bd. I, S. 160 f
222
Berner Abhandlungen 1762; zit. n. Georg C.L. Schmidt: Der
Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. II, S. 84
123
Die beherrschende Figur in der Familie des Maurers ist
Gertrud. Der Forschung ist bekannt, dass Pestalozzi sie in
Anlehnung an seine Magd und Haushälterin Elisabeth Näf auf
dem Neuhof gezeichnet hat. Sie sicherte damals der Familie
des Pädagogen durch Sparsamkeit und Haushaltungskunst
das Überleben223.
Die natürliche Vernunft Gertruds dient im Roman als Beleg
dafür, dass ein von der Obrigkeit inszenierter Umsturz der
alten Sozialverfassung die moralisch höherwertigen Schichten
an die Macht bringen könnte. Zudem wäre eine bessere
Kooperation von Dorfgesellschaft und Obrigkeit die Folge.
In Gertruds Haushalt regieren die bürgerlichen Tugenden. Sie
verhindert durch Sparsamkeit die Verelendung der Familie,
sie fordert Mäßigkeit und hält ihren Mann von
Wirtshausbesuchen ab, sie vertraut der gottgewollten
Obrigkeit, sie meidet den dörflichen Diskurs, um keine
Gelegenheit zum Klatsch zu bieten, sie widmet ihren Kindern
eine unermüdliche Aufmerksamkeit, um sie arbeitsam zu
machen. Dies alles ist im Sinne von Pestalozzis „großer Lehre
der Auferziehung“:
„Bieget eure Kinder, fast ehe sie noch wissen, was rechts
und links ist, zudem, wozu sie gebogen sein müssen. Und
sie werden euch bis ins Grab danken, wenn ihr sie zum
Guten gezogen, und ins Joch des armen Lebens geboren,
ehe sie noch wissen warum“224.
223
224
SW II, S. 465
LG, S. 322
124
Von jeder Emanzipation ist Pestalozzis pädagogische
Tugendlehre ebenso meilenweit entfernt wie die alte
Bauerngesellschaft. Immerhin aber sind Gertruds Kinder an
die neuen, heraufdämmernden sozialen Gegebenheiten
perfekt angepasst. Sie sind fähig, sie zu erdulden.
Gertrud ist das vorweggenommene utopische Zielbild des
reformierten Dorfmenschen, aus denen Arner im Bündnis mit
dem Pfarrer und dem pädagogischen ‚Leutnant‘ eine
‚erweckte Unterschicht‘ formen will. Er trifft in Gertruds Haus
beim ersten Besuch bereits die Familie seiner Träume an:
„Es war dem Junker nicht anderst als sehe er das Bild des
Erstgeborenen seines besser erzogenen Volks wie in einem
Traume vor seinen Augen: und der Leutnant ließ seine
Falkenaugen wie ein Blitz herumgehen, von Kind auf Kind,
von Hand auf Hand, von Arbeit auf Arbeit, von Aug auf Aug;
je mehr er sah, desto mehr schwoll sein Herz vom
Gedanken; sie hat’s getan und vollendet, was wir
suchen“225.
Gertruds Haushaltung erscheint als das aus dem Volk selbst
erwachsene Ideal einer neuen dörflichen Sozialverfassung.
Dieses Ideal gilt es im Roman jetzt, allgemein umzusetzen.
Jeder Mensch, dies der volkspädagogische Glaubenssatz,
wäre wie der Charakter Gertruds zu formen. Selbst noch ein
hundshäriger Bauer wie Hummel wird am Ende seiner Haft,
die ihn von der verderblichen Dorfgesellschaft isoliert hat, so
semmelweich gestimmt sein, dass auch sein Beispiel die
Allmacht der Pädagogik erweist.
225
LG, S. 416 f
125
2.4. Allmende, proto-industrieller Gewerbefleiß und Schule:
die Volksaufklärung am Werk
Nahezu alle ökonomischen Reformer drängten auf die
Aufteilung des dörflichen Gemeinlandes. Dieses oft wüste
und ungepflegte Wald- und Weideland an den Rändern der
Dörfer war in ihren Augen ein Ärgernis, weil es keinerlei
Nutzungsintensivierung erfuhr. Der hinhaltende Widerstand,
der sowohl von den Bauern ausging wie auch von der
Dorfarmut, war den herrschaftlichen Verwaltungen ein Dorn
im Auge und absolut unverständlich:
„der kommliche gewinn der geringen nahrung, welche diese
weide dem vieh armer leute, deren krippen schlecht bestellt
sind, zu geben scheinen, ist ein fallstrick für dieselben;
wegen der versuchung, durch die sie sich ständig
überwinden lassen, mehr vieh im sommer zu halten als sie
überwintern können (…) Das landvolk ist in diesem stüke
unverbesserlich“226.
Die Allmende bot folglich auch den kleinen Bauern die
Möglichkeit, durch Viehsömmerung einen kleinen
Zusatzverdienst zu erzielen. Aber auch die besitzlose
Dorfarmut
profitierte
durch
Sammeltätigkeit
und
Kleinviehhaltung von der genossenschaftlichen Nutzfläche:
„Wir haben heute kaum mehr eine Vorstellung, wie noch bis
ins 19. Jahrhundert hinein die ärmeren Familien geradezu
226
Berner Abhandlungen 1763, zit. n. Schmidt: Schweizer Bauer,
a.a.O., Bd. II, S. 112
126
auf einer Sammelwirtschaft ihre Existenz fristen, wobei der
Wald der wichtigste Fundort ist: Früchte, Beeren, Pilze,
Buchweizen, Tannadeln und Kräuter für Tee, Laub für die
Schlafsäcke, Futter für das Kleinvieh usw. Die (…)
Nutzungsbeschränkungen lösen denn auch entsprechende
soziale Spannungen und Konflikte aus, da sie die Ärmeren
im Kern ihrer Existenzfristung treffen“227.
Im historischen Rückblick waren – mit regionalen
Unterschieden – die Armen die Verlierer der vollständigen
Privatisierung von Grund und Boden. Die Einschränkungen
der Allmend-Nutzung begünstigten die Mächtigen im Dorf:
„Die Dörfer beschränkten die Nutzung an Feld, Weide und
Wald auf die Besitzer bestimmter Grundstücke (Berner
Mittelland), bestimmter Höfe (Zürichbiet), oder sie sprachen
sie nur den Angehörigen bestimmter Burgergeschlechter
zu“228.
Dies zeigt, dass die Allmendaufteilungen überall nach dem
Prinzip verliefen: ‚Wer da hat, dem wird gegeben‘. Sie
bevorzugten einseitig entweder das Patriziat oder die großen
Bauern. Die Armen wurden eines wesentlichen Teils ihrer
Subsistenz beraubt, eine Entwicklung, die wegen des
hinhaltenden Widerstands erst nach der Regeneration 1830
zum Abschluss kam.
227
Rudolf Braun: Das ausgehenden Ancien Régime in der Schweiz,
Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18.
Jahrhunderts. Göttingen u. Zürich 1984, S. 98
228
Schmidt: Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. II, S. 126
127
In der Folge rumorte es im Land, im Bernbiet bildete sich die
erste landproletarische Sozialbewegung heraus: der
Rechtsamilosenverein. Jeremias Gotthelf, ein später
Volksaufklärer, macht dessen Umtriebe und das
vernachlässigte
Gemeinland
für
die
‚Armennoth‘
verantwortlich – und nicht den realen Verlust, den die Armut
erlitt. Schließlich wären die Pauper durch ihr ewiges Sammeln
und Hudeln auf der Allmende von produktiveren
Beschäftigungen abgelenkt worden:
„Solches Land fördert Trägheit, frühes Heiraten,
leichtsinnigen Häuserbau, ein trostloses Aufeinanderhocken,
wo keiner von seiner Scholle lassen, keiner weiter sein
Glück versuchen, keiner ein ordentlich Handwerk ordentlich
lernen, treiben will“229.
Im Kern geht es also um die Freisetzung weithin noch
ortsgebundener Arbeitskräfte, als Folge von deren Verlust der
bräuchlichen ‚Rechtsame‘ am Allmendland.
Ganz im Gegensatz zu den realen Abläufen will Pestalozzi die
Dorfarmut von der Allmendaufteilung profitieren lassen. Ein
illusorisches Konstrukt, denn in der Realität haben die
Hintersassen und Tauner „bei einer Verteilung keinen
Rechtsanspruch auf Landzuteilung“230. Im Grunde geraten hier
zwei Rechtssysteme in Konflikt: das gesetzesgestützte der
städtisch-bürgerlichen Lebenswelt und das bräuchliche der
alten Dorfgemeinschaft, das eben nicht auf Schrifttum beruht.
229
Jeremias Gotthelf: Die Armennot. Eines Schweizers Wort. In: J.G.:
Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. XV, S. 117
230
Rudolf Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 96
128
Aus den genannten Gründen sind daher „gewöhnlich alle
Hintersassen (…) an einer Allmendaufteilung nicht interessiert“231.
Die Obrigkeit hingegen trieb die Allmendaufteilung aus
fiskalischem Eigeninteresse voran, wobei sie in Ansätzen
durchaus egalitär und ‚pestalozzianisch‘ dachte. Einerseits
wollte sie bisher zehntfreies Land besteuern, andererseits
würde aber auch der Armensäckel entlastet, weil die
minderen Dorfbewohner zusätzliche Einkünfte erzielen
könnten. Die Berner Landesöconomiekommission beschrieb
die erhofften Effekte so:
Allmendaufteilungen seien sinnvoll, „nicht nur, weil die
Zehnten, die eine der beträchtlichsten Einkünfte sind, sehr
stark zunehmen, sondern auch noch, weil die Ausgaben zur
Verpflegung der Armen stark abnehmen würden“232.
Das fiskalische Interesse machte also die städtische Obrigkeit
zum Parteigänger der Armut, woran Pestalozzi im Roman
anknüpft.
Genau diese Möglichkeit, die bekanntlich nie eintrat, forderte
den hinhaltenden Widerstand der großen Bauern heraus. Eine
Aufteilung an alle Dorfgenossen, wie sie Pestalozzi und Teile
des Patriziats forderten, die an jeden Einwohner einen
gleichgroßen Anteil zu vergeben beabsichtigte, ohne
Rücksicht auf die Größe des bisherigen Besitzes, kam in ihren
Augen einem klaren Rechtsbruch gleich, einer förmlichen
Enteignung. Zudem hätte eine solche Maßnahme die
231
232
Ebda., S. 96
Zit. n.: Rudolf Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 95
129
Herrschaft der Bauern über die Tauner tatsächlich tendenziell
gefährdet:
„Die Reichen ahnten mit Recht, daß die Armen durch die
Aufteilung der Allmend einen starken wirtschaftlichen
Rückhalt gewinnen und sich inskünftig ihrem Machtanspruch
nicht mehr ohne Widerstand fügen würden“233.
Die Zählebigkeit der Allmenden wie auch der Widerstand
gegen eine neue Landwirtschaft überhaupt erklären sich
somit daraus, dass jedes Mitglied der Dorfgesellschaft in eine
ebenso komplexe wie kollektive Wirtschaftsstruktur
eingebunden war, die nicht durch individuelle Entschlüsse
außer Kraft gesetzt werden konnte:
„Für den Einzelnen besteht kaum die Freiheit der
Umstellung; nur wenn sich die Gesamtheit innovationsbereit
zeigt, wäre eine Fruchtfolgewirtschaft mit allen ihren
Konsequenzen überhaupt denkbar. Das würde jedoch
voraussetzen, daß die gesamte rechtliche, wirtschaftliche
und soziopolitische Struktur in ihrer komplexen und über
Generationen hinweg tradierten Ausbalanciertheit (…)
obsolet wird. Gerade weil es in diesem Kollektiv Privilegierte
und Unterprivilegierte, Besitzende und Habenichtse gibt, ist
eine Bereitschaft aller zu einer so weitreichenden
Strukturveränderung kaum zu erreichen“234.
Dies ist auch der Grund, weshalb Pestalozzi sich - nach seinem
Scheitern auf dem Neuhof - vom individuellen ‚Musterbauern‘
zum literarischen Schöpfer eines kollektiven ‚Musterdorfes‘
233
234
Schmidt: Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. I, S. 87
Rudolf Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 102
130
namens Bonnal wandelte. Dass die gesamte Dorfgesellschaft
sich ändern muss, wollte er Erfolg haben, das hat der
Pädagoge klar erkannt.
Auch die ‚Verbrechen‘ Hummels erweisen sich im Kern als
‚systemisch‘, ein Untervogt kann gar nicht anders handeln, als
er dies tat. Auch der neue Vogt, den Arner einsetzt, verhält
sich nach wenigen Tagen bereits wie der alte:
„Er ist kaum 8 Tag Vogt, und macht schon Maul und Augen,
wie wenn er sich innert Jahr und Tag henken könnte, oder
Land und Leute verraten wollte“235.
Im Dorf Bonnal, konstatiert Pestalozzi bitter, ist eben jeder
Mensch „mit gar vielen Fäden an sein Leben angebunden, und es
braucht gar viel, ihm neue anzuspinnen, die ihn so stark als die alten
auf eine andere Seite hinziehen“236. In Bonnal existiert ein
‚kollektives Ich‘, das dem einzelnen ein abweichendes
Verhalten verwehrt, will er nicht sozial isoliert werden.
So versucht eine Bauersfrau im Dorf ihrer Tochter die
dörflichen Heiratsgesetze und die Klassenlagen zu erklären,
die jede ‚Vermischung‘ zwischen Armen und Reichen strikt
verbieten:
„Was hast auch vom Junker? Und was geht dich auch der
Narr an? Warum begreifst doch auch nicht, daß wer im Dorf
235
236
LG, S. 263
LG, S. 261
131
ist, es mit dem Dorf halten muß, und mit denen, die im Dorf
etwas haben, und nicht mit dem Bettelvolk?“237.
Der bereits erwähnte neue Untervogt wird von den Bauern
ausgeschickt, um bei Arner die unbeliebte Allmendverteilung
zu hintertreiben. Als Makler zwischen Herrschaft und
Bauerntum handelt er im Interesse von Dorf und Brauchtum,
was in den Augen der Bauern auch seine selbstverständliche
Pflicht ist. Der neue Vogt weiß dabei nicht, dass der
‚erweckte‘ Hummel inzwischen das Dorf verraten hat,
wodurch die dörflichen Pläne zu Herrschaftswissen wurden.
Prompt wird Hummel, den angeblich ‚Reue‘ zum Beichte aller
Dorf-Interna trieb, zum verhasstesten Mann im Ort. Und zwar
nicht, weil er sich an seinem Amt bereicherte, sondern weil er
als Überläufer zur Obrigkeit betrachtet wird, als ein Judas
seiner Gemeinde. Lange versucht er, sich gegen die
Seelenmassage des aufgeklärten Pfarrers zu wehren:
„Ich mag zu allem, was ich schon auf den Schultern habe,
nicht noch machen, daß mich Junges und Altes im Dorf
noch obendrein verfluche“238.
Der Pfarrer jedoch überzeugt ihn, dass nur eine vollständige
Beichte ihm Herzenserleichterung bieten könne. Die
scientology-hafte Seelenwäsche des Pfarrers verschafft in der
Folge der Obrigkeit die ersehnte Kontrolle über das
Gemeindeleben, sie partizipiert nun an dem Wissen über die
237
238
LG, S. 500
LG, S. 220
132
Mechanismen dörflicher Sozialkontrolle, wo jeder alles von
allen weiß:
„Und das Leben des Manns enthüllte dem Pfarrer das Leben
seines ganzen Dorfs, daß er izt in allen Haushaltungen
hineinsah wie in einen Spiegel“239.
Hummel hingegen erfährt keine Seelenerleichterung, sondern
Hass und Verachtung. Der Mann, der sich der Obrigkeit
anvertraute, wird zum sozialen Outlaw. Man schwört ihm,
„daß du keinen Menschen im Dorf findest, der dir auch nur ein Stück
Brot gibt, wenn er dich vor ihm zu Hunger sterben sieht“240.
Angesichts der komplexen sozialen Lage, lässt sich auch die
Allmendaufteilung im Roman nicht durch Vernunft erzielen,
sondern nur durch eine List. Pestalozzi greift auf den
Aberglauben der Bauern zurück, die steif und fest daran
glauben, dass Hummel an dem Grenzstein, den er räuberisch
verrücken
wollte,
dem
Teufel
begegnet
sei.
Unbedachterweise versprechen sie in die Aufteilung
einzuwilligen, wenn Arner ihnen widerlege, dass der Teufel
am Markstein erschienen sei. Mit dieser Überwindung des
Kernstücks bäuerlichen Widerstands endet das erste Buch.
Das zweite Buch beschäftigt sich mit den Tricks, welche die
Bauern anwenden, um Arner von seinem Plan nachträglich
wieder abzubringen. Da sich inzwischen aber mehrere
Dorfbewohner auf die Seite Arners gestellt haben – dies
Pestalozzis pädagogische Fiktion – vereitelt der Junker alle
239
240
LG, S. 220
LG, S. 226
133
Pläne im Voraus. Wie groß Pestalozzi aber die bäuerlichen
Widerstände einschätzt, erhellt sich daraus, dass die Obrigkeit
hierzu zunächst auf eigene Gewinne verzichten muss:
„Das Land ist euer, und euch von euren Vorfahren als
Gemeindgut, auf dem keine Abgaben hafteten, hinterlassen
worden, und ich will nichts weniger, als euch an diesem
euerm Recht kränken. Die erste Pflicht des Menschen ist,
der Armut seiner Mitmenschen, wo er kann, aufzuhelfen,
damit ein jeder ohne Drang und Kummer des Lebens
Notdurft erstreiten möge“241.
Da aber Arner prinzipiell egalitär handeln will, ruft er sofort
neue Konflikte hervor. Das Land soll ‚pro Kopf‘ aufgeteilt
werden, ohne Rücksicht auf die Größe des sonstigen Besitzes.
Arners Appell an die Menschlichkeit fruchtet bei den Bauern
nichts, auch deshalb weil er sein großes Versprechen gleich
wieder bricht. Zehntfrei bleiben sollen kurz darauf nur noch
die Grundstücke der Armen, und dies auch nur für diejenigen
Kinder, die bis zum zwanzigsten Lebensjahr zwanzig Dublonen
ersparen konnten. Berücksichtigt man die damaligen
Verdienstmöglichkeiten in der ländlichen Gesellschaft, heißt
dies, dass auf Umwegen das gesamte ehemalige Allmendland
dem Patriziat neuerdings zehntpflichtig wird. Wie eingangs
erwähnt, hat Pestalozzi diesen betrügerischen ‚zweiten Teil‘ ja
auch nicht mehr ‚fürs Volk‘ geschrieben.
Immerhin aber ist es Arner gelungen, mit egalitären Mitteln
einen Keil in die Dorfstruktur zu treiben. Die Bauern
rebellieren, sie fürchten zu Recht Einnahmeverluste, vor
241
LG, S. 299
134
allem aber verlieren sie einen Teil ihrer Macht über die
Tauner und das Spinnervolk:
„Der Stieren-Bauer fluchte bei einem Nachbar (…): es
schade ihm mehr als hundert Gulden; er habe das Jahr
durch immer 10 bis 12 Stück Vieh darauf gehalten, und sie
seien ihm stockfett geblieben. (…) und noch andere: Das
Lumpenvolk strecke alles in die Köpf, und ein jeder
Bettelhund lache in die Faust, wenn er unsereinen sehe,
daß sie so Meister worden“242.
Parallel zur Aufteilung der Allmende betreibt die Triple-Allianz
aus Pfarrer, Junker und Verleger eine spektakuläre
Ausweitung der Proto-Industrie im Dorf. Dies geschieht, als zu
Beginn des dritten Buches der Baumwollen-Meyer auftaucht,
ein reicher ländlicher Verleger.
Pestalozzi hatte, als er ihn konzipierte, Personen aus seiner
Bekanntschaft vor Augen, vor allem den erfolgreichen
Tuchhändler Johann Rudolf Meyer aus Aarau und den
Baumwollfabrikanten Heinrich Meyer aus Rufenach, den
Pestalozzi bei Besuchen in der Helvetischen Gesellschaft
kennengelernt hatte243.
Die Figur des Unternehmers im Roman entstammt selbst der
dörflichen Unterschicht. Er „fing mit 5 Batzen zu hausen an“244
und gewinnt mit der Zeit einen solch großen Reichtum, dass
er der dörflichen Enge und ihrem Sittendiktat entkommen
242
LG, S. 408
LG, S. 887, Komm.
244
LG, S. 379
243
135
kann: „Das ist doch keine Baurenordnung, sagte der Junker: und
drehete ein schweres silbernes Messer in der Hand herum“245.
Sozial gesehen zählt dieser Verleger zu jener aufsteigenden
ländlichen Elite, die außerhalb der Städte ‚Hütten in Paläste‘
(J. C. Hirzel) verwandelt, und zunehmend zu einer Konkurrenz
für die regierenden Eliten in den Städten wird. 1830 wird
diese aufsteigende Landbourgeoisie das Patriziat in der
Schweiz vom Sockel stoßen.
In Bonnal macht Arner den Baumwollen-Meyer zum neuen
Untervogt. Die Macht ist damit von den Bauern auf einen
Textilverleger übergegangen, und zwar nicht nur positionell,
sondern
auch
sozioökonomisch.
Die
herzogliche
Kommission246, die am Schluss des Romans die neue
Dorfökonomie begutachtet, kommt zu dem Schluss:
„(E)s wäre Arner ohne den Baumwollen-Meyer unmöglich
gewesen, dieses zu leisten: und sagten, der Detail dieser
Rechnungen zeige, daß zwei Drittel von einem Vorschlag
des Dorfes von der Handarbeit, und kaum ein Drittel vom
Abtrag ihrer Landbesitzungen herrühre“247.
Parallel zur Moralisierung der Dorfbevölkerung im Roman hat
sich also eine Marginalisierung der landwirtschaftlichen
Produktion vollzogen. Pestalozzis große Arbeitslehre
245
LG, S. 379
Dieser Wechsel zu einer ‚Herzogsherrschaft‘ verweist darauf,
dass Pestalozzi inzwischen Auftraggeber außerhalb der Schweiz
suchte.
247
LG, S. 806
246
136
beschreibt daher keine neue ‚Bauernordnung‘, sondern eine
neue Ordnung für Fabrik- oder Heimarbeitsdörfer.
Den
Baumwollen-Meyer
beherrscht
eine
penible
Rechenhaftigkeit, die später auch zur Unterrichtsmaxime in
Bonnals neu eingerichteter Schule werden wird:
„Seine Schwester (…) wischte die Rechnungen, mit denen
ihr Bruder den ganzen Tisch voll gekreidet, durch (…). (E)r
mache manchmal den Tisch im tag siebenmal so voll, und
streiche alles wieder durch, wenn nur eine Kreuzer fehle“248.
Der größte Feind des Verlegers ist dabei die Mentalität seiner
Heimarbeiter. Sie seien „bis in die Wiege hinunter ein
Lumpenpack, (die) betriegen und bestehlen, mit wem sie zu tun
haben“249. Besonders zu schaffen macht ihm der bräuchliche
‚Unterschleif‘, das Manipulieren am Gewicht der gelieferten
Ware:
„(Sie) bringen und dann dergleichen Garn wie ihr da sehet,
das voll Unrat und naß ist daß man’s könnte auswinden,
damit sei einige Kreuzer dem Vater ableugnen, und, wie er,
im Wirtshaus vertun und versaufen können“250.
Der beklagte ‚Unterschleif‘ ist eine weitverbreitete ländliche
(Un)Sitte bei allen dörflichen Unterschichten. Jeremias
Gotthelf berichtet im ‚Schulmeister‘ von dem fehlenden
Unrechtsbewusstsein einer Webersfamilie, von Betrügereien,
248
LG, S. 378
LG, S. 379
250
LG, S. 379 f
249
137
die sich aber eben nur gegen ‚Dorffremde‘ richteten, gegen
Personen mit einem städtischen Bildungshintergrund:
„Sie betrogen auch keinen Nachbar und überhaupt niemand
ihresgleichen, aber wenn meine Mutter des Pfarrers oder
des Doktors Weibern einige schlechte Eier unter die guten
anhängen konnte, so lachte ihr das Herz im Leibe, und
wenn sie (…) Gespünst verkaufte, so tat sie kurze Ryste
unter die lange, Kuder in den Flachs. Dann lachten beide,
die Mutetr und der Vater, und meinten: „Das macht sellige
Lüte nüt, sie merken nit, u si hei Geld gnue, u mit heys nötig,
u was nützte dVörtel, we me se nit bruchti?“251.
Dieser bräuchliche Unterschleif, war keineswegs ein
Phänomen, das nur in der Schweiz zu finden war. Es war
förmlich eine bräuchliche Subsistenzstrategie. Eine besonders
humorvolle Schilderung hat August Ludwig Schlözer
hinterlassen:
„Die Wolle zieht wie ein Schwamm das Wasser an sich (…).
Das weiß der Schäfer, und schiert daher die Schafe, ehe
noch die Wolle halb trocken ist. Und damit die Nässe ja nicht
verfliege, bindet er sie sogleich in Flüsen zusammen. Ein
sanfter Regen, wenn er den Schafen bald nach der Wäsche
auf die Pelze fällt, ist ihm sehr willkommen. (…) Fährt er
endlich damit zur Stadt; so wält er einen Tag dazu, der ihm
den Regen am Horizonte schon von ferne zeigt (…). Trift er
unterweges einen Teich an, so fährt er den Wagen bis an
die Achse ins Wasser, damit die Pferde sich mit einem
kühlen Trunke laben (…). Zu allen diesen Kniffen hält er sich
251
Jeremias Gotthelf, Leiden und Freuden eines Schulmeisters,
Sämtl. Werke, a.a.O., Bd. II, S. 34 f
138
für berechtigt; denn er muß ja dem Kaufmann 3 Kreuzer
Wassergewicht geben, und sich folglich auf diese Art seines
Schadens erholen“252.
Der Unterschleif war eine höchst phantasievoll praktizierte
Art bräuchlichen Widerstands gegen eine städtische
Elitenkultur. Er wurde habituell angewandt, ohne eine Spur
von Unrechtsbewusstsein, eine Abwehrstrategie des
Landvolks gegen Abgabenerhöhungen der Obrigkeit und die
Lohn- und Preisdrückerei der Kaufmannschaft.
Auch die Arbeitsmoral ist ein ständiges Thema, nicht nur bei
Pestalozzi, sondern generell der Volksaufklärung. Während
die proto-industrialisierten Schichten - Spinner, Weber –
einen Stücklohn erhielten, ruhte der Lebensunterhalt des
anderen dörflichen Handwerks auf dem Tagelohn.
Überall stand daher die mangelnde Arbeitsmoral der
dörflichen Unterschichten in der Kritik, auch bei Pestalozzi:
„Die Hauptschwierigkeiten, die der Errichtung neuer
Gewerbebranches im Weg stehen, sei die Rohheit,
Unordnung, Unanstelligkeit des gemeinen Volks. Alles, was
solche Leute in die Hand nehmen, gehe zugrund, was sie
grad machen sollen, machen sie krumm, und da sie weder
Kenntnis noch Erfahrung im Geldgebrauch haben, so gehe
es unter ihren Händen zugrund wie nichts, je mehr sie
252
August Ludwig Schlözer’s Briefwechsel meist historischen und
politischen Inhalts, Zweiter Theil, Heft VII – XII, 1777, Göttingen
1778, S. 51
139
verdienen, je mehr vertun sie wieder, das erniedrige sie zu
falschen, untreuen gefährlichen Menschen“253.
Es ist in den Augen Pestalozzis also nicht der unzureichende
Verdienst, der die Unterschichten dazu zwingt, von der Hand
in den Mund zu leben, es sind ihre charakterlichen Defizite.
Daher muss eine staatliche Bildungseinrichtung her, die es
sich zur Aufgabe macht, die neuen Arbeitstugenden habituell
zu machen:
„Wenn hingegen der Staat durch solche Dorfeinrichtungen
solchen Unternehmern, darin an die Hand gehen würde,
daß sie seines festen Einflusses in die Bildung des Volks zur
Anstelligkeit, Reinlichkeit, Ordnungsliebe, Genauheit und
Sparsamkeit zum voraus versichert sein könnten, so würde
der erste Stein des Abstoßes gehoben sein, an welchem die
nach allen Arten von Handlungsetablissements so
dürstende Gierigkeit aller Reichen (…) anstoßen wird“254.
Durch einen pädagogischen Dressurakt im Interesse der
wirtschaftlichen Eliten soll der Staat die Voraussetzungen für
Prosperität schaffen. Die Erziehungslehre Pestalozzis richtet
sich weniger auf eine Verbesserung der Lebensumstände
einer pauperisierten Dorfbevölkerung. Es geht ihm darum, die
festgefügte ‚Mentalität‘ im Volk zu brechen, weil diese ein
zentrales Investitionshindernis für die Kaufmannschaft
darstellt.
253
254
LG, S. 814
LG, S. 814
140
Im Kontext des Romans existiert ein förmlicher
Investitionsstau von anlagesuchendem Kapital, eine „immer
größer werdende(..) Geldmenge, die in der Welt in Umlauf gebracht
wird“255. Die Pädagogik habe die Aufgabe, durch eine
‚Revolution der Arbeitsmoral‘ dem Kapital die Schleusen zum
flachen Land zu öffnen, sie müsse zu einer „weisen Bildung des
Volkes zur Industrie“256 den zentralen Beitrag leisten:
„[Während die] Finanz, wie sie gegenwärtig betrieben
werde(..), sich fast vollends nur bei der Ausbeute auf(halte);
(steige Arner) bis in das Innere des Bergs, und mache bei
den Quellen der Ausbeute Ordnung, wo fast noch gar nie
eine gewesen“257.
Bei der Offenheit, mit welcher Pestalozzi hier , die ‚Ausbeute‘
oder Ausbeutung des ländlichen Arbeitspotenzials
kommuniziert, ist es kein Wunder, dass er das dritte und
vierte Buch des Romans nicht für die Hände des Volks
bestimmt hat258.
Aber nicht nur die Mentalität der Spinner und Weber ist ein
volkspädagogisches Hindernis, generell steht die Arbeitsmoral
der gesamten Dorfbevölkerung in der Kritik. So verhalten sich
255
LG, S. 769
LG, S. 773
257
LG, S. 782
258
Pestalozzis Annahme einer blühenden Zukunft der Heimarbeit ist
arg euphemistisch. Zu dieser Zeit hatte der Niedergang der
ländlichen Leinen- und Baumwollindustrie bereits begonnen, der
Anfang des 19. Jahrhunderts dann in die großen europäischen
Pauperismuskrisen münden sollte (vgl. Sven Beckert: King Cotton.
Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. München 2015).
256
141
auch jene Tagelöhner, die als Maurer oder Zimmerleute den
Neubau der Kirche in Bonnal betreiben, in der eigenen Logik
zwar rational, indem sie die Zahl der Tagelöhne erhöhen,
nicht aber in den Augen ihrer Auftraggeber. Solche Zeiten, um
Geld zu verdienen, sind für das Dorfhandwerk - um hier einen
modernen Begriff zu verwenden - goldene Zeiten innerhalb
‚gebrochener Erwerbsbiographien‘. Das gewohnte Leben des
Dorfhandwerkers bestand aus Sammeltätigkeiten, aus
Allmendnutzung, kleiner Landwirtschaft etc., die Zeit der
‚Tagelöhne‘ aber war eine Konjunktur, die es maximal zu
nutzen galt. Der bereits ‚reformierte‘ Maurermeister
Lienhard, der sie beim Kirchbau zu möglichst unermüdlicher
Arbeit zu bringen trachtet, den bezeichnen sie daher als
„ägyptischen Treiber“ und als „Wohldieners-Unglücksstifter“259.
Für einen Menschen, der über einen Mangel an Arbeit nie zu
klagen hatte, ist daher der „Müßiggang“, das „Maulaffen feil
haben“ dieser Menschen, „die so an Händ und Füßen wie lahm
und den ganzen Tag herumstehen“260, ein großes Ärgernis. Zumal
von ihrem Beispiel eine ansteckende Wirkung auf die gesamte
Gruppe ausgeht, die nicht einsieht, dass sie mehr arbeiten
solle, da jene „den gleichen Lohn wo sie“261 bekommen.
Gleich im folgenden Paragraphen beschreibt daher Pestalozzi
das Glück, das in der Arbeit selbst ruht. Wo man nicht nach
dem Lohn fragt, weil man durch unermüdliche Arbeit einen
immateriellen Profit aus wohltätiger Erschöpfung und
259
LG, S. 391
LG, S. 392
261
Ebda.
260
142
Zufriedenheit gewinnt. Es ist eine Variante der alten
volksaufklärerischen Mär vom ‚Hemd des Glücklichen‘.
Dem Lienhard war „keiner so lieb als der junge Bär; dieser sang
und pfiff immer bei seiner Arbeit, wenn ihm auch der Schweiß
tropfenweis von der Stirn lief“262. Von einem Arbeitskollegen, der
ihn darauf hinweist, dass er in seinen bedrängten Umständen,
mit nur einem zerrissenen Hemd auf dem Leib, wohl kaum
Grund zum Pfeifen habe, distanziert er sich, „denn er hatte
dergleichen Sachen nicht gern im Kopf wie der da sagte“263. Bärs
Lohn für seine unermüdete Arbeitsleistung besteht natürlich
nicht etwa in einem Akkordzuschlag, Pestalozzi lässt ihn ein
ungetrübtes Familienglück genießen, das aus all der Rackerei
unausweichlich folgen soll: „Denn nahm er ihr den Bub ab, den
sie auf dem Schoß hatte, und ritt mit ihm auf allen vieren in der Stube
herum“264. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist bei
Pestalozzi eine Folge vieler Arbeit.
Wie die Mehrzahl der Eltern sind auch die Kinder für die
geforderte neue Arbeitsdisziplin verdorben, jedoch noch nicht
rettungslos:
„(S)ie sind an gar keine Ordnung und keine anhaltende
Anstrengung gewöhnt, und haben ihre Augen, wenn sie
sollen auf den Garn halten, immer in den Lüften; und so wird
es bald zu dick bald zu dünn, und nie recht“265.
262
LG, S. 394
Ebda.
Ebda.
265
LG, S. 395
263
264
143
Anders als bei den Erwachsenen aber lässt sich bei den
Kindern durch unermüdliche Kontrolle und durch den
häufigen Gebrauch der Rute266 schließlich eine neue
Arbeitsmoral bewirken.
Um die anstehende Umgestaltung des Dorfes zu einem
unternehmerfreundlichen Gemeinwesen zu vollenden, muss
nicht mehr und nicht weniger als ein völlig neuer Mensch
herangezogen werden:
„Im übrigen aber baute der Junker in seiner Meinung, das
Dorf zu ändern, gar nicht auf das alte Volk; sondern auf die
Jugend und seine Schul. Diesfalls aber zählte auf nichts
weniger als auf ein Geschlecht, das dem nächsten, von dem
es abstammt, so ungleich sein würde, als Tag und Nacht
einander ungleich sind“267.
Der Initiator der neuen Schule ist die Industrie selbst, die sich
im Roman in der Gestalt des Baumwollen-Meyer verkörpert.
Der begründet die Notwendigkeit einer pädagogischen
Arbeiterschmiede mit dem rapiden Wandel der Gesellschaft:
„Vor altem war alles gar einfältiger, und es mußte niemand
bei etwas anderm als beim Feldbau sein Brot suchen. Bei
diesem Leben brauchten die Menschen gar viel weniger
geschulet zu sein – der Baur hatte im Stall, im Tenn, im Holz
und Feld, seine eigentliche Schul, und findet, wo er geht und
steht, so viel zu tun und zu lernen, daß er sozusagen ohne
alle Schul das recht werden kann, was er werden muß –
Aber mit den Baumwollenspinnerkindern, und mit allen
266
267
LG, S. 396 f
LG 567 f
144
Leuten, die ihr Brot bei sitzender oder einförmiger Arbeit
verdienen müssen, ist es ganz anderst. Sie sind, wie ich es
einmal finde, ganz in den gleichen Umständen wo die
gemeinen Stadtleute, die ihr Brot auch mit Handverdienst
suchen müssen, und wenn sie nicht wie solche
wohlerzogene Stadtleute auch zu einem bedächtlichen
überlegten Wesen, und zum Ausspizen und Abteilen eines
jeden Kreuzers, der ihnen durch die Hand geht, angeführt
werden, so werden die armen Baumwollenleut, mit allem
Verdienst und mit aller Hilfe, die sie sonst hätten, in Ewigkeit
nichts davontragen, als einen verderbten Leib und ein
elendes Alter“268.
Der Plan zielt also auf eine mentale Verstädterung des flachen
Landes. Die Schule, die der Industrielle, der Leutnant und der
Junker – gewissermaßen Pestalozzis Triple-Ego - in Bonnal
einrichten werden, ist keine Schule der Emanzipation,
sondern eine Schule zur Protoindustrie.
Dass der Mensch von Natur aus nicht gut sei, diese
Überzeugung Pestalozzis durchzieht seinen Roman wie ein
Leitmotiv. Aus einem von Grund auf bösen und faulen
Naturmenschen muss der fleißige Industriemensch erst
herausgeformt werden. Das zentrale Instrument hierzu ist die
neue Schule. Ihr Leiter wird der Leutnant Glüphi, welcher
Pestalozzis Grundsätze in die Tat umzusetzen hat.
Die Achse des Romans ist der zentrale Paragraph 41 im
vierten Buch, der den Titel trägt: ‚Die Philosophie meines
268
LG, S. 382
145
Leutnants; und diejenige meines Buchs‘. Der Abschied von
jeder rousseauistischen Überzeugung leitet ihn ein:
„Der Mensch (…) ist von Natur (…) träg, unwissend,
unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig,
furchtsam, und ohne Grenzen gierig, und wird dann noch
durch die Gefahren, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm,
verschlagen, heimtückisch, mißtrauisch, gewaltsam,
verwegen, rachgierig und grausam. – Das ist der Mensch,
wie er von Natur, wenn er sich selbst überlassen, wild
aufwächst, werden muß; er raubet wie er ißt, und er mordet
wie schläft“269.
Aus diesem Grund taugt der Mensch zu allen utilitaristischen
und Staatszwecken weniger als nichts. Der unerzogene
Mensch ist „der Gesellschaft nicht nur nichts nütz, sondern ihr im
höchsten Grad gefährlich und unerträglich“270. Diese Diskrepanz
von menschlicher Natur und gesellschaftlich-industriellen
Bedürfnissen rechtfertigt die neue Pädagogik, die nun über
die Dorfbevölkerung hereinbrechen soll: Aus dem
Landbewohner „müsse man ganz etwas anderes machen, als er
von Natur ist“271. Als Vorbedingung solle zum Zweck der
Umformung zunächst ein Regime lückenloser Kontrolle
errichtet werden:
269
LG, S. 668
LG, S. 669
271
LG, S. 669
270
146
„Eine jede Lücke in der bürgerlichen Gesellschaft (…) fachet
in jedem Fall den Funken der Empörung gegen diese Kette,
der tief in der Natur liegt, von neuem wieder an“272.
Der „Fluch (dies)er Ketten“ bestünde in der Pflicht, „Bürger zu
sein“273. In den Augen Pestalozzis war dies ein zutiefst
unnatürlicher Zustand, der den Menschen „das Gefühl der
Rechten seiner Natur von allen Seiten verwirrt, das Befriedigende
seiner Naturtrieben in allen Teilen beschränkt, und ihm nichts
dargegen gibt, als die Foderung das zu sein, was weder Gott noch
Menschen aus ihm gemacht haben“274.
Diesen bürgerlichen Zwangscharakter hätten nun die
Gesetzgeber und Pädagogen mit „Weisheit“ und der
„Frommheit einer Engelstugend“275 zu formen, so dass er „an
seiner Kette nicht verwildere, welche die ersten Grundtriebe seiner
Natur mit unerbittlicher Härte beschränkt“276. Alle Triebe, alle
Sinnlichkeit und alles affektive und emotionale Handeln
werden zu Hindernissen auf diesem Weg bürgerlichindustrieller Massenfertigung von Menschen, hin zu
„bedächtlichen, vorsichtigen, tätigen, festen, im Zutrauen sowohl als
im Mißtrauen sichergehenden, und die Mittel seiner ersten Wünsche
in sich selber, und im Gebrauch seiner durch bürgerliche Bildung
erworbenen Fertigkeiten und Kräften fühlenden Menschen“277.
272
LG, S. 670
LG, S. 669
274
Ebda.
275
LG, S. 670
276
Ebda.
277
LG, S. 670 f
273
147
Angesichts der ebenso unwirtschaftlichen wie explosiven
Triebhaftigkeit des Naturmenschen, muss Leutnant Glüphi aka Pestalozzi – auf pädagogische Grundsätze bauen, die
keinesfalls auf Empathie, Wohlwollen oder Liebe setzen:
„Er behauptete laut, die Liebe sei zum Aufziehen der
Menschen nichts nutz als nur hinten und neben der Forcht;
denn sie müssen lernen Dornen und Disteln ausreuten, und
der Mensch tue das nie gern und nie von ihm selber,
sondern nur weil er müsse, und wenn er daran gewöhnt
werde. Wer immer etwas mit den Menschen ausrichten,
oder sie zu etwas machen will, sagte er, der muß ihre
Bosheit bemeistern, ihre Falschheit verfolgen, und ihnen auf
ihren krummen Wegen den Angstschweiß austreiben“278.
Dieses unerbittliche Kontrollregime, das Glüphi errichtet,
bewirke dann auf wunderbare Weise mehr Ehrlichkeit und
Lauterkeit – eine Ansicht, die in der Realität eher das
Gegenteil bewirkt haben dürfte. Damit er jederzeit erkennen
könne, ob die unterdrückte Natur der Kinder sich in ihnen
noch rege, besteht er darauf, dass die Kinder ihm gegenüber
ein „unverstelltes Inneres“279 bewahren, dass sie „ihr Herz vor
seinen Augen offen liegend halten“280. Die ‚Biederkeit‘ als neue
bürgerliche Tugend gilt es durch angewandten Zwang und
durch Strafen erst zu erzeugen:
„Er machte sie bedächtlich, damit sie offen sein konnten. Er machte sie vorsichtig, damit sie nicht mißtrauisch sein
278
LG, S. 526
LG, S. 568
280
LG, S. 527
279
148
müßten. - (…) Er machte sie treu, damit sie Glauben fänden.
- Er machte sie vernünftig, damit sie sich trauen dörften; und
legte auf diese Weise den Grund zu dem heitern offenen
Wesen, das er von ihnen forderte“281.
In Glüphis neuer Schule wird die ‚Verstellung‘ zum
menschlichen Kardinalfehler schlechthin, den er drakonisch
ahndet:
„Auch durchstach er sie mit seinem Falkenblick, wenn er im
geringsten etwas merkte, und jagte denn darauf los, drückte
darauf zu, und preßte es ihnen aus, daß der Angstschweiß
ihnen ausging“282.
Pestalozzis Utopie einer Dorfschule in Bonnal gehört ohne
Zweifel in den Kanon der ‚schwarzen Pädagogik‘. Am Ende
von Glüphis pädagogischem Dressurakt stünden dann
angeblich Kinder, die eine zweite, bürgerliche Natur
entwickelt hätten, eine ganz neue ‚Seelenlandschaft‘:
„Fleiß, und Sparsamkeit, und Hausordnung, diese Seele des
Lebens, und dieser Schirm der Tugend, der kein Tand ist,
wird ihnen unter Glüphi Händen zur Natur“283.
Das alte Dorf war eine höchst bunte Mischung differenzierter
und auch prekärer Existenzformen – es beherbergte Sammler,
Häusler,
Quacksalber,
Wahrsager,
Dorfpropheten,
Handwerker, Vaganten, Schriftkundige, Buchkolporteure,
usw. Diese farbige Welt verschwindet in Pestalozzis System
281
LG, S. 568 f
LG, S. 568
283
LG, S. 571
282
149
vollständig. Jede Individualität ist verderblich, wie vom
Fließband sollen uniforme ‚neue Menschen‘ aus der Stanze
der Schulen hervorgehen. Nur eine möglichst homogene
Masse ließe die Treibriemen der Industrie störungsfrei laufen:
„(Glüphi) behauptete das Erziehen der Menschen seie
nichts anders als das Ausfeilen des einzelnen Glieds an der
großen Kette, durch welche die ganze Menschheit unter sich
verbunden, ein Ganzes ausmache, und die Fehler in der
Erziehung und Führung des Menschen bestehen meistens
darin, daß man einzelne Glieder wie von der Kette
abnehme, und an ihnen künsteln wolle, wie wenn sie allein
wären, und nicht als Ringe an die große Kette gehören, und
als wenn die Kraft und Brauchbarkeit des einzeln Glieds
derselben daher käme, wenn man ihns vergulden,
versilbern, oder gar mit Edelsteine besetzen würde, und
nicht daher, daß es ungeschwächt an seine nächsten
Nebenglieder wohl angeschlossen zu dem täglichen
Schwung der ganzen Kette und zu allen Biegungen
derselben stark und gelenkig genug gearbeitet wäre“284.
Dass es sich bei der Kette, in welche die Menschen
‚eingegliedert‘ werden sollen, um die Interessen und
Bedürfnisse der Industrie handelt, liegt auf der Hand. Auch
deshalb stellt Glüphi die Rechenkunst in das Zentrum allen
Sachunterrichts:
„Rechnen ist das Band der Natur, das uns im Forschen nach
Wahrheit vor Irrtum bewahrt, und die Grundsäule der Ruhe
und des Wohlstands, den nur ein bedächtliches und
284
LG, S. 670
150
sorgsames Berufsleben den Kindern der Menschen
bescheret“285.
Das Leben wird auf angewandte Subsistenzmathematik
reduziert, die Gesetze der Rechenkunst seien zugleich
Lebensgesetze; die Kinder sollen die „Zahlenverhältnisse (…) in
jeder andern Ordnung wiederfinden“286.
Das anfängliche Haupthindernis der neuen Schulordnung ist
der Religionsunterricht, der zuvor die primäre Aufgabe jeder
Schule war. Glüphi bricht dessen Funktion herunter auf die
bloße moralische Unterstützung des ökonomischen
Hauptgedankens in seiner neuen Industriereligion. Die
Gotteskenntnis wird durch ihre triebsteuernde Wirkung zu
einer Art ‚Gedankenpolicey‘:
„Die Religion ist nichts anders als das Bestreben des Geists,
das Fleisch und Blut durch Anhänglichkeit an den Urheber
unseres Wesens in der Ordnung zu erhalten“287.
Wahren und vernünftigen Gottesglauben beweise der
Mensch daher nur durch die praktische Anwendung der
neuen ökonomischen Tugenden:
„(D)er Mensch gelanget zu dieser Herrschaft des Geistes
über das Fleisch nur nach Maßgab als er von Jugend auf in
285
LG, S. 528
LG, S. 530
287
LG, S. 580
286
151
den Mühseligkeiten seiner Bestimmung und Lebensart
geübt, was seine Pflicht und sein Vorteil in der Welt ist“288.
Mit einem Wort – der Mensch soll sich in seinem irdischen
Jammertal einrichten. Unter den Bedingungen der
Protoindustrie verkürzt Pestalozzi die Religion zu einem
dürren Prädestinationsglauben, wo die „Umständ“ sagen, „was
Gottes Wort seie“289. Für diejenigen, die durch den Zufall der
Geburt in miserablen Umständen leben, bleibt der Trost des
Sozialquietismus:
„Der Glaube an Gott, und die Lehre von seinem Dienst, ist
für das Volk nicht Sache seines Kopfs, sondern seines
Herzens. – Gemütsruhe im Dunkel seiner Nacht –
Ergebenheit in den Willen Gottes im Tal von Tränen, und ein
kindliches Aufsehen auf den Herzogen und Vollender des
Lebens – das ist die Bestimmung des Glaubens, aber nicht
Kopfübung fürs Volk“290.
Von Emanzipationsvorstellungen, von einem bürgerlichen
Aufstieg durch Bildung, kann bei Pestalozzi keine Rede sein.
Religion wird zum „Bild der Ordnung und Ewigkeit“291
bestehender sozialer Gegensätze. Dies kann nur gelingen,
wenn man dem Volk die Bibel aus der Hand schlägt.
Daher verklebt Glüphi den Kindern alle verfänglichen Fragen
nach Gerechtigkeit und Gottesstrafen im Katechismus, welche
288
Ebda.
LG, S. 548
LG, S. 752
291
LG, S. 748
289
290
152
die „feste Angewöhnung an eine weise Lebensordnung“292
behindern könnten durch den „abenteurlichen Wortkram (d)er
großen
Maulreligion“293
des
Volkes,
durch
den
„Katechismuskram“294. Im Übrigen wird das Volk angewiesen,
„an nichts zu glauben, als was sich zählen, wägen, messen, und
dadurch erproben lasse“295. Was Pestalozzi predigt, ist im Kern
eine Industriereligion, ein Utilitarismus in kirchlicher Gestalt.
Das Christentum wird in eine Nützlichkeitslehre verwandelt.
Das Recht auf persönliche Bibellektüre, wie sie sich das Volk
in der ersten Reformation erkämpfte, wird von der
Gegenreformation der Bonnaler Volksaufklärer zunichte
gemacht:
„Die ganze Bibel, von Anfang des ersten Buches Moses bis
zur Offenbarung Johannes (…) ist nicht zur Kopfübung des
Volkes bestimmt, und taugt nicht dazu“296.
Angesichts einer derart rabiaten Zensur und angesichts solch
tiefgreifender Eingriffe einer reformwütigen Obrigkeit in das
Religionsverständnis des einfachen Mannes ist es kein
Wunder, dass die neue volkspädagogische Erziehungslehre
starke Widerstände in der Dorfbevölkerung hervorruft. Im
Grunde inszeniert Pestalozzi – aufklärungsideologisch verzerrt
– jetzt einen Kulturkampf zwischen Stadt und Land.
292
LG, S. 524
Ebda.
294
LG, S. 751
295
LG, S. 717
296
LG, S. 752
293
153
Der Hauptgegner der ‚neuen Ordnung‘ im Dorf Bonnal ist die
religiöse Orthodoxie. Ihre Vertreter bezeichnet Pestalozzi als
„Hartknopfengeschmeiß“297 nach dem alten Sittenrichter im
Dorf. Diese durchaus schriftkundigen Leute werfen dem
Leutnant Glüphi vor, dass er nur im Interesse der Kaufleute
die Arbeitsschule eingerichtet habe. Sie erwarten von der
Schule hingegen Bibelkenntnisse und das Einimpfen
christlicher Tugenden, aber keine „Kaufhausarbeit im Tempel zu
Jerusalem“298. Am besten wäre es, wenn man mit ihm so
verführe, „wie es der liebe Heiland den Taubenkäufern und
Geldwechslern
gemacht
habe“299.
Auch
für
einen
Generationenkonflikt im Dorf machen sie ihn verantwortlich.
Die neue Schulordnung führe dazu, dass ihre Kinder zwar
mehr lernten, jedoch „geizig und hochmütig“ würden und die
Eltern „verachten“300.
Zu diesem „Hartknopfenvolk“301 gehören keineswegs nur
Bauern, sondern auch jene Teile der Unterschicht, die
Pestalozzi in die heimindustrielle Hochleistungsmaschinerie
zwingen will. Ihnen drohen mit dem Verlust alter religiöser
Grundsätze auch handfeste materielle Nachteile, vor allem
der Fortfall der bräuchlichen Mildtätigkeit, die bei der
Vergabe von Unterstützung und Almosen nicht nach der
Arbeitsleistung und dem Zustand der Haushaltung fragt.
Hierin liegt für Pestalozzi dann auch das „Geheimnis der
297
LG, S. 532
LG, S. 535
299
Ebda.
300
LG, S. 599
301
LG, S. 544
298
154
Abgötterei“302, weil sie sich an „dem Volksgefühl Auffallendes,
Wahres und Gutes und Gutes“303 sehr eng anschließe.
Fälschlicherweise werfe sich die volksgemäße Religion „in die
Arme der gegen die Leidenden immer teilnehmend, gegen die
Verwahrloseten immer sorgfältig erscheinenden Abgötterei“304.
Für Arners Pläne wiederum, die sich auf mehr Produktivität
richten, ist die Religiosität des Volkes „eine Herzenspest“305,
ähnlich wie der frömmelnde Pietismus. Die alte Religion
hindere den Fortschritt. Für die Dorfbevölkerung hingegen
herrscht in der neuen Industrieschule der Antichrist, „da (sei)
eine gottlose Ordnung“ und man handele nicht anders, „als wenn
es völlig genug sei, wenn die Kinder nur die Freßordnung recht
lernen, und Geld verdienen, als wenn an allem anderen gar nichts
gelegen wäre“306.
Eine literarisch höchst brüchige Konstruktion muss daher
erweisen, dass auch die Volksaufklärung Barmherzigkeit und
Mitleid kennt. Der Pfarrer hält eine fulminante Kinderlehre
gegen das Predigen und Maulbrauchen in der Religion307 und
wirft seinen Zuhörern vor, dass sie sich statt um die Bibel
lieber um die „Waislein“308 kümmern sollten. Diese Ansprache
hat zur Folge, dass die Bauern einem kinderreichen Witwer,
dem seine Frau gestorben, von den Gemeindediensten befreit
302
LG, S. 753
LG, S. 754
304
Ebda.
305
LG, S. 693
306
LG, S. 619
307
LG, S. 578 ff
308
LG, S. 579
303
155
und kostenlos mit Holz versorgt wird, „damit der Junker und
Pfarrer sehen, daß sie auch Mitleid haben können“309.
Diese karitative Handlung, muss Pestalozzi jetzt aber wieder
aufs Brauchtum zurückführen, um nicht unglaubwürdig zu
erscheinen. Denn auch das Dorf kennt natürlich eine
rudimentäre Form der Sozialfürsorge:
„(E)s ist ein Herkommen im Dorf (…), daß immer sieben
arme alte Männer so fronungsfrei ihren Bürgergenuß
beziehen sollen“310.
Auch die ‚neue Ordnung‘ im Dorf hat also gar keine
Innovation durchgesetzt, sondern nur auf das alte Brauchtum
zurückgegriffen. Damit Pestalozzis Argumentation nicht
vollends zu Staub zerfällt, schreiben sich die Aufklärer einzig
noch das Verdienst zu, dass durch ihre Intervention endlich
einmal ein erweckter Armer in den Genuss einer bräuchlichen
Sozialleistung gekommen sei. Diese sei „bei Mannsdenken doch
nie an jemand andern, als an Lumpen“311 gelangt. Das Konstrukt
des ‚würdigen Armen‘ ersetzt jetzt also ein Prinzip, das bisher
ohne Ansehen der Person verfuhr. Durch Tugendhaftigkeit,
durch Arbeitsamkeit und Sparsamkeit haben sich die Armen
ihre Altersversorgung lebenslang zu verdienen.
Im neuen System stellt die Volksaufklärung den Armen eine
ganz neue Form der Unbehaustheit in Aussicht. Der Pfarrer
donnert von der Kanzel:
309
LG, S. 582
LG, S. 582
311
Ebda.
310
156
„Die ganze Natur und die ganze Geschichte rufe dem
Menschengeschlecht zu, es soll ein jeder sich selbst
versorgen, es versorge ihn niemand, und könne ihn
niemand versorgen“312.
Was Pestalozzi hier vorweg nimmt, ist im Grunde eine
libertäre Sozialpolitik, die hinausläuft auf das Prinzip: ‚Hilf dir
selbst, so hilft dir Gott‘. Was wiederum der Pfarrer in seiner
Predigt der neuen Arbeitsreligiosität und des IndustrieChristentums auch in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt.
Das neue Gesetz laute nun: „(H)ilf dir izt selber, du bist erzogen!“,
dieses „liege in Gottes Namen in der Natur“313. Die Pädagogik
wird so zu einem kostengünstigen Ersatz für alle bräuchlichen
Sozialleistungen.
Die Einstellung der Bauern und Wohlhabenden im Dorf gegen
die Armen ändert sich in Pestalozzis Fiktion im Laufe von
Arners Regiment grundlegend. Die Reinoldin, Tochter des
reichsten Bauern im Dorf, gab bisher willig Almosen:
„Bis jetzt tat sie (die Almosen) als eine Art Schuldigkeit, so
ohngefähr wie rechte Leute Zoll und Zehnten abstatten, gern
und willig“314.
Seither kam sie jedoch zur Vernunft und in „Eifer für die neue
Ordnung“. Sie stellt ihr Verhalten komplett um:
„Sie war von jeher wohltätig, aber jetzt, das sie sah, daß der
Arbeitslust, und die Anführung zur Ordnung und zum Sparen
312
LG, S. 652
LG, S. 652
314
LG, S. 558
313
157
den armen Leuten in einer Woche mehr aufhilft als man
ihnen mit keinem Almosen bei Jahren aufhelfen kann, so
änderte sie zur Stund hierüber ihre Art, und schlug auch der
besten Gevattermeisterin einen Mundvoll Brot ab“315.
Die materielle Hilfe soll durch eine kostengünstigere neue
Mentalität ersetzt werden. Das „Almosen ist nicht ein Opfer der
Weisheit und Güte sondern ganz etwas anders“316, schreibt
Pestalozzi. Dieses Instrument traditioneller Fürsorge wird
zerschlagen, um unter dem unerbittlichen Zwang der Not eine
geforderte neue Arbeitsmoral durchzusetzen. Nicht nur das
Wetter, auch die Aufklärung erzeugte die Hungerkrisen jener
Zeit.
Um zum Erfolg zu gelangen, muss die Aufklärung ‚Partner‘ in
jener Kultur finden, die sie zu vernichten trachtet. Als Folie
und Blaupause dient hintergründig hierbei immer Hirzels
Bauer ‚Kleinjogg‘, dieses Unikum im dörflichen Raum, der
deshalb zu Ruhm gelangte, weil er so einzigartig war. Auch die
Aufklärer in ‚Lienhard und Gertrud‘ stoßen auf solche Solitäre.
Diese können jene kommunikative Schwelle überwinden, die
zwischen aufklärerischer Sprache und Dorf-Idiom die
Verbreitung der Vernunft verhindert.
Im Roman ist dies der Lindenberger, ein erster erweckter
‚neuer Christ‘, der nach Ansicht des Schulmeisters „dem
Hartknopfengeschmeiß den Kopf zertreten“317 wird. Hierzu ist er
geschickter als die sprachfernen Vertreter von Patriziat und
315
LG, S. 557
Ebda.
317
LG, S. 545
316
158
Landbürgertum, weil er die neuen Grundsätze in „eigene
Ausdrücke und Bilder“318 kleiden kann.
Jenen Paragraphen, der den Gewinn Lindenbergers für das
neue Regime beschreibt, hat Pestalozzi einen ‚Schritt zur
Volkserleuchtung, der auf Fundamenten ruhet‘ genannt. Der
Renegat dient den Volksaufklärern als Kundschafter in jener
verschlossenen Welt, die dem Neuen so viel Widerstand
entgegensetzt. Der Spion kennt die Mentalität, er sieht die
Fehler in der Strategie und dient nicht zuletzt als Beispiel für
andere. Im Roman bewirkt der Einsatz Lindenbergers wahre
Wunder:
„Das Schrecklichste für dieses Geschmeiß, dessen ganze
Kraft im Maul und in leeren unverständlichen Worten
bestund, war des Mannes seine Kürze, und daß ihn
jedermann verstund und verstehen mußte“319.
Ein weiterer Taschenspielertrick, mit dem die Aufklärer ihren
neuen Grundsätzen Eingang verschaffen, besteht in der
Erfindung einer ‚Tradition hinter der Tradition‘, die allerdings
völlig ahistorisch ist. Die alte Bauernwelt beruhte bekanntlich
auf der Idee der Unveränderlichkeit. Jeder wirtschaftete so,
wie es sich über Jahrhunderte bewährt hatte, den sozialen
Zusammenhalt der Dorfbewohner regelte das überkommene
Brauchtum. Diese bestehende schlechte Ordnung im Dorf
wird von der neuen Herrschaft jetzt als Abkehr von einer noch
älteren Ordnung beschrieben, in der vorgeblich jene Zustände
geherrscht hätten, welche die Aufklärung verlangt. Dies dient
318
319
Ebda.
LG, S. 545
159
auch als Stütze der erfolgten Reformen, denn alles Erreichte
steht noch auf weichem Grund:
„Alles Gute ist noch nagelneu, der alte Sauerteig noch nichts
weniger als tot, man braucht nur Wasser schütten, so geht
er in allen Ecken wieder auf“320.
Denn von den Dorfbewohnern „(sei) nicht der zehente Teil (…)
zufrieden, daß es ist, wie es ist, und die so am meisten zufrieden tun,
sind Lumpenleute, denen die Kinder mehr Geld heimbringen als
vorher“321. Als Arner dann schwer erkrankt, gerät das
volkspädagogische Projekt in die Krise, der Widerstand
formiert sich. Eine Reihe von Leuten würden den Junker
vollends vergiften, „wenn sie ein Kraut oder ein Pulver, das für den
Tod gut ist, gehabt oder gewusst hätten“322. Auch aus diesem
Grund bedarf es der genannten Legitimation durch eine
‚Tradition hinter der Tradition‘.
Das weiseste Dorforakel muss daher auf die Puppenbühne
des Romans. Es ist der alte Renold, ein neunzigjähriger Greis,
dessen Gedächtnis weiter zurückreicht als das aller anderen
Dorfbewohner. Er berichtet den erstaunten Dorfbewohnern,
„wie vor altem in allen Stücken eine Ordnung gewesen, die im
Grunde derjenigen vollends gleich sei, die (der Junker) izt
einführe“323. Auch auf dem Gebiete des Brauchtums und
Sexualmoral „erneuerte (Arner) wieder die alten Dorfsitten, die der
320
LG, S. 606
LG, S. 619
LG, S. 641
323
LG, S. 697
321
322
160
Unschuld und dem späten Reifen der Kinder so nützlich waren“324.
Ein weiterer „alter Landmann“ stößt ins gleiche Horn und
beglaubigt, „es seie vor hundert und mehr Jahren, so wie ihn die
Alten berichtet, von der Zeit der Reformation an, bis auf seinen Vater
selig, beinahe eine gleiche Ordnung gewesen“325. So erhält die
Modernisierung die volksnahe Weihe einer Traditionalität vor
der real existierenden Tradition.
Da aber Pestalozzis Roman sich auch den konkreten
Erfahrungen des Verfassers verdankt, bricht an unerwarteten
Stellen dann immer wieder die Realität durch. So wird an
einer Stelle auf Befehl einer jungen Magnatin ein Bauer mit
Hunden gehetzt. Plötzlich scheint dort dann das bäuerliche
Wissen um die wirkliche Vergangenheit durch die
Strickmaschen des Romans, die Legitimationsgroßväter und
ihre Märlein müssen dann schweigen:
„Selbst die Ältesten sprachen nichts dagegen – sie sagten
vielmehr mit allem Nachdruck, das sei etwas Unerhörtes,
und bei Mannsdenken nicht mehr geschehen – auch die
schlechtesten und wildesten Junkern haben es seitdem man
1700 zähle, nicht gewagt die Hunde wider einen Bauern zu
hetzen, wie man sage, des vor altem begegnet sei“326.
Im Kontrast hierzu muss aber wohl die materielle Ausbeutung
zugenommen haben, im gleichen Maße, wie die barocken
Jagdfreuden zurückgingen:
324
LG, S. 739
LG, S. 818
326
LG, S. 621
325
161
„Wir ziehen izt, [sagt Arner,] wo der Großvater einen Gulden
aus diesen guten Dörfern bezogen, mehr als zehen“327.
Es bleibt noch die Frage, wo im neuen dörflichen Leben das
Vergnügen bleibt? Das traditionelle Wirtshaus- und
Spinnstubenleben will Pestalozzi durch aufgeklärte Feste der
Tugend ersetzt wissen, wo die Dorfbewohner ihr neues
industrielles Glück feiern. Eine damals unter Aufklärern
grassierende Idee.328 Vor allem aber wird ‚das neue Dorf‘ als
Familie gedacht, wo der Gutsherr und seine Adjutanten die
Rolle gestrenger und gerechter Väter einnehmen. In diesem
System tritt ein patriarchalisches Modell an die Stelle der
Sozialkontrolle durch ‚das ganze Dorf‘:
„Alle Kinder die da waren, von des Junkers Karl an, bis auf
den Kühhirten Elsi, mußten jetzt in Reihen zu ihnen hinzu,
ihnen die Hand geben, und ihnen Vater und Mutter
sagen“329.
Vor allem aber hält die Mathematik in Gestalt der Statistik
Einzug ins Dorf. Ein Dorfwirtschaftsbuch führt penibel
Rechnung über die Sittlichkeit und das Verhalten jedes
einzelnen Dorfbewohners. „Arners Gesetzgebung“330 bemüht
sich, eine „große kaufmännische Ordnung in diesem Geschäft“331
327
LG, S. 637
s. bspw. Beate Heidrich: Fest und Aufklärung. Münchner
Vereinigung für Volkskunde, München 1984
329
LG, S. 496
330
LG, 4. Buch, §51 ff
331
LG, S. 717
328
162
zu etablieren und „in den dunkeln Lumpenwinkeln des Dorfs
allenthalben das helle Licht des Einmaleins (an(zu)zünde(n)“332.
Pestalozzis Roman lässt alle sozialen Gruppen am Ende
Romans als Sieger erscheinen: die Kaufleute und
Obrigkeit, den Junker und die Unterschichten. Selbst
Bauern sind zufrieden, weil ihnen die Möglichkeit
Zehntablösung geboten wird.
des
die
die
der
Trotzdem beruhte Pestalozzis Modell bei Erscheinen des
Romans auf wirtschaftlichen Annahmen, die schon bald in die
Krise geraten würden. Der Niedergang der Proto-Industrie,
derjenige der textilen Heimarbeit, begann am Ende des 18.
Jahrhunderts und setzte sich unaufhaltsam fort. Pestalozzis
Zukunftsmodell war, im historischen Rückblick, bereits eine
rückwärtsgewandte Utopie. Das englische ‚Maschinenwesen‘
riss den Markt für Baumwolltuch unaufhaltsam an sich.
Von einem Niedergang der alten Volkskultur aber sollten wir
nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts sprechen. Die
dörflichen Unterschichten wurden in einem langandauernden
Prozess zu den Opfern der hier propagierten aufklärerischen
Maßnahmen. Nach dem Verlust der Allmende und der
bräuchlichen Unterstützung blieb ihnen nur eine neue
Arbeitsmoral, die ihnen nicht nur längst ohne Nutzen war,
sondern ihnen auch zunehmend weniger reale Beschäftigung
bot. Der verschärfte Niedergang des Heimgewerbes in
Kombination mit einer Serie von Hungerkrisen führte sie in
die Hölle des Pauperismus – und nicht nach Bonnal.
332
Ebda.
163
3. Volksaufklärer an der Macht:
Das Beispiel Zürichs und der reformierten
Schweiz
Die Schweiz ist für die Untersuchung des Verhältnisses von
gebildeten Bürgern und Landbevölkerung ein interessanter
Gegenstand, weil hier nicht, wie in anderen Staaten, die
Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Adel das Bild
komplizieren. Wo die Forschung in deutschen Staaten „die
ökonomisch abhängigen bürgerlich Gebildeten ohne selbständiges
politisches Gewicht als bedeutsame Trägerschicht des
aufklärerischen politischen Bewusstseins“333 nennt, da
entstammte in der Schweiz die Masse der Aufklärer den
alteingesessenen Familien der politischen Führungseliten
selbst. Ihr aufgeklärtes Engagement hinderte sie keineswegs
am Aufstieg in hohe und höchste Staatsämter. Fast
durchgängig war in den ‚Vororten‘ der Schweiz Aufklärung mit
Karriere verbunden.
Im ‚Dachverband‘ der Schweizer Aufklärungsbewegung, in der
Helvetischen Gesellschaft, organisierte sich „die damalige Elite
333
Hans Erich Boedeker / Ulrich Hermann: Aufklärung als
Politisierung – Politisierung der Aufklärung: Fragestellungen. In Dies.
(Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung.
Hamburg 1987 [= Studien zum 18. Jahrhundert 8], S. 3 – 9, hier: S. 7
164
der Schweiz“334. Die Konflikte zwischen radikalen und
gemäßigten Aufklärern waren hier Konflikte innerhalb einer
patrizisch-stadtbürgerlichen Herrschaftsschicht. Die Linien der
Auseinandersetzung verliefen zumeist zwischen dem
Führungsnachwuchs und der etablierten älteren Generation,
zwischen patrizisch regierten Stadt- und magnatisch regierten
Landkantonen, zum Teil auch entlang der konfessionellen
Grenze zwischen reformierten und katholischen Landesteilen.
Eine Hochburg der Schweizer Aufklärung war Zürich. Die
Bürger an den Ufern der Limmat stellten innerhalb der
Helvetischen Gesellschaft bis in die achtziger Jahre die
stärkste Gruppe. Ihr Anwachsen wurde von dem ersten
Präsidenten der Gesellschaft, dem Zürcher Stadtarzt Johann
Caspar Hirzel, intensiv vorangetrieben. Wie in den deutschen
Staaten war auch hier der Träger aufklärerischen Denkens die
„Bourgeoisie d’ancien régime“335, nur dass diese Bourgeoisie in
der von Verlegerkaufleuten und bürgerlichen Magistraten
regierten Republik Zürich die Schalthebel der Macht bereits in
den Händen hielt. Damit konnte sich die soziale Dynamik der
Aufklärung ohne Verzerrungen durch den Absolutismus der
Fürsten und des Adels entfalten. Selbst der Klerus war in
Zürich Staatskirche, ihr Gott war der Gott der Kaufleute, die
klerikale Führung entstammte durchweg den regierenden
Familien. Mehr noch als für die deutschen Staaten galt für
334
Ulrich Im Hof / Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft.
2 Bde., Frauenfeld u. Stuttgart 1983, Bd. 1: Ulrich Im Hof: Die
Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Struktur
und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft. S. 82
335
Zit. n.: Boedeker/Hermann, a.a.O., S. 5
165
diese Republik der Satz, dass „die entscheidende gesellschaftliche
Grundlage der Aufklärung (…) ihre Staatsnähe (war)“336.
Anders auch als in den deutschen Staaten, wo das Objekt der
Aufklärung Fürsten, Adel und Klerus umfasste, spielte die
Erziehung und Belehrung der Herrscher im Schweizer
Aufklärungsdiskurs eine untergeordnete Rolle. Der barocke,
prachtentfaltende Regierungsstil der älteren Generation
wurde zwar beklagt, ihm wurde ein asketisch-aufgeklärtes
Tugendideal entgegengesetzt – das Schwergewicht ruhte
jedoch eindeutig auf ökonomischen Maßnahmen, die auf die
MobIlisierung von
besteuerbaren Ressourcen und auf
agrarische Ertragsmaximierung zielten. Die Aufklärung in
Zürich war ein sozio-ökonomisches Projekt, das auf
landwirtschaftliche und heimindustrielle Entwicklung setzte.
Zum Objekt des Aufklärungsprozesses wurde so primär die
Landbevölkerung. In Zürich, wie in der Schweiz überhaupt,
gewann im aufgeklärtem Diskurs folgerichtig die
‚Volksaufklärung‘ einen Stellenwert, den sie in den deutschen
Staaten nie erreichte.
In Zürich war diese Volksaufklärung eng mit dem Namen
Jakob ‚Kleinjogg‘ Guyers verknüpft, und mit dem seines
Entdeckers, Johann Caspar Hirzel. Deshalb, weil Kleinjogg, der
‚philosophische Bauer‘, kein repräsentativer Vertreter seines
Standes war, sorgte sein Erscheinen aus dem Nichts in der
336
Hans Erich Boedeker: Prozesse und Strukturen politischer
Bewusstseinsbildung der deutschen Aufklärung. In: Boedeker/
Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung. A.a.O., S. 10 – 31, hier:
S. 10
166
aufgeklärten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts für
europaweites Aufsehen. Das Faktum, dass ausgerechnet ein
Bauer sich derart ‚erleuchtet‘ verhalten sollte, wie es sein
Biograph Hirzel beschrieb, glich einem Mirakel. Ein Besuch auf
Kleinjoggs Hof gehörte seitdem zum Pflichtprogramm
aufgeklärten Reisens in der Schweiz.
Kleinjoggs Existenz galt verschiedenen Interessengruppen als
Beleg für Umsetzbarkeit ihrer Pläne inmitten einer passivrebellischen Landbevölkerung. An seiner Person ließen sich
Konzepte für neue Lebensmodelle festmachen, auch wenn
Kleinjoggs reale Gestalt hierbei stark verzeichnet wurde. Der
‚Philosophische Bauer‘ stand im Fokus aufgeklärter Utopien
für eine ‚bessere ländliche Welt‘. Weil Kleinjogg vielen als
Matrix gesellschaftlicher Zielprojektion erschien, wurde sein
Hof zu einem „anderen Mekka“337 aller gebildeten Reformer.
In der Diskussion um diesen bäuerlichen Solitär überschnitten
sich theoretische Diskurse jener Zeit: Die Physiokraten sahen
ihre These von der Produktivität einer ‚entfesselten
Landwirtschaft‘ bestätigt; die Kameralisten erwiesen an
Kleinjoggs Beispiel, dass die steigenden Einnahmen eines
autarken Handelsstaates keine Chimäre seien, sofern Fleiß
und Peuplierung alle Ressourcen nutzten, und zwar solange,
bis kein Schuhbreit Land mehr öde läge; die Neologen der
aufgeklärten Theologie nahmen Kleinjoggs Tugenden in ihren
innovativen Volkskatechismus auf, wonach sich der Christ
nicht durch Bibelkenntnis und im ‚äußerlichen Gottesdienst‘
337
Fritz ernst: Kleinjogg der Musterbauer in Bildern seiner Zeit.
Zürich / Berlin 1936, S. 19
167
zu beweisen habe, sondern durch die unermüdliche Arbeit im
Diesseits; die an Rousseau anknüpfenden Naturphilosophen
schließlich fanden in Kleinjogg ihre Annahme bestätigt, dass
die Vernunft mit ursprünglichen, ‚unverbildeten‘ Natur des
Menschen identisch sei.
Von dem überschwänglichen Unisono der Zeitgenossen
unterscheidet sich die Forschung heute erheblich. Ein
einheitliches Urteil ist nicht zu finden. Die Einschätzungen
Kleinjoggs und seines Biographen Hirzel reichen vom Lob der
Fortschrittlichkeit bis hin zur Verurteilung ihres reaktionären
Charakters. Während Thomas Schärli die Grundsätze von
Hirzels ‚Philosophischen Bauern‘ „ein wahres Arsenal
aufgeklärter Maximen und Orientierungshilfen“338 nennt, besteht
Rudolf Schenda auf dem reaktionärem Charakter des
Landmanns und seines Biographen – nicht erst aus heutiger
Perspektive, sondern schon zu deren Zeit. Schenda schreibt
über Hirzel:
„Nein, man braucht nicht fortzufahren, diesen Brei von
phantasieund
liebefeindlichen,
prophylaktischordnungshüterischen und antiaufklärerischen (weil die
Unmündigkeit bewahrenden) Halb-Ideen aufzurühren: Nicht
338
Thomas Schärli: Der Musterbauer und sein Biograph. In: Lob der
Tüchtigkeit. Kleinjogg und die Zürcher Landwirtschaft am Vorabend
des Industriezeitalters. Zum zweihundertsten Todesjahr Kleinjogg
Guyers (1716 – 1785). Hg. v. Staatsarchiv Zürich, Zürich 1985, S. 39 –
71, hier: S. 65
168
aus unserer Sicht ist er ein Reaktionär, er war es (…) schon
zu seiner Zeit.“339
Schendas Missverständnis besteht darin, den Prozess der
Aufklärung an den Fortschritt der Mündigkeit zu koppeln. Die
Volksaufklärung – wie auch die Aufklärung generell – sah aber
nirgends eine Mündigkeit des ‚gemeinen Volkes‘ vor. Die
Mündigkeit ist kein Indikator für aufgeklärtes oder
reaktionäres Denken in jener Zeit.
Hinter der Stigmatisierung Hirzels als Reaktionär steht folglich
eine ideengeschichtliche Auffassung, die bestrebt ist, ein
durchweg positives Bild der Aufklärung zu ‚retten‘. Deshalb
werden alle Schattenseiten negiert und nachträglich
ausgegrenzt. Auch die Zugehörigkeit zur Oberschicht wird zu
einem Ausschlusskriterium aus dem aufgeklärten Großreich
des Guten, Wahren und Schönen, wie bspw. bei Holger
Böning:
„Johann Caspar Hirzel als Angehöriger der schmalen
regierenden Schicht Zürichs kann, wenn er seinen Protegé
der europäischen Öffentlichkeit als Muster eines Landmanns
vorstellt, trotz aller gern und häufig gebrauchten
aufklärerischen Versatzstücke, niemals leugnen, dass das
339
Rudolf Schenda: Der gezügelte Bauernphilosoph oder Warum
Kleinjogg (und manch anderer Landmann) kein Freund des Lesens
war. In: schweizerisches Archiv für Volkskunde 76 (1980), S. 209 –
228, hier: S. 227
169
Lob für seinen ‚philosophischen Bauern‘ das der Obrigkeit
für einen guten Untertanen ist“340.
Nach der impliziten Logik dieses Zitats muss es sich um bloße
‚Versatzstücke‘ von Aufklärung schon deshalb handeln, weil
Hirzel zur Führungselite einer Tuchmacherstadt zählt, die
Interesse an guten Untertanen hat.
Eine stete Divergenz zwischen den sozialen Zielsetzungen von
Volksaufklärung und einem obrigkeitlichen Staat wird hier
unabgeleitet vorausgesetzt, obwohl in historischer Sicht die
Volksaufklärung sich zutreffender als Strategie eines
defensiven und ökonomischen Modernisierungsprogramms
aufgeklärt-absolutistischer oder patrizischer Policey-Staaten
beschreiben ließe:
„Der absolutistische Staat setzte den Rahmen für
öffentliches und politisches Handeln, während der
Rationalismus seine philosophische Untermauerung
lieferte“341.
Der Schweizer Dachverband der Aufklärung, die ‚Helvetische
Gesellschaft‘, war geradezu „repräsentativ als Vereinigung der
staatstragenden Kreise und der intellektuellen Elite“342, wobei im
340
Holger Böning: Gelehrte Bauern in der deutschen Aufklärung. In:
Buchhandelsgeschichte 1987/1, S. 1 – 27, hier: S. 11
341
Marc Raeff: Der wohlgeordnete Policeystaat und die Entwicklung
der Moderne im Europa des 17. Und 18. Jahrhunderts, In: Ernst
Hinrichs (Hg.): Absolutismus. Frankfurt a. M. 1986, S. 310 – 343,
hier: S.311
342
Ulrich Im Hof / Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft.
Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. Frauenfeld u.
Stuttgart 1983, Bd. I: Ulrich Im Hof: Die Entstehung einer politischen
170
Falle Zürichs diese intellektuelle Elite zugleich den führenden
Familien des Stadtpatriziats entstammte. Aus dieser
Perspektive stellte auch Johann Caspar Hirzel keinen
‚reaktionären Sonderfall‘ einer ansonsten emanzipatorisch
gesinnten Aufklärungsbewegung dar. Vielmehr war er ein
überaus
erfolgreicher
Vertreter
der
Schweizer
Aufklärungsbewegung, deren Gedankengut erst aus heutiger
Perspektive ‚reaktionär‘ erscheint.
Von den Zeitgenossen hat folglich auch niemand die
Reaktionsthese geäußert. Rousseau, das sentimentale
Gewissen der europäischen Aufklärung, äußerte den Wunsch,
in Zürich sterben zu dürfen, weil er dort, in der Gesellschaft
aufgeklärter Reformpatrizier, seine Utopie einer regierenden
Geistesaristokratie verwirklicht glaubte.: „Rousseau (sieht) in
den Zürichern seine eigentlichen Nachfolger“343. Neben Rousseau
gab es eine Vielzahl weiterer berühmter Zeitgenossen, die
sich überschwänglich über die geglückte Koexistenz des
philosophischen Bauern mit den patrizischen BodmerSchülern in Zürich äußerten. Auch abseits vom Höhenkamm
der Kulturgeschichte wurde Kleinjogg als utopische
Möglichkeit eines urbanisierten, künftig verbürgerlichten
Landlebens rezipiert. Christian Friedrich Daniel Schubart
entwarf in seiner ‚Deutschen Chronik‘ das Bild einer
ländlichen Welt, wo der Geist Kleinjoggs bereits ganze
Dorfpopulationen infiziert hat:
Öffentlichkeit in der Schweiz. Strujktur und Tätigkeit der
Helvetischen Gesellschaft, S. 9
343
Olga v. Hippel: Die pädagogische Dorf-Utopie der Aufklärung.
Berlin / Leipzig 1939, S. 28
171
„Ich kam auf ein großes weites Feld; und wunderte mich,
wie alles so weislich angebaut war. Der Geist des
Kunstfleißes herrschte da überall, - und das Ideal des
philosophischen Bauern war hier realisiert. – Fruchtbare
Äcker, Wiesen mit fettem wallendem Grase bedeckt; Hügel,
die Epheu und Reben umkrochen, eine wohlgehaltene
grasende Heerde, die ihren Dank für die weise Sorgfalt ihrer
Pfleger gen Himmel zu brüllen schien; ländliche Gärten, in
denen Schönheit, Ordnung und Nutzbarkeit vereiniget
waren!“344
Diese neue Welt vor den Toren der Städte sollte neben einem
Überfluss an Nahrung auch ästhetische Befriedigung
produzieren. Das Bild der Aufklärung von einem künftig
anderen Landleben bestimmte jene fruchtbare, stark
peuplierte Welt, deren Bewohner in einem harmonischen
Patriarchalismus leben. In ihr sind Bauern und Tagelöhner so
‚aufgeklärt‘, dass sie ihre Kenntnisse auf das für ihren Stand
Notwendige beschränken, und sie sind in ihrer emotional
verankerten Untertänigkeit der Obrigkeit so dankbar, dass bei
jeder Verordnung und jedem Mandat die Tränen strömen,
angesichts der unermesslichen Güte und Weisheit ihrer
Herrschaft.
Dieses Bild entsprach in hohem Maße dem Ideal einer
aufgeklärten bürokratischen Herrschaftsschicht, die sich von
derart umerzogenen Untertanen eine Umsetzung ihrer
Reformen ohne große Reibungsverluste erhoffen durfte. Vor
dem Hintergrund dieses Ideals wurde ein atypischer
344
Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Hg. v. Christian Friedrich
Daniel Schubart, Reprint Heidelberg 1975, S. 365
172
Sozialcharakter wie Kleinjogg zum paradigmatischen Vorbild.
Es ist kein Wunder, dass dieser Landmann „von sehr großer
Weisheit und von dem vortreflichsten Herzen“345 zum Mustertypus
auch in jenen für das Volk bestimmten Kalendern wurde,
womit die Aufklärung den ‚Unrat‘ der traditionalen
Volkslektüre ersetzen wollte.
Im Kern aber handelte es sich bei den Begegnungen zwischen
Jakob Guyer und Johann Caspar Hirzel aber um ein
‚Gipfeltreffen‘ in einer unverändert ständischen Gesellschaft.
Der philosophische Bauer wie auch sein Biograph zählten
beide zu den Führungseliten – der eine auf dem Land, der
andere in der Stadt. Kleinjogg „gehörte zur privilegierten Schicht
der Vollbauern und damit zur damaligen ländlichen Oberschicht“346,
Hirzel entstammte „einem der mächtigsten Geschlechter“347 des
städtischen Patriziats in Zürich. An den Titeln von Hirzels
lobhudelnden Gedenkreden lässt sich die Karriere eines
Aufklärers in Zürich anschaulich nachvollziehen: vom simplen
Stadtarzt bis hin zum Mitglied des Geheimen Rats348.
345
Calender fürs Volk. Hannover 1783, S. 72
Hans Ulrich Pfister: Kleinjogg Gujer, eine Leitfigur. In: Lob der
Tüchtigkeit. a.a.O., s. 7 – 24, hier S. 11
347
F. Ernst: Kleinjogg, a.a.O., S. 8
348
1. [J.C.H.:] Denkmal Herrn Doctor Laurenz Zellweger aus Trogen
im Appenzeller-Land von der helvetischen Gesellschaft errichtet
durch D. Joh. Caspar Hirzel, Stadtarzt in Zürich, Zürich 1765
2. [J.C.H.:] Das Bild eines wahren Patrioten in einem Denkmal Herrn
Hans Blaarers von Wartensee, weiland hohen Oberaufsehers über
die geistlichen Güter der Stadt Zürich. Von D. H.C. Hirzel, ersten
Stadtarzt und des Gr. Raths in Zürich, Zürich 1787
346
173
In Hirzels Lebenszeit vollzog sich ein ökonomischer Umbruch
in Zürich. Die Kaufherren der Stadt hatten eine Trendwende
auf dem Markt heimindustrieller Textilien gewissermaßen
‚verschlafen‘. Die Baumwolle verdrängte zunehmend das
Leinen349. Zuvor hatte die ländliche Gesellschaft längst zwei
parallele Erwerbszweige ausgebildet, die Landwirtschaft und
die Protoindustrie:
„(D)ie Zeit von ca. 1750 bis 1765 (war) für den sozialen
Wandel im Zuge der Protoindustrialisierung von
entscheidender Bedeutung“350.
Etwa zu diesem Zeitpunkt begannen in Zürich und den
anderen Vororten der Schweiz die Schwierigkeiten beim
Absatz von Leinentuch, das von der Baumwolle verdrängt
wurde. Eine Rezession war die Folge, die in den Jahren
1770/71 kulminierte351. Zu Beginn dieser Krise der
Heimindustrien erschien Hirzels ‚Philosophischer Bauer‘.
Ökonomische Interessen und das Drängen auf Reformen im
3. [J.C.H.:] Denkrede auf Johannes Geßner, weiland Lehrern der
Naturlehre und Mathematik, Chorherrn des Karolingischen Stiffts
zum großen Münster in Zürich, Mitglied der meisten Europäischen
Akademien der Wissenschaften; Stifftern und Vorstehern der
naturforschenden Gesellschaft in Zürich. Von D. Hans Caspar Hirzel,
des tägl. und geheimen Raths, erstem Stadtarzt und Examinator der
Kirchen und Schulen; neuem Vorsteher der naturforschenden
Gesellschaft in Zürich. Abgelesen den 5. Heumonat 1790. Zürich.
349
Zu den großen Linien dieses Wandels vgl.: Sven Beckert: King
Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München 2014
350
Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz.
Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18.
Jahrhunderts. Göttingen/Zürich 1984, S. 140
351
Ebda., S. 139
174
Umfeld der Zürcher Naturforschenden Gesellschaft sind mit
dieser wirtschaftlichen Krise weit eher verknüpft, als mit
politischer Emanzipation.
Für ein paar Jahre dominierte jetzt eine physiokratische Sicht
auf die Welt, die Landwirtschaft sollte entfesselt werden. Ein
Paradigmenwechsel deutete sich an, allerdings in defensiver
Absicht. Denn die bestehende Herrschaft sollte durch neue
Grundsätze abgesichert werden. Derartige Prozesse innerhalb
von Führungseliten sind in der Regel mit einem
Generationswechsel verbunden, den die Aufklärer höchst
erfolgreich für sich gestalteten:
„Von den 386 Mitgliedern der Helvetischen Gesellschaft
brachten es etwa 130 zur Landvogtei oder zum Sitz im
Kleinen Rat, etwa 60 sogar zu den hohen und höchsten
Ämtern, zum Einsatz im Geheimen Rat oder zum
Standeshaupt“352.
Die Fragilität einer bereits vom Weltmarkt abhängigen
Wirtschaft war in der Rezession offen zutage getreten. Zwar
gelang der Zürcher Verlegerschaft innerhalb von ein oder
zwei Dekaden der Umstieg auf die Produktion von
Baumwolltuch, die sozialen Folgen waren zunächst jedoch
fürchterlich. Heimarbeiter gerieten flächenhaft ins Elend,
dort, wo sie zuvor noch in einem Minimallohnsystem
existieren konnten, das ihre geringen Einkünfte als
gottgewollten Antrieb zu unermüdlicher Arbeit verklärte.
352
Im Hof: Helvetische Ges., a.a.O., Bd. I, S. 113
175
Die Anstrengungen der aufgeklärten Wirtschaftspolitik
richteten sich derweil darauf, ein zweites ökonomisches
Standbein zu entwickeln. Die folgende „Anbauschlacht“ und
„Kartoffelkampagne“353 sollte helfen, die Kosten der
protoindustriellen Krise zu mindern. Denn bei der
Armenversorgung stand auch der Staat in der Pflicht, bspw.
durch den bräuchlichen Kornkauf in Notzeiten.
In Zürich entstand das Konzept zweier wirtschaftlicher
Leitsektoren, bestehend aus Heimarbeit und reformierter
Landwirtschaft. Protoindustrie und Physiokratie gingen jetzt
Hand in Hand, und es ist bezeichnend, dass zu jener Zeit, wo
Zürich sein Augenmerk auf die Äcker richtete, im eher
agrarisch strukturierten Bern eine spektakuläre Ausweitung
der Heimindustrie stattfand354.
Pestalozzis „große(s) Ideal einer Verbindung von Fabrik, Landbau
und Sitten“355 bestimmte in Zürich wie in Bern die
sozioökonomische Utopie der Aufklärer, nur dass dort, wo die
Heimindustrie vorherrschte, der Landbau akzentuiert wurde,
während im agrarischen Reich sich die Hoffnungen auf die
Heimarbeit richteten. Hirzels Kleinjogg-Biographie einerseits
und Pestalozzis ‚Lienhard und Gertrud‘ andererseits
illustrieren nur diese Doppelhelix sozioökonomischer
Modernisierung in der Schweiz.
353
Otto Sigg: ‚Ökonomie‘ zu Ende des Ancien Régime. In: Lob der
Tüchtigkeit. a.a.O., S. 25 – 38; hier: S. 27
354
R. Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 124
355
Heinrich Pestalozzi: Werkausgabe in acht Bänden.
Gedenkausgabe zu seinem zweihundertsten Geburtstag. Hg. v. Paul
Baumgartner, Erlenbach-Zürich 1945, Bd. 4, S. 74
176
Die physiokratische Bewegung, die in Frankreich als Reaktion
auf den Merkantilismus Colbert’scher Prägung entwickelt
wurde, setze sich eine ‚Revolution von oben‘ im Konsens mit
dem Staat zum Ziel. Sie sollte das wirtschaftliche
Eigeninteresse der Landeigentümer freisetzen:
„Das
der
natürlichen
Ordnung
entsprechende
Eigeninteresse war also der beste Motor der Wirtschaft,
insofern wirkte die Physiokratie in Richtung auf
wirtschaftlichen
Individualismus
und
Liberalismus,
insgesamt war der Physiokratismus eine Gegenbewegung
gegen den Merkantilismus, da er statt Bevorzugung der
Manufakturen die Förderung der Landwirtschaft forderte
(…), generell: statt Interventionen des Staates in die
Wirtschaft einen sich selbst regulierenden freien Prozeß“356.
Auch der defensive gesellschaftspolitische Charakter der
physiokratischen Theorie wird von der Forschung betont357.
Ebenso, wie der Physiokratismus in Frankreich „in erster Linie
eine Theorie zur Rettung der Monarchie“358 gewesen ist, so diente
er in der Schweiz als Bewegung zur Stabilisierung der
Herrschaft des Zürcher Stadtpatriziats. Jedes Sinnieren über
„Demokratisierungstendenzen“359, welche die aufgeklärten
356
Klaus Gerteis: Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik. In:
Aufklärung. Jg. 2 (1987), Heft 1, S. 75 – 94. hier: S. 78
357
Siehe z.B.: Folkert Hensmann: Staat und Absolutismus im Denken
der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung
von Quesnay bis Turgot. Frankfurt a. M. 1976
358
Ebda., S. 309
359
Höchst apologetisch und ‚pro domo‘ z.B. bei: Hans Wysling:
Gedenkblatt für Chlyjogg (1716 – 1785). Aus den Anfängen der
Naturforschenden Gesellschaft. In: Vierteljahresschrift der
177
Physiokraten Zürichs befördert haben sollen, führt in die Irre.
Wo der zuvor dominierende Merkantilismus den Staat als
Interessenvertretung manufaktur- und verlagskapitalistischer
Unternehmer betrachtete, sollte der Physiokratismus den
gleichen Staat von den sozialen Folgekosten einer in die Krise
geratenen Heimindustrie entlasten - durch die Freisetzung
agrarkapitalistischen Wirtschaftens vor den Toren - in den
weiterhin patrizischen Herrschaftsgebieten. Dass dann später,
in der sogenannten ‚Regeneration‘ der Jahre 1830/31, eine
erfolgreich erstarkte Landbourgeoisie schließlich das Patriziat
entmachten würde, war keineswegs beabsichtigt, und konnte
zu jener Zeit auch nicht vorhergesehen werden.
Auf die physiokratische Lehre, die – wie Wilhelm Ludwig
Wekherlin 1779 schrieb – „(g)egenwärtig (…) das Motto des
erleuchtesten Theils der europäischen Staaten (ist)“360, setzte die
Aufklärung große Hoffnungen, die Prinzipien dieser Theorie
seien es auch, welche die Aufklärung zu verwirklichen habe.
Wekherlin fasste diese Prinzipien in dreißig Paragraphen
zusammen: An erster Stelle stand die unumschränkte Gewalt
der Obrigkeit und die Beseitigung aller konkurrierenden
ständischen oder kirchlichen Macht. Bereits an zweiter Stelle
folgte die Volksaufklärung. Die anderen Paragraphen führten
die Heiligung des Eigentums auf, die Koppelung der
Steuerprogression an den Staatswohlstand, die Förderung des
Großgrundbesitzes, die Subventionierung agrarischer
Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1985) 130/3; S. 213 – 227,
hier: S. 217
360
[W. L. Wekherlin (Hg.):] Chronologen. Ein periodisches Werk von
Wekherlin. Vierter Band. Frankfurt u. Leipzig 1779, S. 24
178
Modernisierung durch die Regierungen, die Orientierung der
Wirtschaftspolitik an Höchstpreisen für Agrarprodukte, und –
etwas im Widerspruch hierzu – den unbedingten
Freihandel361. Zusammengefasst sollte der aufgeklärte Staat
also
die
Bedingungen
für
ein
prosperierendes
agrarkapitalistisches Unternehmertum schaffen. Politisch
drängte die physiokratische Bewegung auf die Ausschaltung
ständischer, volkstümlicher und religiöser Positionen, die der
Ausbreitung ihres neuen Denkens im Wege standen.
In der Schweiz, wie auch anderswo, konnten sich weder der
Merkantilismus noch der Physiokratismus unverfälscht
ausbreiten. Mit regionalen Unterschieden bestimmte hier die
gleichzeitige Ausbildung von Verleger- und Agrarkapitalismus
das Bild. Dieser Schweizer Modernisierungspfad war jedoch
ein überaus erfolgreicher Weg in die Moderne.
Das gern kolportierte Bild eines frommen Bauern- und
Hirtenvolkes verdeckt das wahre Geschehen eher, als dass es
dies illustriert: Die Schweiz war das Pionierland der
industriellen Revolution in Kontinentaleuropa, dessen
industrielle Potenz, bezogen auf die Einwohnerzahl, diejenige
Englands bereits im 18. Jahrhundert übertraf362. Das Bild des
tugendhaften Modellbauern, das Hirzels Biographie zeichnet,
gilt es daher im Folgenden in einen nach den Maßstäben der
361
Ebda., S. 25 ff
Vgl. hierzu: Bsilio M. Biucchi: Die industrielle Revolution in der
Schweiz 1700 – 1850. In: Europäische Wirtschaftsgeschichte. Hg. v.
Carlo M. Cipolla. Dt. Ausgabe hg. v. Karl Borchardt. Stuttgart/New
York 1977, Bd. 4, S. 43 - 62
362
179
Zeit hochentwickelten industriellen Kontext zu stellen, auch
und gerade im ländlichen Raum.
In nimmermüder Monotonie wiederholte Johann Caspar
Hirzel sein physiokratisches Credo, er formulierte es stets
nahezu wortgleich. Ein volkswirtschaftliches Argument steht
bei ihm im Zentrum, womit er auch die Biographie des
‚philosophischen Bauern‘ eröffnete:
„Die Landwirtschaft ist unstreitig der Aufmerksamkeit der
weisesten und Besten würdig, indem sich auf eine
wohleingerichtete Haushaltung des Landes die
Glückseligkeit des Staates gründet“363.
Der Erfolg des Buches erklärt sich aus diesem Fokus auf den
agrarischen Bereich. Ähnlich wie sein Kleinjogg betrachtete
Hirzel zu diesem Zeitpunkt, inmitten der Krise der
Heimindustrie, das Weben und Spinnen nur noch als eine
Spitalsbeschäftigung zur Armenversorgung364. 1788, mit dem
Aufschwung einer innovativen, diesmal baumwollbasierten
Protoindustrie, revidierte er seine Position in Richtung auf
eine Koexistenz von Heimarbeit und Landbau, wobei er die
neue Konjunktur als eine Folge volksaufklärerischer
Tugendlehren betrachtete:
„Uebrigens vertrauen wir auf Gottes Vorsehung, welche die
moralische und physische Welt mit gleicher Weisheit
regieret, und zum allgemeinen Gesetze gemacht, daß
363
Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers. Entworfen von
H.C. Hirzel, M.D. und Stadtarzt in Zürich. Neue vermehrte Auflage.
Zürich 1774, S. 3
364
Ebda. S. 139 f
180
Wohlstand immer Belohnung von Weisheit und Tugend
bleibt. Dieses kann uns die Geschichte der Fabriken
unseres Lands auf die einleuchtendste Weise belehren, da
sie Folge war, des durch die Glaubensverbesserung
erzeugten besseren Nationalcharakters, der sich durch die
freye Anwendung der Vernunft, Arbeitsamkeit und
Sittlichkeit auszeichnete. Behalten wir dieses bey, so wird
Feldbau und Fabrikarbeit neben einander fortblühen, und
ein zahlreiches Volk wird sich eines gesegneten
Wohlstandes zu erfreuen haben. Es geschehe also!“365
Zu diesem Zeitpunkt verschmolzen Hirzels und Pestalozzis
Ansichten nahezu. Gemeinsam ist beiden aber auch die
völlige Blindheit für das Marktgeschehen, für Konjunkturen
und für produktionstechnische Innovationen. Aller Wandel ist
in ihren Augen einzig und allein die Folge einer reformierten
Volkskultur.
Bei Erscheinen seiner Kleinjogg-Biographie war Hirzel von
solch versöhnlerischen Positionen noch weit entfernt. Die
überschwängliche Rezeption des Buches als „Zürcher Bibel der
europäischen Physiokratie“366 erklärt sich gerade aus Hirzels
monomanischem Fokus auf den Agrarbereich, vor allem nach
dem Erscheinen der französischen Übersetzung des Buches
365
[Joh. C. Hirzel:] Beantwortung der Frage: Ist die Handelschaft,
wie solche bey uns beschaffen, unserm Lande schädlich oder
nützlich, in Absicht auf den Feldbau und die Sitten des Volkes? Der
Naturforschenden Gesellschaft in Zürich vorgelesen von Hrn. Doktor
Ratherr und Stadtarzt Hirzel. o.O. o.J. [ = Zürich 1788], S. 68
366
F. Ernst: Kleinjogg, a.a.O., S. 17
181
als ‚Socrate rustique‘. Die Zeit der Heimindustrie sei vorüber,
schrieb Hirzel da, ihr „Verfall kann nicht ausbleiben“367.
Zentrales Instrument und Motor, um physiokratisch in das
Landvolk hineinzuwirken, waren für die Zürcher Reformer die
‚Baurengespräche‘, die regelmäßig von der Naturforschenden
Gesellschaft vor den Toren der Stadt anberaumt wurden.
Über den Ablauf informieren uns die Protokolle im
Staatsarchiv Zürich:
„Herr Stadt Arzt Hirzel machte wie gewohnlich mit einer
nachdruklichen Anrede an die Landleüte den Anfang, worin
er zeigte wie der Feldbau dem philosophe reichen Stoff zu
Betrachtungen anbiete indem er nicht nur für sich selbst ein
vollkommenes Bild von einer guten Ordnung überhaupt
abgebe sondern auch zugleich ein Bild derjenigen Ordnung
seye die in der ganzen moralischen Welt herrschen soll
(…)“368.
Der Verständigung untereinander dienten hingegen die
Vorträge in den Räumen der Gesellschaft, wo Hirzels
physiokratische Grundthesen papageienhaft einleitend stets
am Anfang standen:
„Es ist unstreitig, daß die Landwirthschaft der
aufmerksamkeit der weisesten und besten allerdings würdig
367
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 400
Staatsarchiv Zürich, Archiv der Naturforschenden Gesellschaft
[künftig abgekürzt: StaZNG], B IX, 67, S. 120 – 130: Relation der den
4ten December 1767, mit Landleüten aus dem Aüßeren Amt
gehaltenen Unterredung, S. 120
368
182
ist, in dem solche als fundament der glükseligkeit eines
Staates angesehen werden muss (…)“369.
Auffällig ist, dass die desolate Lage der Landwirtschaft nicht
einer traditionalen Wirtschaftsform zugeschrieben wird,
sondern typischerweise einem „Verfall des Feldbaus“370. Der
Bauer sei gewissermaßen ‚dekadent‘ geworden, und habe die
weisen Methoden der Vorväter vergessen. Diese Ableitung ist
typisch für die Volksaufklärung nicht nur in der Schweiz. Die
eigene Gegenwart wird als Verfallszeit beschrieben, das Ideal
hingegen liege in der Rückbesinnung auf eine graue Vorzeit.
Die Zukunft wäre in einer utopischen Vergangenheit zu
suchen.
Auch um Eingang in eine traditionsgläubige Volkskultur zu
finden, werden mythische Vorbilder konstruiert, die Moderne
wird durch eine idealisierte Vorzeit beglaubigt371. Faktisch
dagegen waren Allmend-Aufteilungen, Agrarkapitalismus und
Mergeldüngung natürlich keineswegs ‚Tugenden nationaler
Urahnen‘:
369
StaZNG, B IX, 68, S. 42 – 50: Von dem Zustand der
Landwirthschaft in Weißlingen, vorgelesen von Hr. Doctor +
Stadtarzt Hirzel Ao. 1762, S. 42
370
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 8
371
Zu diesem Verfahren in den volksaufklärerischen Schriften
Jeremias Gotthelfs vgl.:
Klaus Jarchow: Bauern und Bürger. Die traditionale Inszenierung
einer bäuerlichen Moderne im literarischen Werk Jeremias
Gotthelfs. [Hamburger Beiträge zur Germanistik 12], Frankfurt a.M.,
Bern, New York, Paris, 1989
183
„(E)s ergibt sich, dass die von den Schweizern des 18.
Jahrhunderts gegenüber dem Erbe der Ahnen empfundenen
Verpflichtungen nur zum Teil auf Gegenwartsklage,
gleichzeitige Vergangenheitsbeschwörung und damit
ausgelebten Traditionalismus hinauslaufen. Der andere Teil
ihres Nationalempfindens war zukunftsorientiert. (…) Im
‚Mythos Schweiz‘ gibt der Traditionalismus der Utopie –
eines Wiederauflebens der nationalen Einigkeit im Geiste
der Altvorderen – die Hand. (…) In diesem Sinne verstanden
die Autoren ihr nationales Bewusstsein; die aus der
Vergangenheit geschöpften Werte waren für sie
Projektionen in die Zukunft“372.
Auf diese Weise muss man auch den Ansatz der Reformer in
der Naturforschenden Gesellschaft verstehen: Zum Zeitpunkt
des Rütli-Schwurs, dies der Mythos, hätten rousseaustischnaturmenschliche Zustände geherrscht, auf die sich das
Landvolk als Vademecum gegen die fortschreitende Dekadenz
und den grassierenden Luxuskonsum zurückbesinnen möge.
Die edle Einfalt des Wilden wird zum zivilisatorischen Ideal:
„Wir würden finden, daß diese Wilden mit mehrerem Recht
die gesitteten Gäste, die ihnen ihre Güter und Freiheit
rauben, für wild ansehen, und daß diejenigen, denen man
moderne Sitten und Wissenschaften geschenket, sehr
vernünftig handeln, daß sie bei der ersten Gelegenheit zu
372
Reinhard Straumann: Literarischer Konservatismus in der
Schweiz um 1848. Bern/Frankfurt a. M./ New York 1984
[Europäische Hochschulschriften I 663], S. 43
184
der einfältigen und vernünftigen Lebensart ihrer Mitbürger
zurückfliehen“373.
Als einen solchen im Naturzustand lebenden Menschen
stellte Hirzel dann den Jakob Guyer seinen Lesern vor. Dieser
habe, weil er die Prinzipien der Aufklärung aus sich selbst
heraus entwickeln musste, zu der ‚ursprünglichen
Sitteneinfalt‘ der Ahnen zurückgefunden. Mit dieser
Rückbesinnung verwirkliche er zugleich die Anliegen der
physiokratischen Wirtschaftsreform.
Jedem Angriff auf diese mythisierte und dabei höchst
funktionale Vergangenheit folgte ein Aufschrei der
aufgeklärten Eliten in der Stadt Zürich. Ein Dissident, der es
wagte, den kraftstrotzenden Biedersinn Wilhelm Tells als
‚fable danois‘ und ‚Dänische Mährgen‘ zu verdächtigen,
wurde aus der aufgeklärten Gesellschaft umstandslos
exkommuniziert374. Denn in der Helvetischen Gesellschaft,
dieser wesentlich von Hirzel gelenkten „philosophischen
Tagsatzung der Schweiz“, nahm Wilhelm Tell eine zentrale
Rolle ein, auch wenn andere über diese „Patriotenkilbe“375
spotteten.
Nicht nur die ‚Denkmäler‘ und tugendergriffenen Totenreden
als Selbstvergewisserungen einer patrizischen Elite prägten
das Bild der Aufklärung in der Schweiz, obwohl Hirzel auch in
diesem Genre ein Meister war. Mit pädagogischem Elan
wurde auch immer die Matrix einer Lebensform für alle
373
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 20 f
Vgl.: Im Hof, Helvetische Gesellschaft, a.a.O., Bd. I, S. 30
375
Ebda., , Bd. I, S. 16 u. S. 71 [Kilbe = Jahrmarkt]
374
185
anderen Stände entworfen. Emsig suchten die Aufklärer nach
Mustern, Vorläufern und ‚Philosophen‘ in allen anderen
Schichten.
Hirzels ‚philosophischer Bauer‘ stand durchaus schon in einer
Tradition, in derjenigen der ‚gelehrten Bauern‘376. Was
Kleinjogg von seinen Vorläufern aber unterschied, war seine
ideologische Brauchbarkeit für die ökonomischen und
obrigkeitsstaatlichen Zielsetzungen der Aufklärung in Zürich
und darüber hinaus. Im Vergleich zu all den Bauern, die es
zuvor zu literarischem Ruhm brachten, wechselte der Fokus
vom ‚gelehrten Bauern‘, der Mathematik oder Philosophie
betrieb, hin zu einem Bauern, der seine gesamte Vernunft
einzig und allein auf das richtete, was seines Standes war: die
Verbesserung des Feldbaus. Nicht als „Leitfigur einer geteilten
Aufklärung“377 figurierte Kleinjogg damit, sondern einer
Aufklärung, die das allgemeine Wissen nach ständischen
Kriterien separiert und zuteilt.
In den patriotischen Gesellschaften der Schweizer Vororte
trafen sich die etablierten Männer jener Zeit, die im
verlegerischen Geschäftsleben oder in aufgeklärter
Regierungsverantwortung standen. Die praxisnahe, auf den
Nutzen zentrierte Weisheit der Verwaltungsfachleute, der
Kaufmannschaft und der patrizischen Großgrundbesitzer
verachtete das brotlose ‚tote Wissen‘ einer weltabgewandten
Gelehrsamkeit. Keinesfalls sollte eine Änderung der
untertänigen Stellung des Landvolks die Folge der Reformen
376
377
Vgl. Holger Böning: Gelehrte Bauern. a.a.O.
Ebda., S. 11
186
sein. Der papierbesudelnde Gelehrte war, in den Worten
Hirzels, eben nicht zu Kaste der Weisen zu zählen:
„Hier lernte ich den Stolz der Gelehrten verlachen, die sich
einbilden, durch ihre Gelehrsamkeit zu einer höheren Classe
von Geistern vervollkommnet zu seyn, da ihr Verstand doch
oft von Vorurtheilen ganz benebelt, und ihr Wille, in der
Sclaverey von Leidenschaften gefesselt ist, welches ihr
Stolz über die Gelehrsamkeit dem Auge des Weisen schon
genug verrät“378.
Als einen solchen Mann der Praxis, der durch den
berufsbedingten Verkehr mit den Bauern zum intimen Kenner
ihrer sittlichen und ökonomischen Verfassung wurde, pries
sich Hirzel seinen Lesern an.
Die Bauern sollen die Bauern lehren, das ist der Grundsatz,
den Hirzel mit Hilfe seiner Marionette Kleinjogg propagierte.
Die gelehrten Agronomen und Melioratoren hingegen
verfielen allesamt seinem Verdikt, weil sie „allzubegierig nach
neuen Erfindungen, ehe man die alten genugsam kennengelernt“379
immer neue Anbauverfahren propagierten und „sich mit
Urbarmachung auf dem Papier begnüg(t)en“380.
Probater wäre es hingegen, wenn die Bauern ihren
Standesgenossen jene Erfahrungen vermittelten, die sie
anderswo gemacht hätten. Die gebildeten Aufklärer
378
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 19 f
Ebda., S. 23
380
Johann Caspar Hirzel: Auserlesene Schriften zur Beförderung der
Landwirtschaft und der häuslichen und bürgerlichen Wolfahrt. 2
Bde. Zürich 1792, Bd. 1, S. 433
379
187
beschränkten sich in diesem Kontext auf die Aufgabe,
geeignete Musterbauern ausfindig zu machen und ein
Kommunikationsforum zur Verbreitung bäuerlichen Wissens
bereitzustellen. Diese Aufgabe sollte mit Hilfe der
‚Baurengespräche‘ gelöst werden, die in Zürich
instutionalisiert wurden. Dass es sich hierbei um eine
langfristige Strategie handelte, dessen war sich Hirzel
bewusst:
„(D)er Bauer muß durch die Reihen vieler Jahre, von den
Vortheilen überzeugt werden, ehe er die alten Vorurtheile
ablegt, und seine ererbten Künste gegen neue
vertauschet“381.
Um „unter den Landleuten einen löblichen Wetteifer (zu)
erwecken“382, galt es zunächst einmal die drei
Hauptargumente der bäuerlichen Widersetzlichkeit zu
widerlegen, dass nämlich ihre Voreltern auch nicht auf den
Kopf gefallen wären, dass die angepriesenen Methoden nicht
zur Beschaffenheit des Landes taugten, und dass - drittens der zu erwartende Profit in keinem Verhältnis zum Aufwand
stünde. Nicht nur die Aufklärer, auch die altväterlich
wirtschaftenden Bauern konnten folglich rechnen.
Mit Kleinjogg aber erwuchs den Aufklärern eine Figur aus der
Mitte der dörflichen Gesellschaft, der allein durch sein
Beispiel alle diese Einwände zu widerlegen schien. Als
Zielprojektion stand am Ende aller Pläne eine von KleinjoggFiguren bevölkerte arkadische Welt. Was die Mitglieder der
381
382
Hirzel: Wirthschaft a.a.O., S. 27 f
Ebda., S. 24
188
Helvetischen Gesellschaft ignorierten, war das spektakuläre
Außenseitertum dieses ‚philosophischen Bauern‘.
Auch die Kleinjogg-Biographie hat den Weg auf das Land nie
gefunden, etwas, das – nebenbei bemerkt – für die gesamte
volksaufklärerische Literatur in großem Ausmaß zutrifft. Der
Erfolg von Hirzels Buch blieb eine höchst urbane
Angelegenheit:
„Meine Arbeit machte Kleinjogg vollends in unserer ganzen
Stadt bekannt, und es war niemand, der ihn nicht sehen und
anhören wollte. Die einten, weil sein Bild sie lebhaft gerührt
hatte; die anderen, weil sie sich schmeichelten durch den
Umgang mit diesem Mann von der Falschheit meines
Gemähldes überzeugt zu werden“383.
Der ‚philosophische Bauer‘ wurde so zu einer Art
Jahrmarktsattraktion
im
städtischen
Raum.
Als
emanzipatorischer Akt darf dieses Interesse jedoch nicht
gedeutet werden – die Standesschranken blieben
unüberwindlich. Als Jakob Guyer 1765 auf Drängen des
württembergischen Prinzen Ludwig Eugen zur Tafel der
Helvetischen Gesellschaft hinzugezogen werden sollte, kam
es fast zum Eklat der Aufklärer untereinander. Aus Rücksicht
auf die standesbewusste Fraktion fand der Besuch des Bauern
im Protokoll keine Erwähnung384.
383
Brief Hirzels v. 1. 8. 1763 an Hauptmann Frey in Basel; zit. n.:
Pfister: Kleinjogg Guyer, a.a.O., S. 19
384
Vgl.: Im Hof: Helv. Gesellschaft, a.a.O., Bd. I, S. 22
189
Auch die Gegenseite, die zu den Gesprächen eingeladenen
Bauern der Umlandgemeinden, standen den wohlmeinenden
Bemühungen reserviert und passiv gegenüber. Die
ausgewählten Dörfler einer Region ließen sich freundlichst
entschuldigen
oder
delegierten
dörfliche
Beamte
stattdessen385. In einem steifen Zeremoniell aus Frage und
Antwort erkundeten die städtischen Aufklärer dann den
Zustand der Gemeinden. Einige Wochen später folgte ein
‚Rescript‘ mit Anordnungen der Gesellschaft für die Gemeinde
zur Agrarreform. Angesichts des mageren Erfolgs der
‚Baurengespräche‘ führte die Ökonomische Kommission
später Preisfragen ein, um einen materiellen Anreiz zu
bäuerlichen Verbesserungsvorschlägen zu schaffen.
Die Übermittlung und Verlesung der ‚Rescripte‘ oblag den
Amtsvögten oder den Geistlichen der Gemeinden. Mit
welchen Schwierigkeiten mentaler Art die Aufklärer hierbei zu
kämpfen hatten, zeigt der Text einer solchen Anrede, die der
Vikar Jakob Wegmann 1768 der Gemeinde Benken bei der
Übergabe des Schreibens der Naturforschenden Gesellschaft
hielt386.
Wegmann nahm schon in der Einleitung die absehbare
Reaktion der Gemeinde auf seinen Auftritt vorweg. Denn als
Geistlicher war er kein Dorfmitglied, sondern ein Vertreter
der städtischen Herrschaft. Die Pfarrherrn der Schweizer
385
Vgl.: Pfister: Kleinjogg Guyer, a.a.O., S. 20
StazNG, B IX, 67, S. 169 ff: ‚Anred an die Gemeind Benken bey
Vorlesung des von der physicalischen Gesellschaft an sie gerichteten
Rescripts: Gehalten von Herrn Jacob Wegmann Pfar-Vicaris
daselbst. 24. Hornung 1768.‘
386
190
Vororte waren „Beauftragte der Staatskirche und entstammten
samt und sonders städtischen Familien“387. Ihr „Pfarrhaus war der
einsame Vorposten der Aufklärung auf dem Land“388. Damit wurde
dem Klerus auf dem Land in der volkspädagogischen
Kommunikation eine Schlüsselstelle eingeräumt. Sie sollten
einerseits Transmitter der Reformvorschläge sein,
andererseits aus der seelsorgerischen Nähe zu den
Erziehungsobjekten ihre Kenntnis der Widerstände und
Vorbehalte in die Stadt hinein vermitteln. Auch Wegmann
kannte die bäuerliche Mentalität. Er wusste, wie leicht sein
Auftritt die bräuchliche Gemeindeautonomie verletzen und
als Herrschaftsübergriff missdeutet werden konnte:
„Eine jede Sach, die nur selten geschiehet, erwecket bey
den Leüthen Aufsehen. Wann ein Comet am Himmel
erscheint, so erstaunt jedermann darüber, weil das eine gar
seltene Sach ist, jeder jagt dem anderen Schreken ein, was
doch derselbe Böses zübedeüten habe. Es ist eine
seltsame, ja fast unerhörte Sach, daß ein Geistlicher vor
einer Gemeinds-Versammlung erscheine: vielleicht macht
darum meine Gegenwart bey eüch so viel Aufsehens, als
die Erscheinung eines Cometen; vielleicht sind viele darüber
ungedultig, machen davon eine böse Vorbedeütung und
prophezeyen von Unheil, Beschwerden und schlimmen
Auflagen, die ich über die Gemeind bringen wolle“389.
387
Wysling: Gedenkblatt für Chlyjogg, a.a.O., S. 221
Richard Feller: Geschichte Berns. Bd. 3, 2. Aufl., Bern u. Frankfurt
a. M. 1974, S. 647
389
StaZNG, Wegmann: Anred, a.a.O., S. 168
388
191
Der Vikar versuchte zunächst, seinen unerhörten Bruch des
Verhaltenskodexes zu rechtfertigen und die Bedenken der
Bewohner zu zerstreuen. Lang und breit schilderte er die
uneigennützigen Zielsetzungen der städtischen Aufklärer, die
nichts anderes im Sinn hätten, als den Gewinn der Bauern zu
steigern, und „durch gute Rathschläge des Land-Manns Glük und
Wolergehen zubeförderen“390. Auch die Baurengespräche seien
eingerichtet worden, „damit die Landleüthe Zutrauen zu Ihnen
bekommen, u. ihren Rath desto lieber annehmen“.
In betrübtem Tonfall klagte Wegmann sodann über die
mannigfaltigen Hindernisse, die seine Zuhörerschaft der
Aufklärung in den Weg lege. Er griff dabei auf die Rhetorik des
Kampfes gegen den Aberglauben zurück (s. Kap. 1), weil es
sich dabei doch nur „um lauter Hirngespinste“, um Produkte
„eiteler Einbildung“, um „Unwüßenheit“ oder gar „Boßheit“
handele. Wie erfolgreich eine solche Rede ausfiel, die dem
Publikum
wahlweise
Dummheit
oder
Bösartigkeit
unterstellte, soll hier nicht weiter untersucht werden.
Ansatzweise jedoch erlaubt der Text die Rekonstruktion der
antagonistischen altbäuerlichen Argumentation:
„Die erste Hinternuß ist das schlechte Zutrauen gegen die
Gesellschaft, u. alle die, welche guten Rath mittheilen
wollen. Mancher gedenkt, was dann auch diese Herren dazu
vermöge, u. warum sie das thun, da sie doch darzu keinen
Beruf haben“391.
390
391
Ebda., S. 168
Ebda., S. 169
192
Das eben ist der Punkt: Die Bauern vermuteten stets ganz
andere Motive der Herrschaft, als jene ‚Uneigennützigkeit‘
und ‚das Herz voll guter Gesinnungen‘, das die Rhetorik der
Aufklärung sich selbstverständlich zuschrieb. Es existierte ein
bäuerliches Misstrauen, das auf historischer Erfahrung
ruhte392, welches ein berechtigtes soziales Misstrauen der
ländlichen Untertanen gegen die städtischen Herren
spiegelte. Misstrauen, Widersetzlichkeit, Halsstarrigkeit und
ähnliche Begriffe, die ein diffuses, unbeugsames Verhalten
passiver Resistenz unter Bauern bezeugen, waren kurrente
Münzen im volksaufklärerischen Diskurs.
Für Wegmann, der dieses Widerständigkeitssyndrom an die
erste Stelle seines Lasterkatalogs stellte, kam es darauf an, in
der Folge diese Bedenken zu zerstreuen. Natürlich konnte er
nicht die städtischen Finanzen offenlegen, über den Zehnten
diskutieren oder andere Herrschaftsfragen offen bereden, er
griff daher auf das eingespielte Muster einer tugendhaften
und landesväterlichen Obrigkeit zurück und auf patriotische
Klänge:
392
In selbstkritischen Phasen reflektierte auch der Diskurs der
Volksaufklärung die Berechtigung des sprichwörtlichen bäuerlichen
Misstrauens:
„(K)einem Menschen ist eine Gehäßigkeit gegen alle Neuerungen
weniger zu verdenken, als dem Landmanne (…) (denn s)eit
Menschengedenken haben oft seine Vorgesetzten nichts neues bey
ihm eingeführt, von dem er nicht eine Noval-Steuer geben mußte“.
[J. F. Schlez: Landwirthschaftspredigten. Ein Beytrag zur
Beförderung der wirthschaftlichen Wolfahrt unter Landleuthen.
Nürnberg 1788, S. XIV]
193
„Alles das thun Sie nur aus wahrer herzlicher Liebe gegen
ihre Nebenmenschen, u. aus der rühmlichen Sorge für die
allgemeine Wolfahrt des L. Vaterlandes: dann wann es dem
Bürger u. dem Landmann wolgehet, u. aller mir möglicher
Nuzen aus dem land gezogen wird, so ist das Vaterland in
blühendem Zustand, mit dem Glük der Einwohner steigt
auch deßelben Glük“393.
Sicherlich verbirgt sich hinter dem Lobpreis der Obrigkeit
noch eine patriarchalische Vorstellung von Herrschaft, die
älter ist als die Aufklärung. Die utilitaristische Ausrichtung des
Arguments aber, die Füllung des Begriffs mit dem Nutzen und
der Wohlfahrt, die Betonung emotionaler Motive, die an die
Herrschaftslegitimation gekoppelt sind, vor allem aber auch
der patriotische Nachdruck auf gemeinsame Interessen in
einem gemeinsamen Vaterland, dies alles war kennzeichnend
für die neue Rhetorik der Volksaufklärung, nicht nur in der
Schweiz.
Für Wegmann galt es nun, den Bruch mit dem Bräuchlichen
zu relativieren, der im Überschreiten von Standesgrenzen lag,
die jedem an seinem Ort nur das zu tun befahlen, was ihm
Gott aufgetragen hatte. Denn die fachliche und sachliche
Inkompetenz der Städter, ihr Agieren außerhalb ihres
Standes, bildeten ein weiteres Argument der Bauern, mit dem
sie auf alle Reformzumutungen reagierten:
„Andere denken: Niemand der in der Stadt wohne, könne
etwas Gutes zur Verbeßerung des Akerbaus u. der Güter
anrathen. Der gröste Theil der Landleuthe denkt so (…). Sie
393
Wegmann. Anred. A.a.O., S. 169
194
arbeiten ja nicht auf dem Feld: das ist unser Geschäfft: wir
wüßen das beßer, u. können uns am besten rathen“394.
Gegen diesen Fels bäuerlichen Fachwissens führte Wegmann
die Wissenschaft ins Feld, den neuen Kontrahenten des
Brauchtums und der Tradition. Er griff zu Beispielen aus der
Antike, rühmte die ökonomischen Gesellschaften der
Aufklärung in England, Schweden, Frankreich und Italien, und
er nannte Bern und Basel als Exempel für eine neue,
reformierte Landwirtschaft.
Solche Exempel kannten aber auch die Bauern. Im
Hintergrund aller bäuerlichen Erfahrung, die sich standhaft
der Reform verweigerte, stand stets jene Vielzahl agrarischer
Spekulanten und ‚Herrenbauern‘, die bereits erbärmlich
Schiffbruch erlitten hatten. Pestalozzis Neuhof-Unternehmen
wäre nur ein Beispiel. Einige Jahrzehnte später setzte
Jeremias
Gotthelf
im
Schulmeister-Roman
dieser
395
‚Neuerungswut‘ ein literarisches Denkmal .
Diesen Hohn und Spott griff Wegmann nun frontal an. Die
Bauern seien doch selbst schuld, wenn sie von anderen
Ständen missachtet würden:
„Liebe Landleüthe! Ihr seyt es, die eüeren Stand viele mal
verächtlich machet, damit, daß ihr von den Stadtleüthen
keinen guten Rath annehmen wollet, u. sie verlachet (…).
(B)ey uns ist es zur üblen Mode worden, daß man alle
verlachtet und verspottet, welche einiche Feld oder
394
Ebda., S. 171
Jeremias Gotthelf: Leiden und Freuden eines Schulmeisters. In:
Sämtliche Werke in 24 Bänden, Erlenbach-Zürich 1921, Bd. II u. III
395
195
LandArbeit verrichten, wenn sie nicht als Bauren geboren
sind (…)396.
Das dritte und letzte Hindernis, das Wegmann beklagte, war
der bäuerliche Wahn, bereits auf dem Gipfel des Machbaren
angekommen zu sein. Diese Traditionalität der Bauern, ihre
wirtschaftliche Überlieferungstreue führe zu Stagnation und
verhindere jede Verbesserung des Vaterlandes:
„Ein anderes Hinternuß ist das allgemeine Vorutheil der
Leüthen, es seie nichts mehr zuverbeßeren. Wie oft höret
man nicht den Landmann sagen: Mein Vater und Großvater
haben es auch so gemacht, u. sie waren doch auch keine
Narren, sondern verständige Leüth: wie solte ich es dann
beßer machen als sie?“397.
Im Folgenden schilderte der Vikar seinen Bauern eine
vorgebliche Reformbegeisterung ihrer Vorfahren, die
unermüdlich damit beschäftigt gewesen seien, Sümpfe zu
entwässern und die Ertragsfähigkeit der Äcker zu steigern. Die
Anrede schließt mit dem Appell, dass die Bauern sich als
würdige Nachfahren erweisen möchten.
An diesem Punkt wird wieder die reale Tradition mit einer
‚erfundenen Tradition‘ bekämpft398. Es handelte sich hierbei
um
ein
vielfach
angewendetes
Verfahren
der
Volksaufklärung, welches allerdings nur das Ergebnis einer
396
Wegmann: Anred. a.a.O., S. 172 f
Ebda., S. 173
398
Ein Begriff, denn die britische Historiographie prägte:
E. Hobsbawm / T. Ranger (Hg.): The Invention of Tradition,
Cambridge 1983
397
196
mehr moralischen als historischen Geschichtsschreibung im
Umfeld der aufgeklärten Gesellschaften ist399. In der
Eidgenossenschaft verlieh dieser ‚Mythos Schweiz‘ den Ahnen
der Bauern Eigenschaften, die sie zu frühen ökonomischen
Patrioten machten.
Ob Wegmanns Philippika ihr Ziel im Dörfchen Benken
erreichte, darf angesichts all der Invektiven bezweifelt
werden. Interessanter ist es jetzt, welchen mentalen Wandel
ein Bauer faktisch vollziehen musste, um sich aus der sozialen
Umklammerung der Volkskultur mit ihren Normen und
Bräuchen zu lösen. Hierin liegt die wahre Bedeutung von
Jakob ‚Kleinjogg‘ Guyer, dem ‚philosophischen Bauern‘:
Kleinjogg kollaborierte mit der städtischen Herrschaft, er
riskierte Putschversuche in seiner Familie, er begab sich
freiwillig in völlige soziale Isolation, er hing einer neuen
Religion an, und er wurde zum Spott- und Hassobjekt seiner
Gemeinde.
Jakob Guyer kam 1716 als sechstes Kind eines Bauernpaares
in Wermatswyl zur Welt. Die Familie zählte zum Guyer-Clan,
der im Dorf stark vertreten war. Unter fünf männlichen und
399
„Von den Bauern-Kalendern der Spätaufklärung bis zu heutigen
Heimatkultur-Programmen zieht sich eine breite Spur der
‚Traditionsbildung‘ durch die Geschichte, die neben manchen
Wiederbelebungseffekten ganz deutlich auch ausgesprochen
erfinderische Komponenten besitzt: neue Traditionen aus ‚uralter
Zeit‘.“
[Wolfgang Kaschuba: Volkskultur zwischen feudaler und
bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt a.M. / New York 1988, S.
10]
197
zwei weiblichen Geschwistern war Jakob der zweitjüngste
Sohn, der zur Unterscheidung vom ältesten Bruder, der den
gleichen Taufnamen trug, ‚Chlyjogg‘ gerufen wurde, in Hirzels
Schreibweise dann ‚Kleinjogg‘400. Der Vater starb früh, so dass
der Hof, noch stark mit Schulden aus der vorherigen
Erbteilung belastet, erneut den Kosten einer Erbteilung
ausgesetzt war. Die Verschuldung des Hofes wuchs von 1.000
auf 1.675 Gulden. Als auch die Mutter 1733 starb,
übernahmen die fünf Brüder als Wirtschaftskooperative die
Verantwortung. Die Brüder verhielten sich so, wie es die am
Hof orientierte Logik von Bauern in Realteilungsgebieten
verlangte:
„Es brauchte den Verzicht einzelner Brüder, um das
väterliche Gut in seiner Größe einigermaßen erhalten zu
können“401.
Vermutlich deshalb, weil der jüngste Bruder altersmäßig noch
nicht fähig war, die Funktion des Wirtschaftsleiters
auszuüben, übernahm Kleinjogg nach dem Tod der Mutter die
Leitung der Wirtschaft. Dem bäuerlichen Brauchtum
entsprechend, verheiratete er sich sofort standesadäquat,
wobei weniger ästhetische oder emotionale Vorzüge der
Braut im Vordergrund gestanden haben dürften, sondern vor
allem materielle Präferenzen. Seine Frau brachte ungefähr ein
400
Zu den Details der Biographie s.:
Hans Ulrich Pfister: Kleinjogg Guyer, a.a.O.
Walter Guyer: Kleinjogg, der Zürcher Bauer 1716 – 1785. ErlenbachZürich 1972
401
Pfister: Kleinjogg, a.a.O., S. 9
198
Viertel der Schuldsumme als Mitgift in die Ehe ein, zudem war
sie künftige Erbin ihres kinderlosen Bruders.
In der Folge ließ sich ein Bruder auskaufen, einer verblieb auf
dem Hof im Wirtschaftsverband mit Kleinjogg, ein weiterer
ließ das Kapital stehen und verdingte sich als Knecht, der
jüngste Bruder schließlich, den der frühe Tod der Eltern aus
der Erbfolge verdrängt hatte, verdingte sich als Söldner. Er
kehrte später zurück und schleppte den Pietismus in
Kleinjoggs Betrieb ein, bevor er an Schwindsucht starb.
Die prekäre Lage des Hofes ließ sich durch dieses Verhalten
stabilisieren. Die Reproduktionslogik, die das Verhalten der
Guyers bestimmte, war durchaus traditional. Sie entsprach
bäuerlichen Standards, die stets das Wohlergehen des
‚ganzen Hauses‘ über das Wohlergehen des Individuums
stellten. Für das Zürichbiet beschrieb auch Hirzel diese Logik
als Norm:
„Ein Bauern calculierte so: Mein Hof mag nicht mehr als
einen, höchstens zwey Söhne zu ernähren, die anderen
mögen ledig bleiben oder anderswo ihr Glück suchen“402.
Trotz der zunächst großen Schuldenlast gehörten die Guyer
aber nicht zu den minderen Bauern im Dorf. Die Vorfahren
entstammten mütterlicherseits einer Müllerdynastie,
Großvater und Onkel waren Landrichter. Die Guyers zählten
zu den Großbauern, denen seit Generationen das Wirtsrecht
zusätzliche Einnahmen verschaffte. Der Pfarrer von
Wermatswyl, den eine obrigkeitliche Anordnung zum
402
Hirzel: Beantwortung der Frage, a.a.O., S. 129
199
Gemeindestatistiker machte, führte den Hof der Guyers als
erste Haushaltung in seinem ‚Hausbsuchungsrodel‘ auf:
„Kleinjogg Gujers Familie gehörte zur privilegierten Schicht
der Vollbauern und damit zur damaligen ländlichen
Oberschicht. (…) Er war (…) eben doch nicht der arme
Bauer, als den ihn gewisse Autoren wahrhaben wollen.
Seine Wohlhabenheit war vielmehr die notwendige
Voraussetzung, damit Kleinjogg Gujer auf seinen Gütern
pröbeln (…) konnte“403.
Es ist also einerseits die Zugehörigkeit Kleinjoggs zur
ländlichen Oberschicht, welche die materielle Voraussetzung
seiner ökonomischen Reformfähigkeit war. Dies war zugleich
auch die Vorbedingung, die seine soziale Emanzipation von
dörflichen Normen erlaubte. Die erste Familie am Ort konnte
sich am ehesten Autarkie von dörflichen Sitten und
Gebräuchen erlauben. Auf diese Außenseiterrolle Jakob
Guyers weist auch der Beiname hin, den er im ländlichen
Raum führte: Als ‚Klossen‘ bezeichnete ihn das Dorf, als
ungehobelten Klotz, der alle, die mit ihm zu tun hatten, vor
den Kopf stieß. Kleinjoggs Werdegang wie auch Hirzels
Biographie zeichnen das Bild eines Sonderlings im Dorf404.
Wir wissen wenig über die Ursachen, die Kleinjogg deviant
werden ließen. Klar ist, dass Kleinjogg in einem Dorf
aufwuchs, das die Konkurrenz zweier Kulturen kannte, zweier
403
Pfister: Kleinjogg Gujer, a.a.O., S. 11
Das Außenseitertum Kleinjoggs wird nachdrücklich betont von:
Albert Hauser: War Kleinjogg ein Musterbauer? In: Zs. Für
Agrargeschichte und Agrarsoziologie. 1961, Nr. 9, S. 211 – 217, hier:
S. 216 f
404
200
Lebensstile mit unterschiedlicher Alltagspraxis. Die Mehrzahl
der Familien in Wermatswyl lebte von der Heimarbeit, die
Bauern waren quantitativ zur Minderheit geworden, auch
wenn ihr soziales Übergewicht im Laufe protoindustrieller
Krisen wuchs:
„Vom Besitzstand her war die Wermatswyler
Einwohnerschaft deutlich zweigeteilt. Sieben Familien
gehören dem Bauernstand an (…). / Die übrigen zwölf
Haushaltungen konnten von landwirtschaftlicher Tätigkeit
allein nicht leben. (…) Ihre Hauptbeschäftigung bildeten (…)
textilindustrielle Tätigkeiten“405.
Die Weber und Spinner übten ein innovatives und erneut
expandierendes Gewerbe aus, das seine zweite Blüte – nach
dem Verfall der Leinenindustrie – in den späten siebziger und
achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts erleben sollte, diesmal
allein auf Baumwollbasis. Die Nachfrage stieg in diesem
Zeitraum permanent, kurzfristige Rezessionen waren auf
kriegsbedingte Stockungen zurückzuführen:
„(Die Baumwollindustrie war b)is in die sechziger Jahre ein
unbedeutender Gewerbezweig, (sie) begann ihr
phänomenales Wachstum in der zweiten Hälfte der
siebziger Jahre. Die Nettoeinfuhren von Baumwolle
versiebenfachten sich nahezu“406.
405
Pfister: Kleinjogg Gujer, a.a.O., S. 10 f
Peter Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien
der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang
des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1980, S. 161
406
201
Das 18. Jahrhundert, „die dritte große Ausbauperiode der
europäischen
Wirtschaftsgeschichte“407,
bewirkte
einen
spektakulären Aufschwung der Getreidepreise. Auch die
Landwirtschaft wurde renditeträchtig und „‘Ackergier‘ und
‚Ackersucht‘ triumphierten in einer Weise, welche die Zeitgenossen
erschreckte“408. Bisher ungenutzte Böden versprachen plötzlich
Gewinn, Weideland wurde umgebrochen und zur
Kompensation die Brache für den Futtermittelanbau genutzt.
Dass Kleinjogg seinen Hof so rasch von den Schulden der
Erbteilung befreien konnte, darf eben nicht nur auf
‚revolutionäre Anbaumethoden‘ zurückgeführt werden. Eine
große Rolle spielte auch der steigende Gewinn beim Verkauf
von Agrarprodukten und die geradezu explodierenden
Grundstückspreise.
Protoindustrialisierte Dörfer wie Wermatswyl kennzeichneten
überall große soziale Spannungen. Auf der einen Seite
standen zunehmend landgierige Bauern, auf der anderen jene
dörflichen Unterschichten, die nur dank einer Kombination
von textiler Heimindustrie und Gemeinlandnutzung existieren
konnten. Von den Gewinnen, die ein boomender Weltmarkt
für Baumwolltuch abwarf, sahen sie so gut wie nichts. Dieses
Einkommen allein reichte noch nicht einmal zur Reproduktion
der Familien. Allerdings entwickelte sich aus ihren Reihen ein
kleiner ‚Mittelstand‘. Gemeint sind jene Baumwollträger und
‚Fergger‘, die - wie bspw. Ulrich Bräker - den Zwischenhandel
zu ihrem Metier gemacht hatten. Die anschwellende Klage
der aufgeklärten städtischen Aufklärer über den angeblichen
407
408
Ebda., S. 132
Ebda., S. 134
202
Luxuskonsum des ‚leichtsinnigen Webervolks‘ ist dennoch in
der Regel ein bloßes Haltet-den-Dieb-Geschrei, es sollte den
demonstrativen Konsum vor allem von Alkoholika
beschränken:
„Die Lebensbedingungen dieses Vor- und Frühproletariats
waren desolat. Ob nun die Baumwollweber des Zürcher
Oberlands, die Seidenweber in Lyon, die Kattundrucker in
Chemnitz oder die englischen Baumwollspinnerinnen, sie
vegetierten alle, abgesehen von einer kleinen Schar
gutbezahlter Spezialisten, am Existenzminimum dahin“409.
Kennzeichnend für Heimarbeiterregionen ist es daher, dass
die Löhne nur einen Teil des Lebensnotwendigen bildeten. Ein
Heimarbeiter musste, damit er existieren konnte, zusätzliche
Subsistenzquellen erschließen. Dieses notwendige Surplus
erwirtschaftet er auf einem kleinen Stück Land, das er nutzen
durfte, oder indem er auf die Ressourcen der Gemeinde an
Wald und Allmende zugriff.
Zu den Paradoxien dieser Periode gehört es daher, dass jene
Menschen, die als Heimarbeiter bereits völlig vom
kapitalistischen Weltmarkt abhängig waren, zugleich die
zähesten Verteidiger des Traditionalismus und der
überkommenen dörflichen Sozialstrukturen waren:
„(Die Agrarökonomen) scheiterten im Allgemeinen am
Widerstand derjenigen, die am meisten zu verlieren
glaubten; das waren die unterbäuerlichen Schichten. / (V)or
409
Ebda, S. 183
203
allem die unterbäuerlichen Schichten halten hartnäckig an
der dörflichen Feldgemeinschaft fest“410.
Im Gegensatz zu ihnen waren Großbauern, die von der
Hausse des Getreidemarktes profitierten, sehr viel leichter für
eine Reform zu gewinnen. Es ist daher gar nicht
verwunderlich, dass ausgerechnet Kleinjogg als größter Bauer
des Ortes, mit Reformen voranging. Erstaunlich wäre es
hingegen gewesen, wenn er dies als Kleinbauer oder
Heimarbeiter begonnen hätte. Die Agrarreformen der
Aufklärung begünstigten eindeutig die Besitzenden.
Trotzdem waren diejenigen, denen eine Reform durchaus
Gewinn versprach, mental an eine alte Ordnung gekoppelt,
die sich durch Mechanismen der Kontrolle und des
Brauchtums auf ungeschriebene Gesetze sittlichen und
sozialen Wohlverhaltens bezog. Von dieser Ordnung isolierte
sich Kleinjogg völlig, und musste dies auch tun, um seine
‚Reformen‘ durchzuführen. Möglich war ihm dies, weil die
alte Ordnung im Dörfchen Wermatswyl unter kulturellen
Konkurrenzdruck geraten war, und zwar nicht nur durch die
Aufklärer aus der Stadt.
Die Koexistenz zweier kultureller Lebensformen in einem Dorf
verlief nirgendwo konfliktfrei. Heimarbeiter unterschieden
sich in ihrem alltagskulturellen Verhalten deutlich von den
Bauern411. Aus den Konjunkturzeiten der Protoindustrie sind
410
Ebda., S. 134 u. 142
Vgl. hierzu:
Rudolf Braun: Industrialisierung und Volksleben. Veränderungen der
Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit
411
204
Spottlieder der Heimarbeiter auf die Bauern überliefert, die
Bauern wiederum entdeckten zunehmend das kühle Gesetz
von Angebot und Nachfrage bei ihrem ökonomischen
Verhalten den Heimarbeitern gegenüber. Der Zusammenhalt
der Dorfkultur bröckelte, die Dorfgemeinschaft entwickelte
sich zunehmend zu einer Zweischaft. Kleinjogg ist für diesen
Sachverhalt ein Beispiel, allerdings griff er zu
Verhaltensmustern aus beiden Kulturen.
Noch bevor er als ökonomischer Reformer agierte, adaptierte
er eine nichtbäuerliche Form der Religiosität. Er ließ sich nach
der der Hofübernahme „von den so geheißenen Frommen
verführen“412, vor allem vermittelt über seinen jüngsten
Bruder. Jakob Guyer wurde zum Pietisten. Während die
anderen Bauern den frömmelnden Pietismus abfällig als ein
„Krampferevangelium“413 betrachteten, als eine Art religiöser
Krankheit, die primär unter Heimarbeitern grassierte:
„So wie sich (…) der Fabrikler und der Geissenbauer
verbanden zum Mischtypus des Arbeiterbauern, so sind
auch der Fabrikler und der ‚Stündler‘ in vielen Fällen eins.
in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800.
(1960) 2. Aufl. Göttingen 1979
Peter Kriedte / Hans Medick / Jürgen Schlumbohm:
Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche
Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des
Kapitalismus. Göttingen 1978, hier bes.: S. 90 ff
Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriß
einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts.
Göttingen und Zürich 1984, S. 131 ff
412
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 154
413
Ebda., S. 265
205
Die Verbindung von verinnerlichter, oft sektenhafter
Frömmigkeit mit industrieller Arbeit muss für die Zeit der
Heimindustrie und der frühen Fabrikarbeit geradezu als
charakteristisch angesehen werden“414.
Kleinjogg übte damit an eine Form religiöser Praxis aus, die
für das genuin bäuerliche Milieu atypisch war. Andererseits
schient der Pietismus auch mentale Voraussetzungen für den
Aufstieg in der alten Gesellschaft bereitgestellt zu haben.
Überaus devot, augenverdrehend und angepasst frömmelnd so beschrieb die zeitgenössische Literatur die Pietisten in der
Regel. Durch eine extrem adaptive Haltung gegenüber der
Obrigkeit und durch die Verachtung aller Nichtauserwählten,
deren Verdammnis allein das pietistische Subjekt durch einen
persönlichen Gnadenbeweis Gottes entkam, schuf diese
Religion zugleich die Voraussetzung für neue soziale
Bündnisse.
Beispiele für diesen Sachverhalt wären Ulrich Bräker, der
‚arme Mann aus dem Toggenburg‘, der über den Pietismus
den Weg in die aufgeklärten Gesellschaften fand, oder später
auch der vormalige Geissenbauer Heinrich Bosshardt, der
allerdings nicht ökonomisch aufstieg, sondern in einem
pädagogischen Umfeld Karriere machte. In jedem Fall
erleichterte eine pietistisch verinnerlichte Frömmigkeit, die
sich vom ‚äußerlichen Gottesdienst‘ der bäuerlichen
414
Richard Weiss: Stadt und Landschaft Zürich. In: Schweiz. Ges. f.
Volkskunde (Hg.): Zur Erinnerung an Richard Weiss. Drei Beiträge
zur Volkskunde der Schweiz. Basel 1963, S. 255 – 268, hier: S. 265
206
Volkskultur separierte, den Bruch mit alten und die
Übernahme neuer kultureller Verhaltensmuster415.
Der Pietismus blieb auch im Falle Kleinjoggs virulent, obwohl
er mit der grüblerischen und nach innen gekehrten
Frömmigkeit aufräumte, zugunsten einer manischen und ins
Exzessive getriebenen Arbeitsmoral, die nun zu seinem
Gottesdienst wurde. Er verband die neue Religion mit seinen
ökonomischen Interessen zu einer Art ‚bäuerlichen
Wirtschaftspietismus‘. Muße war auf Kleinjoggs Hof fortan
unbekannt, selbst den Feierabend oder den Sonntag füllten
religiöse Andachtsübungen, Psalmengesang und gemeinsame
Bibellektüre:
„Da sahe ich, daß Lesen und Beten nichts helfe, bis man
seine Pflichten erfüllet, aber dann geben sie der Seele eine
ungemeine Stärkung“416.
Auch der Verzicht auf das Wirtsrecht unterschied Kleinjogg
von den anderen Bauern im Dorf. Dieses Recht war erblich an
einen Hof gebunden und stellte eine nicht unerhebliche
Quelle des Einkommens dar. Zudem war es statusbildend und
erhöhte den Rang des Inhabers im Dorf. Bei diesem Verzicht
spielten sicherlich asketisch-pietistische Aversionen gegen das
Wirtshausleben eine Rolle, vielleicht auch der Tod des Vaters,
der dem Alkohol allzusehr zugeneigt gewesen sein soll. Auch
Kleinjogg zeigte alle Anzeichen eines Suchtverhaltens. Ihn als
415
Außerhalb der Schweiz wären Jung-Stilling oder Karl Philipp
Moritz Beispiele für diesen Sachverhalt.
416
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 155
207
„workaholic“ zu bezeichnen417, wäre fast schon ein
Euphemismus. Später, mit nachlassender Arbeitsfähigkeit,
verfiel auch er einem gelinden Altersalkoholismus.
Entscheidender für den Verzicht war aber die soziale Funktion
des Wirtshauses im Ort. Neben der Kirche konstituierte sich
dort die Dorfbevölkerung als Gemeinde. Hier wurden
Informationen ausgetauscht, Konsens über soziales
Fehlverhalten hergestellt, Geschäfte und Verabredungen
getroffen. Kleinjogg, der sich und seine Familie auf allen
Gebieten vom dörflichen Diskurs zu isolieren trachtete,
handelte insofern nur konsequent, als er mit dem Verzicht auf
das Wirtsrecht eine der zentralen Oppositionsstätten gegen
sein Sozialverhalten schloss. Zugleich fügte er der Gemeinde
eine politische Niederlage zu, die seit einigen Jahren mit dem
benachbarten Pfäffikon einen Prozess um das eigene
Wirtsrecht führte.
Vor allem die selbstgesuchte soziale Isolation Kleinjoggs ist
erschreckend. Auf allen Gebieten löste er sich aus der
dörflichen Kommunikationskultur. Seine Familie hielt er sogar
von den obrigkeitlichen Sozialisationsinstanzen fern, von
Kirche und Schule. Seine Kinder nahmen weder am Unterricht
noch am Kirchgang teil. Nur einer seiner Brüder besuchte an
den Sonntagen die Kirche, während der andere im Haus bei
den Kindern verblieb. Es waren aber keinesfalls die weisen
Ermahnungen der Obrigkeit, weshalb Kleinjogg seine Kinder
von Kirche und Schule abschottete, es war der zu enge
417
S. Pfister. Kleinjogg Gujer, a.a.O. S. 16
208
Kontakt zum dörflichen Umfeld, in den sie dort geraten
wären:
„Hingegen hinterhaltet er [seine Kinder], so viel er immer
kann, von andern Gesellschaften, damit sie nicht die
verdorbenen Sitten und Gewohnheiten, die er mit saurer
Mühe aus seiner Haushaltung verbannt, kennen lernen, und
so darnach lüstern werden. Er hat sie aus diesem Grund
niemals in die öffentliche Schule geschickt, er besorgte, der
Umgang mit ungesitteten Kindern auf der Strasse und in den
Ruhestunden, möchte ihnen mehr schaden, als die
Unterweisung im Lesen und Schreiben ihnen nutzen
würde“418.
Kleinjoggs Hof kann, aus heutiger Perspektive, mit Fug und
Recht als eine ‚Arbeitshölle‘ bezeichnet werden. Vom Gesetz
unaufhörlicher Arbeit her bestimmte sich alles Leben im
Haus. Die Zeitökonomie regierte und selbst der Sonntag dient
der rituellen Einübung des Arbeitsethos:
„Der Sonntag wird mit Absingung der Psalmen, mit Lesen in
der Bibel, mit ermunternden Gesprächen von dem Glück
des Bauernstandes, von der Gemütsruhe, die dem fleißigen
Arbeiter zu Theil wird, wenn er die Früchte seines Fleißes
vor sich siehet, [zugebracht]“419.
Nur durch diesen arbeitsmoralischen Unterricht unterschied
sich der Sonntag von anderen Wochentagen. Auch die
Nahrungsaufnahme betrachtet Kleinjogg als bloßes Mittel zur
Reproduktion der Arbeitsfähigkeit, jeder sinnliche
418
419
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 120
Ebda., S. 299
209
Gaumenkitzel wurde von ihm verbannt. Daraus folgte
natürlich eine gewisse Gleichheit, weil Bauer und Gesinde
stets die gleiche Nahrung erhielten, andererseits verlor das
Essen jeden Festcharakter. Weder an Sonn- noch an
Feiertagen wechselte die Monotonie der aufgetragenen
Speise, zumal gerade diese arbeitsfreien Tage keine üppigere
oder wohlschmeckendere Nahrung verdienten.
Um die Arbeit zentrierte sich alles auf diesem Hof. Sie
regulierte auch die soziale Ordnung. Man könne, sagte
Kleinjogg, „Gott nicht besser diene(n), als durch eine getreue
Ausübung seiner Pflichten“420. Mit erbarmungsloser Konsequenz
setzte er sein Arbeitsgesetz in der Familie durch. Kleine
Kinder, die noch das Stadium der Arbeitsfähigkeit erreicht
hatten, mussten von der Erde essen, weil sie vor dem
Erreichen eines produktiven Alters „noch als ein Thier
anzusehen“421 seien.
Diese exzessive Ausbeutung der kindlichen und familiären
Arbeitskraft war bisher eher für das protoindustrielle Milieu
typisch gewesen: ‚Frühe Heirat, viele Kinder‘, lautete dort das
Gesetz, weil Kinderreichtum bei ‚Fabriklern‘ das Einkommen
erhöhte - zumindest solange, bis diese Kinder selbst der
Arbeitshölle des Elternhauses entfliehen konnten, um einen
eigenen heimgewerblichen Haushalt zu gründen. Im
bäuerlichen Milieu galt eher das Gesetz später Heirat mit
einem übertriebenen Stolz auf die künftigen Hoferben422.
420
Ebda., S. 153
Ebda., S. 121
422
Vgl. hierzu bspw. Jeremias Gotthelfs ‚Anne-Bäbi-Jowäger-Roman‘
421
210
In einer durch Arbeitskräftemangel gekennzeichneten Region
unterwarf also Kleinjogg seinen Hof der protoindustriellen
Logik familienwirtschaftlicher Reproduktion. Folgerichtig
erntete er den Spott der bäuerlichen Nachbarn, deren
Arbeitsleistung sich nicht am moralischen Imperativ
unaufhörlicher
Arbeit
orientierte,
sondern
an
landwirtschaftlichen Notwendigkeiten:
„Närrischer Erde-Mann, du must dich nun selbst straffen,
das du nur immer vom Arbeiten redest, und so wenig Gott
vertrauest und unser spottest, wenn wir es thun, und von
ihm den Seegen erwarten; wenn wir nach der Gewohnheit
unserer Vätter unser Feld bestellt haben, und inzwischen
auch in Ruhe der Früchten, die uns Gott bescheert,
genießen“423.
Auch diese verführerische Perspektive eines traditionalen
Arbeitsverhaltens, das den Rhythmus von Arbeit und Muße
noch kannte, erklärt jene Rigidität, mit der Kleinjogg seine
Familie von allen schädlichen Sozialkontakten im Dorf
isolierte.
Darüber hinaus ist es fraglich, inwiefern Kleinjogg überhaupt
als ein ‚Reformlandwirt‘ zu betrachten wäre, zieht man die
Maßnahmen heran, die er praktizierte. Die Mischung von
Erden war andernorts seit Jahrzehnten bekannt, und die
Verwendung von Laub, Tannennadeln und Reisig zu
Düngezwecken weist die Agrargeschichte sogar schon für das
423
Hans Caspar Hirzel: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers,
nebst einigen Bliken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere
den Menschen intreßierende Gegenstände. Zürich 1785, S. 22
211
Jahr 1617 nach424. Die für die reformierte Landwirtschaft der
Volksaufklärer typischen Methoden, ob Stallfütterung oder
Fruchtwechselwirtschaft, fanden auf Kleinjoggs Hof hingegen
keinen Eingang. Zudem war Kleinjoggs Biograph in
agrartechnischer Hinsicht keine Kapazität. Unter anderem
testierte Hirzel als Gutachter der Helvetischen Gesellschaft
dem Neuhof Pestalozzis noch hervorragende Aussichten, als
der bereits vor dem Ruin stand425.
Die Dorfbevölkerung bestritt auch gar nicht, dass mit der
Mischung von Erdarten kurzfristige Ertragssteigerungen zu
erzielen wären. Sie lehnte jedoch eine Mentalität ab, die um
eines kurzfristigen Vorteils willen, den Ertrag der Äcker
langfristig minderte. Kleinjoggs exzessive Plünderung des
Waldes, das Zusammenraffen von Reisig und Laub, wurde von
den anderen Bauern als ein kurzsichtiges Verhalten kritisiert,
das dem Wald die notwendigen Nährstoffe raubt426.
Eine Rolle spielten sicherlich auch soziale Rücksichten, da das
Reisig- und Tannzapfensammeln in den Wäldern bisher ein
Privileg der dörflichen Unterschichten war. Und während die
anderen Bauern Gemeindewald und Allmende für ebenso
wertvoll erachteten, wie ihr privates Weide- und Ackerland,
424
Wilhelm Abel: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom
frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert [Dt. Agrargeschichte 2],
3. Aufl., Stuttgart 1978, S. 92
425
Vgl.: Peter Stadler: Testalozzi. Geschichtliche Biographie. Bd. I:
Von der alten ordnung zur Revolution (1746 – 1797), Zürich 1988, S.
152 f
426
„Schmähesucht“, empörte sich Hirzel, sei es, die Kleinjogg
„dieses zur Sünde machte und ihn als Holzverstörer abschildert“
[Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 274]
212
da war Kleinjogg „immer für seine gebauten Güter partheyisch, und
(machte) sich nicht allzuviel Skrupel (…), solchen auf Kosten der
ungebauten Güter Hilfe zu leisten“427. Revolutionär waren folglich
nicht Kleinjoggs ökonomische Verfahren, revolutionär war
jene Mentalität, die ihn beseelte, die Zukunft des Hofes um
eines kurzfristigen Vorteil willen aufs Spiel zu setzen.
Wegen seiner Verachtung allen Brauchtums also stand die
Dorfbevölkerung kopfschüttelnd vor diesem Außenseiter, der
ihnen als Quartalsirrer erschien. Kleinjogg wurde „von seinen
Mitbürgern verlachet“428; den vorgeblichen ‚Musterbauern, der
jedes Almosen verweigerte, „klagete (man) einer Heftigkeit gegen
seine unschuldigen Kinder, so wie eines unverantwortlichen Geitzes
gegen die Armen an“429. Wegen seiner unverantwortlichen
Devianz wird er „von jedermann gehasset“430:
„(D)amit aber ziehet er sich viele üble Nachreden zu, man
nennt ihn einen secterischen Menschen, einen harten Vater,
der aus Geiz seinen Kindern kein Vergnügen gönne“431.
Eine durchaus zutreffende Beschreibung, könnte man sagen,
die von einem gesunden Urteilsvermögen der traditionalen
Bauern zeugt. Im Gegensatz hierzu aber empfand Hirzel ein
unverhohlenes Vergnügen beim Anblick von Kleinjogg, dem
guten Untertan. Aus einer aufgeklärt-obrigkeitlichen
Perspektive heraus entsprach Kleinjoff mit seiner manischen
427
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 275
Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 114
429
Ebda., S. 116
430
Ebda., S. 110
431
Ebda., S. 121
428
213
Produktivität dem Ideal des nützlichen Landbewohners. Hinzu
kam, dass Kleinjogg, der alle Kontakte zum Dorf gekappt
hatte, neue politische Bündnispartner suchte und fand. Er
wurde zum ‚Herrendiener‘ und verriet die Interessen der
Bauern, die auf Gemeindeautonomie und auf die ständische
Garantie alter Rechte pochten.
Der Renegat Kleinjogg empfahl der Obrigkeit, den
Widerstandsgeist der Bauern gewaltsam zu brechen. Bauern
müsse „man mit Gewalt zu ihrem Besten führen“432. Auch
wendete er sich hierbei gegen eine angebliche
Unproduktivität seines Standes, gebrauchte also den
zentralen Vorwurf der Aufklärung an die traditionale
Landbevölkerung. Er übernahm damit die obrigkeitlichstädtische Perspektive. Angesichts des Traditionalismus der
Dorfbevölkerung, der sich begrifflich in Wörtern wie ‚alter
Schlendrian‘, ‚Müßiggang‘ und ‚Trägheit‘ verdichtete, forderte
Kleinjogg die Obrigkeit auf, dem Ideal unermüdeter Arbeit
absolute Geltung zu verschaffen und hierbei „nach der
äussersten Schärfe (zu) verfahren“433. Letztlich sollte der
ländliche Raum in eine Arbeitsanstalt verwandelt werden, mit
Hilfe einer obrigkeitlichen ‚Arbeitspolicey‘:
„(D)ie Herren Landvögte (sollen), die welche den guten
Erinnerungen (…) nicht folgen wollen, durch Strafe an Leib
und Gut zur Arbeit treiben“434.
432
Ebda., S. 98
Ebda., S. 96
434
Ebda., S. 96
433
214
Derartige Forderungen des dörflichen Außenseiters, der sein
eigenes manisches Arbeitsverhalten zur sittlichen Norm
machen wollte, machten den ‚Musterbauern‘ in Wermatswyl
nicht beliebter. Ein Dorf ächtete damals generell jeden
Landbewohner, der die Kooperation mit den aufgeklärten
Eliten wagte, ob es sich um den Schweizer Bauern Boßhardt
handelte, der nach den Treffen mit der Naturforschenden
Gesellschaft als ‚verfluchter Herrenschmeichler‘ galt, der als
‚Ohrenbläser‘ der Obrigkeit für jedes Mandat verantwortlich
gemacht wurde435, oder ob es um die begründeten
Befürchtungen des Bauern Conrad Beereuter geht, der sein
Fernbleiben von einem ‚Baurengespräch‘ mit sozialen
Konsequenzen entschuldigt:
„[Er wolle nicht] in unserer Gemeind führ ein auffrührer und
Verächter (…) angesehen werden“436.
435
„Den 6ten May bekam ich den Preis von der naturforschenden
Gesellschaft in Zürich mit einem Dukaten. (…) Dieses wurde an
meinem Orte bekannt und gab vieles Gerede. Die einen sagten: der
versteht ja gar nichts von dem Gütergewerb; die anderen: seine
Herren haben seine Schrift geschrieben. Da mußte ich auf dem
Kirchweg manche harte Pille verschlucken (…). Bei jedem Mandat,
das nicht gefiel ist: die verfluchten Schmeichler gebens den Herren
so an; sie wüßten dergleichen Sachen nicht, wenn die faulen H***
nicht wären, die sich nur mit dem abgeben, wie sie Bauern können
in’s Verderben stürzen, und dabey wurde ich angesehen, als ob ich
ein Landesverräther wäre“.
[Heinrich Boßhardt, eines schweizerischen Landmannes
Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben. Hg. v. Johann Georg
Müller, Winterthur 1804, S. 65]
436
Zit. n.: Thomas Schärli: Der Musterbauer, a.a.O., S. 55
215
In diesem letzten Fall ist es bezeichnend, dass hier ein
minderer Bauer jene Zusammenarbeit nicht wagte, die ein
großer Bauer wie Kleinjogg riskieren konnte.
Doch nicht nur mit der sozialen Umwelt des Dorfes lebte
Kleinjogg in Zank und Hader, auch innerhalb der Familie kam
es zu Spannungen und Konflikten. Die neue Kindererziehung
erwies sich als dauernder Anlass zu Streit und Wortwechseln:
„(A)uch die bessere Denkungsart meiner Kinder verdanke
ich (der Sandgrube). Lange murrten sie über mich bey den
harten Arbeiten in den Wintertagen, die uns von den
gewohnten Tagen übrig bleiben, da sie solche andere im
Müßiggang, unter unnützen Gesprächen, oder beym
Verschwenden des Weines und des Mosts, die zur
Erquickung in den langen Sommertagen dienen sollten, mit
den Nachbarn hinbringen sahen. (…) Ihr Mißvergnügen
vermehrte sich, wenn sie die Nachbarn über unsere
Verrichtungen spotten hörten. (…) All mein vätterlich
Ansehen mußte ich verwenden, meine Söhne bey der Arbeit
zu erhalten, die sie für unnütz und wohl gar oft für sündlich
ansahen, aber ich setzte es durch, und nun habe ich
gewonnen“437.
Die Arbeit war hier Selbstzweck geworden, von der
‚Verbesserung der Landwirtschaft‘ war keine Rede mehr. Das
unablässige und weitgehend sinnfreie Wühlen und Rackern in
der Sandgrube diente hier als pädagogisch-moralische
Erziehungsinstanz. Nur in völliger sozialer Isolation gelang es
Kleinjogg, diese asketische Arbeitsmoral auf die
437
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 21 ff
216
nachfolgenden Generationen zu übertragen. Als wesentlichen
Erziehungserfolg betrachtete der ‚Musterbauer‘ hierbei die
religiöse Aufladung der Arbeitsmoral, als Haupthindernis sah
er die Volksreligion und den Fatalismus in ihrem Gefolge:
„[Meine Söhne] erkennen nun, daß dieses Gott dienen
heisse, wenn man seinem Beruffe getreu ist, mit Fleiß und
Nachdenken seine Geschäfte behandelt, und dabey an Gott
denkt, der uns dazu beruffen hat, und der auf fleissige und
wohl überlegte Arbeit, reiche Erndten folgen läßt. Nun
verachten sie die heuchlerischen Reden der Müßiggänger,
die die Hand im Schoos Gottes Segen erwarten, wenn sie
zuweilen Gebätter daher plappern, die sie selbst nicht
verstehen, und mit Kirchengehen, Lesen, und
heuchlerischen Reden Gott um seinen Seegen betriegen
wollen“438.
Kleinjoggs isolationistische Erziehungserfolge wurden
optimistisch verzeichnet, auch sein Biograph Hirzel trug die
rosarote Brille aller Musterdorf-Volksaufklärer. Zwar gelang
es Kleinjogg, der Sozialkontrolle des Dorfes zu entgehen, als
er den städtischen Katzenrütihof übernahm, auf dem keine
Gemeinderechte lasteten. Doch der Kontrolle seiner Familie
entkam er nicht. Bei jedem einschneidenden Ereignis brachen
hier die alten Konflikte wieder auf.
So schmälerte beispielsweise Kleinjoggs Arbeitswut die
Heiratschancen seiner Kinder. Reich zu heiraten war ein
zentrales Wirtschaftsziel jeder jungen Generation auf dem
Dorf, um die Belastung der Erbteilung durch die Mitgift
438
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 23
217
teilweise
auszugleichen.
Zugleich
waren
mögliche
Ehekombinationen ein Gradmesser für den Status einer
Familie im Dorf. Obwohl ihr Vater der reichste Bauer in
Wermatswyl war, wurde eine adäquate Heirat für Kleinjoggs
Söhne zum Problem:
„(E)s schmerzte ihn, daß sein noch unverheirateter Sohn,
auch einen Hang zeigte, durch Heyrathen reich zu werden,
und dem Vater oft Mißvergnügen in seiner Miene blicken
lassen[!], weil er erfahren, daß die harten Grundsätze seines
Vatters, die so sehr von der gemeinen Art zu denken
abwichen, reiche Töchtern abgeneigt machten, in dieses
Haus zu heyrathen“439.
Auch wenn sich dieses Problem letztlich doch durch eine Ehe
löste, drohte schon der nächste Konflikt, der Machtkampf um
den Hof unter den Generationen. Nach dem Tod seiner Frau
sollte sich Kleinjogg, wie es ‚bräuchlich‘ war, aus dem Betrieb
schrittweise
zurückziehen,
denn
jeder
gesunde
Bauernhaushalt beruhte auf einer kooperierenden
Paarstruktur. Verwitwung hieß für den überlebenden Teil,
Übergabe des Hofes an die jüngere Generation. Zum Anführer
der Opposition gegen Kleinjogg entwickelte sich der
Schwiegersohn:
„(N)ach ihrem Tode glaubte der Tochtermann mehr Recht
zu haben, das Haus regieren zu helfen, und sich den
439
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 280
218
besondern Einfällen des Vatters zu widersetzen, die so oft
den Neid und den Spott der Nachbarn erweckten“440.
Als Kleinjogg es dann auch noch wagte, sich ein zweites Mal
zu verheiraten, und dazu noch unter seinem Stand, schlug das
Feuer ins Dach und der Wirtschaftsverband brach
auseinander. Der Schwiegersohn verließ den Hof und
übernahm eine andere Pacht, die Kinder rebellierten offen,
und selbst die arme Witwe, der Kleinjogg den Antrag machte,
erbat sich Bedenkzeit:
„Er forderte deswegen diese arme Witwe zur Ehe auf, die es
selbst im Anfange nicht begreiffen konnte, einen solch
angesehenen Bauer zu heyrathen. Er ließ aber nicht nach,
bis sie sich mit ihm versprach. Seine Kinder wurden dadurch
sehr entrüstet. Sie hielten es für eine Beschimpfung ihres
Hauses, daß der Vater ihnen eine arme Witwe zur
Hausmutter einsetzen wollte, und der Hausfriede schien in
Gefahr für immer zerstört zu werden. Neid und
Verläumdungssucht (…) schrieben das Unternehmen
Kleinjoggs ganz anderen Beweggründen zu (…). Die
Heyrath ward als ein Deckmantel der Geilheit des entlarvten
Philosophen verschrieen, und Kleinjogg ward genöthigt, die
Heyrath zu verzögern; aber er wich von seinem Grundsatze
nicht ab, daß es unentbehrlich seye, den Hochmuth seiner
Kinder herabzustimmen, und ihnen eine Hausmutter, die
sich ganz von ihm leiten liesse, vorzusetzen. (…) Nach und
nach gewöhnte er seine Söhne wieder an den Gedanken,
daß Armuth nicht beschimpfe (…) und willigten endlich
440
Ebda., S. 120
219
selbst in seine Heyrath ein, welche hierauf vollzogen
wurde“441.
Um seine Superiorität auf dem Hof zu wahren, stellte
Kleinjogg durch eine zweite Heirat die Herrschaftsbasis auf
dem Hof wieder her. Deviant verhielt er sich vor allem
dadurch, dass er die Heirat nicht als Chance zur
Besitzmehrung begriff, sondern ‚nach unten‘ heiratete. Klug
verhielt er sich jedoch in einem macchiavellistischem Sinn,
weil er sowohl den ‚Hochmut seiner Kinder herabstimmen‘
konnte, und zugleich eine höchst devote Lebenspartnerin
gewann. Erst diese statusinadäquate Heirat sicherte
Kleinjoggs patriarchalischen Führungsanspruch für einige
weitere Jahre ab.
Testamentarisch regelte Kleinjogg den künftigen Erbgang, um
Streitigkeiten vorzubeugen. Einer der Söhne wurde zum
künftigen Wirtschaftsleiter bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt
bereits brach Kleinjogg mit seinen Wirtschaftsmethoden, um
einem erneuten Aufstandsversuch zu begegnen:
„Die allzuhitzigen Widersprüche seines Tochtermanns,
welcher selbst die Söhne auf seine Seite zu lenken wußte:
daß sie sich des Vatters festen Grundsätzen, als
Sonderheiten und wun[der]lichem Eigensinn zu widersetzen
anfiengen: bewog endlich den Vatter (…) seine
Lieblingsidee fahren zu lassen, seine Nachkommen in einer
441
Ebda., S. 282 f
220
sich immer
erhalten“442.
weiter
ausbreitenden
Haushaltung
zu
Der Opposition seiner erwachsenen Kinder, die bis auf eines
dem Traditionalismus erneut verfielen, war Kleinjogg nicht
länger gewachsen. Diese sich aufschaukelnde Gegnerschaft
zeigt, wie gefährdet Kleinjoggs ‚Modernität‘ stets war. Seine
rigide Pädagogik wie auch die Isolation der Familie vom
dörflichen Umfeld schützte die jüngere Generation nicht vor
dem Rückfall in den Hedonismus und die sittliche Ordnung
der alten Dorfkultur.
Kleinjogg war mithin nicht nur eine singuläre Bauernfigur zu
seiner Zeit, ein pietistisch verformter Sonderling. Sein Beispiel
erweckte auch kaum Nachfolger, zu unattraktiv war ein
Lebensmodell, das aus Buckeln, Buddeln und Beten bestand.
Von seinen Wirtschaftsmethoden, deren innovativer
Charakter nicht überschätzt werden darf, ging vielleicht ein
geringer Einfluss auf andere Bauern aus. Seine Arbeitsdisziplin
aber, wie auch der Asketismus seines sittlichen
Lebenswandels, fanden keine Nachahmer im Bauerntum,
noch nicht einmal in der eigenen Familie. Spuren hinterließ
Kleinjogg vor allem in der Literatur, in den tugendhaften
Bauernfiguren der Volksaufklärung, später dann in den
romantisch verklärten Figuren der ‚Dorfgeschichten‘, die vor
allem auf ein bürgerliches Lesepublikum zielten. Die
Dorfbewohner der Empirie aber wurden vom Markt viel
wirkungsvoller erzogen, als von der Literatur.
442
Ebda., S. 285
221
Auch Kleinjoggs Biograph vollzog einen bemerkenswerten
Wandel seiner Ansichten, weg vom Physiokratismus, hin zum
Moralismus und Patriotismus. Wo 1761, im ersten Band der
Lebensbeschreibung, wie auch in der zweiten Auflage des
Jahres 1774, die Ökonomie des ‚philosophischen Bauern‘ im
Zentrum stand, da spielten in der ‚Neuen Prüfung‘ des Jahres
1785 innovative Wirtschaftsmethoden nur noch eine
randständige Rolle. Nun war der moralische Charakter des
Musterbauern ins Zentrum des Interesses gerückt. An der
Person Kleinjoggs illustrierte Hirzel eine aufgeklärte
Gesellschaftsutopie aus obrigkeitlicher Sicht, die alle Stände
umfassen sollte. Jakob Guyer wurde zum bloßen Anlass, die
großen gesellschaftlichen Fragen zu debattieren.
Die ‚Neue Prüfung des Philosophischen Bauers‘ eröffnete ein
Kapitel, das diese erweiterte Zielsetzung deutlich machte. Die
Menschheit war in den Fokus gerückt: „Ein Blick auf die
Harmonie und die Würde der Menschheit aus verschiedenen
Ständen der Menschen. In Kleinjoggs Sandgrube“443. Der Inhalt
dieses Textes überschritt den engen Radius der
physiokratisch-ökonomischen Reformen und skizzierte eine
gesellschaftliche Utopie.
Hirzel hob in diesem Text die ständische Gliederung der
Gesellschaft an einem Punkt auf, an dem der moralischen – in
Hirzels Worten – der ‚philosophischen‘ Gleichheit aller
Menschen: Zwar seien alle Menschen in Bezug auf Rang,
Vermögen und rechtliche Stellung geschieden. Diese Differenz
443
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O,, S, 1 - 88
222
sei auch unaufhebbar. Doch in allen Ständen gäbe Menschen,
„die alle den Namen ächter Philosophen verdienten“444.
Philosophen seien diese Menschen aber nicht, weil sie
unerfüllbare Ideale vertreten würden, oder weil sie über
systematische Schulung oder umfassendes Wissen verfügten,
sondern deshalb, weil sie die Fähigkeit besäßen, aus eigener
intellektueller Einsicht vernünftige Prinzipien praktischen
Handelns zu entwickeln, deren Endzweck allemal die
gesellschaftliche Gemeinnützigkeit sei.
Vom utilitaristischen Gesichtspunkt der ‚gesellschaftlichen
Nützlichkeit‘ her bestimmte sich damit Hirzels Definition eines
Philosophen. Der Sinn seines „Lieblingsausdrucks“ sei es,
schrieb Hirzel, dass „den philosophischen Bauern, den
philosophischen Kauffmann, den philosophischen Staatsmann“ ein
gemeinsames Ziel verbinde, „wo Denken, Reden und Thun immer
auf eine gemeinsamen nuzlichen Endzweck zusammenstimmen“445.
Auf der Basis seiner Philosophie, wo jeder Schuster bei
seinem Leisten zu bleiben habe, unterwarf Hirzel dann
Kleinjogg einer Gewissensprüfung, die dieser natürlich mit
Bravour bestand. Sein Herz zeige sich rein von religiöser
Intoleranz, er sei voll und ganz mit seinem Stand zufrieden
und erfülle unermüdlich seine Arbeitspflichten. Kleinjoggs
Produktivität und sein obrigkeitstreuer Charakter wurden so
zu Gradmessern des erreichten Standes der Volksaufklärung
444
Ebda., S. 16
Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. 2 Abtheilungen.
Zürich u. Winterthur 1779, S. 4
445
223
im Land. Ihnen verdankte Kleinjogg den Namen eines
‚Philosophen‘:
„Ich kann aber nichts des Namens des Philosophen
würdiger finden, als in dem Kreise des Berufs, in den uns
die Vorsehung gesetzt hat, alle Leibs- und Seelenkräfte so
viel möglich zu entwickeln, und sie nutzlich anzuwenden; in
allen Unternehmungen auf den Endzweck zu sehen, für die
Erfüllung seiner Pflichte[!], keine Zeit, keine Kraft ungenutzt
zu lassen; und wer dieses befolgt, ist Liebhaber der
Weisheit – ein Philosoph – seye er Bauer, Regent,
Gelehrter, Künstler, Kriegsheld, oder auch ein König!“446.
Im folgenden Text entfernte sich Hirzel weit von der
ursprünglichen Absicht, mit der Lebensbeschreibung
Kleinjoggs anderen Bauern ein „ermunterndes Beyspiel, der
Treue in seinem Beruffe und des dadurch sich zugezogenen
Seegens“447 zu geben. Kleinjoggs Tugenden waren zu
gesamtgesellschaftlichen Anforderungen geworden. Hirzel
illustrierte jetzt ihre Nützlichkeit für den wahren Republikaner
wie für den Kaufmann oder den Handwerker. Sie alle wurden
zu Dienern im Garten des Herrn, der in Kleinjoggs Sandgrube
zu suchen war. Die Volksaufklärung hatte sich in eine Schule
des Patriotismus verwandelt. Sie war zur Vorläuferin des
Nationalismus geworden.
446
447
Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S.60
Ebda., S. 20