1 2 Inhalt Vorwort S. 3 Der Widerspenstigen Zähmung: Der Kampf gegen den ‚Aberglauben‘ S.4 Das pädagogische Arbeitslager: Pestalozzis Roman ‚Lienhard und Gertrud‘ S.82 Volksaufklärer an der Macht: Das Beispiel Zürichs und der reformierten Schweiz S. 163 3 Vorwort Denken wir an die Aufklärung, dann fallen uns Namen ein wie Kant, Lichtenberg, Voltaire, Lessing, Nicolai usw. Ihre Schriften haben uns Nachfahren ein Monument intellektueller Redlichkeit und luziden Denkens errichtet. Dessen Strahlkraft weckt heute noch die Erinnerung an unsere Befreiung aus der Nacht der religiösen Mythen und des despotischen Absolutismus. Wie bei einem Eisberg sehen wir aber auch nur den leuchtenden Gipfel der Hochaufklärung, der zaubergleich über den Wassern schwebt. Neun Zehntel aller aufklärerischen Bestrebungen bleiben dabei unter der Wasserlinie verborgen. Die europäische Aufklärung richtete sich regelhaft nicht nur gegen ein Oben, sondern – und zwar in der Mehrheit – immer auch gegen ein Unten. Hier war der Feind eine ländliche Volkskultur, deren Widerständigkeit es zu schleifen galt. Die feudale Sklaverei sollte durch eine rationale Sklaverei ersetzt werden. Von diesem vergessenen Schauplatz der Geschichte erzählt dieses Buch. 4 1. Der Widerspenstigen Zähmung: Der Kampf gegen den ‚Aberglauben‘ Heftige Kritik an seinen Zeitgenossen übte der Magdeburger Pfarrer Christian Ludwig Hahnzog im Jahr 1788. Er leugnete alle bisherigen Erfolge bei der Unterrichtung des Volkes. Vom Gegenstand ihres pädagogischen Strebens hätten die Aufklärer so gut wie keine Ahnung. Bei einem beliebigen Buchhändler fände man doch außer „ein Paar schlesischen Vorlesungen von Garve“1 kaum naturkundliche Schilderungen des realen Bauernlebens, dafür aber „199 Predigt- Religions- Sitten- ArztWirthschafts- Volks- und andere Lesebücher für Bauern, von denen dreyviertel wie die Faust aufs Auge passen (…)2. Diese mangelnde Kenntnis, klagte Hahnzog, stünde im Gegensatz zu der Kenntnis des Publikums vom Alltag der entlegensten Barbarenstämme in Asien und Amerika: „Wir wissen, was die Chineser, Hottentotten, Otaheiter, Irokesen, Kalifornier u.s.w. für Kleider, Karrikaturen, Sitten und Gewohnheiten bey ihren Hochzeiten und Begräbnissen haben; was für Grimassen sie bey ihren Besuchen, Festen und Gastmahlen machen; ja! was für Stirnen, Nasen, Mäuler, Haare, Physiognomie und Visage sie haben. Und wir wissen nicht was es damit z.E. unter dem Landvölklein, das um uns herum wohnt, für eine Bewandtniß hat. Und dies sollten wir doch wol noch eher wissen, da uns diese Leutlein mit Korn, Butter, Käse, Eyer, Rostbeef, Schöpfen- und 1 Christ[ian] Ludew[ig] Hahnzog: Charakteristik des Magdeburgischen Bördebauern, nebst Prologus. In: Jahrbuch für die Menschheit, 1788, Bd. II, S. 396 – 443, hier: S. 400 2 Ebda. 5 Kälberbraten versehen (…) Wir beobachten gierig den afrikanischen, den kolombischen oder abusive den amerikanischen Barbaren und sehen dem unter uns wohnenden deutschen Bauern nicht ins Gesicht.“3 Der Prolog zum Aufsatz schloss mit dem Aufruf, die dringend benötigte Kenntnis über den Alltag der Bauern zu vermehren, indem gebildete Bürger, die das Landvolk erlebt haben, „an den Herrn Redacteur dieses Jahrbuchs, dessen eine Hauptabsicht auf die Kenntniß des deutschen Landmanns hinzielt, die gebetenen Bauerngemälde (…) senden“4. Hahnzogs Position, die auf eine ethnologische Feldforschung im Innern Deutschlands drängte, stellte einen Bruch dar zu älteren Formen der Volksaufklärung, welche der Verfasser mit dem Verweis auf die Religionsund Ökonomiebüchlein für den Bauersmann streifte. Konfrontiert mit den frustrierenden Resultat des Versuchs, das Landvolk naiv als aufklärungsbedürftige Bürger zu sehen, stand die Volksaufklärung nun vor der Aufgabe, sich über die Gründe ihres Scheiterns Rechenschaft abzulegen. Die Volksaufklärung vollzog den Wandel zur Volkskunde. Der Vorstoß des Magdeburger Pfarrers befand sich in einer nahezu unüberschaubaren Gesellschaft. Seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts erschien eine Vielzahl binnenethnologischer Studien, die von nun an den Diskurs der Volksaufklärung maßgeblich bestimmen würden. Erstaunlich ist hierbei ein Paradigmenwechsel: Die bäuerliche Bevölkerung galt nicht länger als ein Brachfeld, 3 4 Ebda., S. 397 Ebda., S. 402 6 das bloß mit dem Wissen der Aufklärer gedüngt werden müsse, um die allgemeine Glückseligkeit zu befördern – im Gegenteil: Der Bauer war nicht länger ein defizitäres Wesen, er litt vielmehr an einem Zuviel an Wissen. Einem Wissen, das demjenigen der Aufklärung fundamental widersprach. Im Zentrum aller ‚Irrthümer und Vorurtheile‘ stand als Chiffre nun stets der ‚Aberglaube‘. Dessen semantisches Feld begann die Volksaufklärung jetzt zu beackern: „Ein Abergläubischer ist der, welcher mehr als wahr ist, glaubt. Er ist also das Gegentheil von dem Ungläubigen, welcher weniger glaubt, als wahr ist. Denn das Wort aber hieß ehedem so viel als über oder mehr. Der Aberglaube äußert sich durch ungegründete oder verkehrte Meinungen von Dingen, und durch die daraus entstehenden Handlungen: Daher muß die wahre Ursach von den Dingen gezeigt, das thörigte und lächerliche in den abergläubischen Handlungen dargestellt, und zur Erreichung sichre Mittel angegeben werden. Bei den Mitteln die der Abergläubische wählt, leidet die gute Sache der Religion, und der Nächste; sie entehren die Vernunft, wirken grössere Unwissenheit, und thun der Lasterhaftigkeit oft den gewünschtesten Vorschub.“5 Der Aberglaube wurde nicht länger belächelt, sondern dämonisiert. Er erschien als Feind alles Guten und 5 [Heinrich Ludewig Fischer:] Das Buch vom Aberglauben. Neue verb. Aufl. Leipzig 1791, Vorrede 7 Nützlichen. Weil „die Pest des Aberglaubens immer fortwüthet“6, weil „die mörderische Quacksalberey unter dem Landvolke aus[ge]rotte[t]“7 werden müsse, weil die „falschen Propheten“ des Aberglaubens „die fürchterlichsten und gefährlichsten Feinde der häuslichen und bürgerlichen Glückseligkeit“8 seien, zogen die Volksaufklärer aus zu einem „Kriege wider den Aberglauben“9. Sie nannten sich jetzt „Antipoden des Aberglaubens“10. Der Aberglaube hinderte den ‚pursuit of happiness‘ der Aufklärung, weil er das Grundaxiom der Vernunftfähigkeit dieser Weltordnung bestreite. Er sei das Haupthindernis jedes ökonomischen und moralischen Fortschritts und er wurde als Erkrankung des Verstandes psychiatrisiert: „Tugend und Wohlstand stehen also mit der Aufklärung in innigster Verbindung, und jede Verbesserung und Beglückung des Volkes mag so lange unter die frommen und nie zu realisierenden Wünsche gehören; als bis alle Stände von dem herrschenden Aberglauben, von jener allgemeinen Krankheit des Verstandes geheilt (…) sind.“11 6 [Anonym:] Briefe zur Bildung des Landpredigers, Bd. 1, Hof und 2 Plauen 1789, S. 291 7 Christian August Struve: Ueber Gesundheitswohl und Volksvorurtheile, Bd. 1, Breslau, Hirschberg und Lissa in Südpreussen 1797, S. 129 8 Heinrich Ludwig Fischer: Beiträge zur Beantwortung der Frage: ob Aufklärung schon weit genug gediehen oder vollendet sey? Als Anhang zu dem Buch vom Aberglauben. Hannover 1794, S. 78 9 3 Ernst Urban Keller: Das Grab des Aberglaubens. Stuttgart 1785, S. 21 10 Ebda., Vorrede, unpaginiert 11 Bonaventura Andreß: Abhandlung ob und wie der Prediger das gemeine Volk aufklären solle? In: Magazin für Prediger zu 8 Der Zustand der Realität bot den Aufklärern geradezu ein Scheidebild für die Herrschaft des Aberglaubens. Dort, wo es an Prosperität mangelte, wo wirtschaftlicher Verfall und ungenügende Landwirtschaft sich zeigten, dort widerstrebe allemal ein fest verwurzelter Aberglaube den kameralistisch-ökonomischen Zielsetzungen der Volksaufklärung: „Wo Dummheit und blinde Vorurtheile herrschen, da liegen Ackerbau, Künste und Handel darnieder; da sind Pfuscher, Quacksalber und Beutelschneider zu Hause.“12 Die Volksaufklärung setzte sich damit nicht länger das Ziel, neues Wissen und Kenntnisse unter dem Landvolk zu verbreiten. Sie wollte dem Landmann vielmehr ein überschüssiges Pseudo-Wissen nehmen, das im ländlichen Raum barock ins Kraut geschossen wäre. Es gehe darum, den erwünschten ‚schlichten Sinn‘ des Landmanns überhaupt erst zu erschaffen, indem man die wilden Triebe kupiere, so wie die Zweige am Obstbaum: „Der sogenannte gemeine Mann soll nicht viel wissen, aber das, was er weiß und wissen muß, sollte er recht wissen und nach und nach von Aberglauben und Vorurtheilen geheilt werden werden, die doch immer eine Krankheit des Geistes sind.“13 Beförderung des praktischen Christenthums und der populären Aufklärung. Bd. 1, Würzburg 1789, S. 1 – 56, hier: S. 24 12 Bonaventura Andreß: Abhandlung …, a.a.O., S. 23 13 Friedrich Erdmann August Heydenreich: Ueber den Charakter des Landmanns in religiöser Hinsicht. Ein Beytrag zur Psychologie für 9 Der Aberglaube war damit nicht länger eine skurrile Folge bloßer Dummheit, er wuchs sich aus zum geistigen Gegenspieler der Aufklärung, ein kaum zu überschätzender Gegner, der den unausweichlichen Siegeszug der Vernunft auf dem flachen Land nach Kräften behinderte. Seine magischen Grundannahmen stellten ein konkurrierendes Deutungsmuster bereit, dessen übernatürliche Gesetze im Widerspruch standen zu den auf Wissenschaft, auf empirischer Beobachtung und auf Ursache und Wirkung beruhenden der Aufklärung. Denn die Realität, auf welche diese frühen Volkskundler bei ihrer Inspektion der sittlichen und ökonomischen Zustände des Volkslebens stießen, gab wenig Anlass zu Optimismus: Der Glaube an Hexerei war ungebrochen. Die ‚Volksmedizin‘ stand in voller Blüte. Bauern verschluckten zur Heilung ihrer Krankheit kleine Zettel mit einem Bibelspruch, ein reger Verkehr in Sachen ‚Aberglaube‘ herrschte auf allen Landstraßen. In den Hütten der ‚klugen Leute‘ drängten sich die Bauern, kleine Urinfläschchen in der Hand, auf die der Harnbeschauer seinen kenntnisreichen Blick werfen sollte. Wahrsager ermittelten mit ihren divinatorischen Eigenschaften die Namen von Dieben und die Einflüsse schwarzer Magie. Unter Segensprüchen drückten Hebammen den Neugeborenen das Blut aus der zerschnittenen Nabelschnur in den Mund. Bei allen Unpässlichkeiten warf der Landmann einen Blick auf den Kalender und ließ an ‚guten Tagen‘, wenn das Aderlassmännchen erschien, mit dem Blut zugleich die ‚bösen Säfte‘ abfließen. Amulette wurden von der alle, welche auf das religiöse Bildungsgeschäft desselben Einfluß haben – vorzüglich für Landprediger; Leipzig 1800, S. 77 10 Landbevölkerung ebenso häufig getragen, wie von einem Indianerstamm im exotischen Amerika. Dass den Volksaufklärern der Vergleich zu den wilden Stämmen leicht fiel, ist verständlich, angesichts des real existierenden Volkslebens: „Auf manchen Dörfern wimmelt es von Quacksalbern; dort ist das Asylum dieser verderblichen Menschen. Ausser dem Gesichtskreise der medizinischen Polizei morden sie ungestört, und niemand achtet darauf. (…) Der Schäfer, der Scharfrichter, der Jäger, alles quacksalbert um die Wette; auch Weiber maaßen sich das Verdienst an, die Menschen um Leben und Gesundheit zu bringen. Verdorbene Feldscherer und Bartputzer setzen sich aufs Land, und kuriren, oder morden ungestört. Diese Quacksalber benutzen und erhalten die Vorurtheile und den Aberglauben des gemeinen Mannes so viel in ihren Kräften steht, denn sie leben davon; sie unterstützen den Wahnglauben an Hexerei und Teufelsbesitzung, an Kobolte und Harnbeschauen.“14 Harnbeschau, Aderlass, Körpersäfte … auf weite Strecken hatte in den Heilmethoden des Volkes die Humoraltherapie samt der Lehre von den Temperamenten überlebt. Verfahren, die noch einhundert Jahre zuvor auch die Eliten der Gesellschaft heilten – oder auch ‚mordeten‘. Beim Aberglauben handelte es sich in mancherlei Hinsicht nur um eine Form retardierter oder überlebter ‚Wissenschaft‘. Und beim Streit der Aufklärer mit den Dorfgesellschaften um eine Sonderform der ‚querelle des anciennes et modernes‘. 14 Struve: Über Gesundheitswohl, a.a.O., Bd. 1, S. 122 11 In jedem Fall aber zielte die aufklärerische Offensive gegen den Aberglauben auf die Geschäftsgrundlage und auf die Existenz einer oft prekären Schicht im ländlichen Raum. Da der Aberglaube vornehmlich den Unterschichten Subsistenzchancen einräumte, wäre ‚der arme Mann‘ von einem Sieg der Vernunft zuvörderst betroffen gewesen. Diese pauperisierten Menschen begegnen uns in den Texten in vielfältiger Gestalt: „Es sind Zigeuner, Wahrsager, Bärenführer, Hanswürste, Bänkelsänger, Zahn- und Wurmdoctores, Seiltänzer, Klopffechter, Kunstreiter, Ratten-, Mäuseund Wanzenmörder, Unglücksauschreier, die von einem halben oder ganzen Bogen bekannte und unbekannte, wahre und erlogene, interessante und uninteressante Ereignisse ablesen, den Wisch um ein paar Dreyer verkaufen, (…) Liederverkäufer, welche Gesänge voll Albernheiten und Zoten feil tragen, und leider! Käufer genug finden. Diese Auswürfe der Menschheit sollte man, wie ein schädliches Thier aus dem Dorfe treiben, oder noch besser, die Kraft zu schaden ihnen dadurch nehmen, daß man sie in keinem Lande, wenigstens in unserem teutschen Vaterlande nicht duldete.“15 Bei ihrem Rencontre mit der Pauper- und Vagantenwelt begegnete die Volksaufklärung ihrem Erzfeind. Der Kampf gegen den Aberglauben entwickelte sich damit zu einem sozialen Konflikt, der wie über die mentale Ebene hinausreichte: Die tugend- und sittenverbreitenden ‚Lehrer 15 Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O. S. 67 f 12 des Volkes‘ standen den Landstreichern“16 gegenüber. „Immoralität verbreitenden Der Herrschaftsdiskurs der bestallten Volksaufklärer blieb zumeist wirkungslos, sobald er von den Kanzeln herab und in der gemeinnützigen Literatur dem Landmann ein vernünftigeres Leben predigte. Denn außerhalb der Kirchen und Schulen existierte ein intaktes oppositionelles Kommunikationssystem. In den Spinnstuben17, in den Wirtshäusern und auf den Jahrmärkten wurden die Aufklärer verlacht. Ein Heer von Bettlern, Gauklern, Heilkundigen und Büchertrödlern durchkreuzte die wohltätigen Absichten der Herrschaft. Als Mulitiplikatoren traditionaler und magischer Weltsicht wurden die vagierenden Unterschichten in den Augen der aufgeklärten Beamten zu Staatsfeinden: „Die Feinde der Aufklärung sind also wahre Feinde des Staates und der ganzen menschlichen Gesellschaft, meistens selbst verdorbene Menschen, welche nur darum Apostel der Dummheit sind, weil sie aus dem allgemeinen Verderbnisse Nutzen zu ziehen hoffen.“18 Für die staatlich-fiskalischen Pläne der Volksaufklärung im Reformabsolutismus stellte der Aberglaube auch ökonomisch einen zentralen Störfaktor dar. Die Intentionen der Volksaufklärung reichten ja weit über literarische und klerikale Absichten hinaus: Mit den Mandaten und PoliceyVerordnungen sollten sich die praktische Wirksamkeit der 16 Ebda., S. 192 Das deutsche Verb ‚kungeln‘ illustriert noch heute die soziale Funktion der damaligen Kunkel- oder Spinnstuben 18 Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 24 17 13 Musterbetriebe, die Ermahnungen der Pädagogen und Prediger zu einem Ganzen verbinden, wo ein Rad in das andere greifen sollte. Eine ‚künstliche Maschine‘ sollte entstehen, wo Tugend, Uneigennützigkeit und werktätiges Christentum besteuerbaren Wohlstand erzeugen: „Einrichtungen des Gottesdienstes, Schulanstalten, Policeygesetze, Beförderung der Wissenschaften, Aufmunterung guter Köpfe, Begünstigung einer vernünftigen Lektüre, besonders durch gut abgefasste Volksschriften, Bildung und Anstellung guter Erzieher, Lehrer und Staatsbediensteten u.d.g. sind die Mittel, wodurch ein kluger Regent die wahre Aufklärung verbreitet. (…) Alles diese Mittel müssen wie in einer künstlichen Maschine ineinanderwirken (…).19 Doch das Volk war widerständig, es fügte sich nicht, und es wollte die neuen Grundsätze einfach nicht praktizieren: „Den weisesten Gesetzen“ folge es oft nicht, weil es „entweder keine, oder falsche, oder gar entgegengesetzte Überzeugungen hat“.20 Es ist klar, dass die Volksaufklärer, oftmals selbst in prekärer Beschäftigung lebend, ihr Programm auch ‚pro domo‘ verfassten. Das störrische Landvolk stand somit auch ihrer Karriere im Wege, weil der Erfolg der ‚neuen Ökonomie‘ allemal auch am Produktivitätsfortschritt zu messen war – jeder aufklärerisch gesinnte Landesherr erwartete ein ‚return on investment‘. 19 20 Ebda., S. 12 f Ebda., S. 11 14 Für die Bauern wiederum mangelte es den ‚patriotischen Missionaren‘ der Volksaufklärung oftmals an Rationalität, an erfahrungsgesättigtem Alltagsverstand. Der Primat der ‚Staatszwecke‘, ein an ‚Policey‘ und Verwaltung orientierter Blickwinkel der Volksaufklärer widersprach dem Diskurs einer intakten Dorfkultur. Wechselseitige Beschimpfungen waren die Folge: Die Bauern schimpften über ‚falsche Propheten‘, ‚Ungläubige‘ und ‚Volkstäuscher‘, die Volksaufklärer klagten über ‚blinde Anhänglichkeit‘, ‚Dummheit‘, irriges Vertrauen auf Gott‘ oder ‚schädlichen Schlendrian – generell über ‚Vorurtheile‘ und ‚Irrthümer‘. Verdichtet entstand so in der Weltsicht der Aufklärer jener ‚Dämon des Aberglaubens‘, der unaufhörlich neue Gliedmaßen gebar: „Bey dem allen hat der Aberglaube noch immer die Art der Polypen an sich. Wenn man ihm auch ein Glied nach dem anderen abreisset, entstehen andere. Die Wahrsagerey aus der Coffeetasse, abergläubische Künste, um in Lotterien glücklich zu sein, u.d. sind neue Gliedmasen.“21 Die Folge des großen Schlendrians war die ‚Faulheit‘, die unmittelbar aus dem Aberglauben resultiert. Den Bauern mangelte es schlicht an Einsicht in volkswirtschaftliche Notwendigkeiten: „(D)amit ich mit wenigen Worten alles sage: eine tief eingewurzelte Unempfindlichkeit gegen alles, was die 21 Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., S. 18 15 arbeitenden Kräfte in Thätigkeit setzen, und die öffentlichen Quellen der Erwerbnisse empor bringen kann.“22 Der Aberglaube wurde so als systematischer Oberbegriff alles Widerstands konstruiert, mit dem sich die Aufklärung auf dem Land konfrontiert sah: „Aberglauben (sei) blinde Anhänglichkeit an Irrthümer und Vorurtheile“23, der Aberglaube bilde „de(n) Brenn-Punct, worinn alles, was unvernünftig, schändlich und böse ist, zusammenläuft“.24 Durch die Überzeichnung des Aberglaubens zu einem solchen metaphysischen Popanz war es natürlich nicht länger notwendig, rationale und ökonomische Gründe zu diskutieren, welche den praktischen Zielsetzungen der Volksaufklärung widersprachen. Ob Mergeldüngung, Stallfütterung oder Obstbaumzucht - all die ‚Mustergüter‘ der Aufklärung prosperierten nur selten. Die neue Wissenschaft hielt einfach nicht, was die Propaganda versprach. Da war es einfacher, die Schuld auf einen übermächtigen Gegner zu schieben – auf die Mentalität und Dummheit abergläubischer Bauern. Die Volksaufklärung verwendete einen äußerst extensiven Begriff des Aberglaubens, der alles umfasste, was auf dem Land der Verwirklichung volksaufklärerischer Pläne im Wege stand. Durch seine vermeintliche Größe wurde der Aberglaube zum mächtigsten 22 Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 22 Ebda., S. 22 24 Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., S. 193 f 23 16 Gegner vor den Toren der Städte. Und dies vor allem für die Volksaufklärer. Vorsicht beim Angriff auf ‚abergläubische Vorurtheile‘ wurde so, der Größe des Gegners entsprechend, zum Gebot praktischer Wirksamkeit. Die Volksaufklärer entdeckten die Langsamkeit. Als ‚Feldforscher‘ - dank ihrer Nähe zum Volk - galten Pfarrer als besonders geeignet. Sie sollten zu Kundschaftern und Agenten in einer fremden Welt werden, wo nur ein diplomatisches Vorgehen, das jesuitisch seine wahren Ziele zu camouflieren wusste, mittelfristig Aussicht auf Erfolg bot: „Der Prediger lerne also vor allen die Leute kennen, deren Gesinnungen er umändern will; er kundschafte ihre verschiedenen Vorurtheile aus, und nachdem er sie gefunden hat, so gehe er doch noch ganz unvermerkt zu Werke, und greife das Gebäude nicht mit zerstöhrender Hand an, daß er es prasselnd einzureißen drohe; sondern untergrabe es langsam (…). Die Menschen sollen es anfangs gar nicht wissen, daß es ihren Vorurtheilen gilt (…)“25 Die Bauern aber witterten den Braten dennoch, schimpften über die Ungläubigen und Staatspropheten auf den Kanzeln, über die „reißenden Wölfe in Schaafskleidern“26 - ein Vorwurf der auch in der Gegenrichtung funktionierte, wo die aufgeklärten 25 26 Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 49 Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 31 17 Prediger „dem Reiche des Satans, des Unglaubens, des Aberglaubens, der Dummheit und Thorheit Abbruch thun“27 wollten. Der Konflikt zwischen Deismus und Orthodoxie war damit auch auf dem Lande präsent, er trennte die religiösen Kulturen. Der oft kolportierte Vorwurf der Landbevölkerung, dass die Pfarrer nicht mehr christlich predigten, sondern weltliche Staatszwecke religiös verbrämten, bestand keineswegs zu Unrecht. Er korrespondierte mit dem Selbstbild eines aufgeklärten Klerus auf dem Land: „Die Prediger (…) sind Diener des Staates, so gut als Minister und Räthe“.28 Übermäßiger Eifer bei der Umsetzung solcher Staatszwecke schade allerdings nur, weil diese Hast das Volk ‚kopfscheu‘ machen könne, womit man die Herzen der Bauern für lange Zeit allen ‚wohlthätigen Belehrungen‘ verschließe: „Wenn ein hitziger Volkslehrer (…) hastig auf die Vorurtheile der Menschen losstürmt und den gemeinen Ständen bittere Vorwürfe darüber macht; so zieht er sich für itzt und allzeit Feinde, Verfolgungen, Druck und so viele bittere Stunden zu, daß er endlich muthlos die Hände in den Busen steckt.“29 27 Elias Caspar Reichard: Vermischte Beiträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich. Zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens. Erstes Stück. Helmstedt 1780; Vorbericht / unpag. 28 Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 31 29 Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 50 18 Die Gefahr drohte aber auch aus entgegengesetzter Richtung, Dann nämlich, wenn der Aberglaube ersatzlos ausgeräumt würde. Ohne eine neugepflanzte ‚positive Religion‘ wäre alle Volksaufklärung vergebens, ja sogar gefährlich. Die gefürchtete ‚falsche Aufklärung‘ würde dann politische Ansprüche und unerwünschten Skeptizismus erzeugen: „Das Aufräumen ohne Ersatz ist äusserst gefährlich; man schlägt gleichsam eine Mauer ein, um Licht in das Gebäude zu bringen. Gemeiniglich wird unter dem Volke eine gefährliche Zweifelsucht rege, woraus Gährungen und Verwirrungen entstehen. Frevelnder Unglaube, Karakterlosigkeit und allgemeines Verderben sind die Folgen einer zweckwidrigen Aufklärungsmethode. Es wäre oft besser, man hätte dem Volke seinen Aberglauben gelassen, als daß einem pöbelhaften Unglauben unbesonnener Weise Thür und Thor geöffnet wurden. Den Vorurtheilen muß so in der Ferne entgegen gearbeitet werden, daß sie durch entgegengesetzte Wahrheiten allmählig ihre Kraft und Anhänglichkeit verlieren.“30 Die Leerstelle, welche der eliminierte Volksglaube hinterlässt, sollte gewissermaßen durch einen neuen, rationalen Aberglauben ersetzt werden, der zumeist als ‚thätiges Christenthum‘ oder als ‚wahrer Glaube‘ firmierte. Dieser angestrebte Neuglaube beruhe dann auf asketischen Werten wie Arbeitsdisziplin, Berufstreue und Tugendhaftigkeit: „Wenn wir also das lebendige, das thätige Christenthum recht weit ausbreiten, wenn wir einen rechten Felsen 30 Ebda., S. 50 f 19 Glauben an Gott in die Seelen pflanzen könnten, so bekäme dadurch das Reich des Aberglaubens den größten Stoß.“31 Wir haben es mit einem mentalen Duopol zu tun: Dem ‚thätigen Christentum‘ stand der ‚tote Glaube‘ gegenüber, der als ‚Buchstabenfrömmigkeit‘ und als ‚äußerlicher Gottesdienst‘ dem Verdikt verfiel. Die bloß ritualhafte Beachtung äußerer Sakralformen gehörte gleichfalls zum Großreich des Aberglaubens - der alte Glaube bildete geradezu seinen Nährboden. Niemand darf glauben, das reale Volksleben hätte jemals dem Ideal aus den Kalendergeschichten entsprochen. Solche Märlein der frühen Aufklärung zeichneten nur eine Utopie. Nicht der Tugendkanon, den der Pfarrer von der Kanzel verkündete, bewegte das Landvolk zum sonntäglichen Kirchgang. Eine ‚freymüthigen Bemerkungen‘ des Diakons Johann Gottfried Kessel aus dem Jahr 1789 schildern plastisch das reale Geschehen unter dem dörflichen Kirchendach: „Ein Hogarth könnte in manchem Gotteshaus den Stoff zu einem geistlichen Carricaturgemälde sammeln (…). Der Eingang in den Tempel ist voll Unehrbietigkeit; der Ausgang der Menge wild, oft tobend, wie der Ausfluß der Menschen aus einem Comödienhaus. Der Gesang ist oft mehr Geplerr, gedankenloses, wildes Geschrey, als ruhige, sanfte, andächtige harmonische Zusammenstimung der Töne zum Ausdruck dankbarer, froher, preisender und auch wehmütiger Gefühle und Empfindungen. Hier steht der Lehrer voll heiligen Ernstes und Feuer’s; oder voll geistigen 31 [Anonym:] Briefe zur Bildung des Landpredigers, a.a.O., S. 286 20 Phlegma, und lehrt; oder schwäzt: dort sizt ein Trupp Jünglinge, und scherzt, lacht, und erzählt sich die nächste Nachtgeschichte; oder wirft den Mädchen buhlende Blicke herab. Hier ruht eine Gruppe, eingepredigt in Schlaf; der Leib ist starr, wie der nebenstehende Pfeiler, und die Seele im Traum. Nur hie und da ragt ein Kopf mit halbverschlossenem Auge, mit gaffender Miene hervor; selten einer, beseelt von Andacht, (…) der nur den Contrast der Toden [!] entschlummernden Andacht erhöht. Auch das Gebet wird in dieser Vergessenheit seiner selbst, des Orts und des Lehrers in diesen Wirthshausstellungen zugebracht. Der erste Orgelschlag weckt oft erst die Schlummernden zum Augenauswischen und zum Aufrichten der geistlos gewesenen Maschine. Das geringste Getöse, [das kl]einste Ereignis in der Kirche, das Bellen eines Hundes, der Irrthum des Klingelsackträgers sezt die ganze Versammlung in Alarm; nimmt die Andacht weg; und zerstreut die Gedanken, wie der Wind die Spreu. Heilige Stille; andachtsvoller Ernst; ehrwürdige Stellungen und Geberden; sichtbares Bewußtseyn wo, und vor wem man steht (…); dies alles sieht und findet man in vielen ländlichen (…) Gotteshäusern nicht.“ 32 Ein Dorfpfarrer zu jener Zeit war nicht zu beneiden, er war der einsame Vorposten der Aufklärung auf dem Land. Seine Worte fanden keinen Eingang, die eindringlichsten Ermahnungen donnerten unverstanden über Bauernschädel hinweg. Auch der erste Hofdiakon Quedlinburgs, Johann 32 Johann Gottfried Kessel: Freymüthige Bemerkungen über Hindernisse der Volksglückseligkeit vorzüglich in Hinsicht auf Religions- und Sittenverbesserung. Für Patrioten und Volksfreunde zur Beherzigung. Hildburghausen 1789, S. 64 f 21 August Ephraim Goeze, beklagt die Mentalität des Landvolks, das den Weg zur ewigen Seligkeit nur in der formelhaften Beachtung des ‚äußerlichen Gottesdienstes‘ sucht: „Ich sage es euch zwar nicht gerne, lieben Leute! Aber es ist doch die Wahrheit, daß die meisten unter euch, nur nach dem äußerlichen Buchstaben des Christenthums fromm sind. (…) Ihr gehet in die Kirche, weil es der Tag erfordert. Ihr geht zur Beichte und zum Abendmahl, weil euch der Kalender daran erinnert. Ihr leset euren Morgen- und Abendsegen pünktlich auf die Stunde, wie ihr ihn von Kindheit auf habt lesen müssen. Ihr singet und betet, wie es in eurem Gesangbuche, und in euren auswendig gelernten Formeln stehet. Wie aber das alles? Aus Gewohnheit. Blos nach dem Buchstaben. Euer Herz aber, eure Gesinnungen sind um nichts gebessert. (…) Seht, das nenne ich eure Buchstabenfrömmigkeit.“33 Wo sich die Volksaufklärung von der Verbreitung ‚wahrer‘ und mentalitätsformender Grundsätze des Christentums die Erzeugung eines neuen ländlichen Sozialcharakters versprach, da hatte die Kirchlichkeit für die Landbevölkerung ganz andere Funktionen. Die Dörfler sahen sich keinesfalls als ‚reformbedürftig‘ an. Im Kern zielt das religiöse Anliegen der Volksaufklärer auf eine religiös motivierte Steigerung der Produktivität und auf eine Intensivierung des Arbeitsverhaltens. Dieses unverhohlen fiskalische Interesse der Aufklärung - wie 33 Johann August Ephraim Goeze: Nützliches Allerley aus der Natur und dem gemeinen Leben für allerley Leser. Zweiter Band. Neue verbesserte Auflage, Leipzig 1788, S. 346 f 22 generell des Reformbeamtentums - kleidet sich dabei stets in die Rhetorik vom „Geist der Uneigennützigkeit, der Selbstverläugnung und Aufopferung und des ächten Patriotismus“34, den es zu erwecken gelte. Das Landvolk hingegen pflegte eine eher magische Auffassung des christlichen Glaubens. Im Zentrum stand dabei der Gedanke der Schadensabwehr durch Formeln und Gebräuche. Nicht der Inhalt eines Gebetes war wesentlich, sondern deren Anzahl und Zeitpunkt. Nicht die hohe Bedeutung der Taufe bei der Aufnahme eines Kindes in die Gemeinde Christi war der zentrale Gedanke, nebst der hohen Verantwortung, welche die Eltern hiermit übernähmen, sondern das Ritual, das sich vollzog, das den Täufling vor dämonischem Zugriff schützen sollte. Nicht der Inhalt der Predigten war wesentlich, schon gar nicht die Befolgung der moralischen Prinzipien in ihnen, sondern der Kirchgang und die sinnbildliche Darstellung der gesellschaftlichen Ordnung im Kirchenraum. Die dörfliche Kirche, die ein Bauer betrat, war ein Spielbild der sozialen Ordnung. Vor dem Eintritt in den Sakralraum zog der Bauer die Mütze vom Kopf, als stünde er vor seinem Gutsherrn. Der Kniefall vor dem Gebet entsprach dem bräuchlichen Verhalten angesichts der Obrigkeit. Weltliche Herrscher residierten bei Visitationen hinter Türen auf einer eigenen Empore. Die Kirchbänke des Landadels waren geschmückt mit Wappen und mit der Autorität von Bibelzitaten. Der Gutsherr und seine Familie nahmen 34 Heydenreich: Charakter des Landmanns. a.a.O., S. 193 23 gewissermaßen auf einer Bühne Platz. Die feudale Ordnung der Welt wurde durch ihre Spiegelung im sakralen Raum als Gottesordnung legitimiert. Im ‚Parterre‘ saßen die mächtigsten alteingesessenen Bauernfamilien auf eigenen Bänken, seit Generationen schon. Einige besonders ‚Ehrenfeste‘, wie sie der Pfarrer anerkennend nannte, saßen als Sittenrichter getrennt von ihren Standesgenossen. Sie nahmen eine Mittlerstellung ein zwischen der Herrschaft und den Untertanen. Vorn vor dem Altar glänzte der Reichtum, er war Gott am nächsten. Fern davon, neben dem Ausgang, drängten sich die Häusler, Kätner und Armen. Diese sinnliche Ordnung war eine eindringlichere Predigt als abstrakte Tugendlehrern von der Kanzel herab. Der Kirchgang war aber auch ein soziales Ereignis – durch Geschäftsverbindungen, die vor der Kirche getroffen wurden, durch die Bekanntgabe weltlicher Erlasse durch den Pfarrherrn, durch die Gelegenheit, soziale Beziehungen zu anderen Familien zu knüpfen, nicht zuletzt auch durch den Diskurs, der nach dem Gottesdienst im Wirtshaus geführt wurde. Jeder, der sich dem Kirchgang entzog, löste sich aus der Kontrolle des Dorfverbandes, er wurde als ‚Eigenbrötler‘ oder Schlimmeres stigmatisiert. Solche Aspekte der Religiosität waren für Dorfbewohner und ihren Alltag bedeutsamer als klare und theologisch einwandfrei abgesicherte Vorstellungen von religiösen Dogmen, oder die Fähigkeit, sich einen ‚wahren Begriff‘ von Gott zu machen. Der Versuch der obrigkeitlichen Indoktrination fiel in die Jugendzeit, wo Jungen und Mädchen 24 den Katechismusunterricht besuchten und die gültigen Glaubenssätze mechanisch herzubeten lernten. Die Fähigkeit ihrer Kinder, den ‚Heidelberger‘ oder einen anderen Katechismus fehlerfrei herunterzuleiern, machte dann auch den Stolz bäuerlicher Familien aus. Jeder Versuch aber, nach den Inhalten der göttlichen Lehre leben zu wollen, hätte ihren Nachwuchs zum Spott des Dorfes gemacht. Hier wurden die Maximen eines ‚moralischen Lebenswandels‘ nicht länger vom Pfarrer durch ‚freundschaftliche Ermahnungen‘ befestigt, sondern von anderen Institutionen durchgesetzt. Es gab Berichte der Hofbewohner über ihre Vorfahren, wodurch die Tradition eines angemessenen Verhaltens vererbt wurde. Da waren die ‚Knabenschaften‘, deren Rügepraxis moralisch fehlbares Verhalten sanktionierte. Und es gab den Diskurs in den ‚Spinn- oder Kunkelstuben‘, wo sich das Gesinde und die anderen Unverheirateten des Dorfes bei gemeinsamer Arbeit kommunikativ ihrer verbindenden Normen vergewisserten, in zahllosen Erzählungen, Sagen und Märchen. Was wiederum den ‚Aberglauben‘ schürte und verfestigte, was die Volksaufklärer nach drastischen Maßnahmen rufen ließ: „Glückte es mir nur einmal, an den Wochen- und Kunkelstuben Wetterableiter anbringen zu können, damit der pestartige Dunst sich daraus exonoriren, und mit einemmal zur Hölle stürzen müßte, so wäre die Sache schon halb gewonnen.“35 35 Keller: Das Grab des Aberglaubens, a.a.O.; Vorrede /unpag. 25 Nahezu allen Pfarrern blieben pessimistisch stimmende Erfahrungen nicht erspart, weil der existierende staatskirchliche Religionsunterricht die Menschen nicht zur Tugend führte, weil dessen Worte, Beispiele und Vergleiche einer völlig anderen Kultur entstammten. Die Situation der Pfarrherrn glich derjenigen von Missionsbeamten auf überseeischen Außenposten: „Da wussten manche nicht, was Gott, wie viel Götter, was Sünde, was nach den zehn Geboten recht und unrecht, zu thun und zu lassen sey, und die Gebote selbst nicht, ferner, wer Christus, was Busse, was Glaube sey, wer sie erlöset, wer das heilige Abendmahl eingesetzet habe, was sie darinnen empfiengen, u.s.w.“36 Während die Aufklärung auszog, um die religiös basierte Rezeptur einer ‚vernünftigen Lebensführung‘ auf dem Land zu verbreiten, während sie sich an der „Aufklärung der Volksreligion“37 versuchte, hielten die Bauern an einer alltagspraktischen Religionsausübung fest, wodurch zugleich die Grenze zwischen Religion und Aberglaube verschwamm. Der dörfliche Umgang mit der Bibel ist hierfür nur ein Beispiel. Dass die Bibel politisch instrumentierbar sei, dass sie sich nicht nur für herrschaftliche Zwecke, sondern auch zur 36 Johann Georg Meintel: Natürlich- und geistliche Feld- Garten- und Land-Betrachtungen, auf alle Tage des ganzen Jahrs, nach Anleitung so vieler Sprüche H. Schrift, zur Beförderung des wahren Christenthums, sonderlich auf dem Lande. Anspach 1752 37 Johann Rudolph Gottlieb Beyer: Zur Aufklärung der Volksreligion. 2 Ein Beitrag in Predigten. Leipzig 1794 26 Abwehr von Zumutungen nutzen ließ, gehörte unter Bauern zum Common Sense. Bibelkenntnisse existierten durchaus im dörflichen Raum: In buchstäblich jedem Haus fand sich ein Exemplar, nahezu jede Familie verfügte über einen ‚Lesekundigen‘: „Das Dogma von der Inspiration der Bibel durch Gott oder heiligen Geist wirkt sich naturgemäß im Volksglauben dahin aus, daß die Bibel als absolut geltende Norm für alles menschliche Tun anerkannt wird.“38 Allerdings sagte der Besitz einer Bibel noch nichts über die Innigkeit der Lektüre aus. Oft diente die Bibel ganz anderen Zwecken als der Lektüre. In jedem Ort gab es darüber hinaus ein ‚Dorforakel‘, welches Bibelstellen auszudeuten wusste. Eine weitverbreitete religiös-prophetische Kolportageliteratur gab zudem den Bauern Anlass, geistlichen Scharfsinn zu zeigen: „Wer rümpft die Nase nicht, wenn er in den Händen solcher Leute (…) einen elend gedruckte Bogen voll Wahrsagungen erblickt, die sie mit ernsthaftem Gesicht durchlesen, und denen sie mit der Mine eines tiefsinnigen Staatsministers nachdenken.“39 Dass ein Gott sei, auch dass die Bibel von Gott sei, daran hegten Bauern keinen Zweifel. Zum Bedauern der Aufklärer enthält die Bibel aber auch ‚bedenkliche Stellen‘. Man denke an die Apokalypse des Johannes, sowie an dessen 38 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Reprint Berlin/New York 1987, Bd.1, Sp. 1211 39 Keller: Das Grab des Aberglaubens, a.a.O., S. 9 27 Prophezeiung vom Sturz der ‚Hure‘ und des ‚Tieres‘, woran sich wenig friedvolle Betrachtungen über das Schicksal von Kirche und Staat anknüpfen ließen. ‚Vernünftige Bibelauszüge‘ gehörten daher zum Standardrepertoire volkspädagogischer Maßnahmen. Auch die Kolporteure, die wandernden Buchhändler, sollten in die Pflicht genommen werden: „Zu fernern Werkzeugen von Verbreitung müßten die LandWallfahrts- und hausirenden Bücher- und Bilderkrämer gebraucht werden, wie sie bisher die Apostel des Aberglaubens und allerlei Unsinns unter dem Volke waren.“40 Die Bibelexegese durch Laien war der aufgeklärten Geistlichkeit suspekt, denn „(w)enig Bücher (…) werden von dem Landmann so mißverstanden als die Bibel“41. Hochgefährlich wurde die Lektüre von Gottes Wort immer dann, wenn aus den Versen politische Ansprüche abgeleitet wurden oder eine religiös fundierte Legitimation, die Maßnahmen der Aufklärung zu sabotieren: 40 [Anonym:] Gedanken über das allgemeinste Mittel, aufgeklärtes praktisches Christenthum, und vernünftigen Gottesdienst unter dem Volke zu verbreiten, durch den Weg der Belehrung, zur Prüfung und Ausführung vorgelegt. In: Mainzer Monatsschrift von geistlichen Sachen 2 (Mainz 1786), Bd. 1, S. 322 – 334, hier: s. 330 Ähnlich: W. Beneken: Lieder- und Büchertrödler, Apostel des Aberglaubens und der Sittenlosigkeit unter dem großen Haufen. In: Jahrbuch für die Menschheit, 1788, Bd. 2, S. 79 – 91 41 Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 319 28 „Haben denn nicht von jeher fanatische, separatistische, revolutionäre u.d.m. Bauern mit der falschverstandenen Bibel in der Hand, ihr pflichtwidriges Verhalten zu rechtfertigen gesucht, und sind es nicht vorzüglich diese, welche den, an ihrer Verstandes-Aufklärung und Herzensbesserung arbeitenden Religionslehrer mit vielen Schwierigkeiten und nicht selten fruchtlos arbeiten lassen?“42 Doch nicht nur die abweichenden Deutungen, zu denen die Bauern bei ihrer Interpretation des göttlichen Willens aus der Schrift gelangen, führen zu einer ablehnenden Haltung der Volksaufklärer bäuerlichen Bibelkursen gegenüber. Der ‚Buchstabenglaube‘, die Auffassung der Heiligen Schrift als eines Buches, das Gott gleichsam den Aposteln in die Feder diktiert habe, war nur ein Aspekt bäuerlichen Umgangs mit der Bibel, und vielleicht noch nicht einmal der bedeutendste. Die Inhalte des Buches samt der Bedeutung der Worte ergänzte der zauberkräftige und magische Wert der Bibel als einer Art Amulett für alle Lebenslagen. Hier verschwammen die Grenzen zwischen Volksfrömmigkeit und Aberglaube vollends. Im bäuerlichen Haushalt war die Bibel ein Kultgegenstand voller magischer Kräfte, die mit dem Alter des Trösters noch zunahmen. Sie war – nach einer unvollständigen Aufzählung des Stichworts ‚Bibel‘ im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens – ein Zauber zur Abwehr böser Geister; sie half in medizinischen Fällen, wenn sie aufgeschlagen unter dem 42 Ebda., S. 320 29 Kopfkissen des Kranken oder der Kindbetterin lag; sie brachte Segen, wenn sie als erster Gegenstand zusammen mit Brot und Salz in ein neues Haus getragen wurde; sie gab Rat in Zweifelsfällen, wenn durch ‚Losen‘ oder ‚Däumeln‘ der Benutzer aufs Geradewohl einen Bibelspruch wählte und ausdeutete; sie zwang beim Schatzgraben das Gold empor. Bibelsprüche an den Stalltüren dienten der Abwehr von Hexerei, wie auch bei Unpässlichkeiten das Verschlucken von Bibelzitaten als probates Mittel galt. Rudimentär finden wir selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft Reste dieser magischen Vorstellungen, zum Beispiel dann, wenn vor Gericht Zeugen ihre Hand auf die Bibel legen müssen. Die Möglichkeiten zum Missbrauch, welche ‚Buchstabenfrömmigkeit‘ und ‚Aberglaube‘ dem dörflichen Milieu eröffneten, waren für die Volksaufklärer Anlass zu unaufhörlicher Sorge. Das Landvolk wollte einfach nicht vernünftig werden, weil eine falsch verstandene Religiosität, dem Fortschritt im Wege stand: „Recht sehr muß man über den vielfachen Mißbrauch klagen, der unter den Landleuten mit der Bibel getrieben wird. Der einfältige, leichtsinnige, abergläubische und bigotte Bauer treibt gleichsam sein Spiel mit diesem ehrwürdigen Buche. Der Einfältige nimmt alles gerade so an, wie die Worte lauten, ohne zu fragen, was bedeutet es? Und denkt, redet und handelt dem gemäß; woraus natürlich viel Sonderbares entstehen muß. – der Leichtsinnige fragt und antwortet, tadelt und entschuldiget mit biblischen Worten und Sentenzen, welches bey dem sinnlichen Bauer ein verführerisches Gelächter zur übeln Folge hat. -. Der 30 Abergläubische schreibt der Bibel als Bibel, den Buchstaben als Buchstaben eine gewisse, geheime, übernatürliche Kraft zu; glaubt mit Hülfe eines dicti biblici mehr als durch natürliche Mittel entziffern und ausrichten zu können. Dieser Aberglaube spuckt in manchen Gegenden noch recht sehr unter den Bauern. Oder, wie soll man es sonst nennen, wenn er z.B. an kranken Tagen die Bibel unter das Kopfkissen legt, wenn er das mit einem Spruch aus der Bibel beschriebene Papier verschluckt; wenn er, ehe er etwas unternimmt, oder gleich beym Aufstehen die Bibel selbst oder ein Buch wie Bogazkys Schatzkästlein (…) aufs Gerathewohl aufschlägt, und aus den zufällig vorgefundenen Worten sich, Gott weiß, was für Glück oder Unglück weißaget; wenn er seinen Kindern, wohl gar dem Vieh, einen Zettel, auf welchem ein Spruch aus der Bibel befindlich ist, anhängt, um die physische Heilung derselben zu befördern; wenn er so genannte religiöse Figuren mit Sprüchen umschrieben an die Haus- Stuben- und Stallthüren schreibt, damit, ich weiß nicht wer? hineinkomme.“43 Die Bibel selbst wurde durch den ‚unvernünftigen Gebrauch‘, den die Bauern von ihr machten, zu einem Hindernis der Aufklärung, da sie ihren ‚alten Schlendrian‘ und ihre ‚Unsittlichkeit‘ mit biblischen und quasi-religiösen Sprichworten rechtfertigen konnten: „Mit den Gemeinsprüchen: wir sind alle allzumal Sünder; die Welt liegt im Argen; es steckt mir nun einmal im Blute; ich habe mich nicht so gemacht, u.s.w. treibt der große Haufe 43 Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 323 f 31 das schändlichste Spiel, um seine Immoralität zu beschönigen.“44 Die bräuchliche Auslegung religiöser Gebote durch das Landvolk ermöglichte einen Lebensstil, der den ökonomischsittlichen Geboten entgegenstand, welche die Aufklärer propagierten. Die neuen Tugenden sollten – dies deren Intention – eine andere Auffassung des Christentums im ländlichen Raum durchsetzen, der mit einem Mentalitätswandel zugleich den ökonomischen Fortschritt beförderte. Der Bauer hingegen rechnete die Fragen von Moral und Tugend nicht zum ‚geistlichen‘, sondern zum ‚weltlichen‘ Bereich der Lebensführung, der daher anderen Kontrollinstanzen als der kirchlichen Aufsicht unterläge. Die Religion vollzog er als bloßes Ritual: „Aber [der Bauer] glaubt, daß er durch Anbau der Aussenwerke der Religion oder durch genaue Abwartung der äusseren Religionsübungen seine Hochachtung und Ehrfurcht vor Gott am kräftigsten beweise, und sich seiner Freundschafft werth mache. (…) Es wird ihm zwar von allen Religionslehrern, von jedem rechtschaffenen Prediger gesagt, und sehr oft gesagt, daß Christenthum und Gottesdienst in einer durchgängigen Herzens- und Lebensfrömmigkeit bestehe und daß jene Religionszeremonien zwar heilig, wichtig und beobachtungswürdig, aber doch nur eigentlich Beförderungs- und Befestigungsmittel der wahren 44 Ebda., S. 366 32 Gottseligkeit sind. Das aber kann und will er nicht begreifen.“45 Im ‚weltlichen‘ Bereich des Alltags, für den Umgang miteinander in den Familien, für das Verhalten bei Schadensfällen und bei Krankheiten stellte für das Landvolk nicht die Religion, sondern der Aberglaube einen Regelungskomplex bereit, der mit der Tugendreligion der Aufklärer um die Vorherrschaft über den Alltag stritt, dessen Gesetze oftmals der ökonomischen Verbesserung widerstrebten: „Der Aberglaube macht [das] Auge [des Bauern] noch ganz so finster, wie ein von rauch geschwärztes Glas, durch welches kein Strahl zum Erleuchten fallen kann; er befestigt den Steifsinn immer mehr, und giebt dem Charakter das Unbeugsame, Wiederspenstige und Verhärtete, das alle Wege zum Eingang des Hellern, Bessern und Edlern verschließt(, a)uch eine geheime Antipathie gegen die Höhern, gegen die befehlende Klasse, so bald sie am Glück der Niedern arbeiten will; ein dunkles Mißtrauen gegen ihre Verbesserungen, und heilsamen Anstalten (…).46 Die wissenschaftliche Forschung heute betrachtet den Aberglauben nicht länger als einen Wust unzusammenhängender, irrationaler und willkürlicher Annahmen über das Weltgeschehen. Obwohl sich dieser 45 Christian Ludwig Hahnzog: Ueber den Einfluß des Ackerbaues und der dahin gehörigen Geschäffte auf die Charakterbildung des Landmanns. In: Jahrbuch für die Menschheit 1788, Band 1, S. 541 – 581; hier: S. 571 f 46 Kessel: Freymüthige Bemerkungen, a.a.O., S. 147 33 Eindruck aufdrängt, wenn man die Stichworte in den zehn dickleibigen Bänden des ‚Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens‘ überfliegt. Für Anthropologen und Ethnologen, zumindest seit dem Erscheinen der bahnbrechenden Arbeiten des Malinowski-Schülers Evans-Pritchard47, ist die soziale Funktionalität magischer Denkprämissen eine Selbstverständlichkeit. Die Übertragung von Kategorien, wie sie die anthropologische Feldforschung entwickelt hat, auf den Aberglauben der traditionalen deutschen Bauerngesellschaften, nimmt einerseits Hahnzogs eingangs gemachte Forderung ernst, und versucht im historischen Rückblick andererseits, jenes Wissen, das heutige Feldforscher vom Innenleben stammesund gemeindezentrierter Bauerngesellschaften gewannen, auf jene ‚wilden Stämme‘ anzuwenden, die unsere Aufklärer vor den Toren ihrer Städte trafen und als Missionsobjekte entdeckten. Als Einstieg in die komplexe Materie wähle ich einen Text des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz, weil er den kulturellen Sachverhalt in das anschauliche Bild von Altstadt und Neustadt fasst: „Wenn wir dieses Bild auf den Bereich der Kultur ausweiten, können wir sagen, daß die Ethnologen traditionellerweise die Altstadt zu ihrem Gebiet gemacht haben, indem sie durch ihre planlos angelegten Gassen streiften und dabei versuchten, eine grobe Kartenskizze anzulegen. Erst 47 U.a. E.E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracle and Magic among the Azande. Oxford 1937 34 neuerdings beginnen sie sich zu fragen, wie wohl die Vororte, die sich in letzter Zeit anscheinend mehr und mehr um sie herumdrängen, gebaut sein mögen, in welcher Verbindung sie zur Altstadt stehen (…), und wie das Leben an derart symmetrisch angelegten Orten wohl beschaffen sein mag. Der Unterschied zwischen den Gesellschaften, die Ethnologen traditionellerweise untersuchen – den traditionellen – und denjenigen, die sie normalerweise bewohnen – die modernen -, wurde gewöhnlich mit dem Begriff der Primitivität gefaßt. Doch könnte man diesen Unterschied vielleicht eher daran ablesen, in welchem Ausmaß um das alte Wirrwarr überkommener Praktiken, einmütiger Glaubensvorstellungen, gewohnheitsmäßiger Urteile und selbstverständlicher Emotionen jene geglätteten und begradigten Handlungssysteme gewachsen sind – Physik, Kontrapunkt, Existenzialismus, Christentum, Technik, Jurisprudenz und Marxismus -, die unsere eigenen Landschaft so nachhaltig prägen, daß wir uns eine Welt, in der sie oder vergleichbare fehlen, nicht vorstellen können.“48 Inzwischen – so Geertz – glaube kaum noch ein seriöser Wissenschaftler, dass es ‚Primitive‘ überhaupt gebe, „schlichte Pragmatiker, die sich durch einen Nebel von Aberglauben zu ihrem physischen Wohlbefinden vortasten“49. Nur sehr unbefriedigend sei dennoch die Frage geklärt, worin der „Unterschied zwischen den entwickelten Formen der erlernten und den groben Formen der Alltagskultur“50 besteht. Geertz schlägt den Begriff des 48 Clifford Geertz: Common Sense als kulturelles System. In: C.G.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, S. 261 – 288, hier: S. 261 f 49 Ebda,, S. 262 50 Ebda., S. 263 35 ‚common sense‘ vor, um diesen Unterschied zu benennen. Der ‚common sense‘ als Bereich der Erfahrung und des gesunden Menschenverstandes, als Bereich des Wissens, das doch jeder weiß: „Die Weisheit des common sense ist schamloses und vorbehaltloses ad-hoc-Wissen. Sie zeigt sich in Epigrammen, Sprichwörtern, Spruchweisheiten, Witzen, Anekdoten, Fabeln, einer Flut von Aphorismen, nicht aber in formalen Doktrinen, axiomatisierten Theorien und dogmatischen Lehrgebäuden. (…) In welcher Form solches Wissen auch auftreten mag, nicht die Stimmigkeit macht seine Weisheit aus, sondern eher das Gegenteil: ‚Eile mit Weile‘, aber ‚frisch gewagt, ist halb gewonnen‘, ‚der kluge Mann baut vor‘, aber ‚genieße den Tag!‘51 Der common sense bietet damit das Bild eines frühen Vorortes der Altstadt. Systematische und kohärente Ordnungsstrukturen sind erst rudimentär vorhanden, trotzdem stellt der common sense grundsätzlich für alle Ereignisse eine sozial zureichende Erklärung bereit: „Als eine der ältesten Vorstädte der menschlichen Kultur – nicht sehr regelmäßig, nicht sehr gleichmäßig angelegt, doch der Form nach schon vom Wust der kleinen Straßen und Plätze durch ihre weniger zufällige Anlage unterschieden – stellt [der common sense] in besonders deutlicher Weise die Motive dar, auf denen solche 51 Ebda., S. 284 36 Entwicklungen beruhen: das Bestreben, die Welt eindeutig zu machen.“52 Auf seine Weise kann der common sense damit auch den Zufall in sein Weltbild integrieren. Buchstäblich für jedes Ereignis stellt er eine passende Erklärung bereit. Eine Erklärung, die dann nicht auf empirischer Untersuchung oder systemischer Logik beruht, sondern den unerschöpflichen Fundus der Alltagsweisheit heranzieht. Übertragen auf den Aberglauben, verhext zu sein, kommt Geertz mit Blick auf Evans-Pritchard‘s Zande-Forschung zu dem Schluss, dass magische und abergläubische Praktiken nicht auf eine Transzendierung der Welt zielen, sondern die Verteidigung und den Schutz des diesseitigen Alltagswissens, das sich im common sense artikuliert, vor der allzeit drohenden Irrationalität bewirken sollen: „Der Glaube an Hexerei formuliert und verteidigt die Wahrheitsansprüche der alltäglichen Vernunft. (…) Und aus diesem Geflecht von common-sense-Annahmen, nicht aus irgendeiner primitiven Metaphysik, gewinnt die Vorstellung von Hexerei ihre Bedeutung und Kraft. Hexerei hat – auch wenn man meint, sie fliege nachts umher wie die Glühwürmchen – nichts mit einer unsichtbaren Ordnung zu tun, sie bezieht sich vielmehr auf eine sichtbare. / Erst dann, wenn sich die gewöhnlichen Erwartungen nicht erfüllen, (…) kommt der Gedanke an Hexerei auf. Zumindest in dieser Hinsicht ist er eine Art Scheinvariable im common-senseDenken. Der Hexenglaube transzendiert dieses Denken 52 Ebda., S. 267 37 nicht, sondern bestätigt es eher, indem er eine allen Zwecken dienliche Idee bereitstellt, die die Zande versichern soll, daß ihr Bestand an Alltagswissen, wenn es auch einen gegenteiligen Anschein haben mag, verläßlich und angemessen ist.“53 Die Übertragung eines solchen ethnologischen Konzepts auf die traditionale Bauernwelt, mit der sich die Volksaufklärer konfrontiert sahen, ist sicherlich problematisch, nur wird man sich die ‚Vorstadt‘, in der die Bauern mitsamt ihres Hexenund Wunderglaubens lebten, eben auch nicht ‚primitiver‘ vorstellen dürfen, als die Welt der Zande. Einen Fall von Hexenglauben zur Zeit der Aufklärung beschrieb ein anonymer Verfasser in einem gemeinnützigen Wochenblatt aus Schwaben. Ein Bauer beklagte sich bei seinem Pfarrer, verhext worden zu sein: „Was ich ihnen nun sagen will, so ist das ein schlimmer Umstand für mich, und ich weis mir nicht zu rathen und nicht zu helfen. Seit etlich Monat kommt vom nächsten Dorf alleweil ein Bettelweib zu uns ‚rüber, ‚s ist’n altes Muster, Ihr wohlehrwürd. Ich glaub gar, Gott sey bey uns, daß sie nicht so gar richtig ist, und mit’m Bösen Verkehr hat. Neulich hat sie bey mit gebettelt, ich hab nicht gleich was bei der hand, und laß sie also in Gottes Namen ziehen. Seitdem wird mir 53 Ebda., S. 268 f 38 alle Milch blau, die Säu kriegen d’Bräune, und fast alle Nacht drückt mich der Alp zum Erbarmen.“54 Auf diesem Bauernhof hatten sich unvorhersehbare Ereignisse und Anomalien im Ablauf des Alltags eingestellt: Das Vieh, obwohl es gepflegt wurde wie an allen anderen Tagen auch und wie es die Erfahrung vieler Generationen verlangt, erkrankte dennoch. Der common sense war mit seinem Latein am Ende und griff wie selbstverständlich zur Explikation des Geschehens auf die Hexerei zurück. Wo das Alltagswissen versagte, richteten sich die Überlegungen der Betroffenen wie selbstverständlich auf eine ‚Schuld‘ oder auf eine grobe Verletzung bräuchlicher Normen. Die lagen auch wirklich auf der Hand: Der Bauer hatte eine übliche Sozialleistung, das Almosen, verweigert. Deshalb verfiel er auf die für ihn ‚natürlichste‘ Erklärung der Welt für sein Mißgeschick, auf die abgewiesene Pauper-Frau, die ihn verhext haben musste. Wie tief die Anhänglichkeit an die Normen, Werte und Bräuche dörflichen Zusammenlebens gewesen sein muss, ist an der Selbstverständlichkeit zu sehen, mit der zwischen widrigen ökonomischen Zufällen und dem Bruch von Normen nahezu unausweichlich ein Bezug hergestellt wurde, wie auch an der psychosomatischen Zwangsläufigkeit, mit der dieses Fehlverhalten gesundheitliche Folgen – das Alpdrücken – nach sich zog. Zumindest in dem beschriebenen Fall hat der 54 Gemeinnüzziges Wochenblatt für Bürger ohne Unterschied des Standes und der Religion, besonders in Schwaben, Kaufbeuren 1780, 1. Quartal, Heft 1, S. 4 39 Hexenglaube eine ähnliche Funktion, wie sie Keith Thomas für die Volkskultur Englands beschreibt: „Unter diesen Umständen trug der Hexenglaube dazu bei, die traditionellen Verpflichtungen zur Wohltätigkeit und zum gutnachbarlichen Verhalten in einer Zeit zu stützen, da sich andere soziale und wirtschaftliche Kräfte vereinten, um sie zu schwächen. Die Furcht davor, der Rache von Hexen ausgeliefert zu sein, war ein wirksames Abschreckungsmittel gegen die Nichtbeachtung des alten Moralkodex; denn am schnellsten zog man sich ein Unglück dann zu, wenn man einem Nachbarn gegenüber knauserig war. Mit Recht wurde behauptet, daß die Hexen denjenigen keinen Schaden zufügen konnten, die den Armen mit Großmut begegneten. Die Wohltätigkeit war die allerchristlichste Vorsichtsmaßnahme gegen die Hexerei.“55 Die Antworten des aufgeklärten Pfarrers an seinen von Hexerei überzeugten Bauern56, beschreiben das Dilemma, in das die Volksaufklärung geriet, wo sie einerseits den Aberglauben bekämpfen, aber andererseits soziales Verhalten bewahren wollte. Zugleich illustriert die Entgegnung die soziale Funktion eines ‚wahren Christentums‘, das die Volksaufklärung als Substitut zum Aberglauben propagierte. Für die aufgetretenen ökonomischen Misshelligkeiten werden dem Bauern zunächst ‚vernünftige Erklärungen‘ angeboten: 55 Keith Thomas: Die Hexen und ihre soziale Umwelt. In: Claudia Honnegger: Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt/M. 1978, S. 256 – 308, hier: S. 292 56 Gemeinnüzziges Wochenblatt, a.a.O., Heft 2, S. 9 - 12 40 die Milch würde blau, weil sie in einem Raum stünde, der von schlechten Dünsten erfüllt sei. Obwohl dies doch der gleiche Raum gewesen sein dürfte, wo die Milch seit jeher stand, ohne blau zu werden. Die Schweine wiederum erkrankten, weil sie sich wohl erkältet hätten. Der Alp drücke letztlich den Bauern, weil entweder sein Blutdruck zu hoch oder der Magen überladen wäre. Trotzdem möge der Bauer, auch wenn alle Zeichen eines hexerischen Einflusses lächerlich gemacht werden, die Armen nicht vergessen. Das aufklärerische Kalkül zählte also darauf, dass an die Stelle internalisierter abergläubischer Furcht jene Prinzipien ‚wahrer Christlichkeit‘ treten könnten, die dann aus Erbarmen das Almosen ebenso erzwingen würden, wie dies zuvor aus Furcht geschah. Nicht der ‚soziale Sinn‘ des Aberglaubens wird damit kritisiert, sondern nur die Prämissen, auf denen er ruhte. Die erwünschte Funktionalität des Aberglaubens, sein ‚sozialer Sinn‘, wurde von den Volksaufklärern häufig konstatiert. Ernst Urban Keller beschrieb die Funktion, welche der ‚Aberglaube‘ von den ‚zwölf heiligen Nächten‘ zwischen dem Christfest und dem alten Neujahrsfest für die Landbevölkerung hatte. Für jeden Bauern sollte es katastrophale Folgen haben, begänne er in dieser Zeit schwere Arbeiten: „Der Ursprung dieses Aberglaubens ist sehr natürlich. Das Gesinde, welches mit dem Ende eines Jahres seinen Dienst verläßt, unterziehet sich in den lezten Tagen seines Dienstes nicht vieler Arbeit mehr, und der hauswirth übersieht die leztere Mängel seines Gesindes. Das neue 41 Gesinde will in den ersten sogenannten Flitter-Tagen zu schwerer Arbeit gleichfalles ungern angetrieben seyn; daher verfließen die zwölf Nächste gemeiniglich ohne Säuberung der Ställe. Ueberdiß öffnet man auch die Ställe bey den allerkürzesten Tagen, wo zumal die Kälte sehr groß zu seyn pflegt, sehr ungern.“57 Mit Hilfe des Aberglaubens konnte das Gesinde hier einen rudimentären ‚Urlaubsanspruch‘ durchsetzen, der zudem so in die Ökonomie des Jahres eingepasst war, dass er kaum betriebswirtschaftlichen Schaden nach sich zog. Für das System des Aberglaubens gilt, dass er von außen den Menschen die Praxis sozialen Handelns aufzwingt, schlicht durch das Postulat eines unaufhörlichen Einwirkens dämonischer Kräfte. Der Aberglaube kann somit aus falscher Furcht das Richtige bewirken. Hierbei reguliert der Aberglaube soziales Handeln oft ebenso gut und effektiv wie der Tugendkanon der Aufklärung, wenn nicht sogar besser. Von den Volksaufklärern wurde der Aberglaube daher weniger in seinen Folgen, sondern als Prinzip bestritten. Zwar sei es kein Problem, die „Erörterung des natürlichen, und zum Theil sowohl unschuldig als nüzlichen Ursprunges solcher unzählichen zum Mißbrauch und Aberglauben gemachten Gewohnheiten an Hand zu geben“58, dennoch müsse der Aberglaube als Prinzip der Welterklärung bekämpft werden. weil er dem rational basierten Diskurs der Aufklärung widerspreche: 57 58 Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., Bd.2, S. 183 f Ebda., S. 200 42 „Die wahre Weisheit bedienet sich der besten Mittel, zu einem guten Zweck zu gelangen; der Aberglaube aber eines schlimmen Mittels, wenn er etwas gutes erreichen will, solcher Mittel, welche wider das Wort GOttes und die Vernunft laufen (…).59“ Faktisch aber hatte der ländliche Aberglaube vor allem eine sozialmagische Funktion. Auf den Dörfern lebten bekanntlich keine Heiligen, die materiellen Verteilungskämpfe waren hart, auch und vor allem innerhalb der Familien und Sippen. Daher wurde die magische Furcht mit drastischen Bildern über mögliche Folgen geschürt: „Dieß geht soweit, daß der Bauer, mit Hülfe abergläubischer Meinungen Andere von etwas Schädlichem abzubringen sucht. Z.B. Thue Keinem, auch heimlich Gewalt an; denn einem heimlich Gemordeten fließt Blut aus Mund und Nase, wenn sich der unbekannte Mörder dem Leichnam nähert – schlage das Gevatterstehen nicht leichtsinnig ab; denn, wenn man den Gevatterbrief nicht gleich erbricht, so lernt das Kind schwer sprechen – schwöre nicht falsch; denn sonst wird dir die Zunge schwarz, und die Finger bleiben steif stehen – schlage die Eltern nicht; sonst wächst dir die Hand aus dem Grabe.60“ ‚Welch ein Hokuspokus!‘, dachten sich manche Aufklärer wohl. Sie glaubten eben nicht an solchen Aberglauben. In einem System aber, wo dieser Glaube allabendlich in den Spinnstuben fern der Kirche verstärkt wird, ist ein solcher 59 60 Ebda., S. 194 Heydenreich: Charakter des Landmanns, a.a.O., S. 288 f 43 Glaube durchaus funktional. Selbst die dörflichen Gerichte griffen auf magische Praktiken zurück: „Die verdächtige Person mußte die Wunden, den Mund und Nabel des Erschlagenen berühren, und sich durch einen Eid von dem Verdachte reinigen. Fing nun während dieser Handlung das Blut des todten Körpers an zu gähren, so glaubte man, daß der Verdächtige dadurch seines Verbrechens sattsam überführt sey. Freilich war dieß wol äusserst selten der Fall; aber Gewissensangst und das ganze Benehmen der verdächtigten Person brachten oft den Thäter ans Licht.“61 Man ist versucht, in solchen Fällen von einem ‚Kommissar Aberglaube‘ zu sprechen. Denn in einem intakten Glaubenssystem übt der Aberglaube auf jeden seiner ‚Gläubigen‘ Wirkungen aus, die weniger übernatürlich sind, sondern vielmehr durch den Glauben an Magie natürliche Resultate zur Folge haben können. Nehmen wir an, ein Bauer des 18. Jahrhunderts wählte ein Bibelorakel oder konsultierte eine ‚kluge Frau‘, um den Dieb entwendeten Geräts zu finden. In der Folge wirkte dann nicht die angewandte Magie, sondern das ‚Kundtun‘ seines Handelns. Das Öffentlichmachen magischen Handelns konnte den Täter, sofern der selbst abergläubisch war, zur Rückerstattung des Geraubten geradezu zwingen. Solche Fälle sind durch viele volksaufklärerische Schriften bezeugt. 61 Fischer: Beiträge, a.a.O.; S. 107 44 Es waren auch weniger diese aufdeckenden Wirkungen des Aberglaubens, die den Volksaufklärern Sorgen machten. Es ist die hindernde Wirkung, die ‚konservative Kraft‘, die der Aberglaube zu entwickeln vermochte. Der Aberglaube kehrte sich dann gegen die Träger der Modernisierungsmaßnahmen auf dem Dorf. Heinrich Ludwig Fischer, der darauf pochte, dass sich alles, was er erzähle, „sich wirklich ereignet habe“62, schildert den Fall eines zugezogenen Reformlandwirtes, der sein Haus verliert, vermutlich durch Brandstiftung. Um den Fremden, den Zugezogenen, der sich nicht den sozialen Normen des Dorfverbandes fügte, wieder zu vertreiben, dichtete man ihm einen Kobold an, der letztlich auch sein Haus angezündet hätte: „Man macht dem Unglücklichen sogar die kränkendsten Vorwürfe darüber, wünscht nicht mehr in seiner Nachbarschaft zu wohnen, und sähe es überhaupt gern, wenn er das Dorf verließe.“63 Diese zwei Aspekte des Aberglaubens, der sich gegen eine ‚Verbesserung des Herzens‘ ebenso stemmte wie gegen eine ‚Verbesserung der Landwirtschaft‘, dieser Duopol ist es, der im Zentrum der Kritik der Volksaufklärer stand: 62 63 Ebda., S. VI Ebda., S. 13 45 „Durch Aberglauben, der überall in Handlungen ausbricht, [wird] mehr als durch irgend ein Uebel das Wohl der menschlichen Gesellschaft gestört.“64 Häufig genug gab der Aberglaube den Volksaufklärern schlicht Rätsel auf, zum Beispiel dann, wenn seine ‚Erfolge‘ keine rationale Erklärung oder Ableitung zulassen. Ein Hexereifall, den Johann Ferdinand Schlez im ‚Jahrbuch für die Menschheit’ schildert, illustriert die Hilflosigkeit aufklärerischer Explikation angesichts magischer Praktiken in einer Zeit, wo der „Aberglaube (…) überall seine Tempel (hat) und allenthalben asa foetida auf seinen Altären (dampft).“65 Seiner Erfahrung nach, schreibt Schlez, sei „unter allen Gattungen des Aberglaubens (…) keiner so fest eingewurzelt und nachteilig, als der Glaube an Hexereien.66“ Schlez schildert im Folgenden den Fall eines Fleischers aus seiner Pfarre. Friedrich Krauß - dies der Name jenes Mannes - sei seit seiner Geburt mit einem krätzeartigen Ausschlag behaftet gewesen. Alle Hilfsmittel der Schulmedizin brachten keine Linderung, woraufhin Krauß den Ratschlag eines Quacksalbers befolgte und in der Walpurgisnacht in fließendem Wasser badete. Der Ausschlag verschwand auch wirklich, nur zog sich Krauß durch 64 Heinrich Ludwig Fischer: Das Buch vom Aberglauben. Zweyter Theil, Hannover 1793; S. IV 65 J[ohann] F[erdinand] Schlez: Ein Beytrag zur Kenntniß des Aberglaubens unter dem Volke. In: Jahr für die Menschheit, 1788, Bd. 2, S. 304 – 310, hier: S. 304 (Schlez war der Verfasser des aufklärerischen Musterdorf-Romans ‚Geschichte des Dörflein Traubenheim‘) 66 Ebda., S. 304 Formatiert: Schriftart: Arial Narrow Gelöscht: u Formatiert: Schriftart: Arial Narrow Gelöscht: ¶ Formatiert: Schriftart: Arial Narrow, Kursiv Formatiert: Schriftart: Arial Narrow 46 die Kälte des Wassers eine schmerzhafte Gicht zu, die ihn fortan begleitete. Anderthalb Jahre vor seinem Tod brach diese Krankheit mit zuvor unbekannter Wucht aus. Der Chirurgus des Dorfes konnte keine Linderung schaffen, tausenderlei Mittel kamen zum Einsatz. Der Bruder des Kranken hätte dann die ‚wahre Ursache‘ des Gichtanfalls aufgedeckt: Einige Zeit zuvor habe der Fleischer eine alte Frau verklagt, die einige ‚krumme‘ Schweine außerhalb des Dorfes schlachten ließ. Diese Frau, die von der Obrigkeit wegen ‚Unterschleifs‘ daraufhin zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, fragt den Bruder nach dem Befinden des Kranken. Als sie vom üblen Zustand erfährt, sagt sie: „Ja ja! so geht’s – das hab ich ihm angewünscht – lahm wie meine Schweine!“67 Für die Dorfbevölkerung steht es nun fest, dass ihr Fleischer verhext wurde. Auf dem öffentlichen Kirchwege, so beschließt es der hexereierfahrene Diskurs der Dorforakel, müsse der Fleischer die alte Frau dreimal im Namen Gottes um Hilfe bitten. Dies geschieht – und eine sofortige merkliche Besserung des Gesundheitszustandes tritt ein. Dann aber interveniert die ‚Aufklärung‘, die ihre rationalen Prinzipien verletzt sieht – und die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Der obrigkeitliche Beamte und der Pfarrer Schlez zitieren den Fleischer und die alte Frau zu sich. Beide werden gezwungen, sich gegenseitig Abbitte zu leisten. Prompt 67 Ebda., S. 307 47 kommt es zu einem Rückfall, an dem der Fleischer wenig später stirbt: „Bald darauf erfuhren wir aber zu unserer Bestürzung, zu welch einem Fehler uns die Unbekanntschaft mit dem Volksaberglauben verleitet hatte. Krauß bekam einen Rückfall der Krankheit, war in etlichen Tagen schon wieder an den Krücken und der abergläubische Theil des Volks gab der Abbitte die Schuld. ‚So bald man einer Hexe Ehrenerklärung thut, hieß es, hat sie siebenfache Gewalt‘.“68 An einem realen Fall beschreibt Johann Ferdinand Schlez hier die Funktionsweise des abergläubischen Systems – und die Dysfunktionalität aufgeklärter Interventionen. Die beiden Ebenen sind zueinander inkompatibel. Die Klärungen des Geschehens durch den Dorfdiskurs waren zunächst hilfreich, beseitigten die Krätze sowohl, wie sich auch die Gicht linderten. Kaum aber greift die Obrigkeit – und damit die ‚Aufklärung‘ – ins Geschehen ein, verschlimmert sich der Zustand des ‚Behexten‘ bis hin zum Tode. Für Schlez stellt die Sachlage einen aporetischen Komplex dar, ganz ohne ‚Lehre‘ oder ‚Moral‘, die sich daraus ziehen ließe. Ein „Psycholog wird manche interessante Bemerkung dabey machen“ und für den Volkslehrer „kann der Aufsatz vielleicht in mancher Hinsicht lehrreich seyn“, mit diesen Worten endet der Text. 68 Ebda., S. 308 48 Der Hinweis auf die Psychologie hat sicher seine Berechtigung, da im volksmedizinischen Denken die Krankheiten nicht nur Folgen sind von Erkältungen, von Keimen, falscher Ernährung, Infektionen und anderen kausalen Herleitungen, die wir gewohnt sind, als Ursachen anzuführen. Die Landbevölkerung kennt auch eine ‚soziale Somatik‘ insbesondere dann, wenn Wunden nicht heilen, die Medizin nicht wirkt oder Krankheiten chronisch werden. Sobald das Erfahrungswissen des common sense nicht weiter weiß, wird eine moralische Ursächlichkeit angenommen. Nahezu zwangsläufig wird dann nach Indizien für ‚Hexerei‘ gefahndet. Das Opfer nimmt eine Selbstüberprüfung seines sozialen Handelns vor und stößt unter Umständen auf ‚Fehlverhalten‘, auf eine soziale Situation, die einem anderen Anlass zu Hass gegeben haben könnte. Da der Behexte kein bloßes Objekt der auf ihn angewandten ‚Erklärung‘ seiner Krankheit ist, sondern selbst in solchen Kategorien denkt und lebt, folgt auf die erkannte soziale Devianz eine psychosomatische Reaktion. Erstaunlich ist dabei, dass im dörflichen Glauben nur selten die ‚Hexe‘ den bösen Part spielt, sondern nahezu allemal der Kranke sich ‚schuldig‘ macht. Modellhaft schildert Schlez‘ Fallstudie, wie der Körper des Fleischers auf sein soziales Fehlverhalten reagiert: Er, der eine Frau verklagt, welche ein paar ‚krumme Schweine‘, kaum gut genug für den Abdecker, unzünftig schlachten ließ, um dann auch noch – zumindest ebenso verwerflich – zur Regelung 49 eines innerdörflichen Konflikts die Hilfe der Obrigkeit in Anspruch zu nehmen, der geht zurecht schon bald darauf wieder an Krücken. Das Dorf ist in solchen Fragen erbarmungslos – und es nimmt in der Regel Partei für die ‚Hexe‘, nicht für deren Opfer. Die sozialen Ursachen von Krankheiten, welche der volksaufklärerische Diskurs ‚natürlicher Ursachen‘ bestreitet, die sind für das Dorf ein Faktum, zumindest solange alle an die Existenz von Hexerei glauben. Überdies war der Standard ‚aufgeklärter Medizin‘ am Ende des 18. Jahrhunderts auch eher erbärmlich als erfolgreich zu nennen, weshalb zwischen ‚Dorfmedizin‘ und ‚Stadtmedizin‘ zu jener Zeit kaum ein Unterschied bei Heilerfolgen bestand. Es sind daher die Grundannahmen, welche die beiden Systeme unterscheiden. Die Volksaufklärung verweist auf ein System teils individueller, teils natürlicher Ursachen für alles Geschehen. Das Dorf aber lebt in einem Moralsystem auf der Basis kollektiver Sanktionen, die durch Furcht wirken. Die Resultate mögen in beiden Fällen gleich sein, für Aufklärer sind es die Grundlagen, die abzulehnen sind: „Unsere Tugend, welche aus freiem Triebe, und ihrer lohnenden Vortreflichkeit wegen geübt werden soll, könnte, durch Bilder des Schreckens erweckt und unterhalten, nicht Tugend seyn.“69 Hexerei ist eine Chiffre für die Differenz der beiden Systeme, und sie ist verblüffend selbstverständlich. Der Bruder befragt 69 Fischer: Beiträge zur Beantwortung, a.a.O., S. 42 f 50 die bestrafte Frau, und diese bejaht den Verdacht ohne Umschweife. Der Bruder hätte Anlass zu Hass gegeben, sie habe ihn deshalb verflucht und ihm das Schlimmste an den Hals gewünscht. Kurzum: Die Hexerei ist in der alten Dorfgesellschaft kein Ausbildungsberuf, sondern schlicht eine soziale Reaktion. Vielleicht sollte an dieser Stelle noch darauf hingewiesen werden, dass Scheiterhaufen, Wasserproben, Streckbetten und eiserne Jungfrauen eher auf der ‚bürgerlich-kirchlichen Seite‘ des Hexenglaubens zu verorten sind. Dies waren obrigkeitliche Reaktionen auf einen Volksglauben, der einfach nicht auszurotten war: „Die Verfolgungen [wurden] nicht von Bauern, sondern von Richtern ausgelöst (…). Dem wäre hinzuzufügen (…), daß der Beweggrund der Richter dabei die Furcht von der Gegenkultur der Schwachen war. Es war bedrohlich für die christliche Ordnung, daß die Bauern, unter Berufung auf Satan und die Hexerei, auf ihre Weise und anderswo als in der Kirche Begierde, Gewalt und den Kampf gegen biologisches Unglück ausagierten.“70 Auch für nachfolgende Zeit der Aufklärung gilt, dass „Hexerei (…) einzig in den Augen der Schriftgelehrten Verbrechen und Frevel ist“71, während die Hexe im Dorf durch ihre Macht sozialer Sanktionen ein mit Furcht gepaartes Ansehen genießt. 70 Jeanne Favret: Hexenwesen und Aufklärung. In: Cl. Honnegger (Hg.); a.a.O., S. 336 – 366; hier S. 343 S. a. die ausführliche Biographie zum Thema dort. 71 Ebda., S. 352 51 Allerdings wandelte sich die Natur der Anklage. Während die Hexerei zur Zeit der großen Verfolgungen ein Sakrileg, ein Kardinalverbrechen war, das den Tod auf dem Scheiterhaufen nach sich zog, so lautet die Anklage in der Aufklärung schlicht auf Betrug. Der Beweis wird mit detektivischen Mitteln und dem Rohrstock statt durch Folter geführt. Johann Gottfried Heinrich Müller schildert mit unverkennbarem Behagen und mit dem starken antiklösterlichen Impetus des Josephinismus, wie eine solche ländliche Betrügerin angesichts städtischer Verhörmethoden ihr falsches Spiel aufgeben muss: „[Der Stadt-Syndicus] ließ sie denn von zween seiner Bediensteten niederlegen, und so lange prügeln, bis sie den ganzen Betrug mit dem Guardian [einem Teufelsaustreiber aus dem Kapuzinerkloster] Harr klein erzählte, und offenherzig gestunde: es wäre nur darum geschehen, daß sie Geld, und der Guardian einen grossen Ruf bekämme. Er protokollierte alles auf, ließ es von denen Zeugen unterschreiben, und übergab es dem Magistrat; da dann das Weib ins Zuchthaus, und der Guardian an einen unbekannten Ort kamme.“72 Im ländlichen Raum hingegen hat jene Frau, von der Schlez berichtete, keine Prügel und auch sonst keinerlei Sanktionen zu fürchten. Der ‚quacksalberische Rat‘, den der Dorfdiskurs beschließt, führt zur völligen Absolution der Hexe. Nicht sie, sondern der Fleischer muss sich auf dem Kirchweg, diesem Paradigma dörflicher Öffentlichkeit, einem Reinigungsritual 72 Johann Gottfried heinrich Müller: Versuch, das Landvolk über herrschend-tägliche Vorurtheil und Aberglauben natürlich denken lernen. 2 Theile, Wien 1791, 1. Th., S. 34 52 unterziehen. Zugleich bestätigt er hiermit die Gültigkeit dörflicher Normen. Die Krankheit, deren moralischer ‚Infekt‘ durch die rituelle Reinigung aufgehoben wird, weicht von ihm. Keith Thomas konstatiert bei der Analyse ähnlicher Fälle, dass das Krankheitsverständnis der populären Medizin mit der Diagnose des ‚Behext-‚ oder ‚Besessenseins‘ psychosoziale Faktoren reflektiert, die erst moderne psychologische Theorien wieder ins Kalkül ziehen werden.73 Der Aberglaube - Schlez‘ Feldforschungsbericht illustriert dies - ruht daher nicht nur auf Anwendung eines untauglichen, vorwissenschaftlichen und daher unvernünftigen volksmedizinischen Instrumentariums, er regelt auch soziale 73 K.Th.: Religion and the Decline of Magic, a.a.O.; S. 206 f: „The stubborn reluctance of the lower sections of the seventeenthcentury population to forgo their charmers and wise men resembles the unwillingness of some primitive peoples today to rely exclusively upon newly introduced Western medicine. They notice that men die, even in hospitals, and that the Europeans have virtually no remedy for such complaints as sterility or impotence. They therefore stick to their traditional remedies, some of which afford a degree of psychological release and reassurance not to be found in Western medicine. They cherish the dramatical side of magical healing, the ritual acting-out of sickness, and the symbolic treatment of disease in its social context. Primitive psychotherapy, in particular, can compare favourably with its modern rivals. If this is true today, when medical technique has made such striking advances, we can hardly wonder at the attitude of seventeenthcentury villagers.“ Vgl. auch die folgenden Texte brit. Sozialanthropologen: Alan McFarlane: Witchcraft in Stuart und Tudor England. London 1970 Brian Easlea: Witch-Hunting, Magic and the New Philosophy, Brighton 1980 53 Konflikte innerhalb der Gemeindegrenzen. Es sind höchst diesseitige Zwecke, die er damit verfolgt. Als Ordnungskraft des dörflichen Alltags wird er zum zentralen sozialkonservativen Widerpart bei allen Reformbemühungen der Volksaufklärung, die prinzipiell eine Neuordnung eben jenes ökonomisch-bäuerlichen Alltags durch ‚verbesserte religiöse Grundsätze‘ bezweckte. Der große Raum, den die Volksaufklärung dem Aberglauben in ihren Schriften einräumt, wird erst durch diese Funktion verständlich: „Diese Aufzählung des religionspolizeilichen Maßnahmekatalogs mag als Beleg für die These genügen, daß es eben neben den religiös orientierten und theologisch argumentierenden Reformern damals noch eine Denkschule gab, die zwar sachlich mit jenen weitgehend übereinstimmte, die aber die Religion ganz diesseitig als Instrument der Verhaltenssteuerung einer Gesellschaft betrachtete, deren Wertordnung massiv geändert werden sollte.“ 74 Der Kampf der Volksaufklärung gegen den Aberglauben ist daher in seiner Heftigkeit nur zu verstehen, wenn man sieht, dass die abergläubischen Prämissen eben jene Funktionsstellen besetzen, an denen die aufgeklärte Tugendideologie mit ihren ‚Pflichten des wahren Christen‘ andocken möchte. Das Reden von der ‚Herrschaft des Aberglaubens‘ ist ein Topos der Zeit, der zugleich zeigt, an 74 Christof Dipper: Volksreligiosität und Obrigkeit im 18. Jahrhundert. In: Wolfgang Schieder (hG.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte. Göttingen 1986 [GuG Sonderheft 11], S. 73 – 96, hier: S. 83 54 welch exponierter Stelle der Gegner zu suchen ist. Der Aberglaube usurpiert eine Gegenherrschaft über die - höchst diesseitig gedachten - ‚Geister‘. Er wird in der zeitgenössischen Metaphorik mit allen Insignien der Macht ausgestattet: „Sein Gözen Thron (ist) unter dem Pöbel am meisten befestiget“75. Die strategischen Vorschläge der Volksaufklärer zielen einerseits auf die Kriminalisierung aller Multiplikatoren des Aberglaubens: „Es gibt endlich auch gewisse Personen (…), die Säug Ammen des Aberglaubens genennt werden können. Unter die (…) zähle ich die so genannten klugen Leute, solche, die mit Crystallsehen, Zettelanhängen, Viehbewahren, und vermeintlichen sympathetischen Kuren umgehen. Hieher gehören auch Schaz Gräber, Ziegeuner, Wahrsager, Taschen Spieler. Alle diese Leute breiten den Aberglauben aus, vornämlich diejenigen, welche als kluge Leute berüchtigt sind, und dem zulauffenden Pöbel thörichten Rath geben. (…) Man sollte auf solche Leute fleisig lauern, und diejenigen, welche als kluge Leute aberglaubischen Rath geben, sowohl als die, welche ihn suchen, nachdrüklich strafen.“76 75 [Anonym:] Briefe zur Bildung des Landpredigers, a.a.O., S. 282 Ebda., S. 291 Skeptisch über den Erfolg polizeilicher Maßnahmen äußert sich Fischer: Beiträge zur Beantwortung, a.a.O., S. 126: „Verbote, solchen Charletans sein Leben und Gesundheit nicht anzuvertrauen, können so wie oft selbst würkliche Bestrafungen der Quacksalber, das Hin- und Hertragen des Harns und der Arzneien nicht steuren; 76 55 Der Oberbegriff ‚kluge Leute‘ in diesem Zitat verweist darauf, dass insbesondere die eingeborene ‚Volksintelligenz‘, die ‚Medizinmänner und –frauen‘ also, das primäre Ziel solcher volksaufklärerischen Pönitenz-Phantasien waren. Auf der anderen Seite erhofften sich die Volksaufklärer vom Ersatz der Volksbücher durch volksaufklärerische Lektüre Erfolge. Ein zweiter Literaturkanon sollte geschaffen werden: „Es mangelt uns nicht an den vortreflichsten populären Schriften; allein sie kommen viel zu wenig in die Hände derer, für die sie geschrieben sind. Die Mittel zur Verbreitung der Volksschriften sind folgende: Man benutze die vorhandenen Bücher des gemeinen Mannes, theils um nützliche Anweisungen zur Gesundheitspflege ihnen beizufügen, theils durch Veränderung ihres Inhalts sie gemeinnütziger zu machen (…) Ferner bediene man sich der Jahrmarktsbuchhändler, von welchen der gemeine Mann seine Bücher kauft, und gebe diesen nützliche Volksschriften in die Hände; die jedoch ebenso wohlfeil als ihre bisherigen Artikel seyn müssen.“77 Mit Umdichtung und Verfälschung, wie auch mit Kampfpreisen sollen die ‚nützlichen‘ Schriften der Volksaufklärer den Markt eines keineswegs illiteraten Volkes denn dadurch wird der unaufgeklärte Mann noch nicht deutlich überzeugt, daß jene Pfuscher unwissende Leute sind, sondern er glaubt, es geschehe nur, um den Aerzten keinen Abbruch zu thun.“ Der Verweis, dass die ‚bürgerliche Medizin‘ am Ende des 18. Jahrhunderts noch kaum höhere Heilerfolge aufwies als die ‚Volksmedizin‘, erübrigt sich hier. 77 Struve: Ueber Gesundheitswohl und Volksvorurtheile, a.a.aO., Bd. 1, S. 13 56 erobern. Tatsächlich setzte in diesen Jahren eine wahre Bücherschwemme volksaufklärerischer Literatur ein, wo ‚Musterbauern‘ mittels Mergeldüngung, Pünktlichkeit, Obstbaumzucht und einem tugendhaften Leben zu Reichtum und Gottseligkeit gelangen. Auch der ‚Kalender‘, zugleich „Orakel“ und „Gesez-Buch“78 der Landleute, vollzog den Umschwung von den Aderlasstagen hin zur vernünftigen Landwirtschaft. Neben der Polemik gegen hartnäckige Vorurteile und finsteren Aberglauben findet sich hier dann stets die Exposition des ‚Kleinjogg-Modells‘. Dieser ‚Zürcher Musterbauer‘ gelangte durch seine Exzeptionalität zu europäischem Ruhm. Er bot erstmals einen lebenden Beleg dafür, dass der bürgerliche Tugendkanon auf dem Land reüssieren konnte. Seine Singularität schuf seinen Ruhm. Zugleich wird Kleinjogg, der ‚Städter auf dem Land‘, inszeniert als ein ‚Produkt der Natur‘, der allein durch eigenes Nachdenken zur Aufklärung gelangte. Im Kern aber setzte er sich nur über die bräuchlichen Normen seines Sozialverbandes hinweg. Er durchbrach die sozialen Reziprozitätsnormen, die Ketten von Gabe und Gegengabe, welche den sozialen Zusammenhalt der Dorfgemeinden sicherten: „So hatte er [ = Kleinjogg] zum Gesetz gemacht, weder von Gevattern für seine Kinder und von Verwandten, noch von 78 Ernst Urban Keller: Das Grab des Aberglaubens. Vierte und lezte Sammlung, Frankfurt u. Leipzig 1778, S. 205 57 irgendjemand Geschenke anzunehmen, auch keine zu geben."79 Kleinjogg isolierte seine Kinder konsequent von den Sozialisationsinstanzen der Dorfkultur80 und machte aus der Arbeit sein Glaubensbekenntnis: „Seine Religion ist diese: Arbeite getreu in deinem Berufe; Thue allemahl das, was du in diesem Augenblick empfindest, das du thun solltest. Erwarte keinen Seegen zum Lohn, als nur nach einer überlegten und getreuen Arbeit.“81 Arbeit und Glaube wurden hier gleichgesetzt. Mit einer Religion hingegen hatte dieser blanke Utilitarismus nur noch entfernt etwas zu tun. Seit der Zürcher Patrizier Hirzel seinen Kleinjogg vor den Toren der Stadt entdeckte, wuchs die Zahl der beispielhaften Bauernfiguren in den Texten der Volksaufklärung ins Endemische. Eine unüberschaubare Reihe, die sich bis hin zu Gotthelfs ‚Uli der Knecht‘ erstreckt. Alle diese Texte, von der Intention her für die ‚Hände des Volkes‘ bestimmt, wollten nicht durch die Schrecken der alten Ordnung wirken, sondern durch die sanfte Macht des Beispiels. Deshalb ist die Macht 79 [Anonym:] Calender fürs Volk, Hannover 1783, S.75 Ebda., S. 76 F: „Als Schulmeister wußte er das nächtliche Herumschwärmen der Dorfschüler und ihre Besuche des Weinhauses durch ernste Vorstellungen, gegen den Willen des ganzen Dorfes abzuschaffen.“ Dieser Kalender-Kleinjogg hat mit dem lebenden Kleinjogg natürlich nur noch wenig zu tun; aus der Rezeption erwuchs die aufklärerische Fälschung. 81 Ebda., S. 79 80 58 des Aberglaubens in ihnen auch nur als dunkle Folie präsent, vor der die illuminierten Protagonisten ihre ökonomischen, sozialen und moralisch-religiösen Erfolge entfalten. Eine direkte Polemik gegen die ‚Irrthümer‘ hätte die Zwecke solcher Texte gefährdet und das gesellschaftliche Ziel der Volksaufklärung in Frage gestellt: „Sagen darf mans dem Volke eben nicht, daß man es aufklären wolle; das Wort ist schon zu verhaßt und verdächtig geworden. Es soll die nächste Absicht der Empfehlung nicht merken.“82 Die Bedeutung des ‚Aberglaubens‘ als sozialintegratives Element im Volksleben verschwindet in den fiktionalen Texten hinter der Utopie prosperierender Mustergüter. Die Quacksalber und Harnbeschauer sind jetzt nur noch Randgestalten und bloße Schurken im Stück, die allesamt lügen, betrügen und rauben. Ihnen gegenüber steht die Kunstgestalt des ‚philosophischen Bauern‘, den der Pfarrer zur Linken und der Gutsherr zur Rechten in neue Methoden einweist. Mit literarischen Mitteln werden so ‚Kollaborateure‘ der Aufklärung auf dem Dorf geschaffen, beispielhafte kulturelle Vermittler. Sie seien die „(e)delsten Werkzeuge zur Aufklärung, wenn sie nicht durch Kabalen gehemmt, oder durch Druck unthätig gemacht werden“83. Dass in der Realität diese neuen physiokratischen Methoden oft genug in der Praxis scheiterten, sei nur am Rande erwähnt. Die jahrhundertealte bäuerliche Erfahrung siegte 82 83 [Anonym:] Gedanken über das allgemeinste Mittel, a.a.O., S. 331 Andreß: Abhandlung, a.a.O., S. 8 59 zumeist über den Erfindungsgeist der Theoretiker und über seine Pläne zur Mergeldüngung und Stallfütterung. Verführt vom Bild des grassierenden ‚Aberglaubens‘ auf dem Land sahen die Aufklärer nicht, dass es auch mit der ‚Frömmigkeit‘ der Landbewohner nicht weit her war. Das Volk praktizierte in der Realität bloß einen ‚äußerlichen Gottesdienst‘, hielt sich an Regeln, aber kaum an Gebote. Der grassierende ‚Aberglaube‘ regulierte das Sozial- und Alltagsverhalten, das Christentum hingegen war für die Landbevölkerung bestenfalls ein Ritual mit magischen Qualitäten. Keinesfalls diente es der ‚Herzensbildung‘ in der Nachfolge Christi. 1784 schrieb der lippische Landprediger Georg Conrad von Cölln: „Ich kenne hier viele denkende Männer, die glauben, das Volk neige allgemein hier zum Aberglauben, aber Unglaube wäre seine Sache nicht. Aber meine Erfahrung komt damit nicht überein. Ich habe selbst von vielen gehört; daß alle Religionslehren nur blos in der Absicht gelehret würden, um die Leute im Zaum zu halten. Manche lassen sich von Unsterblichkeit und ewigen Leben nichts einreden. Wie der Baum fällt bleibt er liegen ist gemeines Sprichwort.“84 84 Georg Conrad v. Cölln, In: Volker Wehrmann: Der Lippische Landmann am Ende des 18. Jahrhunderts in zeitgenössischer Beurteilung. Lipp. Mitteilungen 47 (1978); S. 111 – 150, hier: S. 134f 60 Ins gleiche Horn stößt Johann Georg Meintel, der seinen Bauern attestiert, dass sie „ganz irdisch und zum Theil viehisch gesinnt sind“85: „Es lassen sichs auch manche wohl merken, daß sie von den Grund-Articuln des Glaubens, von dem Daseyn GOttes, von der göttlichen Fürsehung, von der Wahrheit und Göttlichkeit der heiligen Schrift, von der Unsterblichkeit der Seele, von der Auferstehung Christi und der Todten, mithin von der Wahrheit der christlichen Religion, gar nicht überzeuget seyn. Und vielleicht giebt es auf dem Lande, in den Dörfern, der Atheisten und Gottes-Verleugner, Naturalisten und Vernünftler, Indifferentisten, oder solcher, denen alle Religionen gleichgültig sind, und dergleichen, so viele, als in Städten und Höfen“86. Eine Sozialgeschichte des Atheismus auf dem Land ist noch nicht geschrieben. Das Bild des ‚frommen Landmanns‘ jedenfalls ist erst ein Produkt der Romantik. Auch ein Mann aus dem Volk, wie der Garnhändler Uli Bräker, hält ähnliche atheistische Gedankenmuster fest. In einem seiner ‚Baurengespräche‘ reden zwei Landleute über ihr Verhältnis zur Religion, das sich im Kern auf die Beachtung des ‚üßerlichen Gottesdienstes‘ beschränkt, ansonsten aber zu gottlosen Konsequenzen gelangt: 85 Johann Georg Meintel: Natürlich- und geistliche Feld- Garten- und Landbetrachtungen, a.a.O., Vorrede unpag. 86 Ebda. 61 „Und ich glaube, daß mich die Erde hervorgebracht hat wie ein ander Thier und daß ich wieder in ihrem Schooß vermodere wie eben dieselben.87“ Bei Bräker ist es erst die ‚moderne Landbevölkerung‘, die eine christliche Religiosität entwickelt. Die Rede ist von den Heimarbeitern im Gefolge der Protoindustrialisierung, die pietistische und separatistische Gemeinden in kultureller Distanz zur Landbevölkerung aufbauen. Paradoxerweise greifen aufgeklärte Aufklärer oft selbst zum Aberglauben, um den Aberglauben zu bekämpfen. Sie geben, zumindest in ihren literarischen Texten, in Kalendern und Predigten, den Bauern auf fast schon jesuitische Weise die eigene Medizin zu schmecken. Ein frühes Beispiel ist Beers ‚Mercks Baur‘, der ein verheerendes Unwetter in aufklärerischer Absicht instrumentiert: „Durch folgende sehr vernünftige Muthmassungen als I, sollet ihr wissen mein Jac! daß dieses Wetter nur auf dem Land so übel gehauset, und nicht in denen Städten, welches dann, Mercks Baur, schon ein Zeichen ist, daß der Allerhöchste hierdurch das Land-Volck besonders habe warnen wöllen, absonderlich aber II. Mercks Baur! so ist es abermahl gewiß, daß die Donner-Streich dieses so entsetzlichen Wetters, überall anfänglich, und jederzeit nur allein in die volle Städel oder Scheuren der Baurschafft geschlagen, selbe auch angezündet und verbrennet, wordurch erst sodann, Mercks Baur! eure Wohnungen oder 87 Ulrich Bräker: Räisonierendes Baurengespräch über das Bücherlesen und den üßerlichen Gottesdienst. Hg. V. Alois Stadler u. Peter Wegelin, St. Gallen 1985; Bd. 2: Umschrift, s. 48 62 die Häußer anderer so vielen Bauren auch von dem Feuer ergriffen, und in die Aschen gelegt worden seynd“88. Eine lange Kette ähnlich konstruierter Koinzidenzen, wo die sittlichen Verfehlungen der Bauern allemal Gottesstrafen zur Folge haben, zieht sich von nun an durch die Volksliteratur der Aufklärung, bis hin zu Jeremias Gotthelfs ‚Wassernot im Emmenthal‘. Die Aufklärer nutzen selbst das Instrument des Aberglaubens. Auffällig ist hingegen der Unterschied dort, wo die Obrigkeit weisungsbefugt ist, wie in den Zürcher Untertanengebieten. Dort, wo sich die aufklärerisch und physiokratisch gesinnten ‚ökonomischen Patrioten‘ der Naturforschenden Gesellschaft unter Führung von Johann Caspar Hirzel versammeln, ergehen Weisungen an Bauernschaft, die so genannten ‚Reskripte‘. Kritik an der mentalen und religiösen Verfassung der Dorfbewohner wird hier kaum geübt, kritisiert werden ökonomische Faktoren: z.B. dass eine Gemeinde nicht genügend bevölkert sei, dass die Bürger in städtischen Diensten und in militärischem Sold ihr Glück suchten, statt 88 [Johann Christoph Beer:] Mercks Baur. Das ist: Heilsame, geistliche Lehren, und Ermahnungen, An die Christliche Baurschafft, Zur absonderlichen Vermeidung der Ungerechtigkeit und Unkeuschheit, Wegen welchen die Baurschafft sehr mutmaßlich durch das Anno 1750, den 27. August entstandene erschröckliche, auch ungemeine Donner-Wetter von dem Allerhöchsten mit dem Feur von den Himmel hergenommen, und gewarnet worden ist, Sehr nutzlich nicht allein den Predigeren zur Abmahnung, als auch denen Haus-Vätteren zur Verbesserung und Verhütung solcher Sünden, welche in X. Geistlichen Gesprächen vorgestellet und beschrieben worden. 7. Auflage, Augsburg 1765, S. 11 63 sich auf die Bearbeitung der Felder zu konzentrieren, dass keine Vermischung der Erden versucht werde, oder dass das Verhältnis der Wiesen zu den Äckern einer besseren Landwirtschaft im Wege stünde89. Wo Hirzel über Volkslaster klagt – zum gleichen Zeitpunkt übrigens, wo er seine ‚Entdeckung‘, den Bauern Kleinjogg, als moralisches Vorbild preist – da zielt er nicht länger auf die Tradition und den Glauben, sondern auf ‚moderne Unsitten‘. Vor allem ist es der zunehmende Luxuskonsum im Volksleben, der einen Geldabfluss aus dem patrizischen Stadtstaat Zürich bewirke. Hirzel hofft hier geradezu auf Krisen, damit diesem luxuriösen Lotterleben durch die aufgeklärte Instrumentierung des Aberglaubens Einhalt geboten werden könne: „Die Verdorbenheit der Sitten ist so groß, so allgemein und so bekannt, daß ein Detail überflüßig wäre, sie ist zum Theil eine Frucht des Luxus, und der Luxus selbst die größte Verdorbenheit; (…). Bey den gemeinen Leuten aber finden die best-gemeynte Vorstellungen keinen Eingang, Züchtigungen von oben herab durch Mißwachs, Theuerung und andere allgemeine Landplagen sind allein vermögend, sie zur Demuth, Arbeitsamkeit, Treue und Redlichkeit, zur Wahrheit oder Verläugnung des Lügen-Geistes und der Schmähsucht, zur Sittsamkeit und Gehorsam zu zwingen, 89 Beispielhaft das ‚Rescript an die Ehrsame Gemeinde Henggart‘, In: Protokoll der ökonomischen Commission der Naturforschenden Gesellschaft, 2r Band (1769 – 1774), Archiv der naturf. Ges. im Staatsarchiv Zürich, Sign: B IX, 67 a; S. 33 - 41 64 und sie von denen diesen entgegen gesetzten, ihnen angewöhnten Lastern abzuziehen.“90 Hirzel sieht den ‚Aberglauben‘ und die Volksreligion nicht als Hindernis an, vielmehr seien dies eher Zügel, die - richtig angewandt - das Landvolk sogar lenken könnten. Später, als er seinen ‚philosophischen Bauern‘ einer neuen Prüfung unterwirft, ist auch hier die religiöse Reformation in das Zentrum seiner Überlegungen gerückt: „Unstreitig ist eine vernunftgemäße, vom Aberglauben gereinigte Religion, das wahre Mittel der Volksaufklärung.“91 Offenbar hat ein Paradigmenwechsel im Zürcher Patriziat stattgefunden. Die großen Hungerkrisen der 70er Jahre haben auch Zürich nicht verschont. Um den Sachverhalt in der zeitgenössischen Metaphorik der frühen Volksaufklärung zu beschreiben, genügt es jetzt nicht mehr, ‚Licht in die dunklen Hütten des Landvolks zu tragen‘, den Bauern muss zuvor ‚der Star gestochen‘ werden, damit sie fähig sind, dieses Licht überhaupt zu sehen. Besonders der „Aberglaube (wirft) Staub in die Augen des Landvolks“92. Die Volksaufklärung hat jedenfalls zur Kenntnis genommen, dass die Landbevölkerung nicht schlicht ‚unaufgeklärt‘ ist. Sie 90 Johann Caspar Hirzel: Denkmal Herrn Doctor Laurenz Zellweger aus Trogen im Appenzeller-Land von der Helvetischen Gesellschaft errichtet. Zürich 1765, S. 23 f 91 Hans Caspar Hirzel: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers nebst einigen Bliken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere den Menschen intreßierende Gegenstände. Zürich 1785, S. 158 92 Keller: Grab des Aberglaubens, a.a.O., Bd. 1, S. 21 65 verfügt über eine grundlegend andere Perzeptionsweise der Realität. Die große Desillusionierung der Reformer, ihr Abschied vom naiven ökonomisch-patriotischen Optimismus der 60er und 70er Jahre, führt dazu, dass die Kritik des Aberglaubens an die Stelle der Kritik an der bloßen ‚Dummheit‘ und ‚Unwissenheit‘ der Landbevölkerung tritt. Diese zweite Stufe der Volksaufklärung klagt vermehrte Kenntnisse über die Volkskultur ein und wünscht sich eine auf das Volk berechnete Literatur. Sie reflektiert das Bewusstsein gebildeter Männer der Praxis, die als Außenposten der urbanen Kultur auf dem Lande, eine ganz andere Lebensweise entdecken mussten. Selbstkritik am bisherigen Verfahren bleibt da nicht aus: „Größtentheils sind diese Phantasien von der herzigen Einfalt und Lenkbarkeit des Landmanns, durch Prediger und Kandidaten in den Städten geträumt, die alle gewünschte Fruchtbarkeit des Predigtamtes auf dem Lande finden, weil sie selbige vergebens innerhalb ihrer Mauern suchen.“93 Das Erscheinungsdatum von Schlez‘ Text ist nicht untypisch. Der große Paradigmenwechsel, der auf der Entdeckung des Volkes durch die Aufklärung beruht, setzt in den achtziger Jahren ein und kulminiert in der Mitte des Jahrzehnts. Verantwortlich für ihn ist daher keinesfalls das Trauma der Revolution, das Schreckbild bewaffneter Bauernhorden und entfesselter Pöbelmassen. Die neue Strategie trachtet 93 Johann Ferdinand Schlez: Vorlesungen gegen Irrthümer, Abergaluben, Feler und Misbräuche, in Bethstunden dem Landvolke gehalten. Nürnberg 1786; Vorrede / unpag. 66 keinesfalls aus sozialdefensiven Motiven heraus danach, aus dem Volk ‚wahre Christen‘ zu machen. Als Motiv der Umkehr darf man wirtschaftliche Motive der Reformer vermuten. Vor allem die dicht aufeinander folgenden Jahre des Misswachses, beginnend mit der Hungerkrise des Jahres 1771, hatten alle Aufmerksamkeit auf Ertragssteigerungen gerichtet, wohl auch, um das Staatsbudget von teuren Getreidekäufen zu entlasten. Der ‚wahre Christ‘, wie ihn die Volksaufklärung forderte, wurde jetzt zum ‚homo oeconomicus‘. Sein Wirtschaftspotential sollte nicht länger durch abergläubische Annahmen über soziale Pflichten behindert werden. „Zeugen von Volksaufklärung“, schrieb Johann Caspar Hirzel jetzt, finde der Beobachter überall dort: „(…) wo Gottesdienst wahrer inbrünstiger Dank gegen Gott ist, dessen Seegen man alle Tage und Stunden bey getreuer Ausübung seiner Pflichten fühlt: wo man nicht sogleich auf verborgne Ursachen, Zauberkraft boshafter Menschen, Einflüsse böser Geister einen Verdacht wirft, wenn die Werke nicht gelingen, sondern seine Aufmerksamkeit verdoppelt, die Einflüsse der Natur näher kennen zu lernen, oder seine eigne Fehler zu entdecken, die den Schaden zuwegegebracht; wo man eben so wenig Wunder erwartet, seine Felder fruchtbar zu machen, seine Vieh gesund und stark zu erhalten und zu vermehren, (…) und solche Wunder durch abergläubische Zeremonien und Gebette vom Himmel zu erzwingen sucht; wo man hingegen dies Alles, durch getreue Anwendung seiner Leibs- und Seelenkräfte, wofür man Gott täglich von Herzen danket, 67 und ihn um die Gnade einer getreuen und geschickten Anwendung bittet, zu erhalten sich bestrebt.“94 Der ‚wahre Christ‘ wurde jetzt zugleich zum ‚produktiven Untertanen‘, der Utilitarismus beherrschte fortan die Volksaufklärung. Am Zustand der Felder konnte man den Fortschritt der Religion erkennen, Aberglaube war hingegen alles, was die Melioration der Felder behinderte. Der Motor des Fortschritts sollte eine neue Art von ‚Volksbüchern‘ werden. In Christian Gotthilf Salzmanns Buch ‚Sebastian Kluge‘, das den Aufstieg eines Betteljungen zum angesehen Mitglied einer Dorfgemeinde exemplarisch beschreiben soll, trifft der Protagonist eines Nachts auf das Gespenst eines verstorbenen Dorfbewohners. Dieser Sebastian Kluge, Repräsentant einer vernünftigen Lebensweise im Roman, sucht für die unheimliche Erscheinung jedoch nicht länger nach Erklärungen, die auf eine soziale oder moralische Verfehlung hindeuten würden. Da er gelernt hat, das Wirtshaus zu meiden, diesen Mittelpunkt des alten sozialen Diskurses im Dorf, da er stattdessen des Abends zu volksaufklärerischer Lektüre greift, entpuppt sich ihm das Gespenst rasch als ein verkleideter Dorfbewohner, der mit seinem Mummenschanz keinerlei soziale Absicht gehegt habe. Die Rezeptionsziele der volksaufklärerischen Literatur wirken hier ganz unmittelbar: „Da fiel mir zum Glücke ein, daß ich denselbigen Abend, da ich das erstemal aus der Schenke blieb, in einem Buche 94 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 155 f 68 gelesen hatte, man dürfe sich vor keinem Gespenste fürchten, sondern müsse nur gerade drauf losgehen, so würde man immer finden, daß man entweder nicht recht gesehen hätte, oder daß er Betrügerey wäre. (…) Bey der Gelegenheit erfuhr ich wieder, was mir der Abend, den ich dazumal zum Lesen anwendete, itzo für Nutzen brachte.“95 Salzmann setzt bereits auf die aufklärungstypische Isolation und Herauslösung einzelner Individuen aus ihrem sozialen Kontext, formuliert ansonsten aber eine höchst naive und optimistische Strategie, die sich von der bloßen Lektüre einer Aufklärungsschrift bereits den Sieg über den Aberglauben erhofft. Er hofft auf die Selbstverwirklichungskraft der besseren und richtigeren Begriffe, und besitzt wenig Gespür für die hindernde Wirkung der bäuerlichen Opposition auf dem Dorf. Völlig anders verfährt Johann Ferdinand Schlez. Dieser dorferfahrene Mann berücksichtigt durchgängig die soziale Macht des Aberglaubens und die Meinungsführerschaft seiner Multiplikatoren, all der „lüderlichen Landführer“ und der bettelnden „hausäsigen Betrüger“96. Diese veränderte Sichtweise bewirkte praktische Erfahrungen, die er mit der widerstrebenden Landbevölkerung machen musste: „Vor 6 – 8 Jahren habe ich manches gewagt, was ich itzt nicht mehr wagen würde, manches anders angefangen (…), 95 C[hristian] G[otthilf] Salzmann: Sebastian Kluge ein Volksbuch, Leipzig 1790, S. 47 f 96 Schlez: Vorlesungen gegen Irrthümer, a.a.O., S. 71 69 manchen Kummer getragen“97. über verkannte gute Absichten Zu diesen Erkenntnissen zählt Schlez die Umdeutung der sozialen Rolle, welche die Träger des Aberglaubens im Dorf einnehmen. Es sind keineswegs Außenseiter, sondern Menschen, die als besonders fromm und geistlich gelten. Schlez hat gelernt, „daß oft die bösesten Menschen am fleißigsten bethen“98. In seinem Roman ‚Geschichte des Dörfleins Traubenheim‘ reflektiert Schlez diese Erfahrungen, wenn er die Anstößigkeit einer aufgeklärten, utilitaristischen Glaubenslehre für die Bauern schildert. Diese betrachten die aufgeklärten Grundsätze des ‚wahren Christenthums‘, die ihnen ihr neuer Pfarrer ans Herz legt, als irreligiöse „Policey-Predigten, die er hält, und keine christerbaulichen, wie sich’s für das Haus Gottes schickt“99. Womit die Kritiker keineswegs Unrecht haben. Literarisch arbeitet der Roman mit dem Stilmittel der Denunziation. Die Träger der orthodoxen Volksfrömmigkeit und des Aberglaubens werden nirgends argumentativ widerlegt, sondern stets charakterlich in den schwärzesten Farben gemalt in ihren Motiven verdächtigt. Ein Verfahren, das fortan die gesamte volksaufklärerische Literatur prägt. 97 J[ohann] F[erdinand] Schlez: Landwirthschaftspredigten. Ein Beytrag zur Beförderung der wurthschaftlichen Wohlfahrt unter Landleuten. Nürnberg 1788, S. XIII 98 Schlez: Vorlesungen gegen Irrthümer, a.a.O., S. 16 99 Johann Ferdinand Schlez: Geschichte des Dörfleins Traubenheim. Fürs Volk von einem Volksfreunde. (1791/92), 3. Aufl., Gießen 1817, S. 299 70 Allemal, so Schlez, verberge sich hinter der Frömmigkeit und dem Aberglauben der krasseste Eigennutz. Eine Insinuation, die in einer materialistisch gesinnten Bauernwelt leicht verfängt, nur dass die Bauern bisher die Herrschaft derart verdächtigten. Die Volksaufklärung trachtet danach, das sprichwörtliche bäuerliche Misstrauen umzukehren. Es soll sich künftig gegen die abergläubisch abgesicherte Normativität der alten Ordnung im Dorf richten. Eine zweite Strategie kommt hinzu, welche gewissermaßen abergläubische Mittel gegen die Träger des Aberglaubens einsetzt. Es genügt den Aufklärern nicht länger, jene Menschen, die abergläubische Praktiken anwenden, literarisch als Betrüger zu entlarven. Sie verfallen allesamt einer göttlichen oder auch einer teuflischen Strafe. Die Handlung der Erzählungen wird damit strategisch an die Mentalität der erhofften Leserschaft angepasst, der Autor versucht, sie am Leitseil ihres Aberglaubens zum Guten zu führen. Da es sich – so Schlez – um eine Sammlung „nur auf das ungebildete Volk berechneter Aufsätze“100 handelt, greift er stereotyp auf abergläubische Muster zurück: Alle uneinsichtigen Dorfbewohner sterben auf Grund ihrer schändlichen Taten oder werden sonstwie hart bestraft, sie fallen von hohen Gerüsten oder verlieren ihre gesamte Ernste 100 Johann Ferdinand Schlez: Kleine romantische Volksschriften. Erste und Zweyte Sammlung. Heilbronn u. Rothenburg o.d.T. 1802, Band I, Vorrede / unpag. 71 durch himmlische Unwetter, was dann vom Leser zurecht als „Strafe Gottes“101 betrachtet werden darf: „Da siehst du nun, wie es den Leuten geht, die sich aller Vernunft widersetzen“102. In fast schon jesuitischer Weise bedient sich diese volksaufklärerische Vernunft der blanken Unvernunft, dort, wo es in ihrem ökonomisch-pädagogischen Interesse liegt. Johann Ferdinand Schlez, der einerseits gegen die Furcht vor göttlicher Strafe und den Glauben an die Möglichkeit magischen Schutzes vor natürlichen Ereignissen polemisiert, der die Feldbegehungen und Erntegebete der Dorfbevölkerung kritisiert, sichert den erzieherischen Landgewinn ab, indem er die Denk- und Ordnungsmuster der vorrationalen alten Gesellschaft zum Schutz der neuen Ordnung anzurufen sucht. Dieses Verfahren, das die Modernisierung der Dorfwelt durch den Einsatz irrationaler Beweggründe des Handelns vorantreiben möchte, findet sich auch bei Pestalozzi. In seinem Roman ‚Lienhard und Gertrud‘, der sich als literarische Umsetzung seiner pädagogischen Prinzipien begreift, ist bspw. die Aufteilung des Gemeinlandes mit vernünftigen Argumenten gegen den Widerstand der gesamten Bauernschaft nicht zu erreichen. Erst als die Dorfreformer den fest verankerten Teufelsglauben der 101 102 Ebda., Bd. 2, S. 104 Ebda., Bd. 2, S. 180 72 Bauern ausnutzen, gelingt es die Resistenz des Dorfes zu überwinden. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu, der sich auf einen realen Aspekt des magischen Volksglaubens bezieht. Im ‚System des Aberglaubens‘ sind die sozialen Verhältnisse immer zementiert: Die Reichen bleiben reich, und die Armen arm, und zwar über die Generationen hinweg. Deshalb greift Pestalozzi als volkspädagogischer Reformer auch die sozialen Verhältnisse an, im Interesse der dörflichen und protoindustriellen Unterschichten. Die traditionalen bibelfesten Großbauern werden als eigensüchtige Ausbeuter der Armut und Feinde der Vernunft charakterisiert, als das „Hartknopfengeschmeiß“103 im Roman. Pestalozzi selbst war kein Christ104. Das ‚wahre Christentum‘ ist für ihn nur eine nützliche Industriereligion für das einfache Volk, ein pädagogisches Hilfsmittel. Jenseits der Texte fürs Volk hat er sich über sein Verfahren offen ausgesprochen: „Ich will mit ihnen vor dem Altar ihrer Gözen hinkieen und nichts weiter thun als mitwürken, sie am Faden ihrer 103 Johann Heinrich Pestalozzi: Werke, Bd. 1: Lienhard und Gertrud. Nach dem Text der Erstdrucke hg. u. komm. v. Gertrude CeplKaufmann u. Manfred Windfuhr. München 1977, S. 545 et al. 104 „Ich bin ungläubig, nicht, weil ich den Unglauben für Wahrheit achte, sondern weil die Sume meiner Lebenseindrücke den Segen des Glaubens vielseitig aus meiner innersten Stimmung verschoben.“ [J. H. Pestalozzi: Sämtliche Briefe. Hg. v. Pestalozzianum u.v.d. Zentralbibliothek in Züch, Zürich 1946 ff, Bd. 3, S. 300] 73 Teufelsforcht zu dem Grad an Menschlichkeit hinzulenken, zu dem diese Forcht den Menschen fehig macht“105. Die neue Volksreligion, die Pestalozzi in der Bauernwelt durchsetzen will, ist eine höchst diesseitige Arbeitslehre, die von den tugendhaften Protagonisten in Pestalozzis zweitem großen Volksbuch, in ‚Christoph und Else‘, vorgelebt wird – als Gegenentwurf zu den schriftkundigen Bauern im Dorf, „deren zweytes Wort ein Spruch aus der Bibel ist“106: „Das ist nicht die rechte Religion, die sich den Menschen als ein Götz aufdringt, mit dem er täglich und stündlich bis zum Tändeln viel Geschäft und Wesens haben soll (…). Die ächte Religion lehret und stärket den Menschen, die Welt zu brauchen (…). Der Weg zum Himmel ist di eErfüllung der Pflichten der Erden und das Todbett ist die Vollendung dieser Erdenpflichten“107. Im Gefolge Pestalozzis entstanden ähnliche Volksbücher, die vom Volk aber wohl auch kaum rezipiert wurden. Der Basler Volkspädagoge Sebastian Spörlin wendet sich Vorwort seines Buches ‚Hanns und Bethe‘ zunächst gegen den Vorwurf, ein vorwiegend utilitaristisch angelegtes, weltlich-neologisches Religionsverständnis zu predigen. Auf die empirische Bauernwelt, die das ‚fromme Geschätz‘ zu ihrem Gottesdienst gemacht habe, nimmt er dennoch kaum Bezug. An die Stelle der Wirklichkeit treten individualistisch konzipierte 105 Ebda., S. 309 J. H. Pestalozzi: Christoph und Else. In: Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthus Buchenau, Eduard Spranger, Hans Stettbacher. Berlin u. Leipzig 1927 ff, Bd. 7, S. 303 107 Ebda., S. 306 106 74 Tugendgestalten, welche die Zufriedenheit zu ihrem Lebenszweck gemacht haben, gewissermaßen literarische Utopien auf zwei Beinen: „(K)önnen wir uns einen glükseligern Menschen vorstellen als aber einen Landmann, der, wenn er gleich nur mäßig begütert ist, zugleich ein guter Christ ist? Vergnügt mit seinem Stande, in welchen ihn die gütige Vorsehung seines Gottes gesezt hat, geht er des Morgens freudig an seine Arbeit, und verrichtet sie mit Lust, weil er weiß, daß ihm die Religion selbige als Pflicht auferleget. Voll Vertrauen gegen das gütigste Wesen erwartet er von seiner Hand den Segen über seiner Hände Werk. Ruhig in seinem Gewissen, das ihm keine Verbrechen vorwirft, geht er mit seinem geliebten Weibe und Kindern des Abends in die Ruhe, und genießt des süssesten Schlaf, den ein zufriedenes Gemüth, und ein von der Arbeit ermüdeter Leib verschaffen kann, frey vom Sturm heftiger Leidenschaften, fridlich mit seinem Nächsten, und von keinen ehrgeizigen Absichten dahingerissen, mischet er sich in keine fremden Händel, die ihn von seiner Arbeit und von seinem Berufe abziehen“108. Das Ziel der Volksaufklärung ist nicht die Emanzipation des Landvolks aus dem geistigen Dunkel des Aberglaubens, sondern die Schaffung funktionierender Untertanen, die dafür sorgen, dass die große Staatsmaschinerie ohne Stockungen Wohlstand produziert. 108 [Sebastian Spörlin:] Hanns und Bethe. Versuch eines nach den Bedürfnis unsrer Landleute zu bearbeitenden Lesebuchs. 2 Hefte. Basel 1790 und 1792; Heft 1, S. 118 ff 75 Um den Protagonisten seines Textes das bukolische Glück eines beschaulichen und arbeitsamen Landlebens vorzugaukeln, ist auch bei Spörlin die soziale Isolation von der Dorfgemeinschaft notwendig. Auch Hanns Bethe meiden die bäuerlichen Orte der Kommunikation, sie sitzen „nicht etwa in der Schenke des Dorfes, wo sonst der gröste Teil der Landleute (…) seine Zeitverkürzung sucht, sondern nah bei ihrer Hütte unter dem kühlenden Schatten eines obstreichen Baumes“109. Dies ‚Glück im Winkel‘ ist es, was die Volksaufklärung auf ihrem Kulminationspunkt den Dorfbewohnern anpreist. Erst hierdurch wird das Bündnis erweckter Landleute mit den gebildeten Vertretern der städtischen Aufklärung möglich. Hanns und Bethe müssen ihre soziale Bezugsgruppe verlassen, um „mit dem Prediger und Schulmeister gleichsam gemeinschaftliche Sache [zu] machen“110. Spörlins Text hat die Form eines Katechismus der Volksaufklärung. Wöchentlich besucht der Pfarrer zu wohlmeinenden Unterredungen die ‚Hütte‘ dieser Bauersleute und fragt die volksaufklärerischen Grundsätze ab. Die Eheleute sind hierbei bereits entwickelte Prototypen eines aufklärungsadäquaten Sozialcharakters, ohne dass der Leser je erfährt, wie sie zu ihren Überzeugungen gelangten. Der Volksaufklärer spielt in den Dialogen die Rolle des ‚Versuchers‘, der die Festigkeit der Maximen erprobt. Am Ende jeder Unterredung fasst er moritatenhaft die Lehre des jeweiligen Gesprächs zusammen. Das Konstruierte und Deviante solcher Sozialcharaktere, die Realität des 109 110 Ebda., Heft 1, S. 9 Ebda., Heft 2, S. 12 76 Dorflebens, wird nur noch ‚ex negativo‘ deutlich, an den Lastern, denen sich das fromme und gelehrige Bauernpaar verweigert. Zu diesen Lastern zählt der weitverbreitete Aberglaube an vergrabene Schätze, die sich mit magischen Mittel emporzwingen ließen. Ein psychologisch verständlicher Wunderglaube, wenn man die materiellen Bedingungen der Bauernwelt näher betrachtet. In dieser Gesellschaft mit ihren altrechtlich abgesicherten Besitzstrukturen gab es keinen sozialen Aufstieg. Der Grund und Boden, eine unvermehrbare Ressource, lässt materiellen Erfolg nur auf Kosten des Besitzes anderer Gemeindemitglieder zu. Die Verteidigung des Besitzes und seine unverminderte Übergabe an die folgende Generation wurden so zu Normen wirtschaftlichen Handelns. Die zentrale Rolle der Besitzwahrung im bäuerlichen Denken wurde durch eine Unzahl ‚abergläubischer‘ Riten gefestigt. Man denke nur an jene Praktiken, die der Entdeckung von Diebstahl und der Wiederbeschaffung verlorener Güter gelten, von dem Aberglauben, der alle Grenzen umgab, und jene Bauern straft, die sie verletzen. In einem solchen System, das die Achtung und die Wahrung des Besitzes in das Zentrum ‚moralischen Verhaltens‘ stellt, das die Verletzung dieser Norm mit dem Verlust von ‚Ehre‘ und ‚Ruf‘ koppelt, mit dem Verlust ‚symbolischen Kapitals‘ also im Sinne Bourdieus, ist Besitzmehrung nur durch plötzliche Glücksfälle oder durch die Beherrschung von Magie möglich. 77 Obwohl jede Akkumulation auf Kosten der Dorfgenossenschaft sanktioniert wird, ist die alte Bauerngesellschaft vom Gedanken an Reichtumsgewinn auf ‚legalem‘ oder ‚halblegalem‘ Wege förmlich besessen. Legal ist zum Beispiel eine kluge Heiratspolitik, die das emotionale Einverständnis des Paares in den Hintergrund stellt. ‚Halblegal‘ aus bäuerlicher Perspektive ist die Schädigung der Obrigkeit beim Zehnten oder bei ‚Wilderei‘ und ‚Holzfrevel‘ in obrigkeitlichen Wäldern, zumal dann, wenn sich die Gemeinde im Besitz von älteren Titeln glaubt, also im Besitz der so genannten ‚alten Rechte‘ der Gewohnheit. ‚Legal‘ ist es aber auch bei der Göttin Fortuna sein Glück zu suchen, was die ‚Lottosucht‘ des gemeinen Mannes zur Folge hat, welche die Volksaufklärer beklagen. Oder aber, mit dem abergläubischen Instrumentarium des Höllenzwanges verborgene Schätze auf magischem Wege zu Tage zu fördern. Alle diese Wege zum materiellen Glück sind hingegen in den Augen der Aufklärer höchst ‚illegal‘. Wer auf ihnen wandelt, den trifft die geballte Kritik der Volkspädagogen. Misst man die Volksaufklärungstexte an der Häufigkeit der Jeremiaden über den Schatzgräberaberglauben, so muss ein wahrer ‚Goldrausch‘ die ländliche Gesellschaft zu jener Zeit befallen haben, ohne das ihm irgendwo die Existenz eines Klondyke entspräche. Die starr verfasste, traditionale Bauernwelt, die allen reale Chancen auf Besitzmehrung verwehrte, findet für die sozial und bräuchlich blockierten materiellen Eigeninteressen im Aberglauben ihr psychologisches Ventil. Diesem Interesse versucht die Volksaufklärung ein Ziel zu geben, ein wirkliches materielles 78 Substrat. Dies sei der aus ökonomischer und sittlicher Tugendhaftigkeit folgende Wohlstand, der aber - wie die verborgenen Schätze im Volksglauben – auch am Ufer der Aufklärung zumeist nur eine Chimäre blieb: „Ja wol sind Arbeitsamkeit, Mässigkeit und Häuslichkeit die einige Goldgrube, woraus wir zuverlässig Schätze sammeln, sagte Hanns, wie er im Hinkenden Bothen von 1789, die sich zu G. zugetragene Schazgräbergeschichte gelesen; hätten wenigstens, fügte er bey, diese einfältig Betrognen für ihr weggeworfenes Geld Dung gekauft, und ihre magern Felder damit gebauet, wären sie ihre Nuzens sichrer gewesen“.111 Selbstvertrauen auf die eigene ökonomische Kraft kennzeichnet Spörlins Bauernpaar. Beim Aberglauben handele es sich um „Possen und weiter nichts“112, der abergläubische Kalenderkram wird verworfen, weil „nicht der Mond und das Gestirn, sondern Gottesfurcht und Fleiß im Berufe die Quellen allen Segens sind“113. Die Ungebräuchlichkeit solcher Maximen auf dem Dorf wird aber im Resumée des Pfarrherrn deutlich, in dessen Lob seiner literarischen Tugendbolzen die Klage über die wirklichen Verhältnisse auf dem Land stets einfließt: „Ja wol, mein guter Hanns! Und ich freue mich mit dem wärmsten teilnehmenden Herzen über eure getahne Aeusserungen gegen den ganzen Kram so viler unter unserm Landvolk immerzu noch herrschender 111 Ebda., Heft 2, S. 37 f Ebda., Heft 2, S. 41 113 Ebda., Heft 2, S. 45 112 79 abergläubischer Torheiten, nichtiger Fabeln und Gebräuche, wodurch Gott entehret, und seine Macht und Fürsehung so offenbar beleidigt wird. Wie lange wird’s noch währen, bis wahre Aufklärung die Finsternisse des Irrthums und Aberglaubens zerstöhret?“114 Die resignative Stimmung, die Spörlins Text hier umflort, verdankt sich der Erfahrung der Volksaufklärer, deren Reformen auf breiter Front ins Stocken geraten waren. Immer wieder scheitern sie am ‚Aberglauben‘, mit dessen Prämissen eine andere Kultur ihre Lebensweise verteidigt. Der Aberglaube ist zum zentralen Mentalitätshemmnis geworden, an dessen Einspruch alle volksaufklärerischen Maßnahmen scheitern. Die andere Auffassung des Volkes vom guten Leben und von der Religion, sein Gottvertrauen, „sein Glück ohne seine Arbeit, ohne eigene Mühe von Gott zu erwarten und die Ursache seines Unglücks in Gott zu suchen“115, hindert jedes Ansteigen der obrigkeitlich höchst erwünschten Produktivität. Der Aberglaube hindert den ökonomischen Fortschritt. Drastisch beschreibt der Ökonom Johann Friedrich Mayer, was ihm wiederfuhr, als er neue Anbaumethoden wie Gipsdüngung einzuführen trachtete: 114 Ebda., Heft 2, S. 46 f Johann Friedrich Mayer: Lehrbuch für die Land- und Haußwirthe in der pragmatischen Geschichte der gesammten Land- und haußwirthschaft des Hohenlohe-Schillingfürstschen Amtes Kupferzell, Nürnberg 1773 (Faks.Dr. Schwäbisch-Hall 1980), S. 194 115 80 „(M)ir und dem Gyps schrieb man Hagel, Schlossen, Donnerwetter, Feuersbrünste, di eletzten zween harten Winter selbst zu und ich war zufrieden, daß wir nicht gar als Anstifter des Türkenkrieges in der Crim angesehen wurden.“116 Hinter der Polemik der Volksaufklärer gegen den Aberglauben und das rituelle Religionsverständnis der Landbevölkerung verbirgt sich mehr als bloß das Anliegen human gesinnter ‚Volksfreunde‘, den gemeinen Mann zu ‚befreien‘ von magischer Furcht. Denn der Aberglaube ist nicht schlechthin irrational, oft genug verteidigt er die Lebensform einer dörflich-traditionalen Alltagskultur gegen die ökonomischen und sittlichen Zumutungen des aufklärerischen Reformprogramms. Die sozioökonomische Dysfunktionalität der Bauerngesellschaft in zunehmend aufgeklärten ‚Verwaltungsstaaten‘, wofür Volksreligiosität und Aberglaube als Chiffren verantwortlich gemacht werden, ist das treibende Motiv der Aufklärer bei dem Versuch, „dem Ungeheuer – Vorurtheil und Aberglaube – tödtende Stöße bey(zubringen)“117. Für diese Sicht spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass die Entdeckung des Aberglaubens erst dann erfolgt, als der vorangegangene Versuch einer bloß ökonomischen Reform gescheitert ist. Die Entdeckung der traditionalen 116 Johann Friedrich Mayer: Kupferzell durch die Landwirthschaft im besten Wohlstande. Das lehrreichste und reizendste Beyspiel für alle Landwirthe, sich durch und in ihrem Berufe sicher, froh und bestens zu beglücken. Leipzig 1793, S. 113 f 117 Johann Gottfried Heinrich Müller: Versuch, das Landvolk über herrschend-tägliche Vorurtheile und Aberglauben vernünftig denken lernen. Zweyter Theil, Wien 1791, Vorrede / unpag. 81 Bauerngesellschaft, ihres Alltags wie ihrer Mentalität, erforderte einen Bruch mit bisherigen, stark rousseauistisch geprägten Annahmen über die Natur des Menschen. Die volkskundliche Wende ist verantwortlich für das geradezu militaristische Vokabular, das die Volksaufklärer zuunehmend zur Beschreibung ihres mentalen Opponenten verwenden. Sie stoßen „auf eine solche Menge von Vorurtheile und Aberglauben“, dass ein Vernichtungsfeldzug gegen die Träger des Aberglaubens geführt werden muss. Sie beschließen, „denen selben den Krieg anzukündigen, und so lange mit ihnen zu kämpfen, bis (sie) sie alle entlarft zu (ihren) Füßen liegen sehen“118. 118 Ebda. 82 2. Das pädagogische Arbeitslager: Pestalozzis Roman ‚Lienhard und Gertrud‘ 2.1. Die Vorgeschichte Der berühmteste Roman der Volksaufklärung war ein Produkt schriftstellerischer Spekulation119. Nachdem er mit der ‚neuen Landwirtschaft‘ auf dem Neuhof gescheitert war und auch das Projekt einer Armenerziehungsanstalt dort fehlschlug, stand Johann Heinrich Pestalozzi vor dem Ruin. Von der schriftstellerischen Betätigung erhoffte er sich, „daß es möglich sein möchte, meine ökonomische Lage auf dieser Bahn zu bessern“120. Zugleich war das Buch aber auch eine subjektive Abrechnung mit den Gründen seines Scheiterns an der ländlichen Welt. 119 Die folgenden Siglen finden in diesem Text Verwendung: LG -> Johann Heinrich Pestalozzi: Werke, Bd. I: Lienhard und Gertrud. Nach dem Text der Erstdrucke herausgegeben und kommentiert von Gertrude Cepl-Kaufmann und Manfred Windfuhr. München 1977 SW -> Pestalozzi: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Buchenau, Eduard Spranger u. Hans Stettbacher. Berlin u. Leipzig 1927 ff GA -> Heinrich Pestalozzi: Werke in acht Bänden. Gedenkausgabe zu seinem zweihundertsten Geburtstage. Hg. v. Paul Baumgartner, Zürich 1945 – 49 B -> Johann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Briefe. Hg. v. Pestalozzianum u. v. d. Zentralbibliothek in Zürich. Zürich 1946 ff 120 GA VIII, S. 455 83 Für ein tieferes Verständnis des Volksromans muss daher die Geschichte von Pestalozzis Neuhof-Unternehmung vorangestellt werden. Für den jungen Pestalozzi, der aus einer verarmten, wenn auch ratsfähigen Familie Zürichs stammte, war ein Beruf in städtischen Diensten illusorisch geworden. Die Züricher Regierung hatte den ‚jungen Patrioten‘ der Helvetischen Gesellschaft zur Gerwe, die in einem ‚Bauren-Gespräch‘ Missstände im Patriziat beklagt hatten, den Prozess gemacht. In diesem ‚Bauren-Gespräch‘ hatten die Patrioten die Zürcher Landbevölkerung aufgerufen, nicht an einem Truppenaufgebot teilzunehmen, mit dem die patrizische Herrschaft ein unliebsames Wahlergebnis in der Schwesterstadt Genf gewaltsam ‚korrigieren‘ wollte. Bevor Christian Heinrich Müller als wahrer Autor dieses Aufrufs bekannt wurde, hatte man Pestalozzi der Verfasserschaft verdächtigt. Wer zu jener Zeit ländlichen Untertanen ein Recht auf Widerstand predigte, und sei dieser auch passiv, der gefährdete die Herrschaft des Zürcher Stadtpatriziats. Die Obrigkeit griff hart durch. Einige Patrioten – unter ihnen Pestalozzi – wurden verhaftet, Müller wurde aus der Stadt verbannt, die Schriften der Patrioten verbrannt121. Für Pestalozzi hieß dies, „daß bei diesem Urteil eine Anstellung im öffentlichen Dienst für ihn vorerst nicht erreichbar 121 Vgl. zu den Vorgängen: Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Göttingen und Zürich 1984, S. 287 ff 84 war, zumal es ihm auch im Verwandtenkreis an einflussreicher Protektion fehlte“122. Pestalozzi, der die theologische Laufbahn aufgegeben hatte, um Jurist zu werden, sah nun auch diesen Karriereweg verschlossen und suchte einen Ausweg, der zudem renditeträchtig sein musste. Denn er warb inzwischen um Anna Schulthess, um die älteste Tochter aus einer der reichsten Patrizierfamilien der Stadt. Die ‚neue Landwirtschaft‘, wie sie der Berner Patrizier J. R. Tschiffeli in Kirchberg betrieb, schien in dieser Lage der geeignete Ausweg, da diese Ökonomie ein standesgemäßes Auskommen versprach. Zudem entsprach – zumindest in der bukolischen Theorie – das Landleben mit seiner ‚Simplizität der Lebensführung‘ und der ‚Einfalt der Sitten‘ unter benachbarten Bauern einer Existenz, die den asketischen Grundsätzen eines Patrioten entsprach. Nach einer knapp einjährigen Lehrzeit bei Tschiffeli begann Pestalozzi 1769 mit dem Ankauf von Weiden und Äckern auf dem öden Birrfeld in der Nähe Zürichs, nachdem er den langdauernden Widerstand seiner Brauteltern überwunden hatte. Ein Kredit von Verwandten seiner Frau gab ihm die notwendigen Mittel an die Hand. Mit der Errichtung des Neuhofs auf dem Birrfeld begann Pestalozzis Lebensweg als Spekulant sans fortune. Rückblickend schrieb Pestalozzi 1835 im ‚Schwanengesang‘: 122 Max Liedtke: Johann Heinrich Pestalozzi in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 6. Aufl. Reinbek 1979, S. 27 85 „Ich war bei meinen Nachforschungen nach einer in landwirtschaftlicher Kultur noch in einem hohen Grade zurückstehenden Gegend, in der ich mich einkaufen wollte, durch Herrn Pfarrer Rengger in Gebistorf mit dem Zustand des Birrfelds bekannt, auf welchem seit undenklichen Zeiten ein paar tausend Jucharten123 fast immer brach lagen und die meiste Zeit vom Kloster Königsfelden als eine schlechte dürre Schafsweide benutzt wurden und nicht anders benutzt werden konnten, weil der ganze Umfang dieser großen Heide nur an ihren äußersten Grenzen einige wenige Jucharten schlechtes Mattland sowie nur wenige unbedeutende Wasserquellen hatte. Das Mißverhältnis der Matten und Äcker im ganzen Umfang dieses Bezirks war so groß, daß man wohl dreißig Juchart trockenes Ackerland auf eine Juchart schlechtes, trockenes Mattland zählen konnte. Dabei waren die Besitzer dieser großen Weide allgemein so arm, daß sie durchaus nicht imstande waren, durch Ankauf von Heu und Stroh etwa allmählich etwas zur Verbesserung ihrer öde liegenden Kornfelder beizutragen“124. Gerade dieser trostlose Zustand ist es aber, der Pestalozzi reizte, weil er sich von den ‚neuen Methoden‘ Wunderdinge versprach, vor allem von Mergel und ‚Kunstgras‘125. Pestalozzi hatte zuvor schon den ‚Musterbauern‘ Kleinjogg auf dem 123 Mit regionalen Unterschieden entspricht eine Schweizer Juchart ungefähr einer Fläche von 4.500 Quadratmetern. 124 GA VIII, S. 443 f 125 Als ‚Kunstgras‘ bezeichnete man zu jener Zeit vor allem Luzerne, Krapp und Klee, die – im Zuge der Dreifelderwirtschaft - mit ihrem hohen Stickstoffanteil die Felder zugleich düngten und Stallfütterung ermöglichten. 86 Katzenrütihof besucht und stand in regem Kontakt mit Johann Caspar Hirzel, dem Entdecker des ‚philosophischen Bauern‘: „Aber wenige Jahre, ehe ich diese Gegend kennenlernte, hatte man im Dorfe Lupfig, das an Birr, woselbst ich mich ankaufen wollte, anstoßt, eine Mergelgrube entdeckt, die zur künstlichern Anlegung von Matten ganz ausgezeichnete Wirkung hatte, und zugleich zeigte sich, daß in den trockensten Gegenden des kalkartigen Bodens, der am Fuß des Bruneggergebirges hinter Birr liegt, die Esparsette ohne Dünger mit entschiedenem Erfolg angebaut werden könnte. (…) Gestützt auf die ökonomischen Kräfte und die Mitwirkung, die mir das Verhältnis mit dem Handelshause, das sich zu diesen Endzwecken mit mir verband, vollkommen zuzusichern schien, nahm ich augenblicklich den Entschluß, sechs- bis achthundert Juchart von diesem Land um den Spottpreis, um den es damals zu haben war, so geschwind als es tunlich zusammenzukaufen“126. Als Makler beim Ankauf des Landes bediente sich Pestalozzi des Großbauern, Wirtes und Metzgers Heinrich Märki aus Birr, der sich an dem Gimpel aus der städtischen Welt eine goldene Nase verdiente: Märki „wurde ein reicher Mann um Pestalozzi“127. Dieser Mann wird in Pestalozzis Rückblick zum Urbild des ‚Vogt Hummel‘ im Roman. Die Verbindung des dummen und kulturfremden Städters mit dem reichen Großbauern führt in der ländlichen Klassengesellschaft zu Spannungen, zumal jener durch seine 126 127 GA VIII, S. 444) SW II, S. 467, Komm. 87 Ankäufe auf dem Birrfeld der armen Bevölkerung ihre „schlechte dürre Schafweide“128 entzog. Sein Unternehmen wurde selbst von den eigenen Arbeitern als ein „Narrenstreich“129 glossiert, der unausweichlich zum Ruin führen müsse. Pestalozzis Kreditgeber, die Familie Schultheß zum gewundenen Schwert, kam diese ungünstige Prognose zu Ohren. Sie schickte zwei ‚Wirtschaftsprüfer‘, Ludwig Meiß und Hans Rudolf Schinz, die ungünstig über das Unternehmen urteilten. Sie teilten im Kern die Meinung der Dorfbevölkerung über den „vorwitzigen Herrenbauer(n)“130. Die Kreditgeber zogen sich unter Verlusten aus dem Geschäft zurück. Natürlich gibt es die uferlose Apologetik der PestalozziJünger, die vor allem die Hungerjahre 1770/71 für die Insolvenz des späteren Pädagogen verantwortlich machen möchten. Ihnen aber widerspricht Pestalozzi selbst, der im ‚Schwanengesang‘ schreibt: „(D)er Grund des Scheiterns meines Unternehmens lag nicht in ihm, er lag wesentlich und ausschließlich in mir und in meiner zu jeder Art von Unternehmung, die praktisch ausgezeichnete Kräfte anspricht, pronunzierten Untüchtigkeit“131. Angemessener ist wohl Otto Hunzickers Urteil über Pestalozzis Scheitern: 128 GA VIII, S. 444 GA VIII, S. 445 B II, S. 357 131 GA VIII, S. 446 129 130 88 „Er hatte bei aller Billigkeit seine Landstücke zu teuer und am unrechten Orte gekauft; die Krappkultur gedieh nicht, der Hausbau verschlang unverhältnismäßige Summen“132. So begann unter dem Druck der Verhältnisse eine neue Phase ökonomischer Spekulation. Pestalozzi entwarf „ein neues Unternehmen, zu dem ihn seine Traumsucht hinführte“133, die Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof. Der Grundgedanke besaß angesichts der wirtschaftlichen Lage geschäftliche Plausibilität. Johannes Niederer, Pestalozzis späterer Mitarbeiter, schreibt: „Es war im eigentlichen Sinne ein ökonomischpädagogischer Spekulationsversuch. Sein Landeigentum war kultivierbar, aber durchaus unangebaut und verwildert. Er wollte es durch Benutzung ebenso vernachlässigter und verwilderter menschlicher Kräfte anbauen und in Aufnahme bringen“134. Durch eine Verbindung von Waisenfürsorge, Pädagogik, Landwirtschaft und Heimindustrie glaubte Pestalozzi, ökonomisch überleben zu können. Er knüpfte Kontakte zu Garn-Verlegern, bat in Iselins ‚Ephemeriden der Menschheit‘ 132 Otto Hunzicker: Pestalozzi auf dem Neuhofe. In O.H.: Heinrich Pestalozzi. Vorträge, Reden und Aufsätze. Zur hundertsten Wiederkehr von Pestalozzis Todestag gesammelt und mit einer Einführung versehen von Rudolf Hunzicker. 261. Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur 1927, Winterthur 1926; S. 36 – 64, hier: S. 40 133 GA VIII, S. 447 134 zit. N. O. Hunzicker, a.a.O., S. 40 89 „Menschenfreunde und Gönner“135 um Unterstützung für sein Projekt, wobei er kindliche Arbeitskraft wie Ware auf seinen Hof orderte: „Wegen dem Transport ist es mir unmöglich ein expresses Gefehrt nach Basel zu schikken. Ich habe [den Basler Kaufmann Sarasin] gebeten, (…) mit aller möglichen Sorgfalt zu sorgen, daß die Kinder wohl besorgt auf Brugg spedirt werden, wo ich sie dann abholen werde. Sie dörfen also ruhig sie an ihn addressiren. Ich erwarte mit Vergnügen die angezeigte Anzahl Kinder“136. Es ist eine durchweg kaufmännische Sicht der Dinge, die sich in der Wortwahl des vorgeblichen ‚Armenvaters‘ offenbart. 1778 schrieb er an Iselin: „Die Sach selbst wird das Gescheft meines Lebens“137. Noch deutlicher wird die ausschließlich profitorientierte Natur von Pestalozzis Armenanstalt in einem Brief, den er im September 1778 an seinen Schwager schickte: „Aus diesen Betrachtungen über die Natur der Unternehmung fließet, daß das Wesen des Plans darin bestehet: 1. Es soll durch den Fortgang der Unternehmung die Erhöhung des Capitalwehrts meiner Besizung erziehlet, der Jahresabtrag sich merklich vermehren und die zum Endzwek der Capitalerhöhung des Gutwerths vertheilhafften 135 SW I, S. 137 B III, S. 52 137 B III, S. 69 136 90 Umstände des Locals benuzet werden. 2. Der Jahrproduct des Gutes soll durch Daseyn eines arbeitenden und ihn aufzehrenden Hauses in seinem innern Werth erhöhet werden. 3. Wann den Bedürfnissen der Anstalt genug getan worden, so soll dann kein weiter Persohn in der Anstalt stehen, die nicht einzeln ihr Brod verdient, folglich die Anstalt nicht in Risico gesezet werden. 4. Das Anwachsen der Kinder wird die Anstalt des Steigens ihres Verdienstes in einer stärkeren Progression versichern. 5. Die Verfeinerung der Tücher soll durch Annahme guter Webermeister und die Verfeinerung des Gespunstes durch mitarbeitende Spinnerinnen zu erreichen gesucht werden. 6. Unter diesen Voraussetzungen soll die Vermehrung des Volkes mit den genausten Anorden gesucht werden, weil sie auf diesem Fuß ohnfehlbar Erhöhung des Abtrags der Unternehmung seyn muß. 7. Man wird durch aljährliche Vermehrung der Landesproducte aljährlich die Geldausgabe zu verringern suchen. 8. Man wird nach in Ordnung gebrachter Unternehmung alles thun, den Schuz der Obrigkeit und die Hülffe der Wohlthettigkeit für das Unternehmen zu erhalten“138. Von einem pädagogischen Impetus ist in diesem ‚BusinessPlan‘ nichts zu spüren. Selbst noch die Liebe, die der Anstaltspatriarch zu erweisen gedenkt, ist Teil eines auf Rendite gerichteten Kalküls: 138 B III, S. 63 f 91 „Es ist nicht möglich, daß diese Kinder alle, nachdem sie viele Jahre mein Herz mit Vattertreu genossen und unter ihren Bedürfnissen genugthuenden Umständen mit aller Liebe, Aufmunterung und Entwicklung, die die Anstalt geben kann, angeführt worden, nicht mein Haus, auch wann sie ausgelehrt, anderen Arbeitsbläzen vorziehen werden“139. Wir werden sehen, dass Möglichkeiten, dieser Fron zu entkommen, für die ausgebeuteten Kinder sehr wohl existierten. Klar ist, dass Pestalozzi kaufmännisch-industrielle Interessen vertrat, auch um Unterstützung zu finden. Er kannte die Ideenwelt der frühen Kapitalisten, er stand in engem Kontakt mit den Basler Kaufmannsfamilien Sarasin und Battier, und er war über die Familie seiner Frau auch mit der Zürcher Verlegerideologie vertraut. Pestalozzi wurde zum unbedingten Befürworter von ProtoIndustrie140 und Freihandel, gewissermaßen zum einem ‚Hayek ante Hayek‘: „Hindernis in Gewinn und Gewerbsamkeit (ist) die Tyrannei“141, „(d)arum förchtet sich der weise Vater des Landes vor allen willkürlichen Einschränkungen der Gewerbsamkeit“142, denn die „Einschränkung der Einfuhr und des Gebrauchs fremder Waren wird immer ein Beispiel eines unrichtigen Grundsatzes (…) sein“143. Kaufmännische Interessen sollten die Leitlinien aller 139 B III, S. 59 Als ‚Proto-Industrialisierung‘ bezeichnet die Geschichtswissenschaft jenen ersten industriellen Take-Off auf Basis der Heimarbeit, welcher der eigentlichen Industrialisierung vorausging. 141 GA IV, S. 107 142 GA IV, S. 118 143 GA IV, S. 171 140 92 vernünftigen und aufgeklärten Politik sein, denn „besonders die Industrie, die muß man gehen lassen, wie sie geht, und sich biegen und wenden und kehren lassen, wie sie sich biegt, wendet und kehrt“144. In mittlerer Perspektive würde sich eh die gesamte alte Ordnung durch die Einbindung der Gesellschaft in Weltmarktprozesse verändern müssen: „Aber das Gute und Böse, das diese Umstände hatten, ist jetzt für Deutschland hin, und sein Bürger ist wahrlich gegenwärtig an Ost- und Westindien, an Amerika und Asia angebunden. Seitdem der Priester nichts mehr mit seinem Mund und der Ritter nichts mehr mit seinem Arm ausrichtet, seitdem das Geld aus den andern drei Weltteilen sich nach dem unsern hinlenkt und jedermann alles, was er will, nur mit diesem auszurichten sucht, seitdem ist der Kaufmann Meister im Land, und dieser kann mit seinem Perpetuo Mobili, das immer in seiner Hand ist, die andern Stände, die sich nicht an ihn schmiegen wollen, gängeln, herumführen und aufs trockne setzen, daß sie bald reustößig werden, wenn sie unhöflich waren. Das begegnet sich jetzt zwar selten mehr; selbst die Fürsten lieben den guten Mann, und sie haben recht, denn er tut ihnen unvergleichliche Dienste. Aber dem Bauer und Bürger und Edelmann bleibt nichts übrig, als sich ins Joch der veränderten Umstände zu schmiegen oder arm zu werden und sein Haus zu vernachlässigen und zugrund gehen zu lassen. So tief wirkt die wesentliche Änderung der Umstände Europas auf alle seine Teile und jeden einzeln Menschen“145. 144 145 GA IV, S. 233 GA IV, S. 230 93 Von diesen irreversiblen „Revolutionen“146 des gesellschaftlichen Lebens leitete Pestalozzi die Prinzipien seiner Armenerziehung ab. Wo die Freiheit nichts anderes mehr war „als Befreyung von diesen guten Endzweken des Burgers“147, wo den proto-industriellen Interessen der patrizischen Kaufherren auf ihrem vorherbestimmten Weg zu Profitmaximierung und selbstregulierender Marktwirtschaft die Mentalität der Menschen zum Hindernis wurde, da musste folglich die Mentalität den neuen Verhältnissen angepasst werden: „Der Flor der Handlung, der jetzt unumgängliches Bedürfnis ist, hangt ganz von der Nationalbildung zu jedem Raffinement und jeder Biegsamkeit der Industrie ab, und das ist der Maßstab, nach welchem die Wichtigkeit und Nutzbarkeit eines jeden Berufs für das Wohl des Vaterlands abgemessen und beurteilt werden muss“148. Wer das Wohl des Vaterlandes derart mit dem Wohl der Industrie parallelisierte, der durfte auch hoffen, das Wohlwollen und die Unterstützung der Verlegerkaufleute für seine Projekte zu finden. Wie eng er seine ‚Pädagogik‘ an die Profitinteressen patrizischer Unternehmer koppelte, das war Pestalozzi ohne Zweifel bewusst. Schließlich beruhte sein „große(s) Ideal der Verbindung von Fabrik, Landbau und Sitten“149 nicht auf 146 Ebda. SW I, S. 305 GA IV, S. 175 149 GA IV, S. 74 147 148 94 philanthropischer Herzensgüte und auf sozialem Verantwortungsbewusstsein, sondern auf ganz handfesten Argumenten materiellen Eigennutzes. Die Unterstützung, die er für seine Armenanstalt erhielt, war ein kreditgestütztes ‚Investment‘, das auf die Renditeträchtigkeit pestalozzianisch geformter Waisenkinder vertraute: „Ich erwarte selbst nicht von dem Edelmuth und nicht von der Weisheit meines Geschlechts, sondern nur von seinem instinktmäßigen Haschen nach Komlichkeit und Gewinn Handbietung zu meiner Kunst, die mitten in ihren höhern Zwecken der Neigung zur Kommlichkeit und dem Haschen nach Vortheil und Gewinn sich so wesentlich anpaßt. Die Rechnung der Prozente und die Neigung zum Mittagsschlaf wird mich gegen den ganzen Aufruhr politischer und kirchlicher Routiniers, die mir entgegenstehen, beschützen, nicht meine Wahrheit, sondern meine bessere Sorge für den Instinkt wird mich schnell und sicher siegen machen“150. Pestalozzis Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof existierte von 1774 bis 1780. Mit der Produktion begann er in einer Scheune seines Anwesens, wo er eine Baumwollspinnerei, eine Färberei, eine Weberei und eine Druckerei einrichtete. Den Vertrieb der fertiggestellten Tücher versuchte er als ‚Fergger‘ oder Austräger zunächst selbst zu übernehmen, scheiterte jedoch an der Mehrfachbelastung als Fabrikant, Händler und Pädagoge151. Er reduzierte schon bald das Anwesen auf die bloße Spinnerei. Schon 1775 musste er die Öffentlichkeit um 150 151 B IV, S. 98 vgl. O. Hunzker, a.a.O., S. 41 95 Unterstützung angehen, allerdings mit beachtlichem Erfolg. Der Zürcher Landpfarrer Rudolf Schinz, der Pestalozzis Unternehmung kritisch betrachtete, schreibt: „Für Zürich machte Pestalozzi mich zum Sammler. Ich erhielt einen ziemlich bedeutenden Betrag auf mehrere Jahre. Ratsschreiber Iselin in Basel erwies sich in jener Stadt als vorzüglicher Beförderer und Gönner dieser Anstalt. Sarasin und viele andere reiche Basler opferten beträchtlich für diesen Zweck. In Bern wurden die Herren von Graffenried, von Burgistein und Junker Effinger, Herr zu Wildegg, ganz von Pestalozzis Idee belebt. Sie hielten diese Privatanstalt der Aufmerksamkeit ihres Staates würdig, und wirklich begünstigte der Stand Bern Pestalozzis Anstalt durch verschiedene mittelbare Beiträge und ließ Kinder aus verschiedenen Ämtern dahin versorgen“152. Man könnte sagen, die reichen Kaufleute, Patrizier und Verleger einer damals noch florierenden Heimindustrie glaubten, mit Hilfe Pestalozzis zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Einerseits ließen sich so viele neue Hände für das Fabrikgewerbe gewinnen, andererseits würde der ‚aufdringliche Bettel‘, also die vagierenden Unterschichten und Schachenbewohner153, von den Straßen verschwinden. Trotz aller Unterstützung war Pestalozzis Anstalt im Jahr 1780 insolvent. Die Ursache hierfür allein in Pestalozzis mangelnder 152 Zit. N. O. Hunziker, S. 42 Als ‚Schachen‘ bezeichnete man die engen, steinigen und unfruchtbaren Bachtäler, wo sich die Armut drängte, gewissermaßen die ‚Slums‘ der frühen Industrialisierung in der Schweiz. 153 96 Geschäftstüchtigkeit suchen zu wollen, in den ökonomischen Defiziten des fürsorglichen ‚Menschenfreundes‘ und ‚Armenvaters‘, greift jedoch zu kurz. Pestalozzi hatte schlicht die ‚Objekte‘ seines Plans nicht in die Bilanz seines Projektes eingestellt, ‚Objekte‘, die sich rasch als höchst widerspenstige ‚Subjekte‘ für seine Pläne erwiesen. Pestalozzis Ziele scheiterten im Kern an der Volkskultur. Die Klage über den ‚Undank‘ der Armen durchzieht nahezu alle Zeugnisse Pestalozzis aus jener Zeit. Er litt unter den Zornausbrüchen jener Eltern, die andere Zöglinge als „zu Fabrikendzwecken gezogene Kinder“154 erwarteten: „Mein Haus war alle Sonntage von Müttern und Verwandten solcher Kinder, die den Zustand derselben ihren Erwartungen nicht genugtuend fanden, voll. Alle Anmaßungen, die sich verzogenes Bettelgesindel in einem Hause, das weder öffentlichen Schutz noch imponierendes Ansehen in seinem Äußern hatte, erlaubt, wurden von ihnen gebraucht, um ihre Kinder in ihrer Unzufriedenheit zu bestärken, und einige wagten es sogar, mir geradezu zu sagen, der Herr von A., der Herr von B. und der Herr von C., auf dessen Rat sie mir ihre Kinder übergeben, werde ihre diesfälligen Klagen gewiß ebenso wahr finden als sie selber. Und es war wirklich so. Hie und da spürte ich gar bald den Einfluß solcher protegierten Bettelväter und Bettelmütter auf Personen, die mir diese Kinder übergeben oder empfohlen hatten“155. 154 155 GA IV, S. 47 GA VIII, S. 450 97 Bruchlos, als Faktum der Realität, existierte jene volkspädagogische Allianz aus Kirche, Lehrern und Obrigkeit eben nicht, die Pestalozzi später in seiner Utopie von ‚Lienhard und Gertrud‘ so idyllisch beschreiben sollte. Jene patrizischen Landvögte, auf die Pestalozzi in seinem Zitat anspielte, verhielten sich nicht nur den Städtern gegenüber diplomatisch, sondern auch ihrem dörflichem Umfeld. Sie handelten ‚patriarchalisch‘ in einem gewohnheitsrechtlichen und bräuchlichen Sinn. Auch die Kontinuität im Projekt war stets gefährdet. Pestalozzi hatte auf eine kurze zuschussbedürftige Anlernphase gehofft, auf die viele Jahre gewinnbringender Produktivität folgen sollten. Diese Hoffnung entpuppte sich als eine Luftblase: „Andere ganz verwilderte Kinder wurden mir bei Nacht und Nebel, sobald sie gebildet waren, in ihren Sonntagskleidern entführt, und ich fand an den Orten ihrer Wohnung gar oft eine merkliche Unbereitwilligkeit der Behörden, sie mir mit Vertrauen, ohne Umschweife und Weitläufigkeiten, wieder zuführen zu lassen“156. Für Pestalozzi hatte dieses eigensüchtige Verhalten der Eltern, welche die Produktivität ihres Nachwuchses im ‚ganzen Haus‘ fortan selbst zu nutzen gedachten, die Konsequenz, dass aus ihm der ‚Waisenvater‘ wurde. Er setzte auf elternlose Kinder, da hier die Gefahr der Entführung nicht bestand und sein Plan zur „Erhaltung der ausgebildesten 156 GA VIII, S. 450 98 Arbeiterpflanzschul, zum größten zur möglichsten Verfeinerung emporstrebenden Etablissement“157 weiterhin realisierbar schien: „Ich nehme gern Kinder von sechs Jahren, aber ich will denn ihres Bleibens bis ins sechzehnte Jahr versichert syn. Überhaupt ist das tiefste Ellend und würkliche Noth, woher ich am meisten Kinder wünschte: Weysen“158. Nicht nur die Eltern, auch die Kinder selbst waren eine widerspenstige Meute, die sich den Anordnungen ihres ‚Armenvaters‘ mehr beugte als fügte. Das Benehmen der Zöglinge beschrieb er 1778 unter dem Titel ‚Bruchstücke aus der Geschichte der nidrigsten Menschheit‘: Einer von ihnen „sträubte sich gewaltig gegen die notwendig geforderte Arbeitsamkeit und Gehorsam“159, über einen anderen Zögling heißt es, „Verdacht, Geiz, niedere Verschlagenheit sticht aus jedem Blick hervor“160. Pestalozzi klagte über „eine unbeugsame Halsstarrigkeit gegen alles Gute“161, ein anderes Kind wurde beschrieben als „schlau, heimtückisch, argwöhnisch und ungenügsam“162, das nächste als „mit gefährlicher Verstellung“163 begabt. Freude bereitete ihm allein „ein gebrochenes Kind“, denn es besäße „Aufmerksamkeit, Andacht und Empfindsamkeit im Beten“164. Resümierend stellte Pestalozzi fest, dass er „in der 157 B III, S. 58 B III, S. 56 159 GA IV, S. 78 160 GA IV, S. 79 161 GA IV, S. 88 162 Ebda. 163 GA IV, S. 91 164 GA IV, S. 90 158 99 Ungenügsamkeit, in dem Stolz und dem Undank des Armen die größten wirklichen Schwierigkeiten finden (mußte)“165. Ein zweites Problem kam hinzu: Die Verwandtschaft der Kinder versuchte, selbst Profit aus dem erworbenen Können zu ziehen. Pestalozzi litt unter der „Undankbarkeit naher Eltern von Kindern in meiner Anstalt“: „(S)ie verführen ihre zur Arbeit gezogenen Kinder zum Weggehen, und der Schaden, den ich dadurch leide, macht mir wegen der Verspätung meiner Endzwecke oft viel Unmut“166. Rückblickend schrieb Pestalozzi im ‚Schwanengesang‘ über seine Erfahrung mit den dörflichen Unterschichten: „(U)nter diesen waren sehr viele im höchsten Grad verwilderte und, was noch schlimmer war, im Bettelstand in einem sehr hohen Grad verzärtelte und dabei protegierte und durch frühere Unterstützung anspruchsvolle und anmaßliche Kinder, denen die kraftvolle Bildung, die ich ihnen nach meinen Zwecken geben wollte und geben sollte, zum voraus verhaßt war. Diese sahen den Zustand, in dem sie bei mir waren, als eine Art Erniedrigung gegen denjenigen, in dem sie sich vorher befanden, an“167. Ganz offensichtlich war diese „kraftvolle Bildung“, die in täglich acht Arbeits- und sechs Schulstunden168 bestand, den Kindern 165 GA IV, S. 85 GA IV, S. 82 GA VIII, S. 449 168 vgl. B IV, S. 24 166 167 100 wie auch den Eltern nicht vermittelbar. Die neue industrielle Arbeitsnorm widersprach schlicht den Normen der ländlichen Gesellschaft. Das Neuhof’sche Erziehungsziel, dass der „Arme (…) zur Armut auferzogen werden (muss)“169, scheiterte unter anderem deshalb, weil das Modell kaum soziale Perspektiven bot. Die Arbeitsverhältnisse sollten nicht etwa geändert werden, jeder Aufstieg war ausgeschlossen, die bitteren sozialen Verhältnisse blieben erbarmungslos wie zuvor. Pestalozzis Welt kannte keinerlei Emanzipation: „[Der Arme] soll die notwendigen Beschwerlichkeiten der im Land üblichen Unterhaltungswege ohne Folgen tragen, das heißt an einem Ort: er soll die Feuchte des Webkellers nicht scheuen; an einem andern: er soll des Baumwollenstaubes gewohnt sein, oder auch das ekle Fett der Wolle soll ihm nicht widrig vorkommen. Hier ist der ekle Duft der Dunglache Verdienst, dort – ich will mehrern Detail meiden, aber es ist gewiß: offne Luft, Durchzug, geschlossene Dümpfewärme soll keinen widrigen Einfluß auf ihre Gesundheit machen. Seine Auferziehungsstube soll seiner künftigen Wohnstube, soviel möglich, gleich sein; er soll in der engen Arbeitsstube nach dem Willen anderer sich zu schicken lernen“170. Wo Pestalozzi in seinen Berichten die schwachen Nerven seiner bürgerlichen Leser vor ‚mehrern Details‘ schonte, sah seine Pädagogik keine Schonung für die Unterschichten vor. 169 170 GA IV, S. 40 GA IV, S. 42 101 Sie sollten ohne Barmherzigkeit an die proto-industriellen Arbeitsverhältnisse angepasst werden. In Briefen an seine Gönner, versuchte Pestalozzi die nahende Insolvenz natürlich zu verschleiern. Von den Schwierigkeiten, die ihm die Mentalität der Landbevölkerung bereitete, ist dort keine Rede. An den reichen Basler Kaufmann Sarasin schrieb er: „Ja, mitten in allen Schwirrigkeiten erhöhet sich der Abtrag der Arbeitssamkeit täglich, und der Kinder sind jez schon vierzig; und im Frühjahr biete ich allen Krefften auf, sie sehr zu versterken. Die Zeit, in der ich noch aufopfere, wird sehr bald enden, und die Tage des Genusses aller dieser Vorarbeit werden alles ersezen!“171 Bei allem zu Schau getragenen Optimismus war Pestalozzi sozial in der ländlichen Gesellschaft längst völlig isoliert. Nach dem Scheitern des Neuhof-Projektes berichtet Georg Heinrich Nicolovius von einem Besuch bei Pestalozzi im Jahr 1791: „Der arme Planmacher wurde der Einsamkeit und rohen Landleuten überlassen, die keine Scham in der Verachtung des Manns mehr kannten, der in der Vermessenheit, einer ihre Gleichen zu werden, gescheitert ware. So lebte er eine Reihe von Jahren in Schande und Schimpf, ohne Freund, ohne Buch oder Feder, mit seiner ganzen Kraft auf sich selbst eingeschränkt, und gerieth im Brüten über sich und die Menschheit an die Grenzen des Wahnsinns“172. 171 172 B III, S. 54 zit. n. B III, S. 511 102 Der Konflikt mit der Landgesellschaft blieb eine Konstante in Pestalozzis Leben. Später, schon zur Zeit der Helvetik, schrieb er über sein Verhältnis zum Landvolk ringsum: „Oeconomisch werde ich mißhandelt und ohne alles Verheltnis ausgesogen. Und allenthalben streut man in den Dörfern in meiner Nachbarschaft aus, ich sye die Schuld, daß die Franzosen im Land syen, und sagt öffentlich, man werde bei erster Gelegenheit mich todschlagen“173. Der ‚Volksfreund‘ Pestalozzi genoss zeitlebens nur auf dem Papier ‚Freundschaft im Volk‘. Schon sein erstes Scheitern als ‚Armenvater‘ auf dem Neuhof erweist sich damit als fehlgeschlagener Versuch einer pädagogisch-ökonomischen Spekulation, welche die Resistenz und die Widerstandskraft der Dorfgesellschaft gegen volksaufklärerische Reformen unterschätzte. In dem Volksroman ‚Lienhard und Gertrud‘ aber, den Unverständnis für die ländliche Realität, Hass gegen die bäuerliche Mentalität und fehlende Einsicht in die eigene Unfähigkeit prägen, würde Pestalozzi jetzt das gescheiterte Armenerziehungsprojekt zumindest auf dem Papier gelingen lassen. Hier konnte er in einer literarischen Utopie die Bedingungen so stellen, wie er sie in der Realität nicht vorfand. Als erste Konsequenz aus dem selbstverschuldeten Ruin der Armenerziehungsanstalt wurden hier nicht mehr nur die Kinder der Pädagogik unterworfen, sondern die gesamte 173 B IV, S. 73 103 dörfliche Lebenswelt. Dieses fiktionale Neuhof-Projekt umfasste ein ganzes Dorf mit allen Bewohnern. Hierin liegt noch heute die literarische Bedeutung des Romans, weil ex negativo immer die ‚wahren Verhältnisse‘ durchscheinen. ‚Lienhard und Gertrud‘ ist daher eine Form der literarischen Bewältigung einer gescheiterten privaten Praxis, zugleich aber auch eine erneute Spekulation auf einen überschäumenden Markt für volkspädagogische Literatur. Wunschglaube und vielleicht Bemühen um eine Stellung bleibt dennoch diese Behauptung Pestalozzis über sein Buch: „Vom Thron bis auf den Bettler vereinigten sich alle Stimmen, daß mein Buch Wahrheit vom Volk und fürs Volk redet“174. Diese Bemerkung setzt einen Konsens zwischen Obrigkeit und Landbevölkerung voraus, der zu jener Zeit einfach nicht existierte. Weder Bauern noch Bettler lasen ‚Lienhard und Gertrud‘. Das Buch blieb ein ‚Salonerfolg‘. 2.2. Mit den Bettlern gegen die Bauern Die Bauerngesellschaft im Roman ‚Lienhard und Gertrud‘ prägt eine soziale Dichotomie, wie sie auch der Realität entsprach. Klassen entstanden bekanntlich nicht erst durch Industrialisierung und Kapitalismus. Auf den Dörfern existierte eine ‚statische Klassengesellschaft‘. War ein Huber oder Märkli erst einmal in die Unterschicht abgesunken, so 174 B III, S. 288 104 blieben seine Nachkommen auch Bettler und Häusler über Generationen hinweg. Ein sozialer Aufstieg kam in diesen Gesellschaften kaum vor. Auch das Dorf Bonnal im Roman ist solch ein ‚traditionales Dorf‘. Es zählt nicht zu den ‚Fabrikdörfern‘ rings um Zürich, denen die Leinenkonjunktur einen kurzfristigen Wohlstand bescherte, sondern zu den alten Dorfgemeinden, wie sie Pestalozzi 1782 im ‚Schweizerblatt‘ in einem Aufsatz mit dem Titel ‚Über den Bauern‘ beschrieb: „Ich folge in meinem Urteil genau meinen Erfahrungen. Ich kann nicht verleugnen: Ich finde Gegenden in tiefem, erschröcklichem Elend; ich sehe das Volk ohne Kleider, ohne Brot, ohne Fleiß, ohne Ordnung, ohne Treu, ohne Ausbildung des Geistes und des Herzens, heute erdrückt von Arbeit, morgen verfaulend im Müßiggang; ich sehe das Volk eingeteilt in Bauern (Landeigentümer) und Tauner (Tagelöhner); ich sehe diese ohne Eigentum, abhängig, elend, niedergedrückt und lasterhaft, und ihre Herren wie sie selber arm, unanstellig, unvermögend und entblößt von allen beruhigenden Lebensgenießungen; ich sehe sie mitten im Besitz großer Höfe ohne Genuß ihres Eigentums, hartherzig und gewalttätig gegen die mehreren, die kein Eigentum haben“175. Hell und wie ein Gegenbild zu diesen versumpften Zuständen leuchtet hingegen das utopische Beispiel der kurzatmigen Proto-Industrialisierung. Gemeint sind die Fabrikdörfer rings um den Zürichsee: 175 GA IV, S. 223 105 „Hingegen sehe ich dann wieder an Orten, wo der Fabrikerwerb fast die einzige Quelle des Unterhalts ist, das Hausglück des Volkes wohlgesichert“176. Dieses Bild musste aber solange eine Utopie bleiben, bis es die Pädagogik zu verwirklichen begann. Denn in den Fabrikdörfern herrschten keineswegs jene Zustände, die Pestalozzi hier verklärte. In ihrer ‚Sittlichkeit‘ unterschieden sich die proto-industriellen Schachendörfer noch kaum von den landwirtschaftlichen Bauerngemeinden: „(W)enn die mehreren Einwohner unter dem Druck der reichen Landbesitzer schon in tiefster Niedrigkeit und Armut gesteckt und längst beinahe ohne Herdbesitzung und Eigentum gelebt, so bleiben sie in den meisten Fällen auch bei dem Verdienst der Fabrikarbeit ein Lumpengesindel, wie sie es in ihrem vorigen Bettlerzustand schon waren. Bei dem besten Verdienst nichts Übernächtiges haben, Fressen, Saufen, Stehlen und alle Arten von wilder Unsittlichkeit und Unordnung wird in dieser Lage des Dorfs allgemeine Volkssitte“177. Diese Schilderung entsprach der Ausgangslage Bonnals. Das, was Pestalozzi zur Abhilfe im ‚Schweizerblatt‘ empfahl, wurde das große volkspädagogische Thema des Romans. Die Tauner und Häusler sollten mit Hilfe der protoindustriellen Konjunktur aus bäuerlicher Abhängigkeit zu einem bürgerlichtugendhaften Leben geführt werden. Hierzu bedurfte es der Hilfe der Obrigkeit: 176 177 GA IV, S. 224 GA IV, S. 211 106 „(D)er Mangel dieser aufmerksamen Sorgfalt der obern Stände und eines der veränderten Lag des Volkes angemessenen Einflusses scheint mir hie und da die Hauptursach zu sein, warum der an so vielen Orten erhöhte Volksverdienst das Hausglück desselben so wenig erhöht. Die Erfahrung scheint auch meiner diesfälligen Vermutung das Wort zu reden. Ich sehe nur da das Hausglück in Fabrikdörfern gesichert, wo die Schulen wohlbestellt, wo die Jugend in Ordnung gehalten, gute Sitten geehrt und die Justiz mit einfacher, den frommen, stillen und unbeschützten Mann im Land in ihre Arme aufnehmender Einfalt verwaltet wird“178. Die Umformung des landwirtschaftlichen Dorfes Bonnal zu einem solch einfältigen-fleißigen Fabrikdorf, bewohnt von sittlichen und obrigkeitstreuen Bewohnern, setzte sich Pestalozzis Roman zum Ziel. Nicht nur literarisch, denn die Handlung des Romans drängte auf Umsetzung in die Praxis. Das Buch verstand sich als Handlungsleitfaden für das Projekt der Volksaufklärung. Pestalozzi selbst verwandte seinen Roman auch als Programmschrift bei der Stellungssuche als Pädagoge. Unter Verweis auf dieses Buch bot er sich sowohl der österreichischen wie auch der französischen Regierung an als Verwandler der Volkssitten von roher Verwilderung hin zu arbeitsamer Einfalt. Die verschiedenen Umarbeitungen waren Anpassungen an die politischen Bedürfnisse potentieller Auftraggeber, denen er mit Hilfe seiner Methode ‚gute Untertanen‘ versprach. 178 GA IV, S. 226 107 2.3. Die Schrecken der ‚alten Ordnung‘ Zwischen dem 1781 erschienenen ersten Teil des Romans und den nachfolgenden nahm Pestalozzi eine strikte Trennung vor. Nur der erste Teil sei ein ‚Volksbuch‘, die drei weiteren Teile seien hingegen für ein gebildetes Publikum bestimmt: „Die drei späteren Teile von diesem Buche sind als eine bestimmte Folge dieses Vorsatzes und in dieser Rücksicht in Verbindung mit dem ersten Teil als eigentlich für die kultuvierten Stände geschrieben anzusehen, da hingen der erste Teil an sich von mir immer als ein von den andern gesondertes, in die hand der gemeinen Haushaltungen gehörendes Volksbuch behandelt und betrachtet worden ist“179. Es empfiehlt sich daher, bei der Untersuchung ebenfalls eine Trennung vorzunehmen. Dieser Aufsatz trennt, entgegen den Intentionen Pestalozzis, allerdings die ersten beiden Teile von dem dritten und vierten Buch. Die beiden ersten Bücher behandeln die Verderblichkeit der alten Dorfordnung und ihren Sturz, sowie die ‚moralische Erweckung‘ der Dorfbewohner zu einem neuen Leben. Die Beschreibung konkreter ökonomischer und administrativer Maßnahmen setzt dann erst mit dem dritten Teil ein, erst hier wird auf einem höheren Abstraktionsniveau argumentiert. Zu Beginn des Romans herrscht über das Dorf Bonnal der reiche Wirt Hummel. Der ist als Untervogt auch der dörfliche Verwalter aller herrschaftlichen Angelegenheiten. Damit 179 GA VIII, S. 460 f 108 nimmt er eine Mittlerstellung zwischen der dörflichen und der patrizisch-städtischen Lebenswelt ein. Seine Macht wird von der Herrschaft, von dem alten Herrn von Arnheim, nie hinterfragt. Adlige und bäuerliche Obrigkeit regeln anfänglich die dörflichen Angelegenheiten in beiderseitigem Einvernehmen, wobei die Obrigkeit in der Argumentation Pestalozzis entlastet ist, weil sie der korrupte Dorfvogt Hummel arglistig täuscht. Der Roman beginnt mit dem Tod des alten Herrn. Sein Enkel, Arner von Arnheim, tritt die Nachfolge an. Der verhält sich gegenüber der alten Ordnung innovativ und versucht die ökonomischen Grundsätze der Volksaufklärung umzusetzen, von der Allmendaufteilung180 bis hin zum Verbot der Quacksalberei. Der junge Arnheim gerät prompt in Konflikt mit dem Untervogt Hummel, der diese neue Ordnung öffentlich eine „Lumpenordnung“181 nennt. Und wirklich protegiert Arner die Lumpen im Dorf, das „Bettelgesindel“182 in den Augen der Bauern. Von dem neuen Herrn sagen sie: „Er sei in keinem Punkt und in keinem Artikel von allen zwölfen mit dem Alten des gleichen Glaubens“183. Das Credo Hummels und der 180 Die ‚Allmende‘ war – unter unterschiedlichen Bezeichungen – europaweit jenes ‚Gemeinland‘, dessen Nutzung allen Dorfgenossen zustand. Das System führte zwar zu stark vernachlässigten Flächen, weshalb es den Aufklärern ein Dorn im Auge war. Andererseits gestattete es den Armen, bspw. zumindest selbst eine Ziege – die sog. ‚Bettlerkuh‘ – zu halten. 181 LG, S. 149 182 LG, S. 19 183 LG, S. 26 109 anderen Bauern hingegen lautet: „Wir wollen beim alten bleiben (…). Es kömmt nie nichts Bessers hintennach“184. Diese ‚Querelle des Anciens et Modernes‘ im ländlichen Raum ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Die zahllosen charakterlichen Defekte und die kriminelle Wirtschaft des Dorfvogtes haben in diesem Zusammenhang die Funktion, eine divergierende soziale Ordnung, nämlich die traditionale, durch fiktionale Mittel anzuschwärzen. Die neue Ordnung taucht Pestalozzi hingegen in mildes Licht. Im Kern zielt sie darauf, die Herrschaft der Bauern über die dörflichen Unterschichten zu brechen und durch die Herrschaft der Obrigkeit (oder ‚der Stadt‘) zu ersetzen. Ein neues soziales Bündnis wird im Dorf Bonnal geschmiedet, eines, das geeignet scheint, die Widerständigkeit des Landvolks zu überwinden. Symbolisch kommt dies zum Ausdruck, als im zweiten Buch, nach dem Sieg der neuen Ordnung, die Dorfvorgesetzten und großen Bauern unter den Augen Arners vor den Tagelöhnern niederknien müssen, um Abbitte zu leisten: „(Arner) befahl hierauf den Weibel, er solle zwölf alte Männer von den ärmsten aus der Gemeinde an die Plätze der Vorgesetzten setzen, und die zweiundzwanzig Männer sollen vor ihnen auf den Knien wegen ihres Vergehens gegen die Gemeinde hier offentlich um Verzeihung bitten“185. 184 185 LG, S. 27 LG, S. 292 110 Es ist sicherlich kein Zufall, dass Arner dank der ausgesuchten Zahl von zwölf Bettel-Aposteln hier zu einer Erlösergestalt wird. Das politische Ziel, das die neue Herrschaft von Beginn an verfolgt, wird von dem Dorfvogt Hummel klar benannt: „Wenn die Junker den Bettlern im Dorf höfelen, so helf Gott den Bauern. Sie tun das nur, damit sie die Bauern entzweien, und denn alleine Meister sein“186. Durch eine Protektion der dörflichen Armut, dies die implizite Logik des Romans, kann es gelingen, das ebenso unvernünftige wie widerspenstige System der alten Rechte im Dorf zu stürzen, um an seiner Stelle die Herrschaft der Obrigkeit als System der Vernunft zu errichten. Umsturz und soziale Revolution auf dem Dorf im vorgeblich gemeinsamen Interesse von Obrigkeit und dörflicher Unterschicht, das ist damit das große Thema des Romans ‚Lienhard und Gertrud‘. Es sind eher schlichte Mittel, die Pestalozzi verwendet, um dem einfachen Volk, den Bettlern und den Tagelöhnern, einen Herrschaftswechsel plausibel zu machen. Alle Bauern im Dorf werden einfach schwarz angestrichen. ‚Lienhard und Gertrud‘ ist wohl der bauernfeindlichste Roman Europas, was zugleich verdeutlicht, wie hinderlich die ‚alte Ordnung‘ von den aufgeklärten Eliten wahrgenommen wurde. Die Bauern Bonnals gönnen ihren Armen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln, sie versuchen ständig, ihnen auch noch das Letzte zu nehmen. Im Kontrast hierzu handelt die Obrigkeit aus blanker Menschenliebe, aus purem Wohlwollen und reiner Gutherzigkeit. 186 LG, S. 35 111 Auch die Armen sind natürlich keine Engel, auch sie sind verderbt, aber allemal doch zu einem besseren Leben zu erwecken. Mit der einzigen Ausnahme des intriganten Joseph, der jedoch als Dorffremder am Ende des ersten Teils ins Nirgendwo entschwindet187. Als unverbesserlich, als wahrer Dämon, figuriert hingegen der Dorfvogt Hummel, der alles zu personifizieren hat, was der neuen Ordnung im Wege steht. Er erscheint als wahrer „Satan“188 und als „Schelm“189. Damit sind zugleich jene Werte, die er kommuniziert, stigmatisiert: die alten Rechte, der Väterglaube, das Autonomiebestreben, die dörfliche Jurisdiktion, die in Sprichwörter gefasste Alltagsvernunft. All dies ist schon deshalb hochkontaminiert, weil es aus dem Mund des korrupten Dorfvogtes Hummel kommt. Nur die anderen Bauern, die dumm genug sind, einen Hummel nicht zu durchschauen, fordern ihn auf: „Vergebt kein Haar von unseren Rechten!“190 Angestiftet von Hummel findet unter den Bauern eine förmliche Verschwörung statt, die Solidarität untereinander wird beschworen: 187 LG, S. 184 LG, S. 20 189 LG, S. 24 / Die Bezeichnung ‚Schelm‘ kam, anders als im heutigen Sprachgebrauch, zu Zeiten Pestalozzis einer schweren Ehrverletzung gleich. 190 LG, S. 34 188 112 „Eine Gemeind hat einen Arm, wenn sie zusammenhaltet, und darf sich alle Stunden mit so einem Jünkerli messen, wenn‘s Ernst gilt“191. Buchstäblich alle Elemente und Traditionen einer auf Erfahrung basierenden dörflichen Sozialverfassung werden im Roman zu Elementen der Unvernunft, und natürlich auch zu bloßen Hilfsmitteln des Vogtes, sich auf Kosten der Gemeinde persönlich zu bereichern. Auf dieser Grundlage ist es in der Logik des Romans legitim, dass Arner die Allianz von Herrschaft und Bauern bricht, „daß der junge Herr seines Großvaters Glauben changiert hat“192. Pestalozzi setzt auf die Illusion, dass es dem Vogt Hummel nur um die eigensüchtige Bewahrung seines Wirtsrechtes ginge. An diesem Streitpunkt jedenfalls lässt er die Diskussion um die „Rechte im Land“193 entbrennen. Die wahre Konfliktstruktur wird deutlich, wenn die Reformmaßnahmen im Detail betrachtet werden. So wird der Sand für einen Kirchenbau nicht – wie es bräuchlich ist – aus der gemeindeeigenen Sandgrube geholt, sondern bei einem privaten Unternehmer gekauft. Ihn bezahlt die Kirche, eine mögliche Einnahme entgeht somit der geplagten Gemeindekasse. Zugleich ist hierzu eine Verletzung der komplizierten Wegerechte erforderlich, welche die dörfliche Zelgenwirtschaft regeln194. 191 LG, S. 277 LG, S. 26 LG, S. 34 194 LG, S. 50 192 193 113 Auch das medizinische Wissen des ‚Quacksalbers‘ bzw. Dorfarztes Treufaug – nomen es omen – wird entwertet. Hartknopf, der als Ehegaumer Angehöriger des dörflichen Kirchenrates ist, der damit über die Einhaltung von Glaube und Sittlichkeit zu wachen hat, wird als abergläubischer Tropf lächerlich gemacht. Zugleich wird seine Kontrollfunktion über die Rechtgläubigkeit des Pfarrers entwertet. Kurzum – alle ‚Funktionäre‘ der alten Dorfgesellschaft trifft der literarische Bannstrahl Pestalozzis. Als Hartknopf Arner auffordert, auf den neuinstallierten Pfarrer Einfluss zu nehmen, damit der wieder den rechten Glauben lehre, wird er dem aufgeklärten Spott preisgegeben, seine Forderung auf Gespensterfurcht reduziert. Der Junker solle dafür sorgen, „daß der Herr Pfarrer in Zukunft, wegen dem Teufel, unsere Kinder auf den alten Glauben lehre, und nichts mehr gegen die Gespenster rede, die wir glauben und glauben wollen“195. Die soziale Funktion des Glaubens an Höllenstrafen wird hier karikiert, während Pestalozzi an anderer Stelle eben diesen Glauben dann wieder jesuitisch zu nutzen weiß. Indem nämlich ein inszenierter Teufelsglaube den Vogt Hummel daran hindert, einen Markstein Arners zu verrücken. Es ist gewissermaßen ein doppeltes Spiel, das die Volkspädagogik mit dem Aberglauben treibt. Auch anderer Stelle muss Pestalozzi den Volksglauben nutzen, um das Bessere durchzusetzen, so mit der magischen Wirkung des Fluchs196, 195 196 LG, S. 185 LG, S. 248 114 mit Wetterschlägen als Gottesstrafen197, und erneut mit dem Teufelsglauben198. Der Verfasser selbst aber ist, wie bereits erwähnt, persönlich ohne jeden Gottesglauben. Pestalozzi hat die Aufklärung zu seiner Religion gemacht, er will „durch innere Entwicklung des reinsten Gefühls der Liebe zur Herrschaft der Vernunft über die Sinne (…) gelangen“ 199. Zur Erziehung des Volkes aber sind jene Mittel, an die man selbst nicht glaubt, durchaus erlaubt: „Ich will mit ihnen vor dem Altar ihrer Gözen hinknien und nichts weiter thun als mitwürken, sie am Faden ihrer Teufelsforcht zu dem Grad von Menschlichkeit hinzulenken, zu dem diese Forcht den Menschen fehig macht“200. Zu diesem Zweck aber muss dem Volk die Möglichkeit, durch eigene Interpretationen zur Gotteserkenntnis zu gelangen, aus der Hand geschlagen werden. Pestalozzi fällt hier weit hinter die Reformation zurück; er bestreitet dem Volk das Recht auf Bibellektüre. Ein weiser Fremder mit dem Namen Jost erläutert den erstaunten Bauern in einem Wirtshausgespräch diesen emanzipatorischen Rückschritt: „Tun, was in der Bibel steht, ist unsereinem seine Sache, und davon erzählen des Pfarrers – Die Bibel ist ein Mandat, ein Befehl, und was würde der Kommandant zu dir sagen, wenn er einen Befehl ins Dorf schickte, man solle Fuhren in die Festung tun, und du dann, anstatt in den Wald zu fahren, und zu laden, dich ins Wirtshaus setztest, den Befehl zur 197 LG, S. 354 ff LG, S. 315 s. B III, S. 300 200 B III, S. 309 198 199 115 Hand nähmest, ihn abläsest, und den Nachbaren bei deinem Glas Wein bis auf den Abend erklärtest, was er ausweise und wolle“201. Schon die Kennzeichnung der Bibel als Befehl und Mandat, zeigt einen neuen obrigkeitlichen Anspruch. Das regierende Patriziat möchte den Pfarrer zum „zweiten Gesicht der Herrschaft“202 auf dem Land machen. Gegen den neuen Pfarrer richtet sich daher folgerichtig ein Großteil des gesellschaftlichen Gegendiskurses, den die Bauern in Pestalozzis Roman führen. Die Landbevölkerung beschuldigt ihn, dass er „ungläubig lehre und predige“203, er sei „ein Narr, und will nichts glauben“204, „in der letzten Predigt habe er das Wort Christus kein einziges Mal in dem Mund gehabt“205. Vertrauen bei den Bauern genießt hingegen ihr Sittenrichter Hartknopf, er ist die große Autorität in allen religiösen Fragen: „Er gibt in der Kirche Achtung wie ein Sperber, und ist imstand, er zählt dem Pfarrer die Hauptwörter des Christentums an den Fingern nach“206. Die ‚Bibelfestigkeit‘ liegt damit ganz auf Seiten der Bauern, weshalb ihnen dies verderbliche Buch auch nicht frommt. 201 LG, S. 113 Christian Simon: Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels. Basel u. Frankfurt a. M. 1981, S. 13 203 LG, S. 181 204 LG, S. 162 205 LG, S. 212 206 LG, S. 212 202 116 Neben der Kirche ist das Wirtshaus das zweite zentrale Angriffsobjekt Pestalozzis, die Brutstätte des Dorfdiskurses. Hier droht zu Beginn die Lichtgestalt des Romans, der Maurer Lienhard, ins Elend und in die Abhängigkeit vom Vogt zu geraten; hier werden auch die verschwörerischen und volksverderbenden Pläne des Vogts ausbaldowert; hier zieht er alle Dorfbewohner in seinen Bann. Kein Wunder, dass diese Lasterhöhle im Roman zerstört werden muss. Zu den vielen Inkohärenzen Pestalozzis zählt es, dass er den örtlichen Gastwirt zum Dämon des Romans macht. Sozialgeschichtlich waren ‚die Hummels‘ hingegen Motoren der Innovation im Dorf207. Sie waren welterfahrener als die Dorfgenossen, alle Neuigkeiten liefen bei ihnen zusammen, sie übernahmen als erste eine modernere Wirtschaftsgesinnung. Nicht zuletzt Pestalozzi hatte beim Neuhof-Projekt unter den modernen Spekulationen Märkis zu leiden - seiner Blaupause für den Hummel im Roman. Gewissermaßen praktiziert der Gastwirt von Bonnal bereits eine kapitalistisch und kaufmännisch geprägte Wirtschaft, allerdings unter dörflichen Bedingungen. Nicht der Alkoholabusus – die damals kurrente ‚Brannteweinpest‘ – oder das Schuldenmachen stehen im Zentrum der Kritik Pestalozzis am Wirtshaus. Er zielt vor allem auf einen konspirativen Ort, auf das Kommunikationszentrum des Gegendiskurses, auf jene Lasterhöhle, wo sich das 207 vgl. Georg C.L. Schmidt: Der Schweizer Bauer im Zeitalter des Frühkapitalismus. Die Wandlung der Schweizer Bauernwirtschaft im achtzehnten Jahrhundert und die Politik der ökonomischen Patrioten. 2 Bde. Bern 1932, Bd. I, S. 91 u. Bd. II, S. 211 117 Bauerntum gegen die Aufklärung verschwört. Die politische Funktion des Wirtshauses als Parlament des einfachen Mannes gilt es zu zerstören, jenen Ort, wo die Bauern sicher sind „vor den heiligen Knechten des Schwarzen“208. Das Wirtshaus ist die dörfliche Sozialisationsinstanz schlechthin, hier formiert sich die anti-obrigkeitliche bäuerliche Gegenkultur: „Bei allem Bösen, und selbst bei Schelmentaten wird alles munter und mutig, wenn viel Volks beieinander ist, und wenn die, so den Ton geben, herzhaft und frech sind; und da das in den Wirtshäusern nie fehlt, so ist unstreitig, daß sie das gemeine Volk zu allen Bosheiten und zu allen schlimmen Streichen frech und leichtsinnig genug zu bilden und zu stimmen weit besser eingerichtet sind, als es die armen einfältigen Schulen sind, die Menschen zu einem braven, stillen, wirtschaftlichen Leben zu bilden“209. Das aber ist noch nicht alles. Die Wirtshäuser sind zugleich die Treffpunkte der ‚dörflichen Intelligenz‘: „Das größte Lumpenvolk hat die größten Anlagen, und läßt das Arbeitsvolk Kopfe halber weit hinter sich zurück, auch findet man fast immer den Baurenrechner im Wirtshaus“210. Eine ähnlich, allerdings weniger zentrale Rolle weist Pestalozzi auch den Kirchständen211, den Lichtstubeten212 und den 208 LG, S. 82 / gemeint ist der Pfarrherr LG, S. 80 f LG, S. 521 211 Orte, wo man nach dem Kirchgang noch beieinander stand 209 210 118 Gemeindplätzen213 zu – kurzum: allen Orten im dörflichen Raum, wo ein Diskurs erfolgt214. Pestalozzi selbst durchbricht verschiedentlich das Klischee von der angeblichen Hartherzigkeit und Gnadenlosigkeit der Bauern gegen die Armen, das ansonsten wie ein Leitmotiv den Roman durchzieht. An solchen Stellen tritt dann die verborgene Vernunft des bäuerlichen Gegendiskurses zu Tage, der ansonsten als abergläubisch und unvernünftig stigmatisiert wird. Für die Lage der Unterschicht im Dorf sind aus bäuerlicher Sicht eindeutig externe Faktoren ursächlich, die im Herrschaftssystem ihren Ursprung haben: „In meinem Gewerb, auf einem Wirtshaus und auf Bauernhöfen, wo alles auf den Heller muss ausgespitzt sein, und wo man einen auch in allen Ecken rupft – da hat’s eine andere Bewandtnis. Ich wette, wer da gegen Tagelöhner und Arme nachsichtig und weichmütig handeln wollte, der würde um Hab und Gut kommen – Das sind allenthalben Schelmen“215. Es ist die Höhe der Lasten, der Zehnten und Bodenzinsen, welche die Bauern aus ihrer Sicht daran hindern mehr für die Armen zu tun: „Der Pfarrer kömmt immer mit dem, daß man die Armen drücke. Wenn das, was er die Armen drücken heißt, 212 Gemeinsame Spinnplätze, wo beim geselligen Beisammensein Licht und Heizung gespart wurde 213 Zentrale Orte der Dorftopographie, wie Dorfplatz oder Brunnen 214 vgl. LG S. 112 215 LG, S. 115 119 niemand täte, so wären, mich soll der Teufel holen, wenn es nicht so ist, gar keine Arme in der Welt; aber wo ich mich umsehe, vom Fürsten an bis zum Nachtwächter, von der ersten Landeskammer bis zur letzten Dorfgemeinde, sucht alles seinen Vorteil, und drückt jedes gegen das, das ihm Weg steht. (…) Es drückt in der Welt alles den Niedern, ich muß mich auch drücken lassen. Wer etwas hat, oder zu etwas kommen will, der muß drücken, oder er muß das Seine wegschenken und betteln“216. Zieht man in Betracht, dass Arners jährliche Einkünfte seit den Zeiten seines Großvaters um das Zehnfache wuchsen217, so ist diese Klage nicht unberechtigt. Es sind die Umstände, welche die Bauern hindern, ‚menschlicher‘ zu sein. Da Pestalozzi gegen diese Tirade des Vogtes kaum ökonomisch argumentieren kann, greift er zum Hilfsmittel der charakterlichen Denunziation. Sein ‚schwarzes Herz‘ sei es, das den Vogt so reden mache, und das, was eine Folge sozialer Verhältnisse ist, wird prompt individualisiert: „So redte der Vogt, und verdrehte sich selber in seinem Herzen die Stimme seines Gewissens, die ihn unruhig machte, und ihm laut sagte, daß der Pfarrer recht habe, und daß er der Mann sei, der allen Armen im Dorf den Schweiß und das Blut unter den Nägeln hervordrücke“218. Der Leser könnte nun vermuten, dass der ausbeuterische Vogt bei dieser Sachlage und durch seine Gnadenlosigkeit zu 216 LG, S. 115 LG, S. 637 218 LG, S. 115 f 217 120 großem Reichtum gelangt sein müsse. Doch weit gefehlt! Am Schluss des ersten Buches lässt Pestalozzi seinen geläuterten Hummel verarmen, und zwar an der Abgabe einzigen Wiese, die er dem Hübelrudi zurückzugeben hat. Der Meyer, den Arner als neuen Vogt einsetzt, muss Hummel fortan mit jährlich hundert Gulden aus seinem Gehalt unterstützen, und der Hübelrudi tritt dem alten Vogt einen Teil der Nutzung der zurückgewonnenen Wiese gleich wieder ab, weil dieser fürchtet, dass „ich (…) an den Bettelstab (komme), wenn ich sie verliere“219. Pestalozzi selbst bestätigt durch diese menschenfreundliche literarische Lösung, die das unverbildete, gute Herz der Armen illustrieren soll, die prekäre ökonomische Lage ausnahmslos aller Dorfbewohner in Bonnal. Im umfangreichen Paragraphen 69, der den zweiten Teil von ‚Lienhard und Gertrud‘ beschließt, greift deshalb Pestalozzi zu einer Hilfskonstruktion, um seine Fiktion maßloser Bereicherung aufrecht zu erhalten. In diesem Paragraphen schildert der Pfarrer Ernst rückblickend die Lebensgeschichte Hummels. Der sei in Wahrheit durch ein Gottesgericht gestraft worden, das ihn in Armut stürzte. Pestalozzi verfährt hier im Grunde abergläubischer, als jener Dorfaberglaube, den er doch zu bekämpfen vorgibt. Die Bodenlasten, Abgaben und Frondienste, welche die Dorfwirtschaft am Aufblühen hindern, werden im Roman dagegen nirgends thematisiert, weil eine Minderung dieser 219 LG, S. 163 121 Einkünfte die patrizische Stadtherrschaft empfindlich treffen würde. Eine Aufhebung des Zehnten wird nur der Dorfarmut für verteiltes Allmendland in Aussicht gestellt, als Belohnung für eine zuvor geforderte jahrelange Sparleistung. Als Vorbild für das Verhalten der Unterschicht zeichnet der Roman das Maurer- und Spinnerehepaar Lienhard und Gertrud. Ökonomisch zählen sie zu den Landhandwerkern, ihre Dorfrechte entsprechen denen der Einlieger oder Hintersassen. Um in ihre Stube zu gelangen, muss man eine Treppe steigen220, was darauf hindeutet, dass sie kein Hauseigentum besitzen, sondern ein Stockwerk zur Miete bewohnen. Als Besitzlose ohne Haus- und Landeigentum zählen sie nicht zu den stimmfähigen Gemeindegenossen. Sozial gehören Handwerker in der alten Dorfgesellschaft zur absoluten Unterschicht. Selbst noch der Knecht Jeremias in Gotthelfs ‚Bauernspiegel‘ beschreibt die Distanz, die ihn von jenen trennt: „Ich war gewohnt, die Handwerker als eine untere Klasse Menschen anzusehen, zu sehen, wie jeder Bauernknecht auf den Handwerksmann von oben herabsah, sich besser dünkte, und ihm befahl, wo es sich nur tun ließ. Ich sah keinen Bauernsohn, und wenn ihrer sieben auf einem magern Hofe waren, ein Handwerk lernen, viel lieber als Lehnsleute von nimmersatten Bauern sich schinden lassen. Ich sah, wie jeder Handwerker, sobald er zu einem Kreuzer Geld kam, sich Land kaufte, ein Bauer zu werden strebte, und das Handwerk an den Nagel hängte. Ich sah eine 220 LG, S. 18 122 Menge verlumpter Handwerksleute, Schuhmacher, die nicht für sechs Kreuzer Leder kaufen konnten, Schneider im Spital oder auf der Gemeinde, Schmiede im Umgang, Schlosser als Diebsgesindel, Tischmacher ohne Arbeit, Maurer in Hudeln, Wagner, die Schrecken aller Bauern, die ein schönes Öschli oder ein gerades Buchli hatten, Bäcker ohne Mehl, aber mit roten Nasen, Weber mit hungrigen Augen und kurzem Atem; das sah ich, darum hätte ich mich auch eines Handwerks geschämt“221. Das unzünftige Handwerk auf dem Land bildete die Masse der pauperisierten Bevölkerung innerhalb der alten Dorfgesellschaft, es waren jene Menschen, die wir heute als ‚produktiven Mittelstand‘ bezeichnen würden. Die alte Bauerngesellschaft zählte nicht Gulden oder Kreuzer zur Währung, ihre Währung hieß Grund und Boden. Für jene Menschen wurde in Zeiten der Not, in einer Rezession, in Hungerkrisen oder beim Niedergang der Leinenindustrie, der Bettel ein Teil ihres Lebensschicksals. Die Bauern betrachteten sie als Landplage: „Der handwerker wird von den übrigen gering geschäzet, verspottet, weil er sich nicht im stande befinde, einen Viehbau zu unterhalten. Eine große milchbrenten an dem rüken, ist bey den einwohnern höher geachtet, als die einträglichste Kunst“222. 221 Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden. Hg. v. Rudolf Hunziker und Hans Bloesch, Erlenbach-Zürich 1911 ff, Bd. I, S. 160 f 222 Berner Abhandlungen 1762; zit. n. Georg C.L. Schmidt: Der Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. II, S. 84 123 Die beherrschende Figur in der Familie des Maurers ist Gertrud. Der Forschung ist bekannt, dass Pestalozzi sie in Anlehnung an seine Magd und Haushälterin Elisabeth Näf auf dem Neuhof gezeichnet hat. Sie sicherte damals der Familie des Pädagogen durch Sparsamkeit und Haushaltungskunst das Überleben223. Die natürliche Vernunft Gertruds dient im Roman als Beleg dafür, dass ein von der Obrigkeit inszenierter Umsturz der alten Sozialverfassung die moralisch höherwertigen Schichten an die Macht bringen könnte. Zudem wäre eine bessere Kooperation von Dorfgesellschaft und Obrigkeit die Folge. In Gertruds Haushalt regieren die bürgerlichen Tugenden. Sie verhindert durch Sparsamkeit die Verelendung der Familie, sie fordert Mäßigkeit und hält ihren Mann von Wirtshausbesuchen ab, sie vertraut der gottgewollten Obrigkeit, sie meidet den dörflichen Diskurs, um keine Gelegenheit zum Klatsch zu bieten, sie widmet ihren Kindern eine unermüdliche Aufmerksamkeit, um sie arbeitsam zu machen. Dies alles ist im Sinne von Pestalozzis „großer Lehre der Auferziehung“: „Bieget eure Kinder, fast ehe sie noch wissen, was rechts und links ist, zudem, wozu sie gebogen sein müssen. Und sie werden euch bis ins Grab danken, wenn ihr sie zum Guten gezogen, und ins Joch des armen Lebens geboren, ehe sie noch wissen warum“224. 223 224 SW II, S. 465 LG, S. 322 124 Von jeder Emanzipation ist Pestalozzis pädagogische Tugendlehre ebenso meilenweit entfernt wie die alte Bauerngesellschaft. Immerhin aber sind Gertruds Kinder an die neuen, heraufdämmernden sozialen Gegebenheiten perfekt angepasst. Sie sind fähig, sie zu erdulden. Gertrud ist das vorweggenommene utopische Zielbild des reformierten Dorfmenschen, aus denen Arner im Bündnis mit dem Pfarrer und dem pädagogischen ‚Leutnant‘ eine ‚erweckte Unterschicht‘ formen will. Er trifft in Gertruds Haus beim ersten Besuch bereits die Familie seiner Träume an: „Es war dem Junker nicht anderst als sehe er das Bild des Erstgeborenen seines besser erzogenen Volks wie in einem Traume vor seinen Augen: und der Leutnant ließ seine Falkenaugen wie ein Blitz herumgehen, von Kind auf Kind, von Hand auf Hand, von Arbeit auf Arbeit, von Aug auf Aug; je mehr er sah, desto mehr schwoll sein Herz vom Gedanken; sie hat’s getan und vollendet, was wir suchen“225. Gertruds Haushaltung erscheint als das aus dem Volk selbst erwachsene Ideal einer neuen dörflichen Sozialverfassung. Dieses Ideal gilt es im Roman jetzt, allgemein umzusetzen. Jeder Mensch, dies der volkspädagogische Glaubenssatz, wäre wie der Charakter Gertruds zu formen. Selbst noch ein hundshäriger Bauer wie Hummel wird am Ende seiner Haft, die ihn von der verderblichen Dorfgesellschaft isoliert hat, so semmelweich gestimmt sein, dass auch sein Beispiel die Allmacht der Pädagogik erweist. 225 LG, S. 416 f 125 2.4. Allmende, proto-industrieller Gewerbefleiß und Schule: die Volksaufklärung am Werk Nahezu alle ökonomischen Reformer drängten auf die Aufteilung des dörflichen Gemeinlandes. Dieses oft wüste und ungepflegte Wald- und Weideland an den Rändern der Dörfer war in ihren Augen ein Ärgernis, weil es keinerlei Nutzungsintensivierung erfuhr. Der hinhaltende Widerstand, der sowohl von den Bauern ausging wie auch von der Dorfarmut, war den herrschaftlichen Verwaltungen ein Dorn im Auge und absolut unverständlich: „der kommliche gewinn der geringen nahrung, welche diese weide dem vieh armer leute, deren krippen schlecht bestellt sind, zu geben scheinen, ist ein fallstrick für dieselben; wegen der versuchung, durch die sie sich ständig überwinden lassen, mehr vieh im sommer zu halten als sie überwintern können (…) Das landvolk ist in diesem stüke unverbesserlich“226. Die Allmende bot folglich auch den kleinen Bauern die Möglichkeit, durch Viehsömmerung einen kleinen Zusatzverdienst zu erzielen. Aber auch die besitzlose Dorfarmut profitierte durch Sammeltätigkeit und Kleinviehhaltung von der genossenschaftlichen Nutzfläche: „Wir haben heute kaum mehr eine Vorstellung, wie noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die ärmeren Familien geradezu 226 Berner Abhandlungen 1763, zit. n. Schmidt: Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. II, S. 112 126 auf einer Sammelwirtschaft ihre Existenz fristen, wobei der Wald der wichtigste Fundort ist: Früchte, Beeren, Pilze, Buchweizen, Tannadeln und Kräuter für Tee, Laub für die Schlafsäcke, Futter für das Kleinvieh usw. Die (…) Nutzungsbeschränkungen lösen denn auch entsprechende soziale Spannungen und Konflikte aus, da sie die Ärmeren im Kern ihrer Existenzfristung treffen“227. Im historischen Rückblick waren – mit regionalen Unterschieden – die Armen die Verlierer der vollständigen Privatisierung von Grund und Boden. Die Einschränkungen der Allmend-Nutzung begünstigten die Mächtigen im Dorf: „Die Dörfer beschränkten die Nutzung an Feld, Weide und Wald auf die Besitzer bestimmter Grundstücke (Berner Mittelland), bestimmter Höfe (Zürichbiet), oder sie sprachen sie nur den Angehörigen bestimmter Burgergeschlechter zu“228. Dies zeigt, dass die Allmendaufteilungen überall nach dem Prinzip verliefen: ‚Wer da hat, dem wird gegeben‘. Sie bevorzugten einseitig entweder das Patriziat oder die großen Bauern. Die Armen wurden eines wesentlichen Teils ihrer Subsistenz beraubt, eine Entwicklung, die wegen des hinhaltenden Widerstands erst nach der Regeneration 1830 zum Abschluss kam. 227 Rudolf Braun: Das ausgehenden Ancien Régime in der Schweiz, Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Göttingen u. Zürich 1984, S. 98 228 Schmidt: Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. II, S. 126 127 In der Folge rumorte es im Land, im Bernbiet bildete sich die erste landproletarische Sozialbewegung heraus: der Rechtsamilosenverein. Jeremias Gotthelf, ein später Volksaufklärer, macht dessen Umtriebe und das vernachlässigte Gemeinland für die ‚Armennoth‘ verantwortlich – und nicht den realen Verlust, den die Armut erlitt. Schließlich wären die Pauper durch ihr ewiges Sammeln und Hudeln auf der Allmende von produktiveren Beschäftigungen abgelenkt worden: „Solches Land fördert Trägheit, frühes Heiraten, leichtsinnigen Häuserbau, ein trostloses Aufeinanderhocken, wo keiner von seiner Scholle lassen, keiner weiter sein Glück versuchen, keiner ein ordentlich Handwerk ordentlich lernen, treiben will“229. Im Kern geht es also um die Freisetzung weithin noch ortsgebundener Arbeitskräfte, als Folge von deren Verlust der bräuchlichen ‚Rechtsame‘ am Allmendland. Ganz im Gegensatz zu den realen Abläufen will Pestalozzi die Dorfarmut von der Allmendaufteilung profitieren lassen. Ein illusorisches Konstrukt, denn in der Realität haben die Hintersassen und Tauner „bei einer Verteilung keinen Rechtsanspruch auf Landzuteilung“230. Im Grunde geraten hier zwei Rechtssysteme in Konflikt: das gesetzesgestützte der städtisch-bürgerlichen Lebenswelt und das bräuchliche der alten Dorfgemeinschaft, das eben nicht auf Schrifttum beruht. 229 Jeremias Gotthelf: Die Armennot. Eines Schweizers Wort. In: J.G.: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. XV, S. 117 230 Rudolf Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 96 128 Aus den genannten Gründen sind daher „gewöhnlich alle Hintersassen (…) an einer Allmendaufteilung nicht interessiert“231. Die Obrigkeit hingegen trieb die Allmendaufteilung aus fiskalischem Eigeninteresse voran, wobei sie in Ansätzen durchaus egalitär und ‚pestalozzianisch‘ dachte. Einerseits wollte sie bisher zehntfreies Land besteuern, andererseits würde aber auch der Armensäckel entlastet, weil die minderen Dorfbewohner zusätzliche Einkünfte erzielen könnten. Die Berner Landesöconomiekommission beschrieb die erhofften Effekte so: Allmendaufteilungen seien sinnvoll, „nicht nur, weil die Zehnten, die eine der beträchtlichsten Einkünfte sind, sehr stark zunehmen, sondern auch noch, weil die Ausgaben zur Verpflegung der Armen stark abnehmen würden“232. Das fiskalische Interesse machte also die städtische Obrigkeit zum Parteigänger der Armut, woran Pestalozzi im Roman anknüpft. Genau diese Möglichkeit, die bekanntlich nie eintrat, forderte den hinhaltenden Widerstand der großen Bauern heraus. Eine Aufteilung an alle Dorfgenossen, wie sie Pestalozzi und Teile des Patriziats forderten, die an jeden Einwohner einen gleichgroßen Anteil zu vergeben beabsichtigte, ohne Rücksicht auf die Größe des bisherigen Besitzes, kam in ihren Augen einem klaren Rechtsbruch gleich, einer förmlichen Enteignung. Zudem hätte eine solche Maßnahme die 231 232 Ebda., S. 96 Zit. n.: Rudolf Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 95 129 Herrschaft der Bauern über die Tauner tatsächlich tendenziell gefährdet: „Die Reichen ahnten mit Recht, daß die Armen durch die Aufteilung der Allmend einen starken wirtschaftlichen Rückhalt gewinnen und sich inskünftig ihrem Machtanspruch nicht mehr ohne Widerstand fügen würden“233. Die Zählebigkeit der Allmenden wie auch der Widerstand gegen eine neue Landwirtschaft überhaupt erklären sich somit daraus, dass jedes Mitglied der Dorfgesellschaft in eine ebenso komplexe wie kollektive Wirtschaftsstruktur eingebunden war, die nicht durch individuelle Entschlüsse außer Kraft gesetzt werden konnte: „Für den Einzelnen besteht kaum die Freiheit der Umstellung; nur wenn sich die Gesamtheit innovationsbereit zeigt, wäre eine Fruchtfolgewirtschaft mit allen ihren Konsequenzen überhaupt denkbar. Das würde jedoch voraussetzen, daß die gesamte rechtliche, wirtschaftliche und soziopolitische Struktur in ihrer komplexen und über Generationen hinweg tradierten Ausbalanciertheit (…) obsolet wird. Gerade weil es in diesem Kollektiv Privilegierte und Unterprivilegierte, Besitzende und Habenichtse gibt, ist eine Bereitschaft aller zu einer so weitreichenden Strukturveränderung kaum zu erreichen“234. Dies ist auch der Grund, weshalb Pestalozzi sich - nach seinem Scheitern auf dem Neuhof - vom individuellen ‚Musterbauern‘ zum literarischen Schöpfer eines kollektiven ‚Musterdorfes‘ 233 234 Schmidt: Schweizer Bauer, a.a.O., Bd. I, S. 87 Rudolf Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 102 130 namens Bonnal wandelte. Dass die gesamte Dorfgesellschaft sich ändern muss, wollte er Erfolg haben, das hat der Pädagoge klar erkannt. Auch die ‚Verbrechen‘ Hummels erweisen sich im Kern als ‚systemisch‘, ein Untervogt kann gar nicht anders handeln, als er dies tat. Auch der neue Vogt, den Arner einsetzt, verhält sich nach wenigen Tagen bereits wie der alte: „Er ist kaum 8 Tag Vogt, und macht schon Maul und Augen, wie wenn er sich innert Jahr und Tag henken könnte, oder Land und Leute verraten wollte“235. Im Dorf Bonnal, konstatiert Pestalozzi bitter, ist eben jeder Mensch „mit gar vielen Fäden an sein Leben angebunden, und es braucht gar viel, ihm neue anzuspinnen, die ihn so stark als die alten auf eine andere Seite hinziehen“236. In Bonnal existiert ein ‚kollektives Ich‘, das dem einzelnen ein abweichendes Verhalten verwehrt, will er nicht sozial isoliert werden. So versucht eine Bauersfrau im Dorf ihrer Tochter die dörflichen Heiratsgesetze und die Klassenlagen zu erklären, die jede ‚Vermischung‘ zwischen Armen und Reichen strikt verbieten: „Was hast auch vom Junker? Und was geht dich auch der Narr an? Warum begreifst doch auch nicht, daß wer im Dorf 235 236 LG, S. 263 LG, S. 261 131 ist, es mit dem Dorf halten muß, und mit denen, die im Dorf etwas haben, und nicht mit dem Bettelvolk?“237. Der bereits erwähnte neue Untervogt wird von den Bauern ausgeschickt, um bei Arner die unbeliebte Allmendverteilung zu hintertreiben. Als Makler zwischen Herrschaft und Bauerntum handelt er im Interesse von Dorf und Brauchtum, was in den Augen der Bauern auch seine selbstverständliche Pflicht ist. Der neue Vogt weiß dabei nicht, dass der ‚erweckte‘ Hummel inzwischen das Dorf verraten hat, wodurch die dörflichen Pläne zu Herrschaftswissen wurden. Prompt wird Hummel, den angeblich ‚Reue‘ zum Beichte aller Dorf-Interna trieb, zum verhasstesten Mann im Ort. Und zwar nicht, weil er sich an seinem Amt bereicherte, sondern weil er als Überläufer zur Obrigkeit betrachtet wird, als ein Judas seiner Gemeinde. Lange versucht er, sich gegen die Seelenmassage des aufgeklärten Pfarrers zu wehren: „Ich mag zu allem, was ich schon auf den Schultern habe, nicht noch machen, daß mich Junges und Altes im Dorf noch obendrein verfluche“238. Der Pfarrer jedoch überzeugt ihn, dass nur eine vollständige Beichte ihm Herzenserleichterung bieten könne. Die scientology-hafte Seelenwäsche des Pfarrers verschafft in der Folge der Obrigkeit die ersehnte Kontrolle über das Gemeindeleben, sie partizipiert nun an dem Wissen über die 237 238 LG, S. 500 LG, S. 220 132 Mechanismen dörflicher Sozialkontrolle, wo jeder alles von allen weiß: „Und das Leben des Manns enthüllte dem Pfarrer das Leben seines ganzen Dorfs, daß er izt in allen Haushaltungen hineinsah wie in einen Spiegel“239. Hummel hingegen erfährt keine Seelenerleichterung, sondern Hass und Verachtung. Der Mann, der sich der Obrigkeit anvertraute, wird zum sozialen Outlaw. Man schwört ihm, „daß du keinen Menschen im Dorf findest, der dir auch nur ein Stück Brot gibt, wenn er dich vor ihm zu Hunger sterben sieht“240. Angesichts der komplexen sozialen Lage, lässt sich auch die Allmendaufteilung im Roman nicht durch Vernunft erzielen, sondern nur durch eine List. Pestalozzi greift auf den Aberglauben der Bauern zurück, die steif und fest daran glauben, dass Hummel an dem Grenzstein, den er räuberisch verrücken wollte, dem Teufel begegnet sei. Unbedachterweise versprechen sie in die Aufteilung einzuwilligen, wenn Arner ihnen widerlege, dass der Teufel am Markstein erschienen sei. Mit dieser Überwindung des Kernstücks bäuerlichen Widerstands endet das erste Buch. Das zweite Buch beschäftigt sich mit den Tricks, welche die Bauern anwenden, um Arner von seinem Plan nachträglich wieder abzubringen. Da sich inzwischen aber mehrere Dorfbewohner auf die Seite Arners gestellt haben – dies Pestalozzis pädagogische Fiktion – vereitelt der Junker alle 239 240 LG, S. 220 LG, S. 226 133 Pläne im Voraus. Wie groß Pestalozzi aber die bäuerlichen Widerstände einschätzt, erhellt sich daraus, dass die Obrigkeit hierzu zunächst auf eigene Gewinne verzichten muss: „Das Land ist euer, und euch von euren Vorfahren als Gemeindgut, auf dem keine Abgaben hafteten, hinterlassen worden, und ich will nichts weniger, als euch an diesem euerm Recht kränken. Die erste Pflicht des Menschen ist, der Armut seiner Mitmenschen, wo er kann, aufzuhelfen, damit ein jeder ohne Drang und Kummer des Lebens Notdurft erstreiten möge“241. Da aber Arner prinzipiell egalitär handeln will, ruft er sofort neue Konflikte hervor. Das Land soll ‚pro Kopf‘ aufgeteilt werden, ohne Rücksicht auf die Größe des sonstigen Besitzes. Arners Appell an die Menschlichkeit fruchtet bei den Bauern nichts, auch deshalb weil er sein großes Versprechen gleich wieder bricht. Zehntfrei bleiben sollen kurz darauf nur noch die Grundstücke der Armen, und dies auch nur für diejenigen Kinder, die bis zum zwanzigsten Lebensjahr zwanzig Dublonen ersparen konnten. Berücksichtigt man die damaligen Verdienstmöglichkeiten in der ländlichen Gesellschaft, heißt dies, dass auf Umwegen das gesamte ehemalige Allmendland dem Patriziat neuerdings zehntpflichtig wird. Wie eingangs erwähnt, hat Pestalozzi diesen betrügerischen ‚zweiten Teil‘ ja auch nicht mehr ‚fürs Volk‘ geschrieben. Immerhin aber ist es Arner gelungen, mit egalitären Mitteln einen Keil in die Dorfstruktur zu treiben. Die Bauern rebellieren, sie fürchten zu Recht Einnahmeverluste, vor 241 LG, S. 299 134 allem aber verlieren sie einen Teil ihrer Macht über die Tauner und das Spinnervolk: „Der Stieren-Bauer fluchte bei einem Nachbar (…): es schade ihm mehr als hundert Gulden; er habe das Jahr durch immer 10 bis 12 Stück Vieh darauf gehalten, und sie seien ihm stockfett geblieben. (…) und noch andere: Das Lumpenvolk strecke alles in die Köpf, und ein jeder Bettelhund lache in die Faust, wenn er unsereinen sehe, daß sie so Meister worden“242. Parallel zur Aufteilung der Allmende betreibt die Triple-Allianz aus Pfarrer, Junker und Verleger eine spektakuläre Ausweitung der Proto-Industrie im Dorf. Dies geschieht, als zu Beginn des dritten Buches der Baumwollen-Meyer auftaucht, ein reicher ländlicher Verleger. Pestalozzi hatte, als er ihn konzipierte, Personen aus seiner Bekanntschaft vor Augen, vor allem den erfolgreichen Tuchhändler Johann Rudolf Meyer aus Aarau und den Baumwollfabrikanten Heinrich Meyer aus Rufenach, den Pestalozzi bei Besuchen in der Helvetischen Gesellschaft kennengelernt hatte243. Die Figur des Unternehmers im Roman entstammt selbst der dörflichen Unterschicht. Er „fing mit 5 Batzen zu hausen an“244 und gewinnt mit der Zeit einen solch großen Reichtum, dass er der dörflichen Enge und ihrem Sittendiktat entkommen 242 LG, S. 408 LG, S. 887, Komm. 244 LG, S. 379 243 135 kann: „Das ist doch keine Baurenordnung, sagte der Junker: und drehete ein schweres silbernes Messer in der Hand herum“245. Sozial gesehen zählt dieser Verleger zu jener aufsteigenden ländlichen Elite, die außerhalb der Städte ‚Hütten in Paläste‘ (J. C. Hirzel) verwandelt, und zunehmend zu einer Konkurrenz für die regierenden Eliten in den Städten wird. 1830 wird diese aufsteigende Landbourgeoisie das Patriziat in der Schweiz vom Sockel stoßen. In Bonnal macht Arner den Baumwollen-Meyer zum neuen Untervogt. Die Macht ist damit von den Bauern auf einen Textilverleger übergegangen, und zwar nicht nur positionell, sondern auch sozioökonomisch. Die herzogliche Kommission246, die am Schluss des Romans die neue Dorfökonomie begutachtet, kommt zu dem Schluss: „(E)s wäre Arner ohne den Baumwollen-Meyer unmöglich gewesen, dieses zu leisten: und sagten, der Detail dieser Rechnungen zeige, daß zwei Drittel von einem Vorschlag des Dorfes von der Handarbeit, und kaum ein Drittel vom Abtrag ihrer Landbesitzungen herrühre“247. Parallel zur Moralisierung der Dorfbevölkerung im Roman hat sich also eine Marginalisierung der landwirtschaftlichen Produktion vollzogen. Pestalozzis große Arbeitslehre 245 LG, S. 379 Dieser Wechsel zu einer ‚Herzogsherrschaft‘ verweist darauf, dass Pestalozzi inzwischen Auftraggeber außerhalb der Schweiz suchte. 247 LG, S. 806 246 136 beschreibt daher keine neue ‚Bauernordnung‘, sondern eine neue Ordnung für Fabrik- oder Heimarbeitsdörfer. Den Baumwollen-Meyer beherrscht eine penible Rechenhaftigkeit, die später auch zur Unterrichtsmaxime in Bonnals neu eingerichteter Schule werden wird: „Seine Schwester (…) wischte die Rechnungen, mit denen ihr Bruder den ganzen Tisch voll gekreidet, durch (…). (E)r mache manchmal den Tisch im tag siebenmal so voll, und streiche alles wieder durch, wenn nur eine Kreuzer fehle“248. Der größte Feind des Verlegers ist dabei die Mentalität seiner Heimarbeiter. Sie seien „bis in die Wiege hinunter ein Lumpenpack, (die) betriegen und bestehlen, mit wem sie zu tun haben“249. Besonders zu schaffen macht ihm der bräuchliche ‚Unterschleif‘, das Manipulieren am Gewicht der gelieferten Ware: „(Sie) bringen und dann dergleichen Garn wie ihr da sehet, das voll Unrat und naß ist daß man’s könnte auswinden, damit sei einige Kreuzer dem Vater ableugnen, und, wie er, im Wirtshaus vertun und versaufen können“250. Der beklagte ‚Unterschleif‘ ist eine weitverbreitete ländliche (Un)Sitte bei allen dörflichen Unterschichten. Jeremias Gotthelf berichtet im ‚Schulmeister‘ von dem fehlenden Unrechtsbewusstsein einer Webersfamilie, von Betrügereien, 248 LG, S. 378 LG, S. 379 250 LG, S. 379 f 249 137 die sich aber eben nur gegen ‚Dorffremde‘ richteten, gegen Personen mit einem städtischen Bildungshintergrund: „Sie betrogen auch keinen Nachbar und überhaupt niemand ihresgleichen, aber wenn meine Mutter des Pfarrers oder des Doktors Weibern einige schlechte Eier unter die guten anhängen konnte, so lachte ihr das Herz im Leibe, und wenn sie (…) Gespünst verkaufte, so tat sie kurze Ryste unter die lange, Kuder in den Flachs. Dann lachten beide, die Mutetr und der Vater, und meinten: „Das macht sellige Lüte nüt, sie merken nit, u si hei Geld gnue, u mit heys nötig, u was nützte dVörtel, we me se nit bruchti?“251. Dieser bräuchliche Unterschleif, war keineswegs ein Phänomen, das nur in der Schweiz zu finden war. Es war förmlich eine bräuchliche Subsistenzstrategie. Eine besonders humorvolle Schilderung hat August Ludwig Schlözer hinterlassen: „Die Wolle zieht wie ein Schwamm das Wasser an sich (…). Das weiß der Schäfer, und schiert daher die Schafe, ehe noch die Wolle halb trocken ist. Und damit die Nässe ja nicht verfliege, bindet er sie sogleich in Flüsen zusammen. Ein sanfter Regen, wenn er den Schafen bald nach der Wäsche auf die Pelze fällt, ist ihm sehr willkommen. (…) Fährt er endlich damit zur Stadt; so wält er einen Tag dazu, der ihm den Regen am Horizonte schon von ferne zeigt (…). Trift er unterweges einen Teich an, so fährt er den Wagen bis an die Achse ins Wasser, damit die Pferde sich mit einem kühlen Trunke laben (…). Zu allen diesen Kniffen hält er sich 251 Jeremias Gotthelf, Leiden und Freuden eines Schulmeisters, Sämtl. Werke, a.a.O., Bd. II, S. 34 f 138 für berechtigt; denn er muß ja dem Kaufmann 3 Kreuzer Wassergewicht geben, und sich folglich auf diese Art seines Schadens erholen“252. Der Unterschleif war eine höchst phantasievoll praktizierte Art bräuchlichen Widerstands gegen eine städtische Elitenkultur. Er wurde habituell angewandt, ohne eine Spur von Unrechtsbewusstsein, eine Abwehrstrategie des Landvolks gegen Abgabenerhöhungen der Obrigkeit und die Lohn- und Preisdrückerei der Kaufmannschaft. Auch die Arbeitsmoral ist ein ständiges Thema, nicht nur bei Pestalozzi, sondern generell der Volksaufklärung. Während die proto-industrialisierten Schichten - Spinner, Weber – einen Stücklohn erhielten, ruhte der Lebensunterhalt des anderen dörflichen Handwerks auf dem Tagelohn. Überall stand daher die mangelnde Arbeitsmoral der dörflichen Unterschichten in der Kritik, auch bei Pestalozzi: „Die Hauptschwierigkeiten, die der Errichtung neuer Gewerbebranches im Weg stehen, sei die Rohheit, Unordnung, Unanstelligkeit des gemeinen Volks. Alles, was solche Leute in die Hand nehmen, gehe zugrund, was sie grad machen sollen, machen sie krumm, und da sie weder Kenntnis noch Erfahrung im Geldgebrauch haben, so gehe es unter ihren Händen zugrund wie nichts, je mehr sie 252 August Ludwig Schlözer’s Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts, Zweiter Theil, Heft VII – XII, 1777, Göttingen 1778, S. 51 139 verdienen, je mehr vertun sie wieder, das erniedrige sie zu falschen, untreuen gefährlichen Menschen“253. Es ist in den Augen Pestalozzis also nicht der unzureichende Verdienst, der die Unterschichten dazu zwingt, von der Hand in den Mund zu leben, es sind ihre charakterlichen Defizite. Daher muss eine staatliche Bildungseinrichtung her, die es sich zur Aufgabe macht, die neuen Arbeitstugenden habituell zu machen: „Wenn hingegen der Staat durch solche Dorfeinrichtungen solchen Unternehmern, darin an die Hand gehen würde, daß sie seines festen Einflusses in die Bildung des Volks zur Anstelligkeit, Reinlichkeit, Ordnungsliebe, Genauheit und Sparsamkeit zum voraus versichert sein könnten, so würde der erste Stein des Abstoßes gehoben sein, an welchem die nach allen Arten von Handlungsetablissements so dürstende Gierigkeit aller Reichen (…) anstoßen wird“254. Durch einen pädagogischen Dressurakt im Interesse der wirtschaftlichen Eliten soll der Staat die Voraussetzungen für Prosperität schaffen. Die Erziehungslehre Pestalozzis richtet sich weniger auf eine Verbesserung der Lebensumstände einer pauperisierten Dorfbevölkerung. Es geht ihm darum, die festgefügte ‚Mentalität‘ im Volk zu brechen, weil diese ein zentrales Investitionshindernis für die Kaufmannschaft darstellt. 253 254 LG, S. 814 LG, S. 814 140 Im Kontext des Romans existiert ein förmlicher Investitionsstau von anlagesuchendem Kapital, eine „immer größer werdende(..) Geldmenge, die in der Welt in Umlauf gebracht wird“255. Die Pädagogik habe die Aufgabe, durch eine ‚Revolution der Arbeitsmoral‘ dem Kapital die Schleusen zum flachen Land zu öffnen, sie müsse zu einer „weisen Bildung des Volkes zur Industrie“256 den zentralen Beitrag leisten: „[Während die] Finanz, wie sie gegenwärtig betrieben werde(..), sich fast vollends nur bei der Ausbeute auf(halte); (steige Arner) bis in das Innere des Bergs, und mache bei den Quellen der Ausbeute Ordnung, wo fast noch gar nie eine gewesen“257. Bei der Offenheit, mit welcher Pestalozzi hier , die ‚Ausbeute‘ oder Ausbeutung des ländlichen Arbeitspotenzials kommuniziert, ist es kein Wunder, dass er das dritte und vierte Buch des Romans nicht für die Hände des Volks bestimmt hat258. Aber nicht nur die Mentalität der Spinner und Weber ist ein volkspädagogisches Hindernis, generell steht die Arbeitsmoral der gesamten Dorfbevölkerung in der Kritik. So verhalten sich 255 LG, S. 769 LG, S. 773 257 LG, S. 782 258 Pestalozzis Annahme einer blühenden Zukunft der Heimarbeit ist arg euphemistisch. Zu dieser Zeit hatte der Niedergang der ländlichen Leinen- und Baumwollindustrie bereits begonnen, der Anfang des 19. Jahrhunderts dann in die großen europäischen Pauperismuskrisen münden sollte (vgl. Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. München 2015). 256 141 auch jene Tagelöhner, die als Maurer oder Zimmerleute den Neubau der Kirche in Bonnal betreiben, in der eigenen Logik zwar rational, indem sie die Zahl der Tagelöhne erhöhen, nicht aber in den Augen ihrer Auftraggeber. Solche Zeiten, um Geld zu verdienen, sind für das Dorfhandwerk - um hier einen modernen Begriff zu verwenden - goldene Zeiten innerhalb ‚gebrochener Erwerbsbiographien‘. Das gewohnte Leben des Dorfhandwerkers bestand aus Sammeltätigkeiten, aus Allmendnutzung, kleiner Landwirtschaft etc., die Zeit der ‚Tagelöhne‘ aber war eine Konjunktur, die es maximal zu nutzen galt. Der bereits ‚reformierte‘ Maurermeister Lienhard, der sie beim Kirchbau zu möglichst unermüdlicher Arbeit zu bringen trachtet, den bezeichnen sie daher als „ägyptischen Treiber“ und als „Wohldieners-Unglücksstifter“259. Für einen Menschen, der über einen Mangel an Arbeit nie zu klagen hatte, ist daher der „Müßiggang“, das „Maulaffen feil haben“ dieser Menschen, „die so an Händ und Füßen wie lahm und den ganzen Tag herumstehen“260, ein großes Ärgernis. Zumal von ihrem Beispiel eine ansteckende Wirkung auf die gesamte Gruppe ausgeht, die nicht einsieht, dass sie mehr arbeiten solle, da jene „den gleichen Lohn wo sie“261 bekommen. Gleich im folgenden Paragraphen beschreibt daher Pestalozzi das Glück, das in der Arbeit selbst ruht. Wo man nicht nach dem Lohn fragt, weil man durch unermüdliche Arbeit einen immateriellen Profit aus wohltätiger Erschöpfung und 259 LG, S. 391 LG, S. 392 261 Ebda. 260 142 Zufriedenheit gewinnt. Es ist eine Variante der alten volksaufklärerischen Mär vom ‚Hemd des Glücklichen‘. Dem Lienhard war „keiner so lieb als der junge Bär; dieser sang und pfiff immer bei seiner Arbeit, wenn ihm auch der Schweiß tropfenweis von der Stirn lief“262. Von einem Arbeitskollegen, der ihn darauf hinweist, dass er in seinen bedrängten Umständen, mit nur einem zerrissenen Hemd auf dem Leib, wohl kaum Grund zum Pfeifen habe, distanziert er sich, „denn er hatte dergleichen Sachen nicht gern im Kopf wie der da sagte“263. Bärs Lohn für seine unermüdete Arbeitsleistung besteht natürlich nicht etwa in einem Akkordzuschlag, Pestalozzi lässt ihn ein ungetrübtes Familienglück genießen, das aus all der Rackerei unausweichlich folgen soll: „Denn nahm er ihr den Bub ab, den sie auf dem Schoß hatte, und ritt mit ihm auf allen vieren in der Stube herum“264. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist bei Pestalozzi eine Folge vieler Arbeit. Wie die Mehrzahl der Eltern sind auch die Kinder für die geforderte neue Arbeitsdisziplin verdorben, jedoch noch nicht rettungslos: „(S)ie sind an gar keine Ordnung und keine anhaltende Anstrengung gewöhnt, und haben ihre Augen, wenn sie sollen auf den Garn halten, immer in den Lüften; und so wird es bald zu dick bald zu dünn, und nie recht“265. 262 LG, S. 394 Ebda. Ebda. 265 LG, S. 395 263 264 143 Anders als bei den Erwachsenen aber lässt sich bei den Kindern durch unermüdliche Kontrolle und durch den häufigen Gebrauch der Rute266 schließlich eine neue Arbeitsmoral bewirken. Um die anstehende Umgestaltung des Dorfes zu einem unternehmerfreundlichen Gemeinwesen zu vollenden, muss nicht mehr und nicht weniger als ein völlig neuer Mensch herangezogen werden: „Im übrigen aber baute der Junker in seiner Meinung, das Dorf zu ändern, gar nicht auf das alte Volk; sondern auf die Jugend und seine Schul. Diesfalls aber zählte auf nichts weniger als auf ein Geschlecht, das dem nächsten, von dem es abstammt, so ungleich sein würde, als Tag und Nacht einander ungleich sind“267. Der Initiator der neuen Schule ist die Industrie selbst, die sich im Roman in der Gestalt des Baumwollen-Meyer verkörpert. Der begründet die Notwendigkeit einer pädagogischen Arbeiterschmiede mit dem rapiden Wandel der Gesellschaft: „Vor altem war alles gar einfältiger, und es mußte niemand bei etwas anderm als beim Feldbau sein Brot suchen. Bei diesem Leben brauchten die Menschen gar viel weniger geschulet zu sein – der Baur hatte im Stall, im Tenn, im Holz und Feld, seine eigentliche Schul, und findet, wo er geht und steht, so viel zu tun und zu lernen, daß er sozusagen ohne alle Schul das recht werden kann, was er werden muß – Aber mit den Baumwollenspinnerkindern, und mit allen 266 267 LG, S. 396 f LG 567 f 144 Leuten, die ihr Brot bei sitzender oder einförmiger Arbeit verdienen müssen, ist es ganz anderst. Sie sind, wie ich es einmal finde, ganz in den gleichen Umständen wo die gemeinen Stadtleute, die ihr Brot auch mit Handverdienst suchen müssen, und wenn sie nicht wie solche wohlerzogene Stadtleute auch zu einem bedächtlichen überlegten Wesen, und zum Ausspizen und Abteilen eines jeden Kreuzers, der ihnen durch die Hand geht, angeführt werden, so werden die armen Baumwollenleut, mit allem Verdienst und mit aller Hilfe, die sie sonst hätten, in Ewigkeit nichts davontragen, als einen verderbten Leib und ein elendes Alter“268. Der Plan zielt also auf eine mentale Verstädterung des flachen Landes. Die Schule, die der Industrielle, der Leutnant und der Junker – gewissermaßen Pestalozzis Triple-Ego - in Bonnal einrichten werden, ist keine Schule der Emanzipation, sondern eine Schule zur Protoindustrie. Dass der Mensch von Natur aus nicht gut sei, diese Überzeugung Pestalozzis durchzieht seinen Roman wie ein Leitmotiv. Aus einem von Grund auf bösen und faulen Naturmenschen muss der fleißige Industriemensch erst herausgeformt werden. Das zentrale Instrument hierzu ist die neue Schule. Ihr Leiter wird der Leutnant Glüphi, welcher Pestalozzis Grundsätze in die Tat umzusetzen hat. Die Achse des Romans ist der zentrale Paragraph 41 im vierten Buch, der den Titel trägt: ‚Die Philosophie meines 268 LG, S. 382 145 Leutnants; und diejenige meines Buchs‘. Der Abschied von jeder rousseauistischen Überzeugung leitet ihn ein: „Der Mensch (…) ist von Natur (…) träg, unwissend, unvorsichtig, unbedachtsam, leichtsinnig, leichtgläubig, furchtsam, und ohne Grenzen gierig, und wird dann noch durch die Gefahren, die seiner Gierigkeit aufstoßen, krumm, verschlagen, heimtückisch, mißtrauisch, gewaltsam, verwegen, rachgierig und grausam. – Das ist der Mensch, wie er von Natur, wenn er sich selbst überlassen, wild aufwächst, werden muß; er raubet wie er ißt, und er mordet wie schläft“269. Aus diesem Grund taugt der Mensch zu allen utilitaristischen und Staatszwecken weniger als nichts. Der unerzogene Mensch ist „der Gesellschaft nicht nur nichts nütz, sondern ihr im höchsten Grad gefährlich und unerträglich“270. Diese Diskrepanz von menschlicher Natur und gesellschaftlich-industriellen Bedürfnissen rechtfertigt die neue Pädagogik, die nun über die Dorfbevölkerung hereinbrechen soll: Aus dem Landbewohner „müsse man ganz etwas anderes machen, als er von Natur ist“271. Als Vorbedingung solle zum Zweck der Umformung zunächst ein Regime lückenloser Kontrolle errichtet werden: 269 LG, S. 668 LG, S. 669 271 LG, S. 669 270 146 „Eine jede Lücke in der bürgerlichen Gesellschaft (…) fachet in jedem Fall den Funken der Empörung gegen diese Kette, der tief in der Natur liegt, von neuem wieder an“272. Der „Fluch (dies)er Ketten“ bestünde in der Pflicht, „Bürger zu sein“273. In den Augen Pestalozzis war dies ein zutiefst unnatürlicher Zustand, der den Menschen „das Gefühl der Rechten seiner Natur von allen Seiten verwirrt, das Befriedigende seiner Naturtrieben in allen Teilen beschränkt, und ihm nichts dargegen gibt, als die Foderung das zu sein, was weder Gott noch Menschen aus ihm gemacht haben“274. Diesen bürgerlichen Zwangscharakter hätten nun die Gesetzgeber und Pädagogen mit „Weisheit“ und der „Frommheit einer Engelstugend“275 zu formen, so dass er „an seiner Kette nicht verwildere, welche die ersten Grundtriebe seiner Natur mit unerbittlicher Härte beschränkt“276. Alle Triebe, alle Sinnlichkeit und alles affektive und emotionale Handeln werden zu Hindernissen auf diesem Weg bürgerlichindustrieller Massenfertigung von Menschen, hin zu „bedächtlichen, vorsichtigen, tätigen, festen, im Zutrauen sowohl als im Mißtrauen sichergehenden, und die Mittel seiner ersten Wünsche in sich selber, und im Gebrauch seiner durch bürgerliche Bildung erworbenen Fertigkeiten und Kräften fühlenden Menschen“277. 272 LG, S. 670 LG, S. 669 274 Ebda. 275 LG, S. 670 276 Ebda. 277 LG, S. 670 f 273 147 Angesichts der ebenso unwirtschaftlichen wie explosiven Triebhaftigkeit des Naturmenschen, muss Leutnant Glüphi aka Pestalozzi – auf pädagogische Grundsätze bauen, die keinesfalls auf Empathie, Wohlwollen oder Liebe setzen: „Er behauptete laut, die Liebe sei zum Aufziehen der Menschen nichts nutz als nur hinten und neben der Forcht; denn sie müssen lernen Dornen und Disteln ausreuten, und der Mensch tue das nie gern und nie von ihm selber, sondern nur weil er müsse, und wenn er daran gewöhnt werde. Wer immer etwas mit den Menschen ausrichten, oder sie zu etwas machen will, sagte er, der muß ihre Bosheit bemeistern, ihre Falschheit verfolgen, und ihnen auf ihren krummen Wegen den Angstschweiß austreiben“278. Dieses unerbittliche Kontrollregime, das Glüphi errichtet, bewirke dann auf wunderbare Weise mehr Ehrlichkeit und Lauterkeit – eine Ansicht, die in der Realität eher das Gegenteil bewirkt haben dürfte. Damit er jederzeit erkennen könne, ob die unterdrückte Natur der Kinder sich in ihnen noch rege, besteht er darauf, dass die Kinder ihm gegenüber ein „unverstelltes Inneres“279 bewahren, dass sie „ihr Herz vor seinen Augen offen liegend halten“280. Die ‚Biederkeit‘ als neue bürgerliche Tugend gilt es durch angewandten Zwang und durch Strafen erst zu erzeugen: „Er machte sie bedächtlich, damit sie offen sein konnten. Er machte sie vorsichtig, damit sie nicht mißtrauisch sein 278 LG, S. 526 LG, S. 568 280 LG, S. 527 279 148 müßten. - (…) Er machte sie treu, damit sie Glauben fänden. - Er machte sie vernünftig, damit sie sich trauen dörften; und legte auf diese Weise den Grund zu dem heitern offenen Wesen, das er von ihnen forderte“281. In Glüphis neuer Schule wird die ‚Verstellung‘ zum menschlichen Kardinalfehler schlechthin, den er drakonisch ahndet: „Auch durchstach er sie mit seinem Falkenblick, wenn er im geringsten etwas merkte, und jagte denn darauf los, drückte darauf zu, und preßte es ihnen aus, daß der Angstschweiß ihnen ausging“282. Pestalozzis Utopie einer Dorfschule in Bonnal gehört ohne Zweifel in den Kanon der ‚schwarzen Pädagogik‘. Am Ende von Glüphis pädagogischem Dressurakt stünden dann angeblich Kinder, die eine zweite, bürgerliche Natur entwickelt hätten, eine ganz neue ‚Seelenlandschaft‘: „Fleiß, und Sparsamkeit, und Hausordnung, diese Seele des Lebens, und dieser Schirm der Tugend, der kein Tand ist, wird ihnen unter Glüphi Händen zur Natur“283. Das alte Dorf war eine höchst bunte Mischung differenzierter und auch prekärer Existenzformen – es beherbergte Sammler, Häusler, Quacksalber, Wahrsager, Dorfpropheten, Handwerker, Vaganten, Schriftkundige, Buchkolporteure, usw. Diese farbige Welt verschwindet in Pestalozzis System 281 LG, S. 568 f LG, S. 568 283 LG, S. 571 282 149 vollständig. Jede Individualität ist verderblich, wie vom Fließband sollen uniforme ‚neue Menschen‘ aus der Stanze der Schulen hervorgehen. Nur eine möglichst homogene Masse ließe die Treibriemen der Industrie störungsfrei laufen: „(Glüphi) behauptete das Erziehen der Menschen seie nichts anders als das Ausfeilen des einzelnen Glieds an der großen Kette, durch welche die ganze Menschheit unter sich verbunden, ein Ganzes ausmache, und die Fehler in der Erziehung und Führung des Menschen bestehen meistens darin, daß man einzelne Glieder wie von der Kette abnehme, und an ihnen künsteln wolle, wie wenn sie allein wären, und nicht als Ringe an die große Kette gehören, und als wenn die Kraft und Brauchbarkeit des einzeln Glieds derselben daher käme, wenn man ihns vergulden, versilbern, oder gar mit Edelsteine besetzen würde, und nicht daher, daß es ungeschwächt an seine nächsten Nebenglieder wohl angeschlossen zu dem täglichen Schwung der ganzen Kette und zu allen Biegungen derselben stark und gelenkig genug gearbeitet wäre“284. Dass es sich bei der Kette, in welche die Menschen ‚eingegliedert‘ werden sollen, um die Interessen und Bedürfnisse der Industrie handelt, liegt auf der Hand. Auch deshalb stellt Glüphi die Rechenkunst in das Zentrum allen Sachunterrichts: „Rechnen ist das Band der Natur, das uns im Forschen nach Wahrheit vor Irrtum bewahrt, und die Grundsäule der Ruhe und des Wohlstands, den nur ein bedächtliches und 284 LG, S. 670 150 sorgsames Berufsleben den Kindern der Menschen bescheret“285. Das Leben wird auf angewandte Subsistenzmathematik reduziert, die Gesetze der Rechenkunst seien zugleich Lebensgesetze; die Kinder sollen die „Zahlenverhältnisse (…) in jeder andern Ordnung wiederfinden“286. Das anfängliche Haupthindernis der neuen Schulordnung ist der Religionsunterricht, der zuvor die primäre Aufgabe jeder Schule war. Glüphi bricht dessen Funktion herunter auf die bloße moralische Unterstützung des ökonomischen Hauptgedankens in seiner neuen Industriereligion. Die Gotteskenntnis wird durch ihre triebsteuernde Wirkung zu einer Art ‚Gedankenpolicey‘: „Die Religion ist nichts anders als das Bestreben des Geists, das Fleisch und Blut durch Anhänglichkeit an den Urheber unseres Wesens in der Ordnung zu erhalten“287. Wahren und vernünftigen Gottesglauben beweise der Mensch daher nur durch die praktische Anwendung der neuen ökonomischen Tugenden: „(D)er Mensch gelanget zu dieser Herrschaft des Geistes über das Fleisch nur nach Maßgab als er von Jugend auf in 285 LG, S. 528 LG, S. 530 287 LG, S. 580 286 151 den Mühseligkeiten seiner Bestimmung und Lebensart geübt, was seine Pflicht und sein Vorteil in der Welt ist“288. Mit einem Wort – der Mensch soll sich in seinem irdischen Jammertal einrichten. Unter den Bedingungen der Protoindustrie verkürzt Pestalozzi die Religion zu einem dürren Prädestinationsglauben, wo die „Umständ“ sagen, „was Gottes Wort seie“289. Für diejenigen, die durch den Zufall der Geburt in miserablen Umständen leben, bleibt der Trost des Sozialquietismus: „Der Glaube an Gott, und die Lehre von seinem Dienst, ist für das Volk nicht Sache seines Kopfs, sondern seines Herzens. – Gemütsruhe im Dunkel seiner Nacht – Ergebenheit in den Willen Gottes im Tal von Tränen, und ein kindliches Aufsehen auf den Herzogen und Vollender des Lebens – das ist die Bestimmung des Glaubens, aber nicht Kopfübung fürs Volk“290. Von Emanzipationsvorstellungen, von einem bürgerlichen Aufstieg durch Bildung, kann bei Pestalozzi keine Rede sein. Religion wird zum „Bild der Ordnung und Ewigkeit“291 bestehender sozialer Gegensätze. Dies kann nur gelingen, wenn man dem Volk die Bibel aus der Hand schlägt. Daher verklebt Glüphi den Kindern alle verfänglichen Fragen nach Gerechtigkeit und Gottesstrafen im Katechismus, welche 288 Ebda. LG, S. 548 LG, S. 752 291 LG, S. 748 289 290 152 die „feste Angewöhnung an eine weise Lebensordnung“292 behindern könnten durch den „abenteurlichen Wortkram (d)er großen Maulreligion“293 des Volkes, durch den „Katechismuskram“294. Im Übrigen wird das Volk angewiesen, „an nichts zu glauben, als was sich zählen, wägen, messen, und dadurch erproben lasse“295. Was Pestalozzi predigt, ist im Kern eine Industriereligion, ein Utilitarismus in kirchlicher Gestalt. Das Christentum wird in eine Nützlichkeitslehre verwandelt. Das Recht auf persönliche Bibellektüre, wie sie sich das Volk in der ersten Reformation erkämpfte, wird von der Gegenreformation der Bonnaler Volksaufklärer zunichte gemacht: „Die ganze Bibel, von Anfang des ersten Buches Moses bis zur Offenbarung Johannes (…) ist nicht zur Kopfübung des Volkes bestimmt, und taugt nicht dazu“296. Angesichts einer derart rabiaten Zensur und angesichts solch tiefgreifender Eingriffe einer reformwütigen Obrigkeit in das Religionsverständnis des einfachen Mannes ist es kein Wunder, dass die neue volkspädagogische Erziehungslehre starke Widerstände in der Dorfbevölkerung hervorruft. Im Grunde inszeniert Pestalozzi – aufklärungsideologisch verzerrt – jetzt einen Kulturkampf zwischen Stadt und Land. 292 LG, S. 524 Ebda. 294 LG, S. 751 295 LG, S. 717 296 LG, S. 752 293 153 Der Hauptgegner der ‚neuen Ordnung‘ im Dorf Bonnal ist die religiöse Orthodoxie. Ihre Vertreter bezeichnet Pestalozzi als „Hartknopfengeschmeiß“297 nach dem alten Sittenrichter im Dorf. Diese durchaus schriftkundigen Leute werfen dem Leutnant Glüphi vor, dass er nur im Interesse der Kaufleute die Arbeitsschule eingerichtet habe. Sie erwarten von der Schule hingegen Bibelkenntnisse und das Einimpfen christlicher Tugenden, aber keine „Kaufhausarbeit im Tempel zu Jerusalem“298. Am besten wäre es, wenn man mit ihm so verführe, „wie es der liebe Heiland den Taubenkäufern und Geldwechslern gemacht habe“299. Auch für einen Generationenkonflikt im Dorf machen sie ihn verantwortlich. Die neue Schulordnung führe dazu, dass ihre Kinder zwar mehr lernten, jedoch „geizig und hochmütig“ würden und die Eltern „verachten“300. Zu diesem „Hartknopfenvolk“301 gehören keineswegs nur Bauern, sondern auch jene Teile der Unterschicht, die Pestalozzi in die heimindustrielle Hochleistungsmaschinerie zwingen will. Ihnen drohen mit dem Verlust alter religiöser Grundsätze auch handfeste materielle Nachteile, vor allem der Fortfall der bräuchlichen Mildtätigkeit, die bei der Vergabe von Unterstützung und Almosen nicht nach der Arbeitsleistung und dem Zustand der Haushaltung fragt. Hierin liegt für Pestalozzi dann auch das „Geheimnis der 297 LG, S. 532 LG, S. 535 299 Ebda. 300 LG, S. 599 301 LG, S. 544 298 154 Abgötterei“302, weil sie sich an „dem Volksgefühl Auffallendes, Wahres und Gutes und Gutes“303 sehr eng anschließe. Fälschlicherweise werfe sich die volksgemäße Religion „in die Arme der gegen die Leidenden immer teilnehmend, gegen die Verwahrloseten immer sorgfältig erscheinenden Abgötterei“304. Für Arners Pläne wiederum, die sich auf mehr Produktivität richten, ist die Religiosität des Volkes „eine Herzenspest“305, ähnlich wie der frömmelnde Pietismus. Die alte Religion hindere den Fortschritt. Für die Dorfbevölkerung hingegen herrscht in der neuen Industrieschule der Antichrist, „da (sei) eine gottlose Ordnung“ und man handele nicht anders, „als wenn es völlig genug sei, wenn die Kinder nur die Freßordnung recht lernen, und Geld verdienen, als wenn an allem anderen gar nichts gelegen wäre“306. Eine literarisch höchst brüchige Konstruktion muss daher erweisen, dass auch die Volksaufklärung Barmherzigkeit und Mitleid kennt. Der Pfarrer hält eine fulminante Kinderlehre gegen das Predigen und Maulbrauchen in der Religion307 und wirft seinen Zuhörern vor, dass sie sich statt um die Bibel lieber um die „Waislein“308 kümmern sollten. Diese Ansprache hat zur Folge, dass die Bauern einem kinderreichen Witwer, dem seine Frau gestorben, von den Gemeindediensten befreit 302 LG, S. 753 LG, S. 754 304 Ebda. 305 LG, S. 693 306 LG, S. 619 307 LG, S. 578 ff 308 LG, S. 579 303 155 und kostenlos mit Holz versorgt wird, „damit der Junker und Pfarrer sehen, daß sie auch Mitleid haben können“309. Diese karitative Handlung, muss Pestalozzi jetzt aber wieder aufs Brauchtum zurückführen, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. Denn auch das Dorf kennt natürlich eine rudimentäre Form der Sozialfürsorge: „(E)s ist ein Herkommen im Dorf (…), daß immer sieben arme alte Männer so fronungsfrei ihren Bürgergenuß beziehen sollen“310. Auch die ‚neue Ordnung‘ im Dorf hat also gar keine Innovation durchgesetzt, sondern nur auf das alte Brauchtum zurückgegriffen. Damit Pestalozzis Argumentation nicht vollends zu Staub zerfällt, schreiben sich die Aufklärer einzig noch das Verdienst zu, dass durch ihre Intervention endlich einmal ein erweckter Armer in den Genuss einer bräuchlichen Sozialleistung gekommen sei. Diese sei „bei Mannsdenken doch nie an jemand andern, als an Lumpen“311 gelangt. Das Konstrukt des ‚würdigen Armen‘ ersetzt jetzt also ein Prinzip, das bisher ohne Ansehen der Person verfuhr. Durch Tugendhaftigkeit, durch Arbeitsamkeit und Sparsamkeit haben sich die Armen ihre Altersversorgung lebenslang zu verdienen. Im neuen System stellt die Volksaufklärung den Armen eine ganz neue Form der Unbehaustheit in Aussicht. Der Pfarrer donnert von der Kanzel: 309 LG, S. 582 LG, S. 582 311 Ebda. 310 156 „Die ganze Natur und die ganze Geschichte rufe dem Menschengeschlecht zu, es soll ein jeder sich selbst versorgen, es versorge ihn niemand, und könne ihn niemand versorgen“312. Was Pestalozzi hier vorweg nimmt, ist im Grunde eine libertäre Sozialpolitik, die hinausläuft auf das Prinzip: ‚Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‘. Was wiederum der Pfarrer in seiner Predigt der neuen Arbeitsreligiosität und des IndustrieChristentums auch in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt. Das neue Gesetz laute nun: „(H)ilf dir izt selber, du bist erzogen!“, dieses „liege in Gottes Namen in der Natur“313. Die Pädagogik wird so zu einem kostengünstigen Ersatz für alle bräuchlichen Sozialleistungen. Die Einstellung der Bauern und Wohlhabenden im Dorf gegen die Armen ändert sich in Pestalozzis Fiktion im Laufe von Arners Regiment grundlegend. Die Reinoldin, Tochter des reichsten Bauern im Dorf, gab bisher willig Almosen: „Bis jetzt tat sie (die Almosen) als eine Art Schuldigkeit, so ohngefähr wie rechte Leute Zoll und Zehnten abstatten, gern und willig“314. Seither kam sie jedoch zur Vernunft und in „Eifer für die neue Ordnung“. Sie stellt ihr Verhalten komplett um: „Sie war von jeher wohltätig, aber jetzt, das sie sah, daß der Arbeitslust, und die Anführung zur Ordnung und zum Sparen 312 LG, S. 652 LG, S. 652 314 LG, S. 558 313 157 den armen Leuten in einer Woche mehr aufhilft als man ihnen mit keinem Almosen bei Jahren aufhelfen kann, so änderte sie zur Stund hierüber ihre Art, und schlug auch der besten Gevattermeisterin einen Mundvoll Brot ab“315. Die materielle Hilfe soll durch eine kostengünstigere neue Mentalität ersetzt werden. Das „Almosen ist nicht ein Opfer der Weisheit und Güte sondern ganz etwas anders“316, schreibt Pestalozzi. Dieses Instrument traditioneller Fürsorge wird zerschlagen, um unter dem unerbittlichen Zwang der Not eine geforderte neue Arbeitsmoral durchzusetzen. Nicht nur das Wetter, auch die Aufklärung erzeugte die Hungerkrisen jener Zeit. Um zum Erfolg zu gelangen, muss die Aufklärung ‚Partner‘ in jener Kultur finden, die sie zu vernichten trachtet. Als Folie und Blaupause dient hintergründig hierbei immer Hirzels Bauer ‚Kleinjogg‘, dieses Unikum im dörflichen Raum, der deshalb zu Ruhm gelangte, weil er so einzigartig war. Auch die Aufklärer in ‚Lienhard und Gertrud‘ stoßen auf solche Solitäre. Diese können jene kommunikative Schwelle überwinden, die zwischen aufklärerischer Sprache und Dorf-Idiom die Verbreitung der Vernunft verhindert. Im Roman ist dies der Lindenberger, ein erster erweckter ‚neuer Christ‘, der nach Ansicht des Schulmeisters „dem Hartknopfengeschmeiß den Kopf zertreten“317 wird. Hierzu ist er geschickter als die sprachfernen Vertreter von Patriziat und 315 LG, S. 557 Ebda. 317 LG, S. 545 316 158 Landbürgertum, weil er die neuen Grundsätze in „eigene Ausdrücke und Bilder“318 kleiden kann. Jenen Paragraphen, der den Gewinn Lindenbergers für das neue Regime beschreibt, hat Pestalozzi einen ‚Schritt zur Volkserleuchtung, der auf Fundamenten ruhet‘ genannt. Der Renegat dient den Volksaufklärern als Kundschafter in jener verschlossenen Welt, die dem Neuen so viel Widerstand entgegensetzt. Der Spion kennt die Mentalität, er sieht die Fehler in der Strategie und dient nicht zuletzt als Beispiel für andere. Im Roman bewirkt der Einsatz Lindenbergers wahre Wunder: „Das Schrecklichste für dieses Geschmeiß, dessen ganze Kraft im Maul und in leeren unverständlichen Worten bestund, war des Mannes seine Kürze, und daß ihn jedermann verstund und verstehen mußte“319. Ein weiterer Taschenspielertrick, mit dem die Aufklärer ihren neuen Grundsätzen Eingang verschaffen, besteht in der Erfindung einer ‚Tradition hinter der Tradition‘, die allerdings völlig ahistorisch ist. Die alte Bauernwelt beruhte bekanntlich auf der Idee der Unveränderlichkeit. Jeder wirtschaftete so, wie es sich über Jahrhunderte bewährt hatte, den sozialen Zusammenhalt der Dorfbewohner regelte das überkommene Brauchtum. Diese bestehende schlechte Ordnung im Dorf wird von der neuen Herrschaft jetzt als Abkehr von einer noch älteren Ordnung beschrieben, in der vorgeblich jene Zustände geherrscht hätten, welche die Aufklärung verlangt. Dies dient 318 319 Ebda. LG, S. 545 159 auch als Stütze der erfolgten Reformen, denn alles Erreichte steht noch auf weichem Grund: „Alles Gute ist noch nagelneu, der alte Sauerteig noch nichts weniger als tot, man braucht nur Wasser schütten, so geht er in allen Ecken wieder auf“320. Denn von den Dorfbewohnern „(sei) nicht der zehente Teil (…) zufrieden, daß es ist, wie es ist, und die so am meisten zufrieden tun, sind Lumpenleute, denen die Kinder mehr Geld heimbringen als vorher“321. Als Arner dann schwer erkrankt, gerät das volkspädagogische Projekt in die Krise, der Widerstand formiert sich. Eine Reihe von Leuten würden den Junker vollends vergiften, „wenn sie ein Kraut oder ein Pulver, das für den Tod gut ist, gehabt oder gewusst hätten“322. Auch aus diesem Grund bedarf es der genannten Legitimation durch eine ‚Tradition hinter der Tradition‘. Das weiseste Dorforakel muss daher auf die Puppenbühne des Romans. Es ist der alte Renold, ein neunzigjähriger Greis, dessen Gedächtnis weiter zurückreicht als das aller anderen Dorfbewohner. Er berichtet den erstaunten Dorfbewohnern, „wie vor altem in allen Stücken eine Ordnung gewesen, die im Grunde derjenigen vollends gleich sei, die (der Junker) izt einführe“323. Auch auf dem Gebiete des Brauchtums und Sexualmoral „erneuerte (Arner) wieder die alten Dorfsitten, die der 320 LG, S. 606 LG, S. 619 LG, S. 641 323 LG, S. 697 321 322 160 Unschuld und dem späten Reifen der Kinder so nützlich waren“324. Ein weiterer „alter Landmann“ stößt ins gleiche Horn und beglaubigt, „es seie vor hundert und mehr Jahren, so wie ihn die Alten berichtet, von der Zeit der Reformation an, bis auf seinen Vater selig, beinahe eine gleiche Ordnung gewesen“325. So erhält die Modernisierung die volksnahe Weihe einer Traditionalität vor der real existierenden Tradition. Da aber Pestalozzis Roman sich auch den konkreten Erfahrungen des Verfassers verdankt, bricht an unerwarteten Stellen dann immer wieder die Realität durch. So wird an einer Stelle auf Befehl einer jungen Magnatin ein Bauer mit Hunden gehetzt. Plötzlich scheint dort dann das bäuerliche Wissen um die wirkliche Vergangenheit durch die Strickmaschen des Romans, die Legitimationsgroßväter und ihre Märlein müssen dann schweigen: „Selbst die Ältesten sprachen nichts dagegen – sie sagten vielmehr mit allem Nachdruck, das sei etwas Unerhörtes, und bei Mannsdenken nicht mehr geschehen – auch die schlechtesten und wildesten Junkern haben es seitdem man 1700 zähle, nicht gewagt die Hunde wider einen Bauern zu hetzen, wie man sage, des vor altem begegnet sei“326. Im Kontrast hierzu muss aber wohl die materielle Ausbeutung zugenommen haben, im gleichen Maße, wie die barocken Jagdfreuden zurückgingen: 324 LG, S. 739 LG, S. 818 326 LG, S. 621 325 161 „Wir ziehen izt, [sagt Arner,] wo der Großvater einen Gulden aus diesen guten Dörfern bezogen, mehr als zehen“327. Es bleibt noch die Frage, wo im neuen dörflichen Leben das Vergnügen bleibt? Das traditionelle Wirtshaus- und Spinnstubenleben will Pestalozzi durch aufgeklärte Feste der Tugend ersetzt wissen, wo die Dorfbewohner ihr neues industrielles Glück feiern. Eine damals unter Aufklärern grassierende Idee.328 Vor allem aber wird ‚das neue Dorf‘ als Familie gedacht, wo der Gutsherr und seine Adjutanten die Rolle gestrenger und gerechter Väter einnehmen. In diesem System tritt ein patriarchalisches Modell an die Stelle der Sozialkontrolle durch ‚das ganze Dorf‘: „Alle Kinder die da waren, von des Junkers Karl an, bis auf den Kühhirten Elsi, mußten jetzt in Reihen zu ihnen hinzu, ihnen die Hand geben, und ihnen Vater und Mutter sagen“329. Vor allem aber hält die Mathematik in Gestalt der Statistik Einzug ins Dorf. Ein Dorfwirtschaftsbuch führt penibel Rechnung über die Sittlichkeit und das Verhalten jedes einzelnen Dorfbewohners. „Arners Gesetzgebung“330 bemüht sich, eine „große kaufmännische Ordnung in diesem Geschäft“331 327 LG, S. 637 s. bspw. Beate Heidrich: Fest und Aufklärung. Münchner Vereinigung für Volkskunde, München 1984 329 LG, S. 496 330 LG, 4. Buch, §51 ff 331 LG, S. 717 328 162 zu etablieren und „in den dunkeln Lumpenwinkeln des Dorfs allenthalben das helle Licht des Einmaleins (an(zu)zünde(n)“332. Pestalozzis Roman lässt alle sozialen Gruppen am Ende Romans als Sieger erscheinen: die Kaufleute und Obrigkeit, den Junker und die Unterschichten. Selbst Bauern sind zufrieden, weil ihnen die Möglichkeit Zehntablösung geboten wird. des die die der Trotzdem beruhte Pestalozzis Modell bei Erscheinen des Romans auf wirtschaftlichen Annahmen, die schon bald in die Krise geraten würden. Der Niedergang der Proto-Industrie, derjenige der textilen Heimarbeit, begann am Ende des 18. Jahrhunderts und setzte sich unaufhaltsam fort. Pestalozzis Zukunftsmodell war, im historischen Rückblick, bereits eine rückwärtsgewandte Utopie. Das englische ‚Maschinenwesen‘ riss den Markt für Baumwolltuch unaufhaltsam an sich. Von einem Niedergang der alten Volkskultur aber sollten wir nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts sprechen. Die dörflichen Unterschichten wurden in einem langandauernden Prozess zu den Opfern der hier propagierten aufklärerischen Maßnahmen. Nach dem Verlust der Allmende und der bräuchlichen Unterstützung blieb ihnen nur eine neue Arbeitsmoral, die ihnen nicht nur längst ohne Nutzen war, sondern ihnen auch zunehmend weniger reale Beschäftigung bot. Der verschärfte Niedergang des Heimgewerbes in Kombination mit einer Serie von Hungerkrisen führte sie in die Hölle des Pauperismus – und nicht nach Bonnal. 332 Ebda. 163 3. Volksaufklärer an der Macht: Das Beispiel Zürichs und der reformierten Schweiz Die Schweiz ist für die Untersuchung des Verhältnisses von gebildeten Bürgern und Landbevölkerung ein interessanter Gegenstand, weil hier nicht, wie in anderen Staaten, die Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Adel das Bild komplizieren. Wo die Forschung in deutschen Staaten „die ökonomisch abhängigen bürgerlich Gebildeten ohne selbständiges politisches Gewicht als bedeutsame Trägerschicht des aufklärerischen politischen Bewusstseins“333 nennt, da entstammte in der Schweiz die Masse der Aufklärer den alteingesessenen Familien der politischen Führungseliten selbst. Ihr aufgeklärtes Engagement hinderte sie keineswegs am Aufstieg in hohe und höchste Staatsämter. Fast durchgängig war in den ‚Vororten‘ der Schweiz Aufklärung mit Karriere verbunden. Im ‚Dachverband‘ der Schweizer Aufklärungsbewegung, in der Helvetischen Gesellschaft, organisierte sich „die damalige Elite 333 Hans Erich Boedeker / Ulrich Hermann: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung: Fragestellungen. In Dies. (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987 [= Studien zum 18. Jahrhundert 8], S. 3 – 9, hier: S. 7 164 der Schweiz“334. Die Konflikte zwischen radikalen und gemäßigten Aufklärern waren hier Konflikte innerhalb einer patrizisch-stadtbürgerlichen Herrschaftsschicht. Die Linien der Auseinandersetzung verliefen zumeist zwischen dem Führungsnachwuchs und der etablierten älteren Generation, zwischen patrizisch regierten Stadt- und magnatisch regierten Landkantonen, zum Teil auch entlang der konfessionellen Grenze zwischen reformierten und katholischen Landesteilen. Eine Hochburg der Schweizer Aufklärung war Zürich. Die Bürger an den Ufern der Limmat stellten innerhalb der Helvetischen Gesellschaft bis in die achtziger Jahre die stärkste Gruppe. Ihr Anwachsen wurde von dem ersten Präsidenten der Gesellschaft, dem Zürcher Stadtarzt Johann Caspar Hirzel, intensiv vorangetrieben. Wie in den deutschen Staaten war auch hier der Träger aufklärerischen Denkens die „Bourgeoisie d’ancien régime“335, nur dass diese Bourgeoisie in der von Verlegerkaufleuten und bürgerlichen Magistraten regierten Republik Zürich die Schalthebel der Macht bereits in den Händen hielt. Damit konnte sich die soziale Dynamik der Aufklärung ohne Verzerrungen durch den Absolutismus der Fürsten und des Adels entfalten. Selbst der Klerus war in Zürich Staatskirche, ihr Gott war der Gott der Kaufleute, die klerikale Führung entstammte durchweg den regierenden Familien. Mehr noch als für die deutschen Staaten galt für 334 Ulrich Im Hof / Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft. 2 Bde., Frauenfeld u. Stuttgart 1983, Bd. 1: Ulrich Im Hof: Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Struktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft. S. 82 335 Zit. n.: Boedeker/Hermann, a.a.O., S. 5 165 diese Republik der Satz, dass „die entscheidende gesellschaftliche Grundlage der Aufklärung (…) ihre Staatsnähe (war)“336. Anders auch als in den deutschen Staaten, wo das Objekt der Aufklärung Fürsten, Adel und Klerus umfasste, spielte die Erziehung und Belehrung der Herrscher im Schweizer Aufklärungsdiskurs eine untergeordnete Rolle. Der barocke, prachtentfaltende Regierungsstil der älteren Generation wurde zwar beklagt, ihm wurde ein asketisch-aufgeklärtes Tugendideal entgegengesetzt – das Schwergewicht ruhte jedoch eindeutig auf ökonomischen Maßnahmen, die auf die MobIlisierung von besteuerbaren Ressourcen und auf agrarische Ertragsmaximierung zielten. Die Aufklärung in Zürich war ein sozio-ökonomisches Projekt, das auf landwirtschaftliche und heimindustrielle Entwicklung setzte. Zum Objekt des Aufklärungsprozesses wurde so primär die Landbevölkerung. In Zürich, wie in der Schweiz überhaupt, gewann im aufgeklärtem Diskurs folgerichtig die ‚Volksaufklärung‘ einen Stellenwert, den sie in den deutschen Staaten nie erreichte. In Zürich war diese Volksaufklärung eng mit dem Namen Jakob ‚Kleinjogg‘ Guyers verknüpft, und mit dem seines Entdeckers, Johann Caspar Hirzel. Deshalb, weil Kleinjogg, der ‚philosophische Bauer‘, kein repräsentativer Vertreter seines Standes war, sorgte sein Erscheinen aus dem Nichts in der 336 Hans Erich Boedeker: Prozesse und Strukturen politischer Bewusstseinsbildung der deutschen Aufklärung. In: Boedeker/ Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung. A.a.O., S. 10 – 31, hier: S. 10 166 aufgeklärten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts für europaweites Aufsehen. Das Faktum, dass ausgerechnet ein Bauer sich derart ‚erleuchtet‘ verhalten sollte, wie es sein Biograph Hirzel beschrieb, glich einem Mirakel. Ein Besuch auf Kleinjoggs Hof gehörte seitdem zum Pflichtprogramm aufgeklärten Reisens in der Schweiz. Kleinjoggs Existenz galt verschiedenen Interessengruppen als Beleg für Umsetzbarkeit ihrer Pläne inmitten einer passivrebellischen Landbevölkerung. An seiner Person ließen sich Konzepte für neue Lebensmodelle festmachen, auch wenn Kleinjoggs reale Gestalt hierbei stark verzeichnet wurde. Der ‚Philosophische Bauer‘ stand im Fokus aufgeklärter Utopien für eine ‚bessere ländliche Welt‘. Weil Kleinjogg vielen als Matrix gesellschaftlicher Zielprojektion erschien, wurde sein Hof zu einem „anderen Mekka“337 aller gebildeten Reformer. In der Diskussion um diesen bäuerlichen Solitär überschnitten sich theoretische Diskurse jener Zeit: Die Physiokraten sahen ihre These von der Produktivität einer ‚entfesselten Landwirtschaft‘ bestätigt; die Kameralisten erwiesen an Kleinjoggs Beispiel, dass die steigenden Einnahmen eines autarken Handelsstaates keine Chimäre seien, sofern Fleiß und Peuplierung alle Ressourcen nutzten, und zwar solange, bis kein Schuhbreit Land mehr öde läge; die Neologen der aufgeklärten Theologie nahmen Kleinjoggs Tugenden in ihren innovativen Volkskatechismus auf, wonach sich der Christ nicht durch Bibelkenntnis und im ‚äußerlichen Gottesdienst‘ 337 Fritz ernst: Kleinjogg der Musterbauer in Bildern seiner Zeit. Zürich / Berlin 1936, S. 19 167 zu beweisen habe, sondern durch die unermüdliche Arbeit im Diesseits; die an Rousseau anknüpfenden Naturphilosophen schließlich fanden in Kleinjogg ihre Annahme bestätigt, dass die Vernunft mit ursprünglichen, ‚unverbildeten‘ Natur des Menschen identisch sei. Von dem überschwänglichen Unisono der Zeitgenossen unterscheidet sich die Forschung heute erheblich. Ein einheitliches Urteil ist nicht zu finden. Die Einschätzungen Kleinjoggs und seines Biographen Hirzel reichen vom Lob der Fortschrittlichkeit bis hin zur Verurteilung ihres reaktionären Charakters. Während Thomas Schärli die Grundsätze von Hirzels ‚Philosophischen Bauern‘ „ein wahres Arsenal aufgeklärter Maximen und Orientierungshilfen“338 nennt, besteht Rudolf Schenda auf dem reaktionärem Charakter des Landmanns und seines Biographen – nicht erst aus heutiger Perspektive, sondern schon zu deren Zeit. Schenda schreibt über Hirzel: „Nein, man braucht nicht fortzufahren, diesen Brei von phantasieund liebefeindlichen, prophylaktischordnungshüterischen und antiaufklärerischen (weil die Unmündigkeit bewahrenden) Halb-Ideen aufzurühren: Nicht 338 Thomas Schärli: Der Musterbauer und sein Biograph. In: Lob der Tüchtigkeit. Kleinjogg und die Zürcher Landwirtschaft am Vorabend des Industriezeitalters. Zum zweihundertsten Todesjahr Kleinjogg Guyers (1716 – 1785). Hg. v. Staatsarchiv Zürich, Zürich 1985, S. 39 – 71, hier: S. 65 168 aus unserer Sicht ist er ein Reaktionär, er war es (…) schon zu seiner Zeit.“339 Schendas Missverständnis besteht darin, den Prozess der Aufklärung an den Fortschritt der Mündigkeit zu koppeln. Die Volksaufklärung – wie auch die Aufklärung generell – sah aber nirgends eine Mündigkeit des ‚gemeinen Volkes‘ vor. Die Mündigkeit ist kein Indikator für aufgeklärtes oder reaktionäres Denken in jener Zeit. Hinter der Stigmatisierung Hirzels als Reaktionär steht folglich eine ideengeschichtliche Auffassung, die bestrebt ist, ein durchweg positives Bild der Aufklärung zu ‚retten‘. Deshalb werden alle Schattenseiten negiert und nachträglich ausgegrenzt. Auch die Zugehörigkeit zur Oberschicht wird zu einem Ausschlusskriterium aus dem aufgeklärten Großreich des Guten, Wahren und Schönen, wie bspw. bei Holger Böning: „Johann Caspar Hirzel als Angehöriger der schmalen regierenden Schicht Zürichs kann, wenn er seinen Protegé der europäischen Öffentlichkeit als Muster eines Landmanns vorstellt, trotz aller gern und häufig gebrauchten aufklärerischen Versatzstücke, niemals leugnen, dass das 339 Rudolf Schenda: Der gezügelte Bauernphilosoph oder Warum Kleinjogg (und manch anderer Landmann) kein Freund des Lesens war. In: schweizerisches Archiv für Volkskunde 76 (1980), S. 209 – 228, hier: S. 227 169 Lob für seinen ‚philosophischen Bauern‘ das der Obrigkeit für einen guten Untertanen ist“340. Nach der impliziten Logik dieses Zitats muss es sich um bloße ‚Versatzstücke‘ von Aufklärung schon deshalb handeln, weil Hirzel zur Führungselite einer Tuchmacherstadt zählt, die Interesse an guten Untertanen hat. Eine stete Divergenz zwischen den sozialen Zielsetzungen von Volksaufklärung und einem obrigkeitlichen Staat wird hier unabgeleitet vorausgesetzt, obwohl in historischer Sicht die Volksaufklärung sich zutreffender als Strategie eines defensiven und ökonomischen Modernisierungsprogramms aufgeklärt-absolutistischer oder patrizischer Policey-Staaten beschreiben ließe: „Der absolutistische Staat setzte den Rahmen für öffentliches und politisches Handeln, während der Rationalismus seine philosophische Untermauerung lieferte“341. Der Schweizer Dachverband der Aufklärung, die ‚Helvetische Gesellschaft‘, war geradezu „repräsentativ als Vereinigung der staatstragenden Kreise und der intellektuellen Elite“342, wobei im 340 Holger Böning: Gelehrte Bauern in der deutschen Aufklärung. In: Buchhandelsgeschichte 1987/1, S. 1 – 27, hier: S. 11 341 Marc Raeff: Der wohlgeordnete Policeystaat und die Entwicklung der Moderne im Europa des 17. Und 18. Jahrhunderts, In: Ernst Hinrichs (Hg.): Absolutismus. Frankfurt a. M. 1986, S. 310 – 343, hier: S.311 342 Ulrich Im Hof / Francois de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz. Frauenfeld u. Stuttgart 1983, Bd. I: Ulrich Im Hof: Die Entstehung einer politischen 170 Falle Zürichs diese intellektuelle Elite zugleich den führenden Familien des Stadtpatriziats entstammte. Aus dieser Perspektive stellte auch Johann Caspar Hirzel keinen ‚reaktionären Sonderfall‘ einer ansonsten emanzipatorisch gesinnten Aufklärungsbewegung dar. Vielmehr war er ein überaus erfolgreicher Vertreter der Schweizer Aufklärungsbewegung, deren Gedankengut erst aus heutiger Perspektive ‚reaktionär‘ erscheint. Von den Zeitgenossen hat folglich auch niemand die Reaktionsthese geäußert. Rousseau, das sentimentale Gewissen der europäischen Aufklärung, äußerte den Wunsch, in Zürich sterben zu dürfen, weil er dort, in der Gesellschaft aufgeklärter Reformpatrizier, seine Utopie einer regierenden Geistesaristokratie verwirklicht glaubte.: „Rousseau (sieht) in den Zürichern seine eigentlichen Nachfolger“343. Neben Rousseau gab es eine Vielzahl weiterer berühmter Zeitgenossen, die sich überschwänglich über die geglückte Koexistenz des philosophischen Bauern mit den patrizischen BodmerSchülern in Zürich äußerten. Auch abseits vom Höhenkamm der Kulturgeschichte wurde Kleinjogg als utopische Möglichkeit eines urbanisierten, künftig verbürgerlichten Landlebens rezipiert. Christian Friedrich Daniel Schubart entwarf in seiner ‚Deutschen Chronik‘ das Bild einer ländlichen Welt, wo der Geist Kleinjoggs bereits ganze Dorfpopulationen infiziert hat: Öffentlichkeit in der Schweiz. Strujktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft, S. 9 343 Olga v. Hippel: Die pädagogische Dorf-Utopie der Aufklärung. Berlin / Leipzig 1939, S. 28 171 „Ich kam auf ein großes weites Feld; und wunderte mich, wie alles so weislich angebaut war. Der Geist des Kunstfleißes herrschte da überall, - und das Ideal des philosophischen Bauern war hier realisiert. – Fruchtbare Äcker, Wiesen mit fettem wallendem Grase bedeckt; Hügel, die Epheu und Reben umkrochen, eine wohlgehaltene grasende Heerde, die ihren Dank für die weise Sorgfalt ihrer Pfleger gen Himmel zu brüllen schien; ländliche Gärten, in denen Schönheit, Ordnung und Nutzbarkeit vereiniget waren!“344 Diese neue Welt vor den Toren der Städte sollte neben einem Überfluss an Nahrung auch ästhetische Befriedigung produzieren. Das Bild der Aufklärung von einem künftig anderen Landleben bestimmte jene fruchtbare, stark peuplierte Welt, deren Bewohner in einem harmonischen Patriarchalismus leben. In ihr sind Bauern und Tagelöhner so ‚aufgeklärt‘, dass sie ihre Kenntnisse auf das für ihren Stand Notwendige beschränken, und sie sind in ihrer emotional verankerten Untertänigkeit der Obrigkeit so dankbar, dass bei jeder Verordnung und jedem Mandat die Tränen strömen, angesichts der unermesslichen Güte und Weisheit ihrer Herrschaft. Dieses Bild entsprach in hohem Maße dem Ideal einer aufgeklärten bürokratischen Herrschaftsschicht, die sich von derart umerzogenen Untertanen eine Umsetzung ihrer Reformen ohne große Reibungsverluste erhoffen durfte. Vor dem Hintergrund dieses Ideals wurde ein atypischer 344 Deutsche Chronik auf das Jahr 1774. Hg. v. Christian Friedrich Daniel Schubart, Reprint Heidelberg 1975, S. 365 172 Sozialcharakter wie Kleinjogg zum paradigmatischen Vorbild. Es ist kein Wunder, dass dieser Landmann „von sehr großer Weisheit und von dem vortreflichsten Herzen“345 zum Mustertypus auch in jenen für das Volk bestimmten Kalendern wurde, womit die Aufklärung den ‚Unrat‘ der traditionalen Volkslektüre ersetzen wollte. Im Kern aber handelte es sich bei den Begegnungen zwischen Jakob Guyer und Johann Caspar Hirzel aber um ein ‚Gipfeltreffen‘ in einer unverändert ständischen Gesellschaft. Der philosophische Bauer wie auch sein Biograph zählten beide zu den Führungseliten – der eine auf dem Land, der andere in der Stadt. Kleinjogg „gehörte zur privilegierten Schicht der Vollbauern und damit zur damaligen ländlichen Oberschicht“346, Hirzel entstammte „einem der mächtigsten Geschlechter“347 des städtischen Patriziats in Zürich. An den Titeln von Hirzels lobhudelnden Gedenkreden lässt sich die Karriere eines Aufklärers in Zürich anschaulich nachvollziehen: vom simplen Stadtarzt bis hin zum Mitglied des Geheimen Rats348. 345 Calender fürs Volk. Hannover 1783, S. 72 Hans Ulrich Pfister: Kleinjogg Gujer, eine Leitfigur. In: Lob der Tüchtigkeit. a.a.O., s. 7 – 24, hier S. 11 347 F. Ernst: Kleinjogg, a.a.O., S. 8 348 1. [J.C.H.:] Denkmal Herrn Doctor Laurenz Zellweger aus Trogen im Appenzeller-Land von der helvetischen Gesellschaft errichtet durch D. Joh. Caspar Hirzel, Stadtarzt in Zürich, Zürich 1765 2. [J.C.H.:] Das Bild eines wahren Patrioten in einem Denkmal Herrn Hans Blaarers von Wartensee, weiland hohen Oberaufsehers über die geistlichen Güter der Stadt Zürich. Von D. H.C. Hirzel, ersten Stadtarzt und des Gr. Raths in Zürich, Zürich 1787 346 173 In Hirzels Lebenszeit vollzog sich ein ökonomischer Umbruch in Zürich. Die Kaufherren der Stadt hatten eine Trendwende auf dem Markt heimindustrieller Textilien gewissermaßen ‚verschlafen‘. Die Baumwolle verdrängte zunehmend das Leinen349. Zuvor hatte die ländliche Gesellschaft längst zwei parallele Erwerbszweige ausgebildet, die Landwirtschaft und die Protoindustrie: „(D)ie Zeit von ca. 1750 bis 1765 (war) für den sozialen Wandel im Zuge der Protoindustrialisierung von entscheidender Bedeutung“350. Etwa zu diesem Zeitpunkt begannen in Zürich und den anderen Vororten der Schweiz die Schwierigkeiten beim Absatz von Leinentuch, das von der Baumwolle verdrängt wurde. Eine Rezession war die Folge, die in den Jahren 1770/71 kulminierte351. Zu Beginn dieser Krise der Heimindustrien erschien Hirzels ‚Philosophischer Bauer‘. Ökonomische Interessen und das Drängen auf Reformen im 3. [J.C.H.:] Denkrede auf Johannes Geßner, weiland Lehrern der Naturlehre und Mathematik, Chorherrn des Karolingischen Stiffts zum großen Münster in Zürich, Mitglied der meisten Europäischen Akademien der Wissenschaften; Stifftern und Vorstehern der naturforschenden Gesellschaft in Zürich. Von D. Hans Caspar Hirzel, des tägl. und geheimen Raths, erstem Stadtarzt und Examinator der Kirchen und Schulen; neuem Vorsteher der naturforschenden Gesellschaft in Zürich. Abgelesen den 5. Heumonat 1790. Zürich. 349 Zu den großen Linien dieses Wandels vgl.: Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München 2014 350 Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Göttingen/Zürich 1984, S. 140 351 Ebda., S. 139 174 Umfeld der Zürcher Naturforschenden Gesellschaft sind mit dieser wirtschaftlichen Krise weit eher verknüpft, als mit politischer Emanzipation. Für ein paar Jahre dominierte jetzt eine physiokratische Sicht auf die Welt, die Landwirtschaft sollte entfesselt werden. Ein Paradigmenwechsel deutete sich an, allerdings in defensiver Absicht. Denn die bestehende Herrschaft sollte durch neue Grundsätze abgesichert werden. Derartige Prozesse innerhalb von Führungseliten sind in der Regel mit einem Generationswechsel verbunden, den die Aufklärer höchst erfolgreich für sich gestalteten: „Von den 386 Mitgliedern der Helvetischen Gesellschaft brachten es etwa 130 zur Landvogtei oder zum Sitz im Kleinen Rat, etwa 60 sogar zu den hohen und höchsten Ämtern, zum Einsatz im Geheimen Rat oder zum Standeshaupt“352. Die Fragilität einer bereits vom Weltmarkt abhängigen Wirtschaft war in der Rezession offen zutage getreten. Zwar gelang der Zürcher Verlegerschaft innerhalb von ein oder zwei Dekaden der Umstieg auf die Produktion von Baumwolltuch, die sozialen Folgen waren zunächst jedoch fürchterlich. Heimarbeiter gerieten flächenhaft ins Elend, dort, wo sie zuvor noch in einem Minimallohnsystem existieren konnten, das ihre geringen Einkünfte als gottgewollten Antrieb zu unermüdlicher Arbeit verklärte. 352 Im Hof: Helvetische Ges., a.a.O., Bd. I, S. 113 175 Die Anstrengungen der aufgeklärten Wirtschaftspolitik richteten sich derweil darauf, ein zweites ökonomisches Standbein zu entwickeln. Die folgende „Anbauschlacht“ und „Kartoffelkampagne“353 sollte helfen, die Kosten der protoindustriellen Krise zu mindern. Denn bei der Armenversorgung stand auch der Staat in der Pflicht, bspw. durch den bräuchlichen Kornkauf in Notzeiten. In Zürich entstand das Konzept zweier wirtschaftlicher Leitsektoren, bestehend aus Heimarbeit und reformierter Landwirtschaft. Protoindustrie und Physiokratie gingen jetzt Hand in Hand, und es ist bezeichnend, dass zu jener Zeit, wo Zürich sein Augenmerk auf die Äcker richtete, im eher agrarisch strukturierten Bern eine spektakuläre Ausweitung der Heimindustrie stattfand354. Pestalozzis „große(s) Ideal einer Verbindung von Fabrik, Landbau und Sitten“355 bestimmte in Zürich wie in Bern die sozioökonomische Utopie der Aufklärer, nur dass dort, wo die Heimindustrie vorherrschte, der Landbau akzentuiert wurde, während im agrarischen Reich sich die Hoffnungen auf die Heimarbeit richteten. Hirzels Kleinjogg-Biographie einerseits und Pestalozzis ‚Lienhard und Gertrud‘ andererseits illustrieren nur diese Doppelhelix sozioökonomischer Modernisierung in der Schweiz. 353 Otto Sigg: ‚Ökonomie‘ zu Ende des Ancien Régime. In: Lob der Tüchtigkeit. a.a.O., S. 25 – 38; hier: S. 27 354 R. Braun: Ancien Régime, a.a.O., S. 124 355 Heinrich Pestalozzi: Werkausgabe in acht Bänden. Gedenkausgabe zu seinem zweihundertsten Geburtstag. Hg. v. Paul Baumgartner, Erlenbach-Zürich 1945, Bd. 4, S. 74 176 Die physiokratische Bewegung, die in Frankreich als Reaktion auf den Merkantilismus Colbert’scher Prägung entwickelt wurde, setze sich eine ‚Revolution von oben‘ im Konsens mit dem Staat zum Ziel. Sie sollte das wirtschaftliche Eigeninteresse der Landeigentümer freisetzen: „Das der natürlichen Ordnung entsprechende Eigeninteresse war also der beste Motor der Wirtschaft, insofern wirkte die Physiokratie in Richtung auf wirtschaftlichen Individualismus und Liberalismus, insgesamt war der Physiokratismus eine Gegenbewegung gegen den Merkantilismus, da er statt Bevorzugung der Manufakturen die Förderung der Landwirtschaft forderte (…), generell: statt Interventionen des Staates in die Wirtschaft einen sich selbst regulierenden freien Prozeß“356. Auch der defensive gesellschaftspolitische Charakter der physiokratischen Theorie wird von der Forschung betont357. Ebenso, wie der Physiokratismus in Frankreich „in erster Linie eine Theorie zur Rettung der Monarchie“358 gewesen ist, so diente er in der Schweiz als Bewegung zur Stabilisierung der Herrschaft des Zürcher Stadtpatriziats. Jedes Sinnieren über „Demokratisierungstendenzen“359, welche die aufgeklärten 356 Klaus Gerteis: Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik. In: Aufklärung. Jg. 2 (1987), Heft 1, S. 75 – 94. hier: S. 78 357 Siehe z.B.: Folkert Hensmann: Staat und Absolutismus im Denken der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung von Quesnay bis Turgot. Frankfurt a. M. 1976 358 Ebda., S. 309 359 Höchst apologetisch und ‚pro domo‘ z.B. bei: Hans Wysling: Gedenkblatt für Chlyjogg (1716 – 1785). Aus den Anfängen der Naturforschenden Gesellschaft. In: Vierteljahresschrift der 177 Physiokraten Zürichs befördert haben sollen, führt in die Irre. Wo der zuvor dominierende Merkantilismus den Staat als Interessenvertretung manufaktur- und verlagskapitalistischer Unternehmer betrachtete, sollte der Physiokratismus den gleichen Staat von den sozialen Folgekosten einer in die Krise geratenen Heimindustrie entlasten - durch die Freisetzung agrarkapitalistischen Wirtschaftens vor den Toren - in den weiterhin patrizischen Herrschaftsgebieten. Dass dann später, in der sogenannten ‚Regeneration‘ der Jahre 1830/31, eine erfolgreich erstarkte Landbourgeoisie schließlich das Patriziat entmachten würde, war keineswegs beabsichtigt, und konnte zu jener Zeit auch nicht vorhergesehen werden. Auf die physiokratische Lehre, die – wie Wilhelm Ludwig Wekherlin 1779 schrieb – „(g)egenwärtig (…) das Motto des erleuchtesten Theils der europäischen Staaten (ist)“360, setzte die Aufklärung große Hoffnungen, die Prinzipien dieser Theorie seien es auch, welche die Aufklärung zu verwirklichen habe. Wekherlin fasste diese Prinzipien in dreißig Paragraphen zusammen: An erster Stelle stand die unumschränkte Gewalt der Obrigkeit und die Beseitigung aller konkurrierenden ständischen oder kirchlichen Macht. Bereits an zweiter Stelle folgte die Volksaufklärung. Die anderen Paragraphen führten die Heiligung des Eigentums auf, die Koppelung der Steuerprogression an den Staatswohlstand, die Förderung des Großgrundbesitzes, die Subventionierung agrarischer Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1985) 130/3; S. 213 – 227, hier: S. 217 360 [W. L. Wekherlin (Hg.):] Chronologen. Ein periodisches Werk von Wekherlin. Vierter Band. Frankfurt u. Leipzig 1779, S. 24 178 Modernisierung durch die Regierungen, die Orientierung der Wirtschaftspolitik an Höchstpreisen für Agrarprodukte, und – etwas im Widerspruch hierzu – den unbedingten Freihandel361. Zusammengefasst sollte der aufgeklärte Staat also die Bedingungen für ein prosperierendes agrarkapitalistisches Unternehmertum schaffen. Politisch drängte die physiokratische Bewegung auf die Ausschaltung ständischer, volkstümlicher und religiöser Positionen, die der Ausbreitung ihres neuen Denkens im Wege standen. In der Schweiz, wie auch anderswo, konnten sich weder der Merkantilismus noch der Physiokratismus unverfälscht ausbreiten. Mit regionalen Unterschieden bestimmte hier die gleichzeitige Ausbildung von Verleger- und Agrarkapitalismus das Bild. Dieser Schweizer Modernisierungspfad war jedoch ein überaus erfolgreicher Weg in die Moderne. Das gern kolportierte Bild eines frommen Bauern- und Hirtenvolkes verdeckt das wahre Geschehen eher, als dass es dies illustriert: Die Schweiz war das Pionierland der industriellen Revolution in Kontinentaleuropa, dessen industrielle Potenz, bezogen auf die Einwohnerzahl, diejenige Englands bereits im 18. Jahrhundert übertraf362. Das Bild des tugendhaften Modellbauern, das Hirzels Biographie zeichnet, gilt es daher im Folgenden in einen nach den Maßstäben der 361 Ebda., S. 25 ff Vgl. hierzu: Bsilio M. Biucchi: Die industrielle Revolution in der Schweiz 1700 – 1850. In: Europäische Wirtschaftsgeschichte. Hg. v. Carlo M. Cipolla. Dt. Ausgabe hg. v. Karl Borchardt. Stuttgart/New York 1977, Bd. 4, S. 43 - 62 362 179 Zeit hochentwickelten industriellen Kontext zu stellen, auch und gerade im ländlichen Raum. In nimmermüder Monotonie wiederholte Johann Caspar Hirzel sein physiokratisches Credo, er formulierte es stets nahezu wortgleich. Ein volkswirtschaftliches Argument steht bei ihm im Zentrum, womit er auch die Biographie des ‚philosophischen Bauern‘ eröffnete: „Die Landwirtschaft ist unstreitig der Aufmerksamkeit der weisesten und Besten würdig, indem sich auf eine wohleingerichtete Haushaltung des Landes die Glückseligkeit des Staates gründet“363. Der Erfolg des Buches erklärt sich aus diesem Fokus auf den agrarischen Bereich. Ähnlich wie sein Kleinjogg betrachtete Hirzel zu diesem Zeitpunkt, inmitten der Krise der Heimindustrie, das Weben und Spinnen nur noch als eine Spitalsbeschäftigung zur Armenversorgung364. 1788, mit dem Aufschwung einer innovativen, diesmal baumwollbasierten Protoindustrie, revidierte er seine Position in Richtung auf eine Koexistenz von Heimarbeit und Landbau, wobei er die neue Konjunktur als eine Folge volksaufklärerischer Tugendlehren betrachtete: „Uebrigens vertrauen wir auf Gottes Vorsehung, welche die moralische und physische Welt mit gleicher Weisheit regieret, und zum allgemeinen Gesetze gemacht, daß 363 Die Wirthschaft eines philosophischen Bauers. Entworfen von H.C. Hirzel, M.D. und Stadtarzt in Zürich. Neue vermehrte Auflage. Zürich 1774, S. 3 364 Ebda. S. 139 f 180 Wohlstand immer Belohnung von Weisheit und Tugend bleibt. Dieses kann uns die Geschichte der Fabriken unseres Lands auf die einleuchtendste Weise belehren, da sie Folge war, des durch die Glaubensverbesserung erzeugten besseren Nationalcharakters, der sich durch die freye Anwendung der Vernunft, Arbeitsamkeit und Sittlichkeit auszeichnete. Behalten wir dieses bey, so wird Feldbau und Fabrikarbeit neben einander fortblühen, und ein zahlreiches Volk wird sich eines gesegneten Wohlstandes zu erfreuen haben. Es geschehe also!“365 Zu diesem Zeitpunkt verschmolzen Hirzels und Pestalozzis Ansichten nahezu. Gemeinsam ist beiden aber auch die völlige Blindheit für das Marktgeschehen, für Konjunkturen und für produktionstechnische Innovationen. Aller Wandel ist in ihren Augen einzig und allein die Folge einer reformierten Volkskultur. Bei Erscheinen seiner Kleinjogg-Biographie war Hirzel von solch versöhnlerischen Positionen noch weit entfernt. Die überschwängliche Rezeption des Buches als „Zürcher Bibel der europäischen Physiokratie“366 erklärt sich gerade aus Hirzels monomanischem Fokus auf den Agrarbereich, vor allem nach dem Erscheinen der französischen Übersetzung des Buches 365 [Joh. C. Hirzel:] Beantwortung der Frage: Ist die Handelschaft, wie solche bey uns beschaffen, unserm Lande schädlich oder nützlich, in Absicht auf den Feldbau und die Sitten des Volkes? Der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich vorgelesen von Hrn. Doktor Ratherr und Stadtarzt Hirzel. o.O. o.J. [ = Zürich 1788], S. 68 366 F. Ernst: Kleinjogg, a.a.O., S. 17 181 als ‚Socrate rustique‘. Die Zeit der Heimindustrie sei vorüber, schrieb Hirzel da, ihr „Verfall kann nicht ausbleiben“367. Zentrales Instrument und Motor, um physiokratisch in das Landvolk hineinzuwirken, waren für die Zürcher Reformer die ‚Baurengespräche‘, die regelmäßig von der Naturforschenden Gesellschaft vor den Toren der Stadt anberaumt wurden. Über den Ablauf informieren uns die Protokolle im Staatsarchiv Zürich: „Herr Stadt Arzt Hirzel machte wie gewohnlich mit einer nachdruklichen Anrede an die Landleüte den Anfang, worin er zeigte wie der Feldbau dem philosophe reichen Stoff zu Betrachtungen anbiete indem er nicht nur für sich selbst ein vollkommenes Bild von einer guten Ordnung überhaupt abgebe sondern auch zugleich ein Bild derjenigen Ordnung seye die in der ganzen moralischen Welt herrschen soll (…)“368. Der Verständigung untereinander dienten hingegen die Vorträge in den Räumen der Gesellschaft, wo Hirzels physiokratische Grundthesen papageienhaft einleitend stets am Anfang standen: „Es ist unstreitig, daß die Landwirthschaft der aufmerksamkeit der weisesten und besten allerdings würdig 367 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 400 Staatsarchiv Zürich, Archiv der Naturforschenden Gesellschaft [künftig abgekürzt: StaZNG], B IX, 67, S. 120 – 130: Relation der den 4ten December 1767, mit Landleüten aus dem Aüßeren Amt gehaltenen Unterredung, S. 120 368 182 ist, in dem solche als fundament der glükseligkeit eines Staates angesehen werden muss (…)“369. Auffällig ist, dass die desolate Lage der Landwirtschaft nicht einer traditionalen Wirtschaftsform zugeschrieben wird, sondern typischerweise einem „Verfall des Feldbaus“370. Der Bauer sei gewissermaßen ‚dekadent‘ geworden, und habe die weisen Methoden der Vorväter vergessen. Diese Ableitung ist typisch für die Volksaufklärung nicht nur in der Schweiz. Die eigene Gegenwart wird als Verfallszeit beschrieben, das Ideal hingegen liege in der Rückbesinnung auf eine graue Vorzeit. Die Zukunft wäre in einer utopischen Vergangenheit zu suchen. Auch um Eingang in eine traditionsgläubige Volkskultur zu finden, werden mythische Vorbilder konstruiert, die Moderne wird durch eine idealisierte Vorzeit beglaubigt371. Faktisch dagegen waren Allmend-Aufteilungen, Agrarkapitalismus und Mergeldüngung natürlich keineswegs ‚Tugenden nationaler Urahnen‘: 369 StaZNG, B IX, 68, S. 42 – 50: Von dem Zustand der Landwirthschaft in Weißlingen, vorgelesen von Hr. Doctor + Stadtarzt Hirzel Ao. 1762, S. 42 370 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 8 371 Zu diesem Verfahren in den volksaufklärerischen Schriften Jeremias Gotthelfs vgl.: Klaus Jarchow: Bauern und Bürger. Die traditionale Inszenierung einer bäuerlichen Moderne im literarischen Werk Jeremias Gotthelfs. [Hamburger Beiträge zur Germanistik 12], Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris, 1989 183 „(E)s ergibt sich, dass die von den Schweizern des 18. Jahrhunderts gegenüber dem Erbe der Ahnen empfundenen Verpflichtungen nur zum Teil auf Gegenwartsklage, gleichzeitige Vergangenheitsbeschwörung und damit ausgelebten Traditionalismus hinauslaufen. Der andere Teil ihres Nationalempfindens war zukunftsorientiert. (…) Im ‚Mythos Schweiz‘ gibt der Traditionalismus der Utopie – eines Wiederauflebens der nationalen Einigkeit im Geiste der Altvorderen – die Hand. (…) In diesem Sinne verstanden die Autoren ihr nationales Bewusstsein; die aus der Vergangenheit geschöpften Werte waren für sie Projektionen in die Zukunft“372. Auf diese Weise muss man auch den Ansatz der Reformer in der Naturforschenden Gesellschaft verstehen: Zum Zeitpunkt des Rütli-Schwurs, dies der Mythos, hätten rousseaustischnaturmenschliche Zustände geherrscht, auf die sich das Landvolk als Vademecum gegen die fortschreitende Dekadenz und den grassierenden Luxuskonsum zurückbesinnen möge. Die edle Einfalt des Wilden wird zum zivilisatorischen Ideal: „Wir würden finden, daß diese Wilden mit mehrerem Recht die gesitteten Gäste, die ihnen ihre Güter und Freiheit rauben, für wild ansehen, und daß diejenigen, denen man moderne Sitten und Wissenschaften geschenket, sehr vernünftig handeln, daß sie bei der ersten Gelegenheit zu 372 Reinhard Straumann: Literarischer Konservatismus in der Schweiz um 1848. Bern/Frankfurt a. M./ New York 1984 [Europäische Hochschulschriften I 663], S. 43 184 der einfältigen und vernünftigen Lebensart ihrer Mitbürger zurückfliehen“373. Als einen solchen im Naturzustand lebenden Menschen stellte Hirzel dann den Jakob Guyer seinen Lesern vor. Dieser habe, weil er die Prinzipien der Aufklärung aus sich selbst heraus entwickeln musste, zu der ‚ursprünglichen Sitteneinfalt‘ der Ahnen zurückgefunden. Mit dieser Rückbesinnung verwirkliche er zugleich die Anliegen der physiokratischen Wirtschaftsreform. Jedem Angriff auf diese mythisierte und dabei höchst funktionale Vergangenheit folgte ein Aufschrei der aufgeklärten Eliten in der Stadt Zürich. Ein Dissident, der es wagte, den kraftstrotzenden Biedersinn Wilhelm Tells als ‚fable danois‘ und ‚Dänische Mährgen‘ zu verdächtigen, wurde aus der aufgeklärten Gesellschaft umstandslos exkommuniziert374. Denn in der Helvetischen Gesellschaft, dieser wesentlich von Hirzel gelenkten „philosophischen Tagsatzung der Schweiz“, nahm Wilhelm Tell eine zentrale Rolle ein, auch wenn andere über diese „Patriotenkilbe“375 spotteten. Nicht nur die ‚Denkmäler‘ und tugendergriffenen Totenreden als Selbstvergewisserungen einer patrizischen Elite prägten das Bild der Aufklärung in der Schweiz, obwohl Hirzel auch in diesem Genre ein Meister war. Mit pädagogischem Elan wurde auch immer die Matrix einer Lebensform für alle 373 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 20 f Vgl.: Im Hof, Helvetische Gesellschaft, a.a.O., Bd. I, S. 30 375 Ebda., , Bd. I, S. 16 u. S. 71 [Kilbe = Jahrmarkt] 374 185 anderen Stände entworfen. Emsig suchten die Aufklärer nach Mustern, Vorläufern und ‚Philosophen‘ in allen anderen Schichten. Hirzels ‚philosophischer Bauer‘ stand durchaus schon in einer Tradition, in derjenigen der ‚gelehrten Bauern‘376. Was Kleinjogg von seinen Vorläufern aber unterschied, war seine ideologische Brauchbarkeit für die ökonomischen und obrigkeitsstaatlichen Zielsetzungen der Aufklärung in Zürich und darüber hinaus. Im Vergleich zu all den Bauern, die es zuvor zu literarischem Ruhm brachten, wechselte der Fokus vom ‚gelehrten Bauern‘, der Mathematik oder Philosophie betrieb, hin zu einem Bauern, der seine gesamte Vernunft einzig und allein auf das richtete, was seines Standes war: die Verbesserung des Feldbaus. Nicht als „Leitfigur einer geteilten Aufklärung“377 figurierte Kleinjogg damit, sondern einer Aufklärung, die das allgemeine Wissen nach ständischen Kriterien separiert und zuteilt. In den patriotischen Gesellschaften der Schweizer Vororte trafen sich die etablierten Männer jener Zeit, die im verlegerischen Geschäftsleben oder in aufgeklärter Regierungsverantwortung standen. Die praxisnahe, auf den Nutzen zentrierte Weisheit der Verwaltungsfachleute, der Kaufmannschaft und der patrizischen Großgrundbesitzer verachtete das brotlose ‚tote Wissen‘ einer weltabgewandten Gelehrsamkeit. Keinesfalls sollte eine Änderung der untertänigen Stellung des Landvolks die Folge der Reformen 376 377 Vgl. Holger Böning: Gelehrte Bauern. a.a.O. Ebda., S. 11 186 sein. Der papierbesudelnde Gelehrte war, in den Worten Hirzels, eben nicht zu Kaste der Weisen zu zählen: „Hier lernte ich den Stolz der Gelehrten verlachen, die sich einbilden, durch ihre Gelehrsamkeit zu einer höheren Classe von Geistern vervollkommnet zu seyn, da ihr Verstand doch oft von Vorurtheilen ganz benebelt, und ihr Wille, in der Sclaverey von Leidenschaften gefesselt ist, welches ihr Stolz über die Gelehrsamkeit dem Auge des Weisen schon genug verrät“378. Als einen solchen Mann der Praxis, der durch den berufsbedingten Verkehr mit den Bauern zum intimen Kenner ihrer sittlichen und ökonomischen Verfassung wurde, pries sich Hirzel seinen Lesern an. Die Bauern sollen die Bauern lehren, das ist der Grundsatz, den Hirzel mit Hilfe seiner Marionette Kleinjogg propagierte. Die gelehrten Agronomen und Melioratoren hingegen verfielen allesamt seinem Verdikt, weil sie „allzubegierig nach neuen Erfindungen, ehe man die alten genugsam kennengelernt“379 immer neue Anbauverfahren propagierten und „sich mit Urbarmachung auf dem Papier begnüg(t)en“380. Probater wäre es hingegen, wenn die Bauern ihren Standesgenossen jene Erfahrungen vermittelten, die sie anderswo gemacht hätten. Die gebildeten Aufklärer 378 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 19 f Ebda., S. 23 380 Johann Caspar Hirzel: Auserlesene Schriften zur Beförderung der Landwirtschaft und der häuslichen und bürgerlichen Wolfahrt. 2 Bde. Zürich 1792, Bd. 1, S. 433 379 187 beschränkten sich in diesem Kontext auf die Aufgabe, geeignete Musterbauern ausfindig zu machen und ein Kommunikationsforum zur Verbreitung bäuerlichen Wissens bereitzustellen. Diese Aufgabe sollte mit Hilfe der ‚Baurengespräche‘ gelöst werden, die in Zürich instutionalisiert wurden. Dass es sich hierbei um eine langfristige Strategie handelte, dessen war sich Hirzel bewusst: „(D)er Bauer muß durch die Reihen vieler Jahre, von den Vortheilen überzeugt werden, ehe er die alten Vorurtheile ablegt, und seine ererbten Künste gegen neue vertauschet“381. Um „unter den Landleuten einen löblichen Wetteifer (zu) erwecken“382, galt es zunächst einmal die drei Hauptargumente der bäuerlichen Widersetzlichkeit zu widerlegen, dass nämlich ihre Voreltern auch nicht auf den Kopf gefallen wären, dass die angepriesenen Methoden nicht zur Beschaffenheit des Landes taugten, und dass - drittens der zu erwartende Profit in keinem Verhältnis zum Aufwand stünde. Nicht nur die Aufklärer, auch die altväterlich wirtschaftenden Bauern konnten folglich rechnen. Mit Kleinjogg aber erwuchs den Aufklärern eine Figur aus der Mitte der dörflichen Gesellschaft, der allein durch sein Beispiel alle diese Einwände zu widerlegen schien. Als Zielprojektion stand am Ende aller Pläne eine von KleinjoggFiguren bevölkerte arkadische Welt. Was die Mitglieder der 381 382 Hirzel: Wirthschaft a.a.O., S. 27 f Ebda., S. 24 188 Helvetischen Gesellschaft ignorierten, war das spektakuläre Außenseitertum dieses ‚philosophischen Bauern‘. Auch die Kleinjogg-Biographie hat den Weg auf das Land nie gefunden, etwas, das – nebenbei bemerkt – für die gesamte volksaufklärerische Literatur in großem Ausmaß zutrifft. Der Erfolg von Hirzels Buch blieb eine höchst urbane Angelegenheit: „Meine Arbeit machte Kleinjogg vollends in unserer ganzen Stadt bekannt, und es war niemand, der ihn nicht sehen und anhören wollte. Die einten, weil sein Bild sie lebhaft gerührt hatte; die anderen, weil sie sich schmeichelten durch den Umgang mit diesem Mann von der Falschheit meines Gemähldes überzeugt zu werden“383. Der ‚philosophische Bauer‘ wurde so zu einer Art Jahrmarktsattraktion im städtischen Raum. Als emanzipatorischer Akt darf dieses Interesse jedoch nicht gedeutet werden – die Standesschranken blieben unüberwindlich. Als Jakob Guyer 1765 auf Drängen des württembergischen Prinzen Ludwig Eugen zur Tafel der Helvetischen Gesellschaft hinzugezogen werden sollte, kam es fast zum Eklat der Aufklärer untereinander. Aus Rücksicht auf die standesbewusste Fraktion fand der Besuch des Bauern im Protokoll keine Erwähnung384. 383 Brief Hirzels v. 1. 8. 1763 an Hauptmann Frey in Basel; zit. n.: Pfister: Kleinjogg Guyer, a.a.O., S. 19 384 Vgl.: Im Hof: Helv. Gesellschaft, a.a.O., Bd. I, S. 22 189 Auch die Gegenseite, die zu den Gesprächen eingeladenen Bauern der Umlandgemeinden, standen den wohlmeinenden Bemühungen reserviert und passiv gegenüber. Die ausgewählten Dörfler einer Region ließen sich freundlichst entschuldigen oder delegierten dörfliche Beamte stattdessen385. In einem steifen Zeremoniell aus Frage und Antwort erkundeten die städtischen Aufklärer dann den Zustand der Gemeinden. Einige Wochen später folgte ein ‚Rescript‘ mit Anordnungen der Gesellschaft für die Gemeinde zur Agrarreform. Angesichts des mageren Erfolgs der ‚Baurengespräche‘ führte die Ökonomische Kommission später Preisfragen ein, um einen materiellen Anreiz zu bäuerlichen Verbesserungsvorschlägen zu schaffen. Die Übermittlung und Verlesung der ‚Rescripte‘ oblag den Amtsvögten oder den Geistlichen der Gemeinden. Mit welchen Schwierigkeiten mentaler Art die Aufklärer hierbei zu kämpfen hatten, zeigt der Text einer solchen Anrede, die der Vikar Jakob Wegmann 1768 der Gemeinde Benken bei der Übergabe des Schreibens der Naturforschenden Gesellschaft hielt386. Wegmann nahm schon in der Einleitung die absehbare Reaktion der Gemeinde auf seinen Auftritt vorweg. Denn als Geistlicher war er kein Dorfmitglied, sondern ein Vertreter der städtischen Herrschaft. Die Pfarrherrn der Schweizer 385 Vgl.: Pfister: Kleinjogg Guyer, a.a.O., S. 20 StazNG, B IX, 67, S. 169 ff: ‚Anred an die Gemeind Benken bey Vorlesung des von der physicalischen Gesellschaft an sie gerichteten Rescripts: Gehalten von Herrn Jacob Wegmann Pfar-Vicaris daselbst. 24. Hornung 1768.‘ 386 190 Vororte waren „Beauftragte der Staatskirche und entstammten samt und sonders städtischen Familien“387. Ihr „Pfarrhaus war der einsame Vorposten der Aufklärung auf dem Land“388. Damit wurde dem Klerus auf dem Land in der volkspädagogischen Kommunikation eine Schlüsselstelle eingeräumt. Sie sollten einerseits Transmitter der Reformvorschläge sein, andererseits aus der seelsorgerischen Nähe zu den Erziehungsobjekten ihre Kenntnis der Widerstände und Vorbehalte in die Stadt hinein vermitteln. Auch Wegmann kannte die bäuerliche Mentalität. Er wusste, wie leicht sein Auftritt die bräuchliche Gemeindeautonomie verletzen und als Herrschaftsübergriff missdeutet werden konnte: „Eine jede Sach, die nur selten geschiehet, erwecket bey den Leüthen Aufsehen. Wann ein Comet am Himmel erscheint, so erstaunt jedermann darüber, weil das eine gar seltene Sach ist, jeder jagt dem anderen Schreken ein, was doch derselbe Böses zübedeüten habe. Es ist eine seltsame, ja fast unerhörte Sach, daß ein Geistlicher vor einer Gemeinds-Versammlung erscheine: vielleicht macht darum meine Gegenwart bey eüch so viel Aufsehens, als die Erscheinung eines Cometen; vielleicht sind viele darüber ungedultig, machen davon eine böse Vorbedeütung und prophezeyen von Unheil, Beschwerden und schlimmen Auflagen, die ich über die Gemeind bringen wolle“389. 387 Wysling: Gedenkblatt für Chlyjogg, a.a.O., S. 221 Richard Feller: Geschichte Berns. Bd. 3, 2. Aufl., Bern u. Frankfurt a. M. 1974, S. 647 389 StaZNG, Wegmann: Anred, a.a.O., S. 168 388 191 Der Vikar versuchte zunächst, seinen unerhörten Bruch des Verhaltenskodexes zu rechtfertigen und die Bedenken der Bewohner zu zerstreuen. Lang und breit schilderte er die uneigennützigen Zielsetzungen der städtischen Aufklärer, die nichts anderes im Sinn hätten, als den Gewinn der Bauern zu steigern, und „durch gute Rathschläge des Land-Manns Glük und Wolergehen zubeförderen“390. Auch die Baurengespräche seien eingerichtet worden, „damit die Landleüthe Zutrauen zu Ihnen bekommen, u. ihren Rath desto lieber annehmen“. In betrübtem Tonfall klagte Wegmann sodann über die mannigfaltigen Hindernisse, die seine Zuhörerschaft der Aufklärung in den Weg lege. Er griff dabei auf die Rhetorik des Kampfes gegen den Aberglauben zurück (s. Kap. 1), weil es sich dabei doch nur „um lauter Hirngespinste“, um Produkte „eiteler Einbildung“, um „Unwüßenheit“ oder gar „Boßheit“ handele. Wie erfolgreich eine solche Rede ausfiel, die dem Publikum wahlweise Dummheit oder Bösartigkeit unterstellte, soll hier nicht weiter untersucht werden. Ansatzweise jedoch erlaubt der Text die Rekonstruktion der antagonistischen altbäuerlichen Argumentation: „Die erste Hinternuß ist das schlechte Zutrauen gegen die Gesellschaft, u. alle die, welche guten Rath mittheilen wollen. Mancher gedenkt, was dann auch diese Herren dazu vermöge, u. warum sie das thun, da sie doch darzu keinen Beruf haben“391. 390 391 Ebda., S. 168 Ebda., S. 169 192 Das eben ist der Punkt: Die Bauern vermuteten stets ganz andere Motive der Herrschaft, als jene ‚Uneigennützigkeit‘ und ‚das Herz voll guter Gesinnungen‘, das die Rhetorik der Aufklärung sich selbstverständlich zuschrieb. Es existierte ein bäuerliches Misstrauen, das auf historischer Erfahrung ruhte392, welches ein berechtigtes soziales Misstrauen der ländlichen Untertanen gegen die städtischen Herren spiegelte. Misstrauen, Widersetzlichkeit, Halsstarrigkeit und ähnliche Begriffe, die ein diffuses, unbeugsames Verhalten passiver Resistenz unter Bauern bezeugen, waren kurrente Münzen im volksaufklärerischen Diskurs. Für Wegmann, der dieses Widerständigkeitssyndrom an die erste Stelle seines Lasterkatalogs stellte, kam es darauf an, in der Folge diese Bedenken zu zerstreuen. Natürlich konnte er nicht die städtischen Finanzen offenlegen, über den Zehnten diskutieren oder andere Herrschaftsfragen offen bereden, er griff daher auf das eingespielte Muster einer tugendhaften und landesväterlichen Obrigkeit zurück und auf patriotische Klänge: 392 In selbstkritischen Phasen reflektierte auch der Diskurs der Volksaufklärung die Berechtigung des sprichwörtlichen bäuerlichen Misstrauens: „(K)einem Menschen ist eine Gehäßigkeit gegen alle Neuerungen weniger zu verdenken, als dem Landmanne (…) (denn s)eit Menschengedenken haben oft seine Vorgesetzten nichts neues bey ihm eingeführt, von dem er nicht eine Noval-Steuer geben mußte“. [J. F. Schlez: Landwirthschaftspredigten. Ein Beytrag zur Beförderung der wirthschaftlichen Wolfahrt unter Landleuthen. Nürnberg 1788, S. XIV] 193 „Alles das thun Sie nur aus wahrer herzlicher Liebe gegen ihre Nebenmenschen, u. aus der rühmlichen Sorge für die allgemeine Wolfahrt des L. Vaterlandes: dann wann es dem Bürger u. dem Landmann wolgehet, u. aller mir möglicher Nuzen aus dem land gezogen wird, so ist das Vaterland in blühendem Zustand, mit dem Glük der Einwohner steigt auch deßelben Glük“393. Sicherlich verbirgt sich hinter dem Lobpreis der Obrigkeit noch eine patriarchalische Vorstellung von Herrschaft, die älter ist als die Aufklärung. Die utilitaristische Ausrichtung des Arguments aber, die Füllung des Begriffs mit dem Nutzen und der Wohlfahrt, die Betonung emotionaler Motive, die an die Herrschaftslegitimation gekoppelt sind, vor allem aber auch der patriotische Nachdruck auf gemeinsame Interessen in einem gemeinsamen Vaterland, dies alles war kennzeichnend für die neue Rhetorik der Volksaufklärung, nicht nur in der Schweiz. Für Wegmann galt es nun, den Bruch mit dem Bräuchlichen zu relativieren, der im Überschreiten von Standesgrenzen lag, die jedem an seinem Ort nur das zu tun befahlen, was ihm Gott aufgetragen hatte. Denn die fachliche und sachliche Inkompetenz der Städter, ihr Agieren außerhalb ihres Standes, bildeten ein weiteres Argument der Bauern, mit dem sie auf alle Reformzumutungen reagierten: „Andere denken: Niemand der in der Stadt wohne, könne etwas Gutes zur Verbeßerung des Akerbaus u. der Güter anrathen. Der gröste Theil der Landleuthe denkt so (…). Sie 393 Wegmann. Anred. A.a.O., S. 169 194 arbeiten ja nicht auf dem Feld: das ist unser Geschäfft: wir wüßen das beßer, u. können uns am besten rathen“394. Gegen diesen Fels bäuerlichen Fachwissens führte Wegmann die Wissenschaft ins Feld, den neuen Kontrahenten des Brauchtums und der Tradition. Er griff zu Beispielen aus der Antike, rühmte die ökonomischen Gesellschaften der Aufklärung in England, Schweden, Frankreich und Italien, und er nannte Bern und Basel als Exempel für eine neue, reformierte Landwirtschaft. Solche Exempel kannten aber auch die Bauern. Im Hintergrund aller bäuerlichen Erfahrung, die sich standhaft der Reform verweigerte, stand stets jene Vielzahl agrarischer Spekulanten und ‚Herrenbauern‘, die bereits erbärmlich Schiffbruch erlitten hatten. Pestalozzis Neuhof-Unternehmen wäre nur ein Beispiel. Einige Jahrzehnte später setzte Jeremias Gotthelf im Schulmeister-Roman dieser 395 ‚Neuerungswut‘ ein literarisches Denkmal . Diesen Hohn und Spott griff Wegmann nun frontal an. Die Bauern seien doch selbst schuld, wenn sie von anderen Ständen missachtet würden: „Liebe Landleüthe! Ihr seyt es, die eüeren Stand viele mal verächtlich machet, damit, daß ihr von den Stadtleüthen keinen guten Rath annehmen wollet, u. sie verlachet (…). (B)ey uns ist es zur üblen Mode worden, daß man alle verlachtet und verspottet, welche einiche Feld oder 394 Ebda., S. 171 Jeremias Gotthelf: Leiden und Freuden eines Schulmeisters. In: Sämtliche Werke in 24 Bänden, Erlenbach-Zürich 1921, Bd. II u. III 395 195 LandArbeit verrichten, wenn sie nicht als Bauren geboren sind (…)396. Das dritte und letzte Hindernis, das Wegmann beklagte, war der bäuerliche Wahn, bereits auf dem Gipfel des Machbaren angekommen zu sein. Diese Traditionalität der Bauern, ihre wirtschaftliche Überlieferungstreue führe zu Stagnation und verhindere jede Verbesserung des Vaterlandes: „Ein anderes Hinternuß ist das allgemeine Vorutheil der Leüthen, es seie nichts mehr zuverbeßeren. Wie oft höret man nicht den Landmann sagen: Mein Vater und Großvater haben es auch so gemacht, u. sie waren doch auch keine Narren, sondern verständige Leüth: wie solte ich es dann beßer machen als sie?“397. Im Folgenden schilderte der Vikar seinen Bauern eine vorgebliche Reformbegeisterung ihrer Vorfahren, die unermüdlich damit beschäftigt gewesen seien, Sümpfe zu entwässern und die Ertragsfähigkeit der Äcker zu steigern. Die Anrede schließt mit dem Appell, dass die Bauern sich als würdige Nachfahren erweisen möchten. An diesem Punkt wird wieder die reale Tradition mit einer ‚erfundenen Tradition‘ bekämpft398. Es handelte sich hierbei um ein vielfach angewendetes Verfahren der Volksaufklärung, welches allerdings nur das Ergebnis einer 396 Wegmann: Anred. a.a.O., S. 172 f Ebda., S. 173 398 Ein Begriff, denn die britische Historiographie prägte: E. Hobsbawm / T. Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983 397 196 mehr moralischen als historischen Geschichtsschreibung im Umfeld der aufgeklärten Gesellschaften ist399. In der Eidgenossenschaft verlieh dieser ‚Mythos Schweiz‘ den Ahnen der Bauern Eigenschaften, die sie zu frühen ökonomischen Patrioten machten. Ob Wegmanns Philippika ihr Ziel im Dörfchen Benken erreichte, darf angesichts all der Invektiven bezweifelt werden. Interessanter ist es jetzt, welchen mentalen Wandel ein Bauer faktisch vollziehen musste, um sich aus der sozialen Umklammerung der Volkskultur mit ihren Normen und Bräuchen zu lösen. Hierin liegt die wahre Bedeutung von Jakob ‚Kleinjogg‘ Guyer, dem ‚philosophischen Bauern‘: Kleinjogg kollaborierte mit der städtischen Herrschaft, er riskierte Putschversuche in seiner Familie, er begab sich freiwillig in völlige soziale Isolation, er hing einer neuen Religion an, und er wurde zum Spott- und Hassobjekt seiner Gemeinde. Jakob Guyer kam 1716 als sechstes Kind eines Bauernpaares in Wermatswyl zur Welt. Die Familie zählte zum Guyer-Clan, der im Dorf stark vertreten war. Unter fünf männlichen und 399 „Von den Bauern-Kalendern der Spätaufklärung bis zu heutigen Heimatkultur-Programmen zieht sich eine breite Spur der ‚Traditionsbildung‘ durch die Geschichte, die neben manchen Wiederbelebungseffekten ganz deutlich auch ausgesprochen erfinderische Komponenten besitzt: neue Traditionen aus ‚uralter Zeit‘.“ [Wolfgang Kaschuba: Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft. Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frankfurt a.M. / New York 1988, S. 10] 197 zwei weiblichen Geschwistern war Jakob der zweitjüngste Sohn, der zur Unterscheidung vom ältesten Bruder, der den gleichen Taufnamen trug, ‚Chlyjogg‘ gerufen wurde, in Hirzels Schreibweise dann ‚Kleinjogg‘400. Der Vater starb früh, so dass der Hof, noch stark mit Schulden aus der vorherigen Erbteilung belastet, erneut den Kosten einer Erbteilung ausgesetzt war. Die Verschuldung des Hofes wuchs von 1.000 auf 1.675 Gulden. Als auch die Mutter 1733 starb, übernahmen die fünf Brüder als Wirtschaftskooperative die Verantwortung. Die Brüder verhielten sich so, wie es die am Hof orientierte Logik von Bauern in Realteilungsgebieten verlangte: „Es brauchte den Verzicht einzelner Brüder, um das väterliche Gut in seiner Größe einigermaßen erhalten zu können“401. Vermutlich deshalb, weil der jüngste Bruder altersmäßig noch nicht fähig war, die Funktion des Wirtschaftsleiters auszuüben, übernahm Kleinjogg nach dem Tod der Mutter die Leitung der Wirtschaft. Dem bäuerlichen Brauchtum entsprechend, verheiratete er sich sofort standesadäquat, wobei weniger ästhetische oder emotionale Vorzüge der Braut im Vordergrund gestanden haben dürften, sondern vor allem materielle Präferenzen. Seine Frau brachte ungefähr ein 400 Zu den Details der Biographie s.: Hans Ulrich Pfister: Kleinjogg Guyer, a.a.O. Walter Guyer: Kleinjogg, der Zürcher Bauer 1716 – 1785. ErlenbachZürich 1972 401 Pfister: Kleinjogg, a.a.O., S. 9 198 Viertel der Schuldsumme als Mitgift in die Ehe ein, zudem war sie künftige Erbin ihres kinderlosen Bruders. In der Folge ließ sich ein Bruder auskaufen, einer verblieb auf dem Hof im Wirtschaftsverband mit Kleinjogg, ein weiterer ließ das Kapital stehen und verdingte sich als Knecht, der jüngste Bruder schließlich, den der frühe Tod der Eltern aus der Erbfolge verdrängt hatte, verdingte sich als Söldner. Er kehrte später zurück und schleppte den Pietismus in Kleinjoggs Betrieb ein, bevor er an Schwindsucht starb. Die prekäre Lage des Hofes ließ sich durch dieses Verhalten stabilisieren. Die Reproduktionslogik, die das Verhalten der Guyers bestimmte, war durchaus traditional. Sie entsprach bäuerlichen Standards, die stets das Wohlergehen des ‚ganzen Hauses‘ über das Wohlergehen des Individuums stellten. Für das Zürichbiet beschrieb auch Hirzel diese Logik als Norm: „Ein Bauern calculierte so: Mein Hof mag nicht mehr als einen, höchstens zwey Söhne zu ernähren, die anderen mögen ledig bleiben oder anderswo ihr Glück suchen“402. Trotz der zunächst großen Schuldenlast gehörten die Guyer aber nicht zu den minderen Bauern im Dorf. Die Vorfahren entstammten mütterlicherseits einer Müllerdynastie, Großvater und Onkel waren Landrichter. Die Guyers zählten zu den Großbauern, denen seit Generationen das Wirtsrecht zusätzliche Einnahmen verschaffte. Der Pfarrer von Wermatswyl, den eine obrigkeitliche Anordnung zum 402 Hirzel: Beantwortung der Frage, a.a.O., S. 129 199 Gemeindestatistiker machte, führte den Hof der Guyers als erste Haushaltung in seinem ‚Hausbsuchungsrodel‘ auf: „Kleinjogg Gujers Familie gehörte zur privilegierten Schicht der Vollbauern und damit zur damaligen ländlichen Oberschicht. (…) Er war (…) eben doch nicht der arme Bauer, als den ihn gewisse Autoren wahrhaben wollen. Seine Wohlhabenheit war vielmehr die notwendige Voraussetzung, damit Kleinjogg Gujer auf seinen Gütern pröbeln (…) konnte“403. Es ist also einerseits die Zugehörigkeit Kleinjoggs zur ländlichen Oberschicht, welche die materielle Voraussetzung seiner ökonomischen Reformfähigkeit war. Dies war zugleich auch die Vorbedingung, die seine soziale Emanzipation von dörflichen Normen erlaubte. Die erste Familie am Ort konnte sich am ehesten Autarkie von dörflichen Sitten und Gebräuchen erlauben. Auf diese Außenseiterrolle Jakob Guyers weist auch der Beiname hin, den er im ländlichen Raum führte: Als ‚Klossen‘ bezeichnete ihn das Dorf, als ungehobelten Klotz, der alle, die mit ihm zu tun hatten, vor den Kopf stieß. Kleinjoggs Werdegang wie auch Hirzels Biographie zeichnen das Bild eines Sonderlings im Dorf404. Wir wissen wenig über die Ursachen, die Kleinjogg deviant werden ließen. Klar ist, dass Kleinjogg in einem Dorf aufwuchs, das die Konkurrenz zweier Kulturen kannte, zweier 403 Pfister: Kleinjogg Gujer, a.a.O., S. 11 Das Außenseitertum Kleinjoggs wird nachdrücklich betont von: Albert Hauser: War Kleinjogg ein Musterbauer? In: Zs. Für Agrargeschichte und Agrarsoziologie. 1961, Nr. 9, S. 211 – 217, hier: S. 216 f 404 200 Lebensstile mit unterschiedlicher Alltagspraxis. Die Mehrzahl der Familien in Wermatswyl lebte von der Heimarbeit, die Bauern waren quantitativ zur Minderheit geworden, auch wenn ihr soziales Übergewicht im Laufe protoindustrieller Krisen wuchs: „Vom Besitzstand her war die Wermatswyler Einwohnerschaft deutlich zweigeteilt. Sieben Familien gehören dem Bauernstand an (…). / Die übrigen zwölf Haushaltungen konnten von landwirtschaftlicher Tätigkeit allein nicht leben. (…) Ihre Hauptbeschäftigung bildeten (…) textilindustrielle Tätigkeiten“405. Die Weber und Spinner übten ein innovatives und erneut expandierendes Gewerbe aus, das seine zweite Blüte – nach dem Verfall der Leinenindustrie – in den späten siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts erleben sollte, diesmal allein auf Baumwollbasis. Die Nachfrage stieg in diesem Zeitraum permanent, kurzfristige Rezessionen waren auf kriegsbedingte Stockungen zurückzuführen: „(Die Baumwollindustrie war b)is in die sechziger Jahre ein unbedeutender Gewerbezweig, (sie) begann ihr phänomenales Wachstum in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Die Nettoeinfuhren von Baumwolle versiebenfachten sich nahezu“406. 405 Pfister: Kleinjogg Gujer, a.a.O., S. 10 f Peter Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1980, S. 161 406 201 Das 18. Jahrhundert, „die dritte große Ausbauperiode der europäischen Wirtschaftsgeschichte“407, bewirkte einen spektakulären Aufschwung der Getreidepreise. Auch die Landwirtschaft wurde renditeträchtig und „‘Ackergier‘ und ‚Ackersucht‘ triumphierten in einer Weise, welche die Zeitgenossen erschreckte“408. Bisher ungenutzte Böden versprachen plötzlich Gewinn, Weideland wurde umgebrochen und zur Kompensation die Brache für den Futtermittelanbau genutzt. Dass Kleinjogg seinen Hof so rasch von den Schulden der Erbteilung befreien konnte, darf eben nicht nur auf ‚revolutionäre Anbaumethoden‘ zurückgeführt werden. Eine große Rolle spielte auch der steigende Gewinn beim Verkauf von Agrarprodukten und die geradezu explodierenden Grundstückspreise. Protoindustrialisierte Dörfer wie Wermatswyl kennzeichneten überall große soziale Spannungen. Auf der einen Seite standen zunehmend landgierige Bauern, auf der anderen jene dörflichen Unterschichten, die nur dank einer Kombination von textiler Heimindustrie und Gemeinlandnutzung existieren konnten. Von den Gewinnen, die ein boomender Weltmarkt für Baumwolltuch abwarf, sahen sie so gut wie nichts. Dieses Einkommen allein reichte noch nicht einmal zur Reproduktion der Familien. Allerdings entwickelte sich aus ihren Reihen ein kleiner ‚Mittelstand‘. Gemeint sind jene Baumwollträger und ‚Fergger‘, die - wie bspw. Ulrich Bräker - den Zwischenhandel zu ihrem Metier gemacht hatten. Die anschwellende Klage der aufgeklärten städtischen Aufklärer über den angeblichen 407 408 Ebda., S. 132 Ebda., S. 134 202 Luxuskonsum des ‚leichtsinnigen Webervolks‘ ist dennoch in der Regel ein bloßes Haltet-den-Dieb-Geschrei, es sollte den demonstrativen Konsum vor allem von Alkoholika beschränken: „Die Lebensbedingungen dieses Vor- und Frühproletariats waren desolat. Ob nun die Baumwollweber des Zürcher Oberlands, die Seidenweber in Lyon, die Kattundrucker in Chemnitz oder die englischen Baumwollspinnerinnen, sie vegetierten alle, abgesehen von einer kleinen Schar gutbezahlter Spezialisten, am Existenzminimum dahin“409. Kennzeichnend für Heimarbeiterregionen ist es daher, dass die Löhne nur einen Teil des Lebensnotwendigen bildeten. Ein Heimarbeiter musste, damit er existieren konnte, zusätzliche Subsistenzquellen erschließen. Dieses notwendige Surplus erwirtschaftet er auf einem kleinen Stück Land, das er nutzen durfte, oder indem er auf die Ressourcen der Gemeinde an Wald und Allmende zugriff. Zu den Paradoxien dieser Periode gehört es daher, dass jene Menschen, die als Heimarbeiter bereits völlig vom kapitalistischen Weltmarkt abhängig waren, zugleich die zähesten Verteidiger des Traditionalismus und der überkommenen dörflichen Sozialstrukturen waren: „(Die Agrarökonomen) scheiterten im Allgemeinen am Widerstand derjenigen, die am meisten zu verlieren glaubten; das waren die unterbäuerlichen Schichten. / (V)or 409 Ebda, S. 183 203 allem die unterbäuerlichen Schichten halten hartnäckig an der dörflichen Feldgemeinschaft fest“410. Im Gegensatz zu ihnen waren Großbauern, die von der Hausse des Getreidemarktes profitierten, sehr viel leichter für eine Reform zu gewinnen. Es ist daher gar nicht verwunderlich, dass ausgerechnet Kleinjogg als größter Bauer des Ortes, mit Reformen voranging. Erstaunlich wäre es hingegen gewesen, wenn er dies als Kleinbauer oder Heimarbeiter begonnen hätte. Die Agrarreformen der Aufklärung begünstigten eindeutig die Besitzenden. Trotzdem waren diejenigen, denen eine Reform durchaus Gewinn versprach, mental an eine alte Ordnung gekoppelt, die sich durch Mechanismen der Kontrolle und des Brauchtums auf ungeschriebene Gesetze sittlichen und sozialen Wohlverhaltens bezog. Von dieser Ordnung isolierte sich Kleinjogg völlig, und musste dies auch tun, um seine ‚Reformen‘ durchzuführen. Möglich war ihm dies, weil die alte Ordnung im Dörfchen Wermatswyl unter kulturellen Konkurrenzdruck geraten war, und zwar nicht nur durch die Aufklärer aus der Stadt. Die Koexistenz zweier kultureller Lebensformen in einem Dorf verlief nirgendwo konfliktfrei. Heimarbeiter unterschieden sich in ihrem alltagskulturellen Verhalten deutlich von den Bauern411. Aus den Konjunkturzeiten der Protoindustrie sind 410 Ebda., S. 134 u. 142 Vgl. hierzu: Rudolf Braun: Industrialisierung und Volksleben. Veränderungen der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit 411 204 Spottlieder der Heimarbeiter auf die Bauern überliefert, die Bauern wiederum entdeckten zunehmend das kühle Gesetz von Angebot und Nachfrage bei ihrem ökonomischen Verhalten den Heimarbeitern gegenüber. Der Zusammenhalt der Dorfkultur bröckelte, die Dorfgemeinschaft entwickelte sich zunehmend zu einer Zweischaft. Kleinjogg ist für diesen Sachverhalt ein Beispiel, allerdings griff er zu Verhaltensmustern aus beiden Kulturen. Noch bevor er als ökonomischer Reformer agierte, adaptierte er eine nichtbäuerliche Form der Religiosität. Er ließ sich nach der der Hofübernahme „von den so geheißenen Frommen verführen“412, vor allem vermittelt über seinen jüngsten Bruder. Jakob Guyer wurde zum Pietisten. Während die anderen Bauern den frömmelnden Pietismus abfällig als ein „Krampferevangelium“413 betrachteten, als eine Art religiöser Krankheit, die primär unter Heimarbeitern grassierte: „So wie sich (…) der Fabrikler und der Geissenbauer verbanden zum Mischtypus des Arbeiterbauern, so sind auch der Fabrikler und der ‚Stündler‘ in vielen Fällen eins. in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800. (1960) 2. Aufl. Göttingen 1979 Peter Kriedte / Hans Medick / Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. Göttingen 1978, hier bes.: S. 90 ff Rudolf Braun: Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriß einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Göttingen und Zürich 1984, S. 131 ff 412 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 154 413 Ebda., S. 265 205 Die Verbindung von verinnerlichter, oft sektenhafter Frömmigkeit mit industrieller Arbeit muss für die Zeit der Heimindustrie und der frühen Fabrikarbeit geradezu als charakteristisch angesehen werden“414. Kleinjogg übte damit an eine Form religiöser Praxis aus, die für das genuin bäuerliche Milieu atypisch war. Andererseits schient der Pietismus auch mentale Voraussetzungen für den Aufstieg in der alten Gesellschaft bereitgestellt zu haben. Überaus devot, augenverdrehend und angepasst frömmelnd so beschrieb die zeitgenössische Literatur die Pietisten in der Regel. Durch eine extrem adaptive Haltung gegenüber der Obrigkeit und durch die Verachtung aller Nichtauserwählten, deren Verdammnis allein das pietistische Subjekt durch einen persönlichen Gnadenbeweis Gottes entkam, schuf diese Religion zugleich die Voraussetzung für neue soziale Bündnisse. Beispiele für diesen Sachverhalt wären Ulrich Bräker, der ‚arme Mann aus dem Toggenburg‘, der über den Pietismus den Weg in die aufgeklärten Gesellschaften fand, oder später auch der vormalige Geissenbauer Heinrich Bosshardt, der allerdings nicht ökonomisch aufstieg, sondern in einem pädagogischen Umfeld Karriere machte. In jedem Fall erleichterte eine pietistisch verinnerlichte Frömmigkeit, die sich vom ‚äußerlichen Gottesdienst‘ der bäuerlichen 414 Richard Weiss: Stadt und Landschaft Zürich. In: Schweiz. Ges. f. Volkskunde (Hg.): Zur Erinnerung an Richard Weiss. Drei Beiträge zur Volkskunde der Schweiz. Basel 1963, S. 255 – 268, hier: S. 265 206 Volkskultur separierte, den Bruch mit alten und die Übernahme neuer kultureller Verhaltensmuster415. Der Pietismus blieb auch im Falle Kleinjoggs virulent, obwohl er mit der grüblerischen und nach innen gekehrten Frömmigkeit aufräumte, zugunsten einer manischen und ins Exzessive getriebenen Arbeitsmoral, die nun zu seinem Gottesdienst wurde. Er verband die neue Religion mit seinen ökonomischen Interessen zu einer Art ‚bäuerlichen Wirtschaftspietismus‘. Muße war auf Kleinjoggs Hof fortan unbekannt, selbst den Feierabend oder den Sonntag füllten religiöse Andachtsübungen, Psalmengesang und gemeinsame Bibellektüre: „Da sahe ich, daß Lesen und Beten nichts helfe, bis man seine Pflichten erfüllet, aber dann geben sie der Seele eine ungemeine Stärkung“416. Auch der Verzicht auf das Wirtsrecht unterschied Kleinjogg von den anderen Bauern im Dorf. Dieses Recht war erblich an einen Hof gebunden und stellte eine nicht unerhebliche Quelle des Einkommens dar. Zudem war es statusbildend und erhöhte den Rang des Inhabers im Dorf. Bei diesem Verzicht spielten sicherlich asketisch-pietistische Aversionen gegen das Wirtshausleben eine Rolle, vielleicht auch der Tod des Vaters, der dem Alkohol allzusehr zugeneigt gewesen sein soll. Auch Kleinjogg zeigte alle Anzeichen eines Suchtverhaltens. Ihn als 415 Außerhalb der Schweiz wären Jung-Stilling oder Karl Philipp Moritz Beispiele für diesen Sachverhalt. 416 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 155 207 „workaholic“ zu bezeichnen417, wäre fast schon ein Euphemismus. Später, mit nachlassender Arbeitsfähigkeit, verfiel auch er einem gelinden Altersalkoholismus. Entscheidender für den Verzicht war aber die soziale Funktion des Wirtshauses im Ort. Neben der Kirche konstituierte sich dort die Dorfbevölkerung als Gemeinde. Hier wurden Informationen ausgetauscht, Konsens über soziales Fehlverhalten hergestellt, Geschäfte und Verabredungen getroffen. Kleinjogg, der sich und seine Familie auf allen Gebieten vom dörflichen Diskurs zu isolieren trachtete, handelte insofern nur konsequent, als er mit dem Verzicht auf das Wirtsrecht eine der zentralen Oppositionsstätten gegen sein Sozialverhalten schloss. Zugleich fügte er der Gemeinde eine politische Niederlage zu, die seit einigen Jahren mit dem benachbarten Pfäffikon einen Prozess um das eigene Wirtsrecht führte. Vor allem die selbstgesuchte soziale Isolation Kleinjoggs ist erschreckend. Auf allen Gebieten löste er sich aus der dörflichen Kommunikationskultur. Seine Familie hielt er sogar von den obrigkeitlichen Sozialisationsinstanzen fern, von Kirche und Schule. Seine Kinder nahmen weder am Unterricht noch am Kirchgang teil. Nur einer seiner Brüder besuchte an den Sonntagen die Kirche, während der andere im Haus bei den Kindern verblieb. Es waren aber keinesfalls die weisen Ermahnungen der Obrigkeit, weshalb Kleinjogg seine Kinder von Kirche und Schule abschottete, es war der zu enge 417 S. Pfister. Kleinjogg Gujer, a.a.O. S. 16 208 Kontakt zum dörflichen Umfeld, in den sie dort geraten wären: „Hingegen hinterhaltet er [seine Kinder], so viel er immer kann, von andern Gesellschaften, damit sie nicht die verdorbenen Sitten und Gewohnheiten, die er mit saurer Mühe aus seiner Haushaltung verbannt, kennen lernen, und so darnach lüstern werden. Er hat sie aus diesem Grund niemals in die öffentliche Schule geschickt, er besorgte, der Umgang mit ungesitteten Kindern auf der Strasse und in den Ruhestunden, möchte ihnen mehr schaden, als die Unterweisung im Lesen und Schreiben ihnen nutzen würde“418. Kleinjoggs Hof kann, aus heutiger Perspektive, mit Fug und Recht als eine ‚Arbeitshölle‘ bezeichnet werden. Vom Gesetz unaufhörlicher Arbeit her bestimmte sich alles Leben im Haus. Die Zeitökonomie regierte und selbst der Sonntag dient der rituellen Einübung des Arbeitsethos: „Der Sonntag wird mit Absingung der Psalmen, mit Lesen in der Bibel, mit ermunternden Gesprächen von dem Glück des Bauernstandes, von der Gemütsruhe, die dem fleißigen Arbeiter zu Theil wird, wenn er die Früchte seines Fleißes vor sich siehet, [zugebracht]“419. Nur durch diesen arbeitsmoralischen Unterricht unterschied sich der Sonntag von anderen Wochentagen. Auch die Nahrungsaufnahme betrachtet Kleinjogg als bloßes Mittel zur Reproduktion der Arbeitsfähigkeit, jeder sinnliche 418 419 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 120 Ebda., S. 299 209 Gaumenkitzel wurde von ihm verbannt. Daraus folgte natürlich eine gewisse Gleichheit, weil Bauer und Gesinde stets die gleiche Nahrung erhielten, andererseits verlor das Essen jeden Festcharakter. Weder an Sonn- noch an Feiertagen wechselte die Monotonie der aufgetragenen Speise, zumal gerade diese arbeitsfreien Tage keine üppigere oder wohlschmeckendere Nahrung verdienten. Um die Arbeit zentrierte sich alles auf diesem Hof. Sie regulierte auch die soziale Ordnung. Man könne, sagte Kleinjogg, „Gott nicht besser diene(n), als durch eine getreue Ausübung seiner Pflichten“420. Mit erbarmungsloser Konsequenz setzte er sein Arbeitsgesetz in der Familie durch. Kleine Kinder, die noch das Stadium der Arbeitsfähigkeit erreicht hatten, mussten von der Erde essen, weil sie vor dem Erreichen eines produktiven Alters „noch als ein Thier anzusehen“421 seien. Diese exzessive Ausbeutung der kindlichen und familiären Arbeitskraft war bisher eher für das protoindustrielle Milieu typisch gewesen: ‚Frühe Heirat, viele Kinder‘, lautete dort das Gesetz, weil Kinderreichtum bei ‚Fabriklern‘ das Einkommen erhöhte - zumindest solange, bis diese Kinder selbst der Arbeitshölle des Elternhauses entfliehen konnten, um einen eigenen heimgewerblichen Haushalt zu gründen. Im bäuerlichen Milieu galt eher das Gesetz später Heirat mit einem übertriebenen Stolz auf die künftigen Hoferben422. 420 Ebda., S. 153 Ebda., S. 121 422 Vgl. hierzu bspw. Jeremias Gotthelfs ‚Anne-Bäbi-Jowäger-Roman‘ 421 210 In einer durch Arbeitskräftemangel gekennzeichneten Region unterwarf also Kleinjogg seinen Hof der protoindustriellen Logik familienwirtschaftlicher Reproduktion. Folgerichtig erntete er den Spott der bäuerlichen Nachbarn, deren Arbeitsleistung sich nicht am moralischen Imperativ unaufhörlicher Arbeit orientierte, sondern an landwirtschaftlichen Notwendigkeiten: „Närrischer Erde-Mann, du must dich nun selbst straffen, das du nur immer vom Arbeiten redest, und so wenig Gott vertrauest und unser spottest, wenn wir es thun, und von ihm den Seegen erwarten; wenn wir nach der Gewohnheit unserer Vätter unser Feld bestellt haben, und inzwischen auch in Ruhe der Früchten, die uns Gott bescheert, genießen“423. Auch diese verführerische Perspektive eines traditionalen Arbeitsverhaltens, das den Rhythmus von Arbeit und Muße noch kannte, erklärt jene Rigidität, mit der Kleinjogg seine Familie von allen schädlichen Sozialkontakten im Dorf isolierte. Darüber hinaus ist es fraglich, inwiefern Kleinjogg überhaupt als ein ‚Reformlandwirt‘ zu betrachten wäre, zieht man die Maßnahmen heran, die er praktizierte. Die Mischung von Erden war andernorts seit Jahrzehnten bekannt, und die Verwendung von Laub, Tannennadeln und Reisig zu Düngezwecken weist die Agrargeschichte sogar schon für das 423 Hans Caspar Hirzel: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers, nebst einigen Bliken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere den Menschen intreßierende Gegenstände. Zürich 1785, S. 22 211 Jahr 1617 nach424. Die für die reformierte Landwirtschaft der Volksaufklärer typischen Methoden, ob Stallfütterung oder Fruchtwechselwirtschaft, fanden auf Kleinjoggs Hof hingegen keinen Eingang. Zudem war Kleinjoggs Biograph in agrartechnischer Hinsicht keine Kapazität. Unter anderem testierte Hirzel als Gutachter der Helvetischen Gesellschaft dem Neuhof Pestalozzis noch hervorragende Aussichten, als der bereits vor dem Ruin stand425. Die Dorfbevölkerung bestritt auch gar nicht, dass mit der Mischung von Erdarten kurzfristige Ertragssteigerungen zu erzielen wären. Sie lehnte jedoch eine Mentalität ab, die um eines kurzfristigen Vorteils willen, den Ertrag der Äcker langfristig minderte. Kleinjoggs exzessive Plünderung des Waldes, das Zusammenraffen von Reisig und Laub, wurde von den anderen Bauern als ein kurzsichtiges Verhalten kritisiert, das dem Wald die notwendigen Nährstoffe raubt426. Eine Rolle spielten sicherlich auch soziale Rücksichten, da das Reisig- und Tannzapfensammeln in den Wäldern bisher ein Privileg der dörflichen Unterschichten war. Und während die anderen Bauern Gemeindewald und Allmende für ebenso wertvoll erachteten, wie ihr privates Weide- und Ackerland, 424 Wilhelm Abel: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert [Dt. Agrargeschichte 2], 3. Aufl., Stuttgart 1978, S. 92 425 Vgl.: Peter Stadler: Testalozzi. Geschichtliche Biographie. Bd. I: Von der alten ordnung zur Revolution (1746 – 1797), Zürich 1988, S. 152 f 426 „Schmähesucht“, empörte sich Hirzel, sei es, die Kleinjogg „dieses zur Sünde machte und ihn als Holzverstörer abschildert“ [Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 274] 212 da war Kleinjogg „immer für seine gebauten Güter partheyisch, und (machte) sich nicht allzuviel Skrupel (…), solchen auf Kosten der ungebauten Güter Hilfe zu leisten“427. Revolutionär waren folglich nicht Kleinjoggs ökonomische Verfahren, revolutionär war jene Mentalität, die ihn beseelte, die Zukunft des Hofes um eines kurzfristigen Vorteil willen aufs Spiel zu setzen. Wegen seiner Verachtung allen Brauchtums also stand die Dorfbevölkerung kopfschüttelnd vor diesem Außenseiter, der ihnen als Quartalsirrer erschien. Kleinjogg wurde „von seinen Mitbürgern verlachet“428; den vorgeblichen ‚Musterbauern, der jedes Almosen verweigerte, „klagete (man) einer Heftigkeit gegen seine unschuldigen Kinder, so wie eines unverantwortlichen Geitzes gegen die Armen an“429. Wegen seiner unverantwortlichen Devianz wird er „von jedermann gehasset“430: „(D)amit aber ziehet er sich viele üble Nachreden zu, man nennt ihn einen secterischen Menschen, einen harten Vater, der aus Geiz seinen Kindern kein Vergnügen gönne“431. Eine durchaus zutreffende Beschreibung, könnte man sagen, die von einem gesunden Urteilsvermögen der traditionalen Bauern zeugt. Im Gegensatz hierzu aber empfand Hirzel ein unverhohlenes Vergnügen beim Anblick von Kleinjogg, dem guten Untertan. Aus einer aufgeklärt-obrigkeitlichen Perspektive heraus entsprach Kleinjoff mit seiner manischen 427 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 275 Hirzel: Wirthschaft, a.a.O., S. 114 429 Ebda., S. 116 430 Ebda., S. 110 431 Ebda., S. 121 428 213 Produktivität dem Ideal des nützlichen Landbewohners. Hinzu kam, dass Kleinjogg, der alle Kontakte zum Dorf gekappt hatte, neue politische Bündnispartner suchte und fand. Er wurde zum ‚Herrendiener‘ und verriet die Interessen der Bauern, die auf Gemeindeautonomie und auf die ständische Garantie alter Rechte pochten. Der Renegat Kleinjogg empfahl der Obrigkeit, den Widerstandsgeist der Bauern gewaltsam zu brechen. Bauern müsse „man mit Gewalt zu ihrem Besten führen“432. Auch wendete er sich hierbei gegen eine angebliche Unproduktivität seines Standes, gebrauchte also den zentralen Vorwurf der Aufklärung an die traditionale Landbevölkerung. Er übernahm damit die obrigkeitlichstädtische Perspektive. Angesichts des Traditionalismus der Dorfbevölkerung, der sich begrifflich in Wörtern wie ‚alter Schlendrian‘, ‚Müßiggang‘ und ‚Trägheit‘ verdichtete, forderte Kleinjogg die Obrigkeit auf, dem Ideal unermüdeter Arbeit absolute Geltung zu verschaffen und hierbei „nach der äussersten Schärfe (zu) verfahren“433. Letztlich sollte der ländliche Raum in eine Arbeitsanstalt verwandelt werden, mit Hilfe einer obrigkeitlichen ‚Arbeitspolicey‘: „(D)ie Herren Landvögte (sollen), die welche den guten Erinnerungen (…) nicht folgen wollen, durch Strafe an Leib und Gut zur Arbeit treiben“434. 432 Ebda., S. 98 Ebda., S. 96 434 Ebda., S. 96 433 214 Derartige Forderungen des dörflichen Außenseiters, der sein eigenes manisches Arbeitsverhalten zur sittlichen Norm machen wollte, machten den ‚Musterbauern‘ in Wermatswyl nicht beliebter. Ein Dorf ächtete damals generell jeden Landbewohner, der die Kooperation mit den aufgeklärten Eliten wagte, ob es sich um den Schweizer Bauern Boßhardt handelte, der nach den Treffen mit der Naturforschenden Gesellschaft als ‚verfluchter Herrenschmeichler‘ galt, der als ‚Ohrenbläser‘ der Obrigkeit für jedes Mandat verantwortlich gemacht wurde435, oder ob es um die begründeten Befürchtungen des Bauern Conrad Beereuter geht, der sein Fernbleiben von einem ‚Baurengespräch‘ mit sozialen Konsequenzen entschuldigt: „[Er wolle nicht] in unserer Gemeind führ ein auffrührer und Verächter (…) angesehen werden“436. 435 „Den 6ten May bekam ich den Preis von der naturforschenden Gesellschaft in Zürich mit einem Dukaten. (…) Dieses wurde an meinem Orte bekannt und gab vieles Gerede. Die einen sagten: der versteht ja gar nichts von dem Gütergewerb; die anderen: seine Herren haben seine Schrift geschrieben. Da mußte ich auf dem Kirchweg manche harte Pille verschlucken (…). Bei jedem Mandat, das nicht gefiel ist: die verfluchten Schmeichler gebens den Herren so an; sie wüßten dergleichen Sachen nicht, wenn die faulen H*** nicht wären, die sich nur mit dem abgeben, wie sie Bauern können in’s Verderben stürzen, und dabey wurde ich angesehen, als ob ich ein Landesverräther wäre“. [Heinrich Boßhardt, eines schweizerischen Landmannes Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben. Hg. v. Johann Georg Müller, Winterthur 1804, S. 65] 436 Zit. n.: Thomas Schärli: Der Musterbauer, a.a.O., S. 55 215 In diesem letzten Fall ist es bezeichnend, dass hier ein minderer Bauer jene Zusammenarbeit nicht wagte, die ein großer Bauer wie Kleinjogg riskieren konnte. Doch nicht nur mit der sozialen Umwelt des Dorfes lebte Kleinjogg in Zank und Hader, auch innerhalb der Familie kam es zu Spannungen und Konflikten. Die neue Kindererziehung erwies sich als dauernder Anlass zu Streit und Wortwechseln: „(A)uch die bessere Denkungsart meiner Kinder verdanke ich (der Sandgrube). Lange murrten sie über mich bey den harten Arbeiten in den Wintertagen, die uns von den gewohnten Tagen übrig bleiben, da sie solche andere im Müßiggang, unter unnützen Gesprächen, oder beym Verschwenden des Weines und des Mosts, die zur Erquickung in den langen Sommertagen dienen sollten, mit den Nachbarn hinbringen sahen. (…) Ihr Mißvergnügen vermehrte sich, wenn sie die Nachbarn über unsere Verrichtungen spotten hörten. (…) All mein vätterlich Ansehen mußte ich verwenden, meine Söhne bey der Arbeit zu erhalten, die sie für unnütz und wohl gar oft für sündlich ansahen, aber ich setzte es durch, und nun habe ich gewonnen“437. Die Arbeit war hier Selbstzweck geworden, von der ‚Verbesserung der Landwirtschaft‘ war keine Rede mehr. Das unablässige und weitgehend sinnfreie Wühlen und Rackern in der Sandgrube diente hier als pädagogisch-moralische Erziehungsinstanz. Nur in völliger sozialer Isolation gelang es Kleinjogg, diese asketische Arbeitsmoral auf die 437 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 21 ff 216 nachfolgenden Generationen zu übertragen. Als wesentlichen Erziehungserfolg betrachtete der ‚Musterbauer‘ hierbei die religiöse Aufladung der Arbeitsmoral, als Haupthindernis sah er die Volksreligion und den Fatalismus in ihrem Gefolge: „[Meine Söhne] erkennen nun, daß dieses Gott dienen heisse, wenn man seinem Beruffe getreu ist, mit Fleiß und Nachdenken seine Geschäfte behandelt, und dabey an Gott denkt, der uns dazu beruffen hat, und der auf fleissige und wohl überlegte Arbeit, reiche Erndten folgen läßt. Nun verachten sie die heuchlerischen Reden der Müßiggänger, die die Hand im Schoos Gottes Segen erwarten, wenn sie zuweilen Gebätter daher plappern, die sie selbst nicht verstehen, und mit Kirchengehen, Lesen, und heuchlerischen Reden Gott um seinen Seegen betriegen wollen“438. Kleinjoggs isolationistische Erziehungserfolge wurden optimistisch verzeichnet, auch sein Biograph Hirzel trug die rosarote Brille aller Musterdorf-Volksaufklärer. Zwar gelang es Kleinjogg, der Sozialkontrolle des Dorfes zu entgehen, als er den städtischen Katzenrütihof übernahm, auf dem keine Gemeinderechte lasteten. Doch der Kontrolle seiner Familie entkam er nicht. Bei jedem einschneidenden Ereignis brachen hier die alten Konflikte wieder auf. So schmälerte beispielsweise Kleinjoggs Arbeitswut die Heiratschancen seiner Kinder. Reich zu heiraten war ein zentrales Wirtschaftsziel jeder jungen Generation auf dem Dorf, um die Belastung der Erbteilung durch die Mitgift 438 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 23 217 teilweise auszugleichen. Zugleich waren mögliche Ehekombinationen ein Gradmesser für den Status einer Familie im Dorf. Obwohl ihr Vater der reichste Bauer in Wermatswyl war, wurde eine adäquate Heirat für Kleinjoggs Söhne zum Problem: „(E)s schmerzte ihn, daß sein noch unverheirateter Sohn, auch einen Hang zeigte, durch Heyrathen reich zu werden, und dem Vater oft Mißvergnügen in seiner Miene blicken lassen[!], weil er erfahren, daß die harten Grundsätze seines Vatters, die so sehr von der gemeinen Art zu denken abwichen, reiche Töchtern abgeneigt machten, in dieses Haus zu heyrathen“439. Auch wenn sich dieses Problem letztlich doch durch eine Ehe löste, drohte schon der nächste Konflikt, der Machtkampf um den Hof unter den Generationen. Nach dem Tod seiner Frau sollte sich Kleinjogg, wie es ‚bräuchlich‘ war, aus dem Betrieb schrittweise zurückziehen, denn jeder gesunde Bauernhaushalt beruhte auf einer kooperierenden Paarstruktur. Verwitwung hieß für den überlebenden Teil, Übergabe des Hofes an die jüngere Generation. Zum Anführer der Opposition gegen Kleinjogg entwickelte sich der Schwiegersohn: „(N)ach ihrem Tode glaubte der Tochtermann mehr Recht zu haben, das Haus regieren zu helfen, und sich den 439 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S. 280 218 besondern Einfällen des Vatters zu widersetzen, die so oft den Neid und den Spott der Nachbarn erweckten“440. Als Kleinjogg es dann auch noch wagte, sich ein zweites Mal zu verheiraten, und dazu noch unter seinem Stand, schlug das Feuer ins Dach und der Wirtschaftsverband brach auseinander. Der Schwiegersohn verließ den Hof und übernahm eine andere Pacht, die Kinder rebellierten offen, und selbst die arme Witwe, der Kleinjogg den Antrag machte, erbat sich Bedenkzeit: „Er forderte deswegen diese arme Witwe zur Ehe auf, die es selbst im Anfange nicht begreiffen konnte, einen solch angesehenen Bauer zu heyrathen. Er ließ aber nicht nach, bis sie sich mit ihm versprach. Seine Kinder wurden dadurch sehr entrüstet. Sie hielten es für eine Beschimpfung ihres Hauses, daß der Vater ihnen eine arme Witwe zur Hausmutter einsetzen wollte, und der Hausfriede schien in Gefahr für immer zerstört zu werden. Neid und Verläumdungssucht (…) schrieben das Unternehmen Kleinjoggs ganz anderen Beweggründen zu (…). Die Heyrath ward als ein Deckmantel der Geilheit des entlarvten Philosophen verschrieen, und Kleinjogg ward genöthigt, die Heyrath zu verzögern; aber er wich von seinem Grundsatze nicht ab, daß es unentbehrlich seye, den Hochmuth seiner Kinder herabzustimmen, und ihnen eine Hausmutter, die sich ganz von ihm leiten liesse, vorzusetzen. (…) Nach und nach gewöhnte er seine Söhne wieder an den Gedanken, daß Armuth nicht beschimpfe (…) und willigten endlich 440 Ebda., S. 120 219 selbst in seine Heyrath ein, welche hierauf vollzogen wurde“441. Um seine Superiorität auf dem Hof zu wahren, stellte Kleinjogg durch eine zweite Heirat die Herrschaftsbasis auf dem Hof wieder her. Deviant verhielt er sich vor allem dadurch, dass er die Heirat nicht als Chance zur Besitzmehrung begriff, sondern ‚nach unten‘ heiratete. Klug verhielt er sich jedoch in einem macchiavellistischem Sinn, weil er sowohl den ‚Hochmut seiner Kinder herabstimmen‘ konnte, und zugleich eine höchst devote Lebenspartnerin gewann. Erst diese statusinadäquate Heirat sicherte Kleinjoggs patriarchalischen Führungsanspruch für einige weitere Jahre ab. Testamentarisch regelte Kleinjogg den künftigen Erbgang, um Streitigkeiten vorzubeugen. Einer der Söhne wurde zum künftigen Wirtschaftsleiter bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt bereits brach Kleinjogg mit seinen Wirtschaftsmethoden, um einem erneuten Aufstandsversuch zu begegnen: „Die allzuhitzigen Widersprüche seines Tochtermanns, welcher selbst die Söhne auf seine Seite zu lenken wußte: daß sie sich des Vatters festen Grundsätzen, als Sonderheiten und wun[der]lichem Eigensinn zu widersetzen anfiengen: bewog endlich den Vatter (…) seine Lieblingsidee fahren zu lassen, seine Nachkommen in einer 441 Ebda., S. 282 f 220 sich immer erhalten“442. weiter ausbreitenden Haushaltung zu Der Opposition seiner erwachsenen Kinder, die bis auf eines dem Traditionalismus erneut verfielen, war Kleinjogg nicht länger gewachsen. Diese sich aufschaukelnde Gegnerschaft zeigt, wie gefährdet Kleinjoggs ‚Modernität‘ stets war. Seine rigide Pädagogik wie auch die Isolation der Familie vom dörflichen Umfeld schützte die jüngere Generation nicht vor dem Rückfall in den Hedonismus und die sittliche Ordnung der alten Dorfkultur. Kleinjogg war mithin nicht nur eine singuläre Bauernfigur zu seiner Zeit, ein pietistisch verformter Sonderling. Sein Beispiel erweckte auch kaum Nachfolger, zu unattraktiv war ein Lebensmodell, das aus Buckeln, Buddeln und Beten bestand. Von seinen Wirtschaftsmethoden, deren innovativer Charakter nicht überschätzt werden darf, ging vielleicht ein geringer Einfluss auf andere Bauern aus. Seine Arbeitsdisziplin aber, wie auch der Asketismus seines sittlichen Lebenswandels, fanden keine Nachahmer im Bauerntum, noch nicht einmal in der eigenen Familie. Spuren hinterließ Kleinjogg vor allem in der Literatur, in den tugendhaften Bauernfiguren der Volksaufklärung, später dann in den romantisch verklärten Figuren der ‚Dorfgeschichten‘, die vor allem auf ein bürgerliches Lesepublikum zielten. Die Dorfbewohner der Empirie aber wurden vom Markt viel wirkungsvoller erzogen, als von der Literatur. 442 Ebda., S. 285 221 Auch Kleinjoggs Biograph vollzog einen bemerkenswerten Wandel seiner Ansichten, weg vom Physiokratismus, hin zum Moralismus und Patriotismus. Wo 1761, im ersten Band der Lebensbeschreibung, wie auch in der zweiten Auflage des Jahres 1774, die Ökonomie des ‚philosophischen Bauern‘ im Zentrum stand, da spielten in der ‚Neuen Prüfung‘ des Jahres 1785 innovative Wirtschaftsmethoden nur noch eine randständige Rolle. Nun war der moralische Charakter des Musterbauern ins Zentrum des Interesses gerückt. An der Person Kleinjoggs illustrierte Hirzel eine aufgeklärte Gesellschaftsutopie aus obrigkeitlicher Sicht, die alle Stände umfassen sollte. Jakob Guyer wurde zum bloßen Anlass, die großen gesellschaftlichen Fragen zu debattieren. Die ‚Neue Prüfung des Philosophischen Bauers‘ eröffnete ein Kapitel, das diese erweiterte Zielsetzung deutlich machte. Die Menschheit war in den Fokus gerückt: „Ein Blick auf die Harmonie und die Würde der Menschheit aus verschiedenen Ständen der Menschen. In Kleinjoggs Sandgrube“443. Der Inhalt dieses Textes überschritt den engen Radius der physiokratisch-ökonomischen Reformen und skizzierte eine gesellschaftliche Utopie. Hirzel hob in diesem Text die ständische Gliederung der Gesellschaft an einem Punkt auf, an dem der moralischen – in Hirzels Worten – der ‚philosophischen‘ Gleichheit aller Menschen: Zwar seien alle Menschen in Bezug auf Rang, Vermögen und rechtliche Stellung geschieden. Diese Differenz 443 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O,, S, 1 - 88 222 sei auch unaufhebbar. Doch in allen Ständen gäbe Menschen, „die alle den Namen ächter Philosophen verdienten“444. Philosophen seien diese Menschen aber nicht, weil sie unerfüllbare Ideale vertreten würden, oder weil sie über systematische Schulung oder umfassendes Wissen verfügten, sondern deshalb, weil sie die Fähigkeit besäßen, aus eigener intellektueller Einsicht vernünftige Prinzipien praktischen Handelns zu entwickeln, deren Endzweck allemal die gesellschaftliche Gemeinnützigkeit sei. Vom utilitaristischen Gesichtspunkt der ‚gesellschaftlichen Nützlichkeit‘ her bestimmte sich damit Hirzels Definition eines Philosophen. Der Sinn seines „Lieblingsausdrucks“ sei es, schrieb Hirzel, dass „den philosophischen Bauern, den philosophischen Kauffmann, den philosophischen Staatsmann“ ein gemeinsames Ziel verbinde, „wo Denken, Reden und Thun immer auf eine gemeinsamen nuzlichen Endzweck zusammenstimmen“445. Auf der Basis seiner Philosophie, wo jeder Schuster bei seinem Leisten zu bleiben habe, unterwarf Hirzel dann Kleinjogg einer Gewissensprüfung, die dieser natürlich mit Bravour bestand. Sein Herz zeige sich rein von religiöser Intoleranz, er sei voll und ganz mit seinem Stand zufrieden und erfülle unermüdlich seine Arbeitspflichten. Kleinjoggs Produktivität und sein obrigkeitstreuer Charakter wurden so zu Gradmessern des erreichten Standes der Volksaufklärung 444 Ebda., S. 16 Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. 2 Abtheilungen. Zürich u. Winterthur 1779, S. 4 445 223 im Land. Ihnen verdankte Kleinjogg den Namen eines ‚Philosophen‘: „Ich kann aber nichts des Namens des Philosophen würdiger finden, als in dem Kreise des Berufs, in den uns die Vorsehung gesetzt hat, alle Leibs- und Seelenkräfte so viel möglich zu entwickeln, und sie nutzlich anzuwenden; in allen Unternehmungen auf den Endzweck zu sehen, für die Erfüllung seiner Pflichte[!], keine Zeit, keine Kraft ungenutzt zu lassen; und wer dieses befolgt, ist Liebhaber der Weisheit – ein Philosoph – seye er Bauer, Regent, Gelehrter, Künstler, Kriegsheld, oder auch ein König!“446. Im folgenden Text entfernte sich Hirzel weit von der ursprünglichen Absicht, mit der Lebensbeschreibung Kleinjoggs anderen Bauern ein „ermunterndes Beyspiel, der Treue in seinem Beruffe und des dadurch sich zugezogenen Seegens“447 zu geben. Kleinjoggs Tugenden waren zu gesamtgesellschaftlichen Anforderungen geworden. Hirzel illustrierte jetzt ihre Nützlichkeit für den wahren Republikaner wie für den Kaufmann oder den Handwerker. Sie alle wurden zu Dienern im Garten des Herrn, der in Kleinjoggs Sandgrube zu suchen war. Die Volksaufklärung hatte sich in eine Schule des Patriotismus verwandelt. Sie war zur Vorläuferin des Nationalismus geworden. 446 447 Hirzel: Neue Prüfung, a.a.O., S.60 Ebda., S. 20
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