Untitled - Manuskript Info

Er hörte Stimmen, eilige Schritte, unten im Flur.
Sie werden zu dritt oder viert sein, ging es ihm durch den
Kopf. Er wusste, nun ging alles sehr schnell!
Schon gestern hatte er mit ihnen gerechnet. Deshalb war er
jetzt nicht überrascht, hatte sich nicht die Mühe gemacht,
vom Fenster aus auf der belebten Straße nach ihnen
Ausschau zu halten.
Er war weder nervös, noch war er beunruhigt, obwohl sie
jetzt kamen, um ihn zu töten. Er konnte es nicht verhindern – wollte es nicht mehr verhindern.
Die letzten Minuten meines Lebens, überlegte er.
Er schaute sich noch einmal um in dem Hotelzimmer. In
den drei langen Tagen, seit seiner Ankunft aus
Deutschland war es so etwas wie ein Zuhause für ihn
geworden. Es war der letzte Ort, an dem er lebte. Der letzte
Ort, der all seine Gedanken, all seine verlorenen Wünsche
und Träume noch für eine Zeit beherbergen würde, wenn
er gleich sterben musste.
Alles andere war fern und unwirklich. Als hätte es nie
existiert. So, als hätte er nie ein tatsächliches, nie ein reales
Leben vor diesen drei Tagen hier gelebt.
Er betrachtete die vergilbte Tapete. Sie war stark verblasst
in all den Jahren, die sie nun schon hing. Hier und da
waren Schrammen und Einkerbungen in Tapete und Wand,
fehlten ein paar kleine Stückchen. Unachtsamkeit und
Sorglosigkeit hatten dies hinterlassen. Jemand war mit
einem kantigen Koffer oder mit einem sperrigen Gegenstand vorbeigeschrammt. Das Muster war vor langer Zeit
einmal modern gewesen, aber, dass war wohl schon lange
her. So, wie er selber, so schien auch diese Tapete aus
einer anderen Welt zu stammen.
Im Zimmer war die Zeit einfach stehen geblieben, wie bei
ihm in den letzten Tagen. Auch er kam aus einer anderen
Welt. Aus einer Welt, in der sich Dinge zugetragen hatten,
die er sich früher niemals hätte vorstellen können.
Unerwartete Ereignisse waren eingetreten, hatten sich und
dann irgendwann auch ihn selber überstürzt. Sie hatten ihn
überrascht und plötzlich überrollt! Bisher gelebte
Normalität war aus dem Gleichgewicht, aus den Fugen
geraten! Sie war gegen eine andere, gegen eine grausame,
aber doch tatsächlich existierende Realität ausgetauscht
worden. Nur diese neue Realität zählte noch!
Es gab kein Entrinnen mehr daraus für ihn. Er lebte in ihr,
war ein Teil von ihr geworden, gestaltete sie urplötzlich
mit, lebte und erfüllte diese Realität mit ihren eigenen und
grausamen Gesetzen. So viel war geschehen!
Sein Blick blieb im Spiegel schräg gegenüber von dem
Tisch, an dem er saß, hängen. Emotionslos betrachtete er
sich – fast emotionslos, denn er bemerkte, die letzten
Wochen waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen.
Müde sah er aus. In Kürze wäre er 45 Jahre alt geworden.
Seine sportlich schlanke Figur, sein markantes Gesicht, die
kurzen dunklen Haare, die den Ansatz eines Grautons
langsam hervorbrachten, sein gesamtes, gepflegtes
Äußeres, machte ihn wohl zu so etwas, was man einen
attraktiven und gutaussehenden Mann nannte.
Langsam löste er sich von seinem Spiegelbild, schaute
hinüber zu den matten, dünnen Gardinen. Gleich am Tag
seiner Ankunft hatte er sie zugezogen. Das grelle
Tageslicht drang so nur mäßig in sein Zimmer. Schlaff und
träge bewegten sie sich ab und zu im Hauch eines kaum
wahrnehmbaren Luftzuges, der viel zu warm von der
Wüste her durch das geöffnete Fenster drang, vermischt
mit dem quirligen Lärm der Straße.
Sein Blick glitt weiter zu dem schmucklosen, schmalen
Kleiderschrank. Die Zeit und der achtlose Umgang durch
seine Benutzer hatten ihm über die Jahre arg zugesetzt.
Eine der beiden Türen schloss wohl schon lange nicht
mehr richtig. Der Schlüssel fehlte. Niemand hatte sich je
die Mühe gemacht, ihn zu ersetzen. Sobald man die Türe
schloss, öffnete sie sich gleich darauf wieder mehr als nur
einen Spalt breit. Es störte im Vorbeigehen, da sie den
wenigen Platz zwischen Schrank und Bett noch schmaler
machte. Man musste die Türe jedes Mal im Vorbeigehen
zudrücken.
Doch wen interessierte dies schon wirklich, ging es ihm
durch den Kopf.
Der schmuddelige, dicke Besitzer des Hotels, der unten an
der Rezeption saß, wusste wahrscheinlich nicht einmal um
diese Sache. Und wenn, so wäre es ihm wohl ziemlich
gleichgültig gewesen. Er hätte es eh nicht geändert.
Umso erstaunlicher war es, dass das Zimmer trotz der
Jahre und trotz dieses schmuddeligen Besitzers so sauber
war, überlegte er weiter.
Die Einrichtung war wahrscheinlich vom ersten Tag an bis
heute die gleiche geblieben. Nichts war je geändert
worden. Nur die Zeichen der Zeit und des Gebrauchs
hatten ihre Spuren hinterlassen.
So, wie Falten im Gesicht der Menschen langsam ihre
Spuren hinterlassen, sich mehr und mehr eingruben und
ihn durch diesen prägenden Eindruck immer stärker
charakterisierten. So ähnlich war es auch diesem Hotelzimmer ergangen, dachte er.
Er schaute zu dem Bild an der Wand. Es war ein Kunstdruck in einem einfachen Holzrahmen.
Und wie so oft, dachte er, war es der Druck eines Renoirs.
Wahrscheinlich gehörte diese Art der Drucke zum
Standardrepertoire von Hotelausstattern weltweit, überlegte er. In vielen Hotels, in denen er gewesen war, hatte er
ähnliche Bilder wie diese hängen sehen.
Auch an diesem Renoir waren die Jahre nicht spurlos
vorübergegangen. Der Druck hatte seine ursprünglichen
Farben wohl zeitgleich mit den ausgebleichten gelblichen
Gardinen oder bereits etwas früher verloren. Die erblasste
Sonnenblumenlandschaft passte nunmehr zumindest
farblich dazu.
Wer das Bild wohl ausgesucht hatte, damals, vor langer
Zeit? Der Dicke unten an der Rezeption bestimmt nicht.
Vielleicht gehörte ihm das Hotel noch nicht, als es eröffnet
wurde. Und wenn doch, hatte seine Frau es bestimmt
ausgesucht. Hatte der Dicke überhaupt eine Frau?
Seltsam, dachte er, welche Gedanken einen beschäftigen,
wenn man seine Mörder erwartet.
Auch diese Situation hätte er sich anders vorgestellt, wenn
ihn früher jemand nach solchen Dingen befragt hätte.
Bestimmt war die Frau dem Dicken eines Tages weggelaufen, nachdem sie sein wahres Wesen, seine zunehmende Trägheit nach Jahren stetiger Gleichgültigkeit
erkannt hatte. Bestimmt hatte er sie auch ab und zu
geschlagen. Irgendwann war sie dann mit einem Gast oder
einfach so auf und davon gewesen. Der Dicke war
wahrscheinlich nicht einmal erstaunt gewesen, als er eines
Tages mehrere Male nach ihr gerufen hatte und keine
Antwort bekam, sie war einfach nicht mehr erschienen.
Ohne Abschiedsbrief, ohne ein Wort.
Er war durchs Hotel gegangen, hatte sie nirgendwo
gefunden. Dann hatte er im Schlafzimmer nachgesehen,
die Kleiderschränke hatten offen gestanden. Er sah, dass
einige ihrer Sachen fehlten, Koffer und Reisetasche waren
verschwunden, so wie sie.
Sie war plötzlich einfach nicht mehr da gewesen in seinem
Leben. Er würde sie schon nach kurzer Zeit nicht wirklich
vermisst haben. Heute nicht und damals nicht. Nur ihre
Arbeitskraft und ihr Gefällig sein im Bett von Zeit zu Zeit,
das fehlte ihm wohl ab und zu. Denn jetzt musste er
jemanden für all die Dinge bezahlen, die sie früher
verrichtet hatte. Im Hotel und auch im Bett.
Ja, so würde es gewesen sein mit den Beiden, dachte er, sie
war plötzlich einfach nicht mehr da.
So, wie ich gleich einfach nicht mehr da sein werde,
überlegte er, auch ich werde einfach verschwunden sein
aus diesem Leben, von dieser Welt und niemanden
interessierte es, niemand würde ihn vermissen!
Gleich würde nichts mehr so sein, wie früher – obwohl,
wie früher war für ihn schon seit einiger Zeit nichts mehr!
Doch dies alles, dieses Früher, lag weit zurück, obwohl es
noch gar nicht so lange her war. Ein fernes, anderes Leben
streifte vorbei, wie hinter dumpfen Nebelschwaden. So
weit zurück…
Er dachte an früher, so fern…
Wann hatte es eigentlich angefangen? Er überlegte kurz,
erinnerte sich. Er hatte Necla zum ersten Mal in Hamburg
in dem türkischen Bistro gesehen. Dort ging er hin, nach
der Arbeit, um einen Kaffee zu trinken oder am Abend,
wenn er noch eine Kleinigkeit essen oder auch nur ein Bier
trinken wollte. Dort hatte er sie kennen gelernt.
Gencal, der Besitzer, war ein freundlicher junger Mann
und Eldem, seine Frau, verstand es, türkische Gerichte und
Spezialitäten schmackhaft zuzubereiten. Es war immer
etwas los hier.
Gencal stand auch an diesem Abend wie immer hinter dem
Tresen, als er das Lokal betrat.
„Hallo, Sebastian, ein Bier?“ grüßte der Wirt ihn
freundlich, als er sich an die Theke setzte.
„Hallo! Ja, bitte.“
Er schaute sich um, während Gencal ein noch tropfendes
und frisch gespültes Glas neben dem glänzenden Edelstahlbecken wegnahm, um es dann unter den Zapfhahn zu
halten. Er drehte den Hahn auf und der Bierstrahl ergoss
sich schäumend in das bauchige Glas.
Am Tresen saßen noch zwei Gäste, die Sebastian vom
sehen her flüchtig kannte. Ein paar Tische waren besetzt,
zumeist mit Paaren unterschiedlichen Alters. An einem
dieser Tische stand eine junge Frau und nahm eine
Bestellung auf. Er kannte sie nicht.
Muss wohl eine neue Bedienung sein, dachte er bei sich.
Dann wandte er sich wieder Gencal zu, der einen
Bierdeckel vor ihm auf den Tresen legte, um das frisch
gezapfte Bierglas darauf abzustellen.
„Wohl bekomm's.“
Er nahm das Glas vom Deckel, es hinterließ einen runden
feuchten dunklen Kreis als Abdruck.
„Danke dir, dann Prost.“
Die neue Bedienung kam jetzt hinter die Theke. Sie gab
die Getränkebestellung an Gencal weiter.
„Zwei Bier und ein Radler für Tisch 5“, sagte sie kurz,
wandte sich dann an der Durchreiche zur Küche hinüber
und schob einen Zettel über die Ablage. Dabei rief sie
etwas in die Küche hinein. Sebastian konnte es nicht
verstehen, es würde wohl türkisch sein, nahm er an. Dann
drehte sie sich um. Sie bemerkte, dass ein neuer Gast am
Tresen saß und grüßte kurz zu ihm hinüber. Sebastian
erwiderte den Gruß.
Gencal wies auf ein Tablett mit Getränken und stellte noch
ein frisches Bier darauf ab.
„Tisch 3 ist fertig“, wandte er sich zu ihr. Sie nahm das
Tablett und ging zu den Gästen hinüber.
„Hast du eine neue Bedienung, Gencal?“
„Ja, das ist Necla, meine Schwester. Sie ist vor kurzem von
Süddeutschland nach hier gezogen.“
„Sie macht einen sehr netten Eindruck.“
„Ist doch klar, bei dem Bruder“, erwiderte er scherzhaft.
Necla kam zurück. Sie fing an, einige Gläser zu spülen.
„Wie viele Geschwister hast du denn überhaupt?“
Gencal überlegte kurz, während er die Bestellung für Tisch
5 fertig machte.
„Also, wie gesagt, Necla hier ist meine ältere Schwester.“
Er wandte sich zu ihr. „Das ist übrigens Sebastian, ein
guter Stammgast, also sei nett zu ihm“, stellte er die beiden
kurz vor.
„Hallo“, sagte Necla und er gab ein kurzes „Hallo“ zurück.
„Dann ist da noch meine Zwillingsschwester Sema und
mein älterer Bruder Hakan. Außerdem haben wir noch
zwei Halbschwestern und einen Halbbruder, also sieben
insgesamt.“
„Und leben alle in Deutschland?“
„Nein. Nur wir beide und Sema wohnen in Deutschland.
Hakan wohnt inzwischen in Amerika und die anderen
Geschwister in der Türkei.“
Sebastian trank sein Glas leer.
„Und eure Eltern, wo wohnen die?“
Gencal hielt einen Moment inne und schaute ihn an. Dann
fuhr er etwas kürzer angebunden fort: „Die wohnen auch
in Deutschland. Jetzt weißt du aber genug! Trink lieber
noch ein Bier.“
„Ich wollte nicht zu neugierig sein, sorry. Dann mach mir
doch endlich noch eins.“
„Ist schon in Ordnung“, antwortete Gencal, nahm ein
neues Glas und zapfte es an.
Sebastian wandte sich an die Neue.
„Gefällt Ihnen Hamburg, Necla?“
„Ja, was ich bisher so gesehen habe, es ist sehr schön hier.
Ich hatte aber noch nicht viel Zeit, mir die Stadt anzuschauen.“
Sie stellte die frisch polierten und sauberen Gläser hinter
sich ins Regal. Dann drehte sie sich wieder zu ihm. Sie war
wirklich sehr nett, dachte Sebastian, nein, sogar sehr
hübsch, korrigierte er sich dann in seinen Gedanken. Sie
hatte dunkle Augen und eine sehr sympathische, angenehme Stimme, weich und geschmeidig hörte sie sich
an.
„Sobald ich meine Wohnung fertig eingerichtet habe, wird
sich das ändern, dann schaue ich mir alles hier in Ruhe
an.“
Sie lächelte ihm kurz zu, nahm ein leeres Tablett und ging
wieder zu einem der besetzten Tische, um eine neue Bestellung aufzunehmen.
Ja, so hatte alles angefangen, ging es Sebastian jetzt durch
den Kopf. Er starrte wieder in den Spiegel gegenüber von
ihm, im Hotelzimmer.
Die Gedanken an früher und an seinen bevorstehenden Tod
berührten ihn nicht mehr wirklich. Es machte ihm nichts
mehr aus! Er hatte abgeschlossen. Er wollte nur noch
Rache, nur noch Gerechtigkeit.
Erst hatte er gedacht, dass Geschehene würde ihm das
Herz zerreißen, ihn in den Wahnsinn treiben. Aber dem
war nicht so. Darüber war er des Öfteren selbst verwundert
gewesen, in letzter Zeit, wenn ihn die Gedanken über das
Vergangene, die Gedanken über das, was er selber auch
getan hatte, einholten, am Tag, in der Nacht, diese ihn
nicht mehr losließen.
Nachdem der erste tiefe Schmerz nachgelassen hatte, die
wirren Gedanken der existierenden Realität gewichen
waren, hatte überlegtes, ja, fast kaltes, logisches Denken
sein Handeln geprägt. Mit Erfolg!
Wenn man in einem solchen Fall überhaupt von so etwas
wie Erfolg reden konnte.
Aber, das war auch ein Grund, weshalb er sich nicht an die
deutsche Botschaft wandte, um dort den Schutz zu suchen,
der ihm als deutscher Staatsangehöriger wohl zugestanden
hätte hier im Ausland.
Er hatte sich bewusst von Deutschland aus nach Afrika
abgesetzt vor drei Tagen und er hatte bewusst Spuren
hinterlassen, damit die anderen ihn finden würden.
Er hatte gewusst, die deutsche Justiz würde etwas länger
brauchen, um ihn ausfindig zu machen, als diese Männer,
die nun kamen, um ihn zu töten. Die Behörden würden
länger brauchen, um ihn über die Botschaft verhaften und
ausliefern zu lassen. Eh dies seinen bürokratischen Weg
nehmen würde, war er längst tot, hatte sein Plan sich lange
schon erfüllt.
Es blieben ihm noch die wenigen Minuten, dieser Raum,
der Tisch, der Stuhl, auf dem er saß, das Glas mit dem
Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand. Vor allen
Dingen aber, die geladene, entsicherte Pistole, die vor ihm
lag, neben dem Wasserglas. Die Waffe gab ihm Ruhe, gab
ihm die Gelassenheit, die ihn jetzt erfüllte.
Er braucht ihn nicht, um sein Leben zu retten, um sich zu
verteidigen. Nein, das wollte er nicht! Nur einen bestimmten dieser Männer, die sich nun vorsichtig über die
Treppe im Flur seinem Zimmer näherten, einen ganz bestimmten, den wollte und würde er mit in den Tod nehmen.
Das war sein einziges, sein wirkliches Ziel in der letzten
Zeit gewesen!
Die anderen, die mitkamen, die interessierten ihn nicht
wirklich. Sie waren unbedeutend für ihn. Völlig unbe-
deutend. Auch, wenn sie dabei waren, um ihn umzubringen.
Sein Blick fiel wieder auf das mit Glas Wasser, das vor
ihm auf dem Tisch stand. Er hatte es seit Stunden immer
wieder angestarrt. Es befand sich nur noch ein Rest Wasser
darin. Es würde gewiss mehr als lauwarm sein, so lange
stand es schon da. Er hatte einige Schlucke genommen, als
es noch frisch und kühl war. Seitdem war die Zeit vergangen, langsam und unaufhaltsam war sie zerronnen.
Eine Ewigkeit, dachte er, wie eine Ewigkeit, wenn man auf
seinen Tod wartet.
Die Stimmen kamen näher, waren gedämpft zu vernehmen. Selbst, wenn sie lauter geredet hätten, er hätte sie
nicht verstanden, er sprach kein türkisch. Die Männer
hatten wohl die oberen Treppenstufen im Flur erreicht.
Sie nahmen wahrscheinlich an, er habe sie vorher nicht
kommen hören, unten an der Rezeption. Aber, wenn man
auf seinen Tod wartete, dann hörte man auf viele Dinge,
die man vorher nicht beachtet, denen man keinerlei Bedeutung geschenkt hatte.
Sie hatten an der Rezeption nach ihm gefragt und der fette,
unangenehm riechende Besitzer gab gegen einen kleinen
Obolus neugierig und gewichtig sofort die Auskunft, dass
sich der besagte Gast bereits seit seiner Ankunft vor drei
Tagen da oben aufhielt. Nur das Frühstück und das
Abendessen ließ er sich aufs Zimmer kommen – wohl ungewöhnlich genug. Zumal er die ganze Zeit darin alleine
verbrachte, was auch nicht so üblich war in einer Stadt wie
dieser, am Rande der Wüste Afrikas.
Er wies den Männern den Weg zur Treppe und zum
Zimmer Nr. 23 hin.
Obwohl dem Dicken da unten seine Neugierde mächtig
zusetzte, wusste er doch zu gut, dass es nun besser wäre,
wenn er jetzt für kurze Zeit seinen Stammplatz an der
Rezeption verlassen würde. Er würde nach gegenüber in
die kleine Bar gehen, sich einen Kaffee und einen Cognac
oder einen Pastis bestellen und solange warten, bis die
Männer sein kleines Hotel wieder verlassen hatten. Er
wusste, dass konnte nicht allzu lange dauern. Er selber
würde anschließend schnell zurückkehren, die Treppe
empor hasten, schwitzend vor Hitze, schwitzend wegen
seiner Körperfülle, aber auch ein wenig deswegen, weil
ihm in solchen Situationen immer die Angst im Nacken
saß. Er wusste genau, was ihn erwartete, aber trotzdem war
immer etwas Angst dabei. Dann würde er die angelehnte
Türe zu Zimmer 23 langsam einen Spalt weit öffnen, um
sich zu überzeugen, dass die Leiche dieses Fremden dort in
seiner Blutlache lag, dass der Mann auch wirklich tot war.
In all den Jahren war er clever genug gewesen, in solchen
Momenten den Toten schnell noch die Ringe vom Finger
zu ziehen, die Armbanduhr zu entfernen, um sie einzustecken und dann die Brieftasche zu leeren. Niemand
würde jemals nachweisen können oder auch wirklich danach fragen und wissen wollen, ob er die Wertgegenstände
entwendet und an sich genommen hatte. Wen interessierte
das schon? Dann erst würde er wieder hinunter an die
Rezeption gehen, um die Polizei zu alarmieren. Bevor die
Polizisten eintrafen hatte er noch Zeit genug, Ringe und
Uhr in sein Büro zu bringen und dort zu verstecken. Es
wusste ja eh niemand, welche Gegenstände der Fremde bei
sich getragen hatte. Also brauchte er sich eigentlich nicht
einmal die Mühe machen, um etwas wirklich zu verbergen
oder zu verstecken.
Hinsichtlich der Zimmermiete musste er sich auch keine
Gedanken machen. Der Fremde hatte für eine Woche im
Voraus bezahlt.
So saß der Besitzer aber erst einmal schwitzend in der Bar
gegenüber und wartete ab – er wartete genau wie der Mann
dort oben in seinem Hotelzimmer. Nur würde der Dicke in
einigen Minuten noch am Leben sein, der Fremde aber
nicht.
Sollte die Polizei aus irgendeinem Grunde unangenehme
Fragen stellen, so könnten genügend Leute bezeugen, dass
er sich gerade in der Bar aufgehalten hatte, als der Mord
passiert war, als die Schüsse fielen. Er konnte also kaum
wissen, wer zu dem besagten Zeitpunkt im Hotel ein- und
ausgegangen war.
Sebastian schaute noch einmal zu der Pistole hin, die ein
kleines Stück entfernt vom Wasserglas lag. So ruhig, wie
das Wasser im Glas vor ihm, so ruhig saß er auf seinem
Stuhl. So klar, wie dieses Wasser da vor ihm, so klar waren
seine Gedanken, so klar konnte er die Situation übeblicken.
Dann griff er nach der Waffe. Verwundert bemerkte er,
wie kühl sie sich in seiner Hand anfühlte. Trotz der Hitze
um ihn herum fühlte sie sich kühl an.
Die Männer im Flur draußen würden jetzt sicherlich sehr
schwitzen, ging es ihm durch den Kopf. Sie würden
schwitzen von der Hitze draußen in den engen, staubigen
Straßen, von der Hitze unten im Empfangsraum und von
der Aufregung und Angst, da sie ihn gleich umbringen
mussten.
Und von dem Treppensteigen in dieser feuchtschwülen,
stickigen, heißen Luft, überlegte er weiter.
Plötzlich waren keine Schritte mehr zu vernehmen. Sie
mussten am oberen Ende der Treppe, oben im Flur angekommen sein und sie würden sich für einen Augenblick
orientieren. Eine seltsame Stille herrschte für den Moment.
Auch von der Straße her, so schien es ihm jetzt, drang
kaum noch ein Geräusch zu ihm hinauf. Dabei war dort
doch immer bis spät in die Nacht hinein reger Trubel. Und
es war noch nicht spät.
Seltsam, dachte er, aber es wird wohl so sein, dass der
Trubel immer noch da ist. Die Straße wird ja plötzlich
nicht leer sein oder die Leute draußen schwiegen, nur weil
er gleich erschossen würde oder weil er vor seinem Tod
noch einen Menschen umbringen würde.
Besser gesagt, erschießen würde, korrigierte er sich in
seinen Gedanken, denn umbringen war nicht die treffende
Definition. Er würde ihn nur erschießen, das war etwas
anderes. Es war ein großer Unterschied für ihn, da er sich
im Recht fühlte, im Recht war!
Er lauschte wieder zur Türe hin, lauschte in sich hinein. Er
bemerkte, dass er keine größere Regung empfand, dort
drinnen, in sich. Im Gegenteil. Er empfand Ruhe! Ruhe
und Genugtuung.
Es wird wohl eher so sein, überlegte er, um noch einmal
auf die vermeintliche Stille dort draußen zurückzukommen, dass das Hirn einem einen Streich spielt. Wahrscheinlich wird es sich für den Augenblick dieses endgültigen Momentes ausschließlich nur auf sich selber und
auf die anstehende Situation konzentrieren.
In seinem Fall konzentrierte es sich auf die Männer
draußen im Flur und auf seinen Tod.
Es wird sich auf das konzentrieren, was gleich unweigerlich geschehen wird, nun endgültig geschehen musste,
analysierte er weiter, um eine logische Erklärung für diese
äußere und innere Ruhe zu finden.
Dabei fiel ihm ein, dass Necla ihm einmal von dieser
Ruhe, von diesem Aussetzen im Kopf bei völligem Bewusstsein erzählt hatte. Es war bei ihr damals in der Türkei
gewesen. Sie war gerade zwölf Jahre alt. Ein älterer
fremder Mann hatte ihr eine Axt an ihren Hals gehalten,
eine Frau hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie
festgehalten und wieder ein anderer, ein jüngerer Mann,
der hatte sie dann vergewaltigt.
Als wäre es damals, hörte er Neclas weiche, sanfte Stimme
wieder erzählen. Sie beide hatten sich gerade etwas näher
kennen gelernt, damals, in Hamburg. Sie gefiel ihm. Er
hatte sie eines Abends im Lokal Ihres Bruders gefragt, ob
er ihr in den nächsten Tagen den Hafen und die Gegend
um die Landungsbrücken zeigen könnte, damit sie etwas
mehr sehe von der Stadt. Sie hatte ja gesagt. Zwei Tage
später hatten sie sich zum ersten Mal außerhalb des Lokals
getroffen.
Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Sie verstanden
und unterhielten sich gut, später hatten sie gemeinsam eine
Hafenrundfahrt gemacht. Abends waren sie etwas essen
gegangen. So hatten sie sich einige Male getroffen und
dann hatte er Necla gefragt, ob er sie einmal zu sich nach
Hause eingeladen dürfe, auf ein Glas Wein. Sie hatte ja
gesagt.
An jenem Abend, bei sich zu Hause, er war gerade dabei
gewesen, eine Flasche Wein zu öffnen, als sie unvermittelt
und ohne Verbitterung anfing zu erzählen.
„Weißt du“, hatte sie begonnen, „er war mein Cousin, er
hat mich vergewaltigt. Ich kannte ihn und die anderen zu
diesem Zeitpunkt erst seit kurzer Zeit. Wir waren ja gerade
von Deutschland in den Ferien in die Türkei gekommen.
Meine Eltern waren dann ohne mich zurückgereist, hatten
mich für eine Hochzeit dort gelassen, mich verkauft. Ich
wollte diese Hochzeit nicht, wollte auf keinen Fall jemals
mit ihm schlafen, mit diesem Cousin. Außerdem war ich ja
erst zwölf, er war 24 Jahre alt. Sein Vater, mein Onkel, hat
mir eine Axt an den Hals gehalten und ich fragte ihn
verstört und entsetzt, was dass alles sollte? Ich war so jung
und ich verstand es doch nicht, was da geschah. Da hat er
zu mir gesagt, heute Nacht wirst du mit Murat, meinem
Sohn schlafen oder ich schlitze dich auf! Ich merkte, er
meinte es ernst. Trotz meiner panischer Angst habe ich
ihm entgegen geschrien: ehe ich mit ihm schlafe, da
schlitze ich mich eher selber auf! Außerdem sei ich noch
zu klein für solche Dinge und ich müsse noch zur Schule.
Er hatte die Klinge für einen Moment von meinem Hals
genommen, da bin ich schnell aufgesprungen und zu dem
kleinen Fenster im Raum gelaufen. Ich habe es aufgerissen, aber nur die schwarze Nacht starrte mich dort an,
sprang mir entgegen. Laut habe ich um Hilfe geschrien.
Verzweifelt habe ich gehofft, dass mir jemand zu Hilfe
käme, denn die Menschen mussten mich ja hören
ringsumher. Ich sah, wie einige Lichter in den Häusern
angingen, einige gingen aus, aber nirgendwo öffnete sich
eine Tür. Niemand vom Dorf kam mir zu Hilfe, niemand.
Ich stand da mit meinen zwölf Jahren, verloren und alleine
und ich habe geweint. Am fernen Horizont wurde es
langsam heller, irgendwo dort hinten würde bald das erste
Morgenrot die dunkle Nacht zerreißen und vertreiben. Da
haben sie mich an den Haaren vom Fenster weggezogen,
mich angeschrien und geschlagen. Die Alte, Murats
Mutter, trat nach mir, es schmerzte und dann warfen sie
mich aufs Bett. Plötzlich verließen sie den Raum, da
draußen einige Männerstimmen riefen, um eingelassen zu
werden. Es waren andere Onkel von Murat, meinem
Cousin. Sie waren nun alle im Nebenraum. Du bist gerettet, dachte ich erleichtert, aber dann hörte ich, wie sie
mit Murat laut und heftig schimpften. Was für ein Mann er
denn sei, dass er immer noch nicht mit mir geschlafen
habe. Eine Schande sei er, eine Schande für die ganze
Familie, seine Eltern hätten schließlich für mich bezahlt,
so, wie es Tradition sei und nun habe die Familie auch ein
Recht, dass die Ehe und vor allen Dingen die Entjungferung der zukünftigen Frau, der Braut von ihm vollzogen
würde, auch bereits vor der offiziellen Hochzeit, solche
Dinge sagten sie.
Da bin ich vorsichtig zur Türe gegangen, habe sie einen
Spalt geöffnet und den Murat gerufen, ich wollte mit ihm
alleine sprechen. Bitte Murat, habe ich ihm gesagt, wenn
es nur dafür ist, dass du nach Deutschland willst, ich werde
dich auch so heiraten, damit du rüber kannst, ich werde so
tun, als sei ich deine Frau, aber, bitte, bitte fass mich nicht
an, lass mir meine Unschuld. Da hat er mir einfach mit
voller Wucht so eine ins Gesicht gehauen und geschrien:
du wirst meine Frau und ich werde mit dir schlafen! Alle
sagen zu mir, ich sei kein Mann und sie lachen mich aus,
wir werden das heute machen und ab dann immer wieder!
Dann ist er wieder raus, zu den anderen. Viele laute
Stimmen redeten nebenan durcheinander. Ich stand in dem
kalten Raum, alleine und einsam und habe nur noch
geweint. Warum hatte Mutter mich hier alleine zurück
gelassen? Sie würde doch genau gewusst haben, was sie
hier mit mir machen wollten.
Plötzlich öffnete sich die Türe und Murat kam mit den
beiden Alten wieder rein. Mit harten Griffen schmissen sie
mich auf das Bett zurück. Der Alte, Murats Vater, drückte
mir wieder die Axt gegen den Hals, dass ich mich nicht
mehr traute, mich zu bewegen oder zu wehren, ich wusste
in dem Moment, er hätte mich umgebracht. Meine Tante
beschrie mich ununterbrochen an mit Schimpfworten, die
ich teilweise gar nicht kannte und sie riss mir dabei die
Kleider vom Leib, dann hielt sie mich fest. Da hat der
Murat sich langsam die Hose geöffnet, im Beisein seiner
Eltern, kannst du dir das vorstellen? Er öffnete sich die
Hose und holte sein Ding raus.“
Sie hielt damals für einen Moment inne im Erzählen. Sie
hatte natürlich keine Antwort auf ihre Frage von ihm
erwartet und es klang fast so, als wäre das Schlimmste an
dieser grausigen Situation gewesen, dass der Cousin sich
im Beisein seiner Eltern die Hose öffnete!
Sebastian hatte sie etwas verdutzt, aber auch verunsichert
angesehen. In der einen Hand hielt er die noch ungeöffnete
Flasche Wein, in der anderen den Korkenzieher. Doch, als
sei es das Selbstverständlichste dieser Welt, sprach sie
einfach leise weiter, mit ihrer warmen, unverkennbaren
Stimme.
Fast so, als bemerke sie ihn nicht, als sei er nicht im Raum
gewesen und doch erzählte sie ihm alleine die ganze
Geschichte.
„Als ich den endgültigen Ernst der Situation begriff, die
Axt an meinem Hals spürte und mir plötzlich schlagartig
klar wurde, dass ich gleich gegen meinen Willen meine
Unschuld verlieren würde, als ich begriff, dass ein für
mich fremder Mann, vor dem ich mich in diesem
Augenblick nur noch ekelte, mir das Wertvollste nehmen
würde, das ich nach unserer Tradition besaß, da wurde
alles still um mich herum. Die Stimmen der anderen aus
dem Wohnraum nebenan, die laute Musik, die bis dahin
aus dem Radio dort gedudelt hatte, dies alles verschwand
gegen eine seltsame, unwirkliche Stille. Wie in einem
fernen Nebel nahm ich die Geräusche nur noch wahr – und
mein Herz, mein junges unschuldiges Herz, das hörte ich
ganz heftig schlagen. Poch, Poch, Poch! So hörte ich es
deutlich und schnell in meiner Brust schlagen! Ich sah, wie
in Zeitlupe, aber exakt umrissen und wie durch einen
Fokus betrachtet, die unabwendbaren Geschehnisse auf
mich zukommen, in einem Raum voll Stille, der aber
dennoch nicht ruhig war. Weder diese drei schrecklichen
Menschen im Zimmer waren still, noch war es draußen
ruhig. Mir aber kam es so vor. Ich nahm plötzlich nur noch
die Geschehnisse wahr, aber, ich hörte keine Geräusche
mehr um mich herum. Ich fühlte nur noch die kalte Klinge
am Hals, spürte die Angst, dass diese jeden Augenblick
meine Kehle durchtrennen könnte, wenn ich auch nur eine
falsche Bewegung machte oder den Kopf drehen würde.
Ich wusste, sie meinten es ernst! Ich sah die alte Frau, die
mir die Sachen vom Leibe riss und dann spürte ich Murat,
meinen zwölf Jahre älteren Cousin. Mit aufgerissenem
Mund und irrem, gierigem Blick in den Augen warf er sich
über mich. Die Alte hielt mich nun mit hartem und
unbarmherzigem Griff fest. Als sie merkte, dass ich mich
wehrte und dass ich Murat mit seinem steifen Glied nicht
in mich hineinlassen wollte, drückte sie mir mit aller Kraft
die Beine auseinander. In diesem Moment wollte ich nicht
mehr leben, ich schloss die Augen und spürte nur noch den
Schmerz. Spürte den Schmerz zwischen meinen Beinen
und ich spürte den Schmerz in meinem kleinen Herzen. Ich
war doch noch so jung. Ich war doch noch ein Kind. Ich
fing wieder an zu weinen und ließ es über mich ergehen.
Für einen Moment wurde ich ohnmächtig. Dann ging alles
sehr schnell, ich war wieder bei Sinnen und plötzlich zeriss
auch die Stille. Es war fast so, als wäre sie mit meiner
Entjungferung zerrissen. Ich hörte nun wieder deutlich die
Musik und die Stimmen von nebenan, von Murats
verdammter Verwandtschaft. Alle waren eingeweiht, alle
wussten bescheid. Ich hörte seine keifende Mutter neben
mir, die mich anschrie. Sie schrie, dass ich selber Schuld
hätte, dass dies so geschehen musste. Ich müsse meinem
zukünftigen Mann im Bett eine gute Frau und ihm willig
sein, so wie es die Tradition verlange. Einem Miststück
wie mir würde man schon beibringen, was sich gehöre in
einer anständigen Familie. Dies alles würde mir eine Lehre
sein. Dann wandten sie sich von mir ab. Murat war fertig.
Sie gingen aus dem Raum und ließen mich dort liegen,
ließen ein kleines, weinendes Kind blutend auf dem Bett so
einfach da liegen!“
Necla hatte ihre Ausführungen nur kurz unterbrochen,
dann fuhr sie fort:
„Draußen war es inzwischen hell geworden. Ich hörte, wie
noch mehr Menschen ins Haus kamen, Männer und
Frauen. Nebenan wurde gefeiert. Durch den Türspalt
konnte ich ihnen zusehen, wie sie sich zuprosteten und
Rhaki tranken. Meine Entjungferung wurde gefeiert – von
einem Fremden vollzogen und von fremden Menschen
gefeiert! Und die beiden Alten waren wohl froh, dass sie
mich doch nicht hatten umbringen müssen. Jetzt kannst du
dich nur noch selber umbringen, habe ich damals gedacht,
jetzt hast du nur noch diese Möglichkeit! Ich hatte doch
von meinen Eltern gelernt, dass Jungfräulichkeit das
Wichtigste ist, was man als Mädchen, als Frau besitzt.
Ohne diese brauchte man nicht weiterleben, konnte man
keine Bindung in der Zukunft, keinen Mann lieben, keine
Ehe mehr eingehen.“
Sie hatte wieder einen Moment geschwiegen. Er wusste
nicht, ob sie sich erinnern musste oder ob sie nur Mut und
Kraft sammeln wollte, bevor sie die Bilder der damaligen
Geschehnisse weiter in sich aufsteigen ließ. Sie schaute ihn
nicht an. Wohl nicht, weil sie sich schämte. Aber, sie war
in diesem Moment ganz bei ihren Gedanken, ganz in dieser
schrecklichen Vergangenheit.
Er hatte inzwischen vorsichtig die Flasche entkorkt und
sich kaum getraut, die Gläser mit Rotwein zu füllen, als sie
unvermittelt weitersprach:
„Ich weinte noch eine Zeit. Ich hatte Schmerzen. Als ich
mich traute, an mir hinunter zu blicken, sah ich das Blut.
Mein Herz krampfte sich zusammen. Das Bett, das Laken,
meine Beine, alles war voll damit. Es war ein furchtbarer
Anblick. Ich verstand das alles nicht, ich war doch erst
Zwölf, hatte keine richtige Ahnung von solchen Dingen.
Auch hatte ich nicht mehr die Kraft zu weinen, ich
schämte mich nur noch. Alle draußen im Raum würden
wissen, was geschehen war. Das war ein furchtbarer
Gedanke. Sie alle wussten, dass ich meine Unschuld
verloren hatte und ich musste ihnen doch irgendwie später
ins Gesicht sehen! Wie sollte ich dies nur schaffen?“
Zum ersten Mal seit sie angefangen hatte, zu erzählen, sah
sie Sebastian direkt an. Ihre Augen schauten traurig aus für
einen Moment. Er hatte sich noch nicht zu ihr an den
Wohnzimmertisch gesetzt. Etwas unbeholfen stand er
mitten im Raum.
Sollte er zu ihr gehen und direkt neben ihr den Platz
einnehmen? Oder besser gegenüber von ihr? Er war
unsicher. Dann entschied er sich für den Sessel schräg
gegenüber.
Er setzte sich, schüttete vorsichtig Wein in die Gläser und
schaute sie an. Er entdeckte weder Verbitterung noch Zorn
in ihrem Gesicht, nur Trauer. Ihre Stimme war einmal kurz
etwas lauter geworden während ihrer bisherigen Ausführungen. Ansonsten hatte sie einfach nur erzählt. Fast so,
als wäre dies die Geschichte einer anderen Person, einer
anderen Frau. Aber, an ihr war es geschehen. Es war ihre
Geschichte.
Sie sah zu dem Weinglas vor sich auf dem Tisch. Sie hatte
es wahrgenommen, ergriff es aber nicht. Dann schaute sie
ihn wieder an. Ihre dunklen, tiefgründigen Augen waren
ihm gleich zu Anfang schon aufgefallen, als er Necla zum
ersten Mal gesehen hatte.
Sie ist wirklich hübsch, dachte er bei sich und überlegte
einen Moment, ob er etwas sagen sollte, zu den Dingen,
die sie ihm so offen dargelegt hatte.
Aber er schwieg. Die Stille, die für den Moment im Raume
lag, war weder bedrückend, noch hatte er sie damals als
unangenehm empfunden. Sie war einfach da, stand nicht
zwischen ihnen. Wie ein Mantel der Vertrautheit verband
sie zwei Menschen, schuf plötzlich eine Nähe, eine Tiefe,
wohltuende Intimität des Verstehens und der Zusammengehörigkeit zwischen ihnen beiden.
Necla durchbrach irgendwann diese Stille. Ihr Weinglas
hatte sie immer noch nicht angerührt.
„Kurze Zeit nach diesem Vorfall fasste ich einen
Entschluss! Ich wollte es nicht zulassen, dass diese
Menschen mich fertig machten, dass sie Macht und endgültige Bestimmung über mein Leben hatten! Sie konnten
mir die Unschuld rauben, aber mein Herz und meinen
Willen würden sie niemals rauben können. Sie würden
meinen Willen nicht brechen! Das wollte ich ihnen nicht
erlauben. Ich musste irgendwie zurück nach Deutschland!
Ich musste zurück in eine Welt, in der ich selbst
entscheiden konnte, in der ich mein eigenes Leben selbst
bestimmen konnte! Ich hatte zwar gerade meine Kindheit
hinter mich gelassen, aber mein Leben lag noch vor mir!
Plötzlich spürte ich eine ungeheure Kraft in mir! Ich
wusste, ab jetzt konnte ich mich nur noch auf mich
verlassen und vielleicht auf meine Brüder. Besonders auf
Hakan, den älteren, Gencal war ja noch zu jung, um etwas
zu unternehmen. Eines wusste ich nun aber genau: auf
meine Eltern konnte ich mich nicht mehr verlassen. Sie
hatten mich verraten! Auf Vater nicht, der mich nach alter
Tradition verkauft hatte und auch nicht auf Mutter, die
nichts dagegen unternommen hatte. Wie ein Stück Vieh
hatten sie mich weggegeben! Einfach so.“
Für einen Moment starrte sie aus dem Fenster.
„Mein Vater hatte mir und meinem Bruder Gencal damals
gesagt, wir würden mit der Mutter in Urlaub fahren, in die
Türkei. Es waren Sommerferien. Mein Bruder Hakan war
ein paar Jahre älter, er ging in die Lehre und er musste
schon arbeiten. Wo Sema, meine Schwester in dieser Zeit
blieb, weiß ich gar nicht. Wir wohnten damals in
Deutschland. Seit acht Jahren wohnte ich schon in
Deutschland und ich hatte die Türkei bis dahin nicht mehr
gesehen. Ich freute mich riesig. Es war ja überhaupt auch
unser erster Urlaub, den wir machten. Und so fuhren und
fuhren wir. Die Reise kam mir dann irgendwann doch nur
noch endlos vor. Sie ging über drei Tage und drei Nächte
hindurch. Und immer wieder fragten wir Kinder ungeduldig, wann wir denn endlich da seien. Wir fragten so
lange, bis es meinem Vater zu viel wurde und er uns in
seiner unerbittlichen und bestimmenden Art anherrschte:
wer jetzt noch einmal diese Frage stellt, den werde er an
der Straße aussteigen lassen und ihn nie mehr abholen, so
schnauzte er uns an.
Da waren Gencal und ich still hinten im Auto und wir
fragten nicht mehr. Wir trauten dem Vater zu, so etwas zu
machen und uns einfach da draußen alleine stehen zu
lassen. Er hatte ja in all den Jahren zuvor schon so
schreckliche Dinge mit uns und den Geschwistern
gemacht!
Und irgendwann waren wir endlich da. Als wir ankamen,
war ich schockiert, denn ich hatte mir alles so anders
vorgestellt, meinte von früher alles anders in Erinnerung
gehabt zu haben. Es war wohl so lange her und so viele
Dinge von damals hatte ich einfach vergessen. So zum
Beispiel, wie es dort wirklich war. Zum Beispiel die Landschaft, die kargen Berge, das Dorf. Hier schien die Zeit
einfach stehengeblieben. Ganz anders, als in Deutschland.
Eine holprige Straße führte in den Ort hinein, mit seinen
teils unfertigen, unverputzten Häusern. Die Hauptstraße
war nicht geteert. Die Nebenstraßen natürlich auch nicht!
Staubige Gassen mit tiefen Löchern, die bei Regen zu
schlammigen Kuhlen wurden, zweigten rechts und links
ab. An überwiegend schiefen Holzmasten hingen träge
Stromkabel, um dann seitlich zu den einzelnen Gebäuden
abzuzweigen, um wenigstens diesen einen Komfort der
modernen Zivilisation weiterzugeben, wie mir schien. Ich
sah keine Geschäfte, keine Boutiquen, keinen Kiosk.
Bürgersteige gab es nicht. Langsam fuhren wir die Straße
hinunter. Ein beklemmendes Gefühl kroch plötzlich in mir
hoch, um mich dann gänzlich zu erfassen. So sehr ich mich
auf diesen Augenblick des Wiedersehens gefreut hatte, hier
könnte ich niemals mehr leben, dachte ich bei mir. Dann
entdeckte ich einen kleinen Laden. Es war die einzige
Einkaufsmöglichkeit im Ort, wie ich später erfuhr.
Ich versuchte mich zu erinnern, an damals, an die Zeit, in
der ich hier gelebt hatte. Acht Jahre war es her, als ich hier
aus meiner heilen Welt gerissen wurde.“
Necla hatte an der Stelle innegehalten in ihren
Erzählungen. Sie schien das Glas auf dem Tisch vor sich
wahrzunehmen. Sie wandte ihren Blick kurz zu ihm, dann
wieder auf das Weinglas. Vielleicht war sie plötzlich über
sich selber überrascht gewesen, ihm so von all diesen
Dingen zu erzählen. Sie kannten sich ja noch nicht lange.
Bis auf die einige Male ausgehen, seit sie sich vor drei
Wochen in Gencals Kneipe kennengelernt hatten. Sie
mochten sich, das war klar. Aber für mehr hatten sie sich
zuvor noch nicht entschieden. Erst einmal war es einfach
so.
Sie ergriff das Glas und während sie es langsam in ihrer
Hand etwas hin und her schwenkte, schaute sie einen
Moment gedankenverloren auf den sich darin bewegenden
Wein. Die glatte blutrote Oberfläche schwappte träge von
einer Seite zur anderen.
Draußen setzte die Dämmerung ein. Es hatte zu regnen
begonnen.
„Ich war damals vier“, fuhr sie unvermittelt fort, fast so,
als hätte sie Angst, dass sie mit dem Erzählen aufhören
würde, falls sie jetzt eine längere Pause einlegte, „es
geschah alles so plötzlich, so unvorbereitet! Irgendwann
hielt ein großes Auto vor dem Haus, ein fremder Mann und
eine fremde Frau standen in der Türe. Sie sprachen kurz
mit den beiden älteren Erwachsenen im Raum. Es gab
Streit und der fremde Mann wurde sehr laut und sehr
zornig. Er sagte, sie würden uns abholen, Hakan, Gencal
und mich, um uns nach Deutschland zu bringen. Ich
wusste nicht, was diese Leute wollten, wusste nicht,
wovon sie sprachen! Deutschland? Was war das? Wo war
das? Ich kannte doch nur unser Dorf und die geliebte
Großmutter, die ich damals Mama nannte. Und den geliebten Großvater, den ich Papa nannte! Ich wollte nicht
mit diesem fremden Mann und dieser fremden Frau fahren.
Nicht nach Deutschland und nirgendwo hin! Wozu auch?
Im Dorf, da war doch mein zu Hause, meine Heimat! Und
plötzlich merkte ich, dass dies alles ernst war, sehr ernst.
Ich fing an zu weinen und lief zu meiner Großmutter. Ich
klammerte mich an sie. Doch es half nichts. Eine harte
Männerhand packte mich und zerrte mich einfach aus dem
Haus. Ich riss mich los und lief so schnell ich konnte
wieder zu Großmutter zurück. Da sah ich, dass auch sie
weinte. Der fremde Mann kam zurück, er schrie Großmutter an, dann brachte er mich zum Auto zurück. Er
öffnete eine der hinteren Wagentüren und warf mich
hinein. Großvater hatte während der ganzen Zeit mit
versteinertem Gesicht am Küchentisch gesessen und nur
aus dem Fenster gestarrt. Kein Wort hatte er gesprochen.
Meine beiden Brüder mussten ebenfalls einsteigen, der
Mann setzte sich hinters Steuer, startete den Wagen, dann
fuhren wir los. Wir konnten uns nicht einmal verabschieden! Alles war so schnell gegangen!“
Necla war nun etwas heftiger und emotionaler in ihren
Ausführungen geworden. Ihre Stimme wurde ein wenig
lauter. Zum ersten Mal trank sie an ihrem Glas, das sie bis
dahin immer noch zwischen ihren Händen gehalten und
ohne Unterbrechung langsam hin und her geschwenkt
hatte.
Der Regen draußen war stärker geworden.
„Da hatte ich plötzlich Angst. Große Angst! Was würde
mit mir geschehen? Was würde man uns antun? Warum
hatten die beiden Alten sich nicht gewehrt oder Hilfe
gerufen? So viele Fragen schossen mir damals durch den
Kopf. So viele Fragen und keine Antworten. Auch mein
Bruder Gencal hatte plötzlich angefangen zu weinen. Der
Fremde fuhr uns unwirsch an, wir sollten auf der Stelle
ruhig sein und aufhören zu weinen. Gencal gehorchte
eingeschüchtert. Doch bei mir hatte es nichts genutzt. Ich
konnte einfach nicht aufhören und so schluchzte ich weiter
vor mich hin. Der Wagen rumpelte über die unbefestigten
Straßen. Verschwommen sah ich die Häuser des Dorfes
vorübergleiten. Nach kurzer Fahrt hielten wir vor einem
Haus. Später erst erfuhr ich, dass hier ein Onkel und eine
Tante von mir wohnten. Ich kannte sie nicht näher, obwohl
wir im selben Dorf wohnten. Der fremde Mann stieg kurz
aus, ging ins Haus und kam mit einem Mädchen heraus,
das er, genau wie mich vorher, an der Hand hinter sich
herzog.
Ich kannte das Mädchen flüchtig, sie hieß Sema. Im Streit
hatten wir uns einmal mit Steinen beworfen. Sonst hatten
wir keinen Kontakt gehabt.
Der Mann hatte die Türe des Wagens geöffnet und das
Mädchen einfach so hineingestoßen. Wie ein Stück Vieh,
wie kurz zuvor mich. Dann warf er die Türe zu.
Was wir damals noch nicht wussten, dieses Mädchen war
unsere Schwester Sema! Und was wir zu dem Zeitpunkt
alle drei nicht wussten, sie war die Zwillingsschwester von
Gencal.
Verängstigt hatte Sema uns damals angesehen und
ebenfalls angefangen zu weinen. Sie kauerte sich auf einen
Sitz, der Mann war wieder eingestiegen und losgefahren.
So fuhren wir in die dunkle Nacht, in eine ungewisse Zukunft hinein. Die fremde Frau sprach kein Wort und so
brachten sie uns nach Deutschland. Sie waren unsere
Eltern! Bis zu jenem Tag hatten wir sie nicht gekannt.
Drei lange Tage hatten wir Mädchen auf der Rückfahrt fast
nur geweint, bis uns zwischendurch immer wieder die
Müdigkeit übermannte und wir aus unserer trostlosen und
verlorenen Situation in unruhigem Schlaf so etwas wie
Geborgenheit fanden. Ich hatte damals Angst, große Angst.
Ebenso wie meine Geschwister. Wir sprachen kaum ein
Wort miteinander. Wir waren eingeschüchtert und verzweifelt. Manches Mal hatte ich während der Fahrt Hakans
Hand gesucht, sie ganz fest umklammert, so als würde dies
etwas an der Situation ändern.
Er war ja mein großer Bruder und er hatte mich auch schon
immer im Dorf beschützt, wenn Streit mit anderen
Mädchen war oder wenn Jungs mich zu sehr geärgert
hatten. Hakan ging dann einfach hin, sprach kurz mit den
anderen und wenn diese nicht hören wollten, dann flogen
die Fäuste. Er war auch immer mutig gegen größere Jungs
aufgetreten. So, wie man es von einem älteren Bruder halt
erwarten konnte!“
Für einen Moment hielt sie wieder inne, ehe sie fortfuhr:
„Aber, damals, da merkte ich, dass auch Hakan Angst
hatte. Während der gesamten langen Fahrt sprach er fast
kein Wort. Er saß da, wie versteinert und schaute nur aus
dem Seitenfenster des Wagens in die Ferne. Er war damals
neun Jahre alt. Er weinte nicht. Dazu war er wohl zu stolz
gewesen. Noch schlimmer musste es ja dem fremden
Mädchen ergehen. Es kannte doch damals keinen einzigen,
ich hatte wenigstens meine Geschwister.
Verloren, wir sind verloren! Sie haben uns entführt, so
habe ich immer wieder gedacht. Ich kannte diesen Mann
und diese Frau doch gar nicht. Die Großmutter war für
mich die Mutter gewesen und der Großvater der Vater!
Wann durfte ich zu der geliebten Großmutter zurück?
Wann würde ich meine Freundinnen wiedersehen? So
viele Fragen gingen mir während der Fahrt immer wieder
durch den Kopf und ich weinte und weinte. Da wusste ich
nicht, dass es acht Jahre dauern würde, bis ich dorthin
zurückkehren würde, bis ich zurückkehren würde, um noch
schlimmere Dinge an mir geschehen zu lassen. Dabei hatte
ich doch damals gedacht, dies sei das Schlimmste, was mir
je geschehen könnte!“
Sie unterbrach, trank einen Schluck Rotwein und hatte ihn
dann angesehen.
Dieser Abend, an dem sie ihm all diese Dinge erzählt hatte,
die Vertrautheit jener Stunden und der Zeit danach, die
dann folgte, das alles lag scheinbar so weit zurück.
Er blickte wieder auf die Pistole.
Zwei Patronen waren noch im Magazin. Er hatte sich nicht
einmal mehr die Mühe gemacht, nachzuladen, nachdem er
vor einigen Tagen diese drei anderen Männer in Deutschland erschossen hatte. Diese zwei Patronen würden
reichen, so wie ihm je zwei Patronen gereicht hatten, die
drei anderen vorher zu töten.
Hatte er sie überhaupt getötet oder war es der Lauf des
Lebens gewesen, der ihn veranlasst hatte, einfach nur zu
reagieren, sie zu erschießen?
Natürlich hätte er sich den Behörden in seinem Heimatland
stellen können. Natürlich hätte ein guter Anwalt aufgrund
der Gesamtumstände eine kurze Haftstrafe oder gar
Bewährung für ihn aushandeln können. Natürlich war es
schwer, dem Gericht zu erklären, dass er es geschafft hatte,
gleich alle drei gezielt und kaltblütig niederzustrecken,
bevor die drei türkischen Männer überhaupt eine Chance
gehabt hatten, zu reagieren.
Wäre er ins Gefängnis gekommen, so hätte man ihn dort
gewiss umbringen lassen, ohne dass er eine einzige
Möglichkeit gehabt hätte, sich zu wehren bzw. denjenigen
zu erwischen, dessen Tod ihm jetzt noch so wichtig war.
Wäre er ohne Gefängnisstrafe davongekommen, dann wäre
die Situation jetzt ähnlich in Deutschland gewesen. Die
anderen hätten in gesucht und aufgespürt. Sie wollten, sie
mussten ihn töten. So verlangte es die Tradition!
Nur hier und jetzt in diesem Moment aber war die
Situation überschaubar, sie war kontrollierbar für ihn. Hier
brauchte er nichts dem Zufall überlassen! Er konnte den
einen Mann gezielt töten. So, wie er zuvor die anderen
gezielt getötet hatte.
Alles andere spielte jetzt keine Rolle mehr. Hauptsache
war, er hatte es getan und er hatte seine Aufgabe gut
erledigt. Nur das zählte noch.
Der Zeitpunkt, an dem sein Leben eine dramatische Wende
genommen hatte, war ja nicht der Augenblick gewesen, als
die drei Männer blutüberströmt vor ihm zusammenbrachen, sie noch ein letztes Mal zuckten, sich ihre Hände
verzweifelnd nach ihm reckten, um dann röchelnd zu
sterben.
Ihre erst erstaunten und dann entsetzten Blicke, welche
gleichzeitig fast starr vor Angst waren, sah er noch jetzt
genau vor sich. Sie verfolgten ihn nach ihrem Tode. Er war
ja kein Killer. Er hatte vorher noch nie jemanden umgebracht. Er hatte die Drei überrascht und sie hatten nicht
damit gerechnet. Es war eine Genugtuung, sie getötet zu
haben und es war wichtig gewesen für ihn. Genauso
wichtig, wie jetzt diesen einen Mann noch zu töten.
Wieder schaute er auf das Glas mit dem Rest Wasser und
überlegte, ob es überhaupt jemals voll gewesen war.
Wenn er es so recht überlegte, dann war ein Wasserglas
niemals richtig voll! Immer fehlte ein wenig, wenn man es
serviert bekam oder sich selber eines eingoss.
Ja! Als Kind vielleicht zwei, drei oder einige Male mehr,
daran konnte er sich jetzt erinnern, da hatten sie aus Spaß
schon einmal ein Glas so voll gegossen, bis es überlief.
Vorsichtig hatten sie es so lange bis zum Rand und immer
noch etwas voller mit Wasser gefüllt, bis sich eine leichte
Wölbung über dem Glas bildete, diese dann irgendwann in
sich brach und das Wasser über den Rand hinaus an der
Glaswand hinunterlief. Aber das hatten sie wohl nur aus
Jux gemacht, Mama hatte geschimpft über den Unfug und
den nassen Tisch oder das feuchte Tischtuch und dann
hatten sie das Glas wieder ausgeschüttet.
Aber später, danach, als Erwachsener, da hatte er das nie
mehr wieder gemacht. Da hatte er sich niemals mehr ein
wirklich volles Wasserglas eingeschüttet oder servieren
lassen. Das fiel ihm jetzt ein, als er dieses Glas vor sich auf
dem Tisch ansah.
Wieso eigentlich nicht? fragte er sich. Es war schön
anzusehen, wenn das Wasser bis zum Rand stand und die
Oberfläche die etwas runde, gewölbte Haut bildete. Eigentlich war das Glas doch auch dann erst richtig voll. Aber
immer bekam man es serviert, wenn es nur bis circa einen
Fingerbreit unter den Rand ging. Beim Bier schüttete man
es doch auch so weit voll, bis der Schaum überlief, ging es
ihm durch den Kopf. Wieso denn eigentlich nicht beim
Wasser?
Vielleicht ist es mit dem Wasserglas so, wie mit dem
Leben, überlegte er weiter. Bei sehr vielen endete es, bevor
die normale Lebenserwartung erreicht war.
Nie bekommst du alles, nie bekommst du ein ganzes Leben
geschenkt, dachte er.
Seine Gedanken waren jetzt so klar, wie das Wasser in
dem Glas vor ihm.
Er spürte in diesem Moment, da er hier im Hotelzimmer
auf seinen Tod wartete, wieder die Vertrautheit, die damals
zwischen ihm und Necla gelegen hatte, als sie ihm all diese
furchtbaren Dinge erzählte. Er war irgendwann aufgestanden aus seinem Wohnzimmersessel, hatte sich zu ihr
gesetzt und wie selbstverständlich ihre Hand genommen.
Warm und weich hatte sie sich angefühlt. Weich und
zärtlich. So fühlte er sie auch jetzt wieder in diesem
Moment der Erinnerungen.
Wie viel Zeit war seitdem vergangen? überlegte er weiter.
Zehn Monate! Es sind nur zehn Monate vergangen, gab er
sich die Antwort. Zehn Monate, in denen so viel geschehen
war.
Eine kurze Zeit, die sie eng miteinander verbunden hatte,
eine kurze Zeit, in der sie zusammen gewesen waren, in
der sie tiefe Vertrautheit und Nähe gespürt und gelebt
hatten. Vielleicht zu kurz, um eine wirklich tiefe Liebe zu
entwickeln oder war genau dies die wahre Liebe gewesen?
Sebastian wusste es nicht genau. Zu kurz war ihr Zusammensein gewesen, um etwas entstehen zu lassen, wie
es Paare vielleicht empfanden, die seit vielen Jahren glücklich zusammen waren.
Bei ihnen beiden hatte die Zeit für all das nicht gereicht
und doch hatten sie sich im Prinzip vom ersten Tag an
zueinander hingezogen gefühlt, hatte sich jeder nach dem
ersten wirklich gemeinsamen und intimeren Abend beim
anderen aufgehoben und geborgen, hatte sich in Sicherheit
gefühlt.
Necla hatte bei ihm das gefunden, was sie bisher nie im
Leben gefunden hatte, nicht mehr zu finden glaubte. Sie
hatte endlich jemanden gehabt, der ihr zuhörte, der sie
zärtlich und behutsam in den Arm nahm, der ihre Sehnsüchte, ihre Ängste und ihre Hoffnungen mit ihr teilte.
An jenem Abend damals, war sie zum ersten Mal über
Nacht bei ihm geblieben. Sie hatte ihn gefragt, später,
nachdem sie noch weitere Dinge über ihre Kindheit, ihren
Vater, über die Mutter erzählt hatte, ob sie bei ihm übernachten dürfe.
In der Nacht, waren sie dann gemeinsam ins Bett gegangen. Ein vorsichtiger und behutsamer Moment war es
gewesen, als die Intimität des Vertraut seins durch ihr Erzählen und sein Zuhören noch die zusätzliche Dimension
und Steigerung durch die Berührung ihrer Körper im Bett
erhielt.
Sie war als Erste ins Bad gegangen. Er hatte im Schlafzimmer eine kleine Lampe eingeschaltet, die nur ein wenig
Licht an die Wände und in den Raum abgab.
Necla kam zurück aus dem Bad und fing an sich zu entkleiden. Ohne Scham, ganz selbstverständlich. Als wäre es
nie anders zwischen ihnen beiden gewesen. Dann ging er
ins Bad. Als er das Schlafzimmer wieder betrat, lag sie
schon im Bett, das Laken über sich gezogen. Sie schaute
ihm zu, während er sich auszog und seine Kleider ordentlich über den Stuhl legte, der neben seinem Kleiderschrank stand. Für den Moment war er froh, dass das Licht
der Lampe nur so schummrig war.
Dann ging er zu ihr ins Bett unter die Decke.
Von diesem Tag an waren sie zusammen.
An jenem Abend hatte sie ihm noch erzählt, dass ihr
Cousin Murat sie nach wenigen Tagen ihrer Ankunft in der
Türkei, bevor all diese schrecklichen Dinge passiert waren,
gefragt hatte:
„Du, Necla, willst du mit mir spazieren gehen?“
Natürlich hatte sie Lust dazu gehabt, sie wollte ja etwas
von der Gegend sehen und es war so langweilig im Dorf.
Also hatte sie geantwortet:
„Ja, gerne, Murat.“
Das Dorf war von Bergen umgeben und so waren sie
losgegangen. Sie gingen und gingen und plötzlich war es
immer später geworden. Sie wurde müde vom vielen
Gehen im hügeligen Gelände. Sie war ja erst zwölf und er
war 24 Jahre alt. Er konnte länger gehen und er machte
größere Schritte als sie.
Sie hatte ihn schon mehrmals darum gebeten, doch langsamer zu gehen, auf ihn zu warten. Doch er hatte sie dabei
kaum beachtet und ihr war es so vorgekommen, als hätte er
seine Schritte danach umso größer gemacht. Da hatte sie
geschwiegen und war ihm nur noch still gefolgt.
„Bruder Murat“, hatte sie irgendwann gesagt, „es ist schon
so spät, können wir nun wieder nach Hause?“
Er hatte sie kurz von der Seite angesehen und geantwortet:
„Weißt du, Necla, ich glaube, wir haben uns verlaufen.“
Aber sie konnte wirklich nicht mehr und hatte nur gesagt:
„Ich möchte nach Hause, Murat. Wir laufen schon so lange
und ich bin müde!“
Murat antwortete: „Ich weiß nicht, wo wir sind, aber wir
werden schon den Heimweg finden. So lange musst du
weiter.“
Da war sie wieder still und wünschte sich nur noch, sie
würden bald die ersten Häuser des Dorfes sehen.
Als sie so gingen, war plötzlich ein Mann aus einem
Gebüsch hervorgekommen. Sie hatte sich erschrocken und
instinktiv Murats Hand ergriffen. Sie hielt diese ganz fest.
„Murat, wer ist das? Was will dieser Mann von uns?“
„Ja, weißt du, Necla, das ist ein Mann, der sich auch verlaufen hat.“
„Ich hab Angst, Murat“, hatte sie ihm leise und eingeschüchtert zugeflüstert.
„Du brauchst keine Angst haben. Der geht jetzt mit uns
und gemeinsam werden wir den Weg schon finden.“
So gingen sie dann eine Weile schweigend zusammen und
eine immer größer werdende innere Beklemmung und
Furcht hatte sie ergriffen. Aber, was sollte sie machen? Sie
kannte ja nur Murat, wenn auch erst seit drei oder vier
Tagen, er würde schon wissen, was richtig war. Er war ja
auch so viele Jahre älter als sie!
Plötzlich waren aus dem Nichts noch zwei weitere Männer
dazu gekommen. Sie hatten kein Wort gesprochen. Sie
gingen einfach mit ihnen.
„Was sind das für Männer?“ hatte sie noch verängstigter
gefragt.
„Die haben sich auch verlaufen. Hier verlaufen sich ganz
viele Menschen, weißt du. Aber¸ wenn sie sich zusammentun, dann finden sie auch wieder nach Hause“, war seine
knappe Antwort gewesen.
Und dann liefen und liefen sie, bis es dämmrig wurde.
Irgendwann kamen sie oben am Berg an eine Straße und da
hatte so etwas wie ein Lieferwagen gestanden.
„Schau“, hatte der Cousin gesagt, „ da ist ein Auto, das
wartet auf uns. Da gehen wir jetzt hin und dann fahren wir
nach Hause.“
Da hatte sie sich gefreut und war erleichtert gewesen.
Sie war so froh, endlich nicht mehr gehen zu müssen und
wieder heimzukommen.
Als sich die Wagentüre öffnete, hatte sie schon einen
gehörigen Schreck bekommen! Es saßen nur Männer darin,
aber Murat hatte sie hineingedrängt, dann stieg auch er ein
und schlug die Wagentür hinter zu. Keiner der Männer
sagte ein Wort, alle starrten sie nur an.
In diesem Moment hatte sie panische Angst bekommen
und sich an Murat geklammert. Sie kannte ja nur ihn. Dann
fuhren sie ab. Niemand sagte ein Wort.
Dicht an Murat gedrängt, presste sie sich hinten im Wagen
so tief in den Sitz, wie es nur ging. Es war eine unheimliche und beklemmende Situation, wie sie diese nie zuvor
erlebt hatte! Irgendwie spürte sie plötzlich instinktiv, dass
sich in ihrem Leben ab jetzt mit einem Schlag etwas
verändern würde.
Sie fuhren nur wenige Minuten, dann näherten sie sich
einem Dorf. Als sie die ersten Häuser erreichten, sah Necla
zu ihrem Erstaunen, dass es das Dorf ihrer Mutter war.
Da waren sie all die Stunden gelaufen und nun nahte der
Ort in so kurzer Zeit, hatte sie noch gedacht, und dabei war
es nicht allzu weit entfernt vom Dorf ihres Vaters, wo sie
zu Besuch waren.
Viel später erst erfuhr sie, dass Murat sie die ganzen
Stunden des Nachmittags bis zum Abend hin immer nur
auf Umwegen durch die Berge um die Dörfer herum
geführt hatte, um sie zu täuschen, um sie zu verwirren und
um sie müde zu machen.
Im Dorf angekommen, hatte das Auto vor einem der
Häuser gehalten. Alle waren ausgestiegen und sie hatte
sich noch enger an Murat geklammert. Immer noch sprach
niemand ein Wort. Sie traute sich erst recht nicht, etwas zu
sagen. Alles war so unheimlich.
Am liebsten hätte sie angefangen zu weinen, aber auch
dies traute sie sich nicht.
Murat zog sie ins Haus und die anderen folgten. Drinnen
waren noch mehr Menschen, auch einige Frauen. Sie
kannte niemanden.
Da hatte sie zu Murat gesagt: „Murat, ich möchte jetzt
nach Hause, ich bin müde und ich habe Angst hier.“
Alle schauten sie an und er antwortete:
„Du kannst nicht mehr nach Hause, Necla.“
„Wieso nicht?“ hatte sie entsetzt gefragt.
„Weil ich dich entführt habe!“
Sie dachte, sie habe ihn nicht richtig verstanden und sie
hatte ihre Frage wiederholt:
„Wieso nicht?“
„Weil ich dich entführt habe!“ bekräftigte er noch einmal
seine Aussage. Er wiederholte es so, wie man einem Kind
geduldig etwas langsam wiederholt, wenn es nicht richtig
verstanden hat.
Ihr Herz, so glaubte sie damals, hatte für einen Moment zu
schlagen aufgehört. Sie wusste plötzlich genau, er machte
keinen Spaß. Er meinte es ernst, was er da sagte. Das
wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, als sie wiederholt wie von Ferne seine Worte an ihr Ohr dringen hörte.
Und dabei sah sie diese schrecklichen fremden Menschen
um sich herum, die sie nur teilnahmslos anstarrten.
Sie dachte, sie würde ohnmächtig, müsse einfach umfallen
und dann wäre dieser Spuk endlich vorbei. In ihrem Kopf
hämmerte es, ihre Kehle schnürte sich zusammen, sie rang
nach Luft und sie sah wieder nur in die versteinerten und
verschlossenen Gesichter der teilnahmslosen Menschen.
Alle wussten von ihrem Schicksal und von dem, was sich
hier ereignete. Sie alle wussten, was das kleine Mädchen
erwarten würde. So war die Tradition! Weshalb sollte es
ihr anders ergehen, als den meisten hier, als den meisten
Frauen in diesem Raum? Niemand würde ihr helfen – so
viele Menschen und niemand kam auf den Gedanken, zu
helfen!
Was geschah, war Sitte und der Brauch. Wurde ein junges
Mädchen entführt und wehrte sich nicht oder wurde es von
den Eltern nicht beschützt, so durfte der Entführer es
heiraten. Sie war seine rechtmäßige Braut und seine Frau
durch diese alte Tradition geworden. Der Bräutigam oder
seine Familie mussten nur noch einen Obolus als
Entschädigung an die Eltern des Mädchens zahlen.
Fast schien es ihr damals, als hätte sie aus einigen
Gesichtern der anwesenden Frauen so etwas wie Schadenfreude und Genugtuung entnehmen können. Ihnen war
dieses Schicksal widerfahren und es war wohl nur recht,
wenn es dem zwölfjährigen türkischen Mädchen aus Deut-
schland auch so ergehen würde. Ihr war es die Jahre zuvor
im Ausland gewiss schon zu gut ergangen, bis zu diesem
Augenblick!
Es schien ihr, als schlüge ihr, dem kleinen Kind, eine
unermessliche Grausamkeit in diesem Moment unter so
vielen erwachsenen Menschen entgegen. Sie konnte es
nicht wirklich fassen. Sie spürte, wie ihr langsam Tränen
über das Gesicht liefen. Ihr Atem stockte. Als sie wieder
etwas Luft bekam, da hatte sie hilflos und matt zugleich
gefragt:
„Murat, warum hast du gerade mich entführt?“
„Es ist zwischen deinem Vater und meiner Familie so abgesprochen“, lautete seine knappe Antwort.
Sie war entsetzt gewesen!
Wenn ihr Vater sie auch oft geschlagen und Mutter
ziemlich gleichgültig hatte alles geschehen lassen, so
konnte sie sich in diesem Augenblick nicht wirklich
vorstellen, dass die Beiden über diese Dinge hier bescheid
wussten.
Doch schon einige Zeit später erfuhr sie, dass es tatsächlich so war! Ihr Vater hatte sie verkauft! Ihre Mutter
hatte es zugelassen.
„Aber, ich bin noch klein, ich bin zwölf Jahre alt und ich
muss in die Schule. Ich kann nicht deine Frau werden“,
hatte sie irgendwann gesagt, zögerlich und verängstigt.
Dabei hatte sie immer noch verloren mitten im Raum
gestanden.
„Murat, und du bist doch mein Cousin.“
Er aber entgegnete nur: „Weißt du, Necla, du bist hier
nicht mehr in Deutschland. Wenn ein Mann hier eine Frau
entführt, dann muss sie den Mann heiraten. Sonst entehrt
sie ihre und seine Familie und diese müssten sich für
immer gegenüber den anderen Dorfbewohnern schämen.
So ist die Sitte und dies verlangt die Ehre!“
Schwach hatte sie erwidert: „Aber, ich bin doch keine
Frau, ich bin doch noch ein kleines Kind.“
Einen Moment herrschte eisige Stille im Raum. Sie roch
die Menschen, nahm plötzlich den Geruch aus ihrem
Atem, aus ihrer Haut wahr. Und sie spürte den Hass, der
ihr entgegenschlug. Trotz dieser Eiseskälte fasste sie
plötzlich wieder Mut.
„Nein!“ schrie sie. „Ich will zu meiner Mutter und zu
meinem Vater!“
Da hatten sie nur gesagt: „Das geht jetzt nicht mehr, du
hast die Ehre verletzt, willst du auch noch die Tradition
verletzen?“
Sie hatte nicht gewusst, was sie damit meinten, weshalb
sollte sie die Ehre verletzt haben?
„Ja, was hab ich denn getan?“
„Du bist mit deinem Cousin weggelaufen“, antwortete
jemand.
„Ich bin aber nicht mit meinem Cousin abgehauen“, rief
sie ihnen trotzig entgegen. „Er hat zu mir gesagt, ich
möchte mit dir spazieren gehen und er hat mich abgeholt
und wir haben uns verlaufen!“
Einige der Anwesenden lachten sie aus, einige haben sich
auch nur angeschaut und einfach geschwiegen. Es war eine
beklemmende Situation und sie wusste in diesem
Augenblick nicht mehr, was sie noch machen sollte. Sie
spürte, sie würden sie dabehalten. Sie würden sie nicht
gehen lassen!
„Ich bin müde“, sagte sie dann irgendwann nur noch. Es
stimmte, sie war müde. Müde, vom vielen Laufen, von der
Auseinandersetzung, von den Geschehnissen insgesamt.
Sie konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Sie wollte
in ihrer Verzweiflung nur noch schlafen, im Schlaf dem
Furchtbaren für den Augenblick entrinnen.
Morgen, ja morgen sah alles vielleicht schon anders aus.
Ihre Eltern würden sie suchen, sie würde rufen und man
würde sie finden.
Dann wird alles wieder gut, dachte sie, alles wird wieder
sein, wie früher.
Insgeheim hoffte sie dies.
„Ich bin müde, ich möchte schlafen gehen.“
Da hatten sie gesagt: „Na gut, dann leg dich schlafen.“
Argwöhnisch schaute sie in die Runde.
„Aber, ich möchte alleine schlafen!“ hatte ich geantwortet.
Da lachten sie wieder: „Ja, natürlich, du kannst mit diesen
zwei Mädchen schlafen, aber bei uns Erwachsenen in
einem Raum, so wie es hier üblich ist!“
Sie zeigten auf die beiden Mädchen. Sie kannte sie nicht.
Es war ihr aber auch egal in dem Moment. Sie war nur
noch müde, traurig und wütend zugleich. Sie wollte einfach nur noch schlafen in diesem Augenblick.
Sie dachte dabei an morgen. Dachte daran, dass sie im
Dorf ihrer Mutter war und dass ihre Eltern sie vermissen
und suchen würden. Morgen würde sie hier abgeholt
werden. Bis dahin würde ihr schon nichts geschehen. Sie
war ja noch ein Kind und es waren ja auch noch andere
Kinder da!
Sie bemerkte noch, wie ein Teil der fremden Leute das
Haus verließ. Sie ging mit den Mädchen in einen Nebenraum, mehrere Betten standen hier. Sie legte sich auf eines
nieder, welches man ihr zuwies. Ihre Kleider hatte sie
anbehalten. Sie schlief sofort ein!
Nachts wurde sie einmal kurz wach. Im ersten Moment
wusste sie nicht mehr, wo sie war. Sie musste sich
erinnern, doch dann kamen jäh die dunklen Schatten der
Erinnerung zurück, formierten sich zu einem schrecklichen
Ganzen. Alles fiel ihr wieder ein. Sie erhob sich einwenig
von ihrem Lager, lauschte angestrengt in den dunklen
stickigen Raum hinein. Schnarchen und teilweise schweres
Atmen war zu vernehmen. Die ganze Familie schlief hier
zusammen, Kinder und Erwachsene.
Trotz der Fremde, trotz der Angst war sie froh, als sie
wieder eine bleierne Müdigkeit überfiel und sie dann einschlief.
Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Wie schon in
der Nacht zuvor musste sie sich erst wieder kurz erinnern,
wo sie war, was geschehen war. Dann tauchten die
Ereignisse von diesem schrecklichen Tag wieder in ihr auf.
Sie war schlagartig hellwach.
Leise erhob sie sich etwas von ihrer Matratze, um sich zu
orientieren. Das schwache Licht der ersten Morgendämmerung drang durch die dünnen, alten Vorhänge am
Fenster hinein. Ein seltsamer und unangenehmer Geruch
umgab sie. Sie erschrak und wollte aufschreien! Neben ihr,
unter ihrer Decke lag Murat, ihr Cousin!
Sie glaubte, ihr Herz bliebe stehen und das tat es
wahrscheinlich auch für den Moment dieses schrecklichen
Augenblicks. Ihr Cousin Murat lag neben ihr im Bett und
sie wusste im ersten Augenblick nicht, ob sie sich mehr
schämen oder mehr wütend sein sollte über diese Tatsache.
Sie fühlte schnell nach ihren Kleidern und bemerkte, das
sie noch alles so anhatte, wie sie gestern Abend zu Bett
gegangen war. Also hatte er sie nicht berührt oder gar
sonst etwas mit ihr gemacht. Außerdem war sie ja noch
viel zu jung für diese Dinge.
Aber jetzt schämte sie sich, obwohl sie nichts dafür
konnte, dass er hier lag. Umso mehr schämte sie sich, da
die anderen dies wissen würden – es war einfach nur
furchtbar, die Situation, diese Menschen hier!
Sie wollte nur noch so schnell wie möglich zurück zu ihren
Eltern, so schnell wie möglich fort von diesen schrecklichen Leuten.
Sie würde leise aufstehen und dann einfach davon laufen.
Aber wohin? hatte sie überlegt, sie kannte sich ja überhaupt nicht aus. Gestern waren sie so lange und so weit
gelaufen.
Und wenn sie auf die Straße lief und nach Hilfe rufen
würde, ging es ihr durch den Kopf. Sie ließ den Gedanken
schnell wieder fallen. Hier würde ihr gewiss niemand
helfen. Dass wurde ihr klar, als sie an den gestrigen
Abend, die Gespräche und die Menschen dachte, die dabei
gewesen waren, teils zur Familie gehörten und teils nicht.
Aber versuchen wollte sie es auf jeden Fall! Vorsichtig
setzte sie einen Fuß aus dem Bett.
Doch Murat wurde wach neben ihr. Als er sah, dass sie
aufstehen wollte, fragte er barsch:
„Wo willst du hin?“
„Nach Hause, ich möchte zu meinen Eltern, nach Hause“,
entgegnete sie trotzig und aufgebracht. „Was machst du
überhaupt in meinem Bett?“
„Ja, Necla, ich bin nun dein Mann. Du bist mit mir
gelaufen, ich habe dich entführt, also gehören wir ab jetzt
zusammen. Tag und Nacht. Ich darf bei dir schlafen, wann
immer ich will. Auch jetzt schon, wo wir noch nicht verheiratet sind.“
„Nein!“ schrie sie ihn an. „Ich will weder deine Frau sein,
noch möchte ich jemals mit dir schlafen! Ich möchte zu
meinen Eltern zurück. Wenn du mich jetzt nicht sofort
heim bringst, dann schreie ich das ganze Dorf zusammen!“
Die anderen im Raum wurden wach und schauten sie
schlaftrunken an. Es war noch früh. Es war ihr egal, es
ging um sie, um ihr Leben!
Sie machte eine kurze Pause und wartete auf seine
Reaktion. Er lachte kurz.
„Schlaf weiter, du störst die anderen“, entgegnete er nur
träge.
„Ich muss nach Hause, ich muss in die Schule und meine
Eltern machen sich sicher schon Sorgen“, fuhr sie
aufgebracht fort.
Murat richtete sich auf, schaute sie an und wiederholte
abermals, diesmal in noch barscherem Ton:
„Du bist meine Frau und damit Schluss jetzt. Wir werden
heiraten und ich werde mit dir schlafen wann und so oft
ich will!“
Er meinte es ernst, was er da sagte. Sie bekam wieder
Angst. Eine kalte Angst kroch in ihr hoch und jedes seiner
Worte hämmerte noch in ihrem Kopf nach.
Sie sprang auf und rannte zur Türe. Sie war verschlossen.
Sie rüttelte und klopfte daran.
Da schaltete sich Murats Mutter ein, die auch im Raum
anwesend war und mit ihrem Mann in einem anderen Bett
lag.
„Beruhige dich, du kommst hier nicht mehr weg. Wir
werden jetzt alle aufstehen und frühstücken. Du wirst dich
hier schon eingewöhnen!“
Aus ihrer Stimme klang eine eisige Kälte.
Necla hatte angefangen zu weinen und sich ermattet auf
die Bettkante gesetzt. Sie war gefangen! Sie war
tatsächlich in der Gewalt dieser fremden Menschen hier.
Verzweifelt schluchzte sie noch: „Ich will zu meiner
Mama, ich will zu meinem Papi.“
Dabei fielen ihr plötzlich Geschichten von ehemaligen
Mädchen und Freundinnen aus ihrem Bekanntenkreis in
Deutschland ein. Auch sie waren eines Tages mit ihren
Eltern in ihr Heimatland gereist und sie hatte sie nie mehr
gesehen oder je noch etwas von ihnen gehört. Sie waren
plötzlich einfach nicht mehr da gewesen und niemand hatte
nach ihnen gefragt. Ein Teil war in ihrem Alter gewesen.
War ihnen allen dieses gleiche, grausame Schicksal widerfahren? Waren sie einfach so von ihren Eltern weggebracht
worden und man hatte sie für eine Art Brautgeld gegen
ihren Willen dort gelassen, in der Fremde verheiratet? War
all dies im Namen der Tradition geschehen? Gegen den
Willen der eigenen Töchter, ihrer eigenen Kinder?
Jetzt erst merkte sie, dass Murat sie am Arm gepackt hatte.
Sein fester Griff schmerzte.
„Du kommst jetzt mit frühstücken und hörst sofort mit
diesem Gejammer auf“, fuhr er sie an.
Er wollte sie zur Türe ziehen, aber sie riss sich los. Sie
spürte plötzlich Kraft und einen starken Willen in sich.
„Fass mich nie mehr so an“, sagte sie dann fast ruhig zu
ihm. „Wenn ja, so verspreche ich dir, werde ich dir irgendwann nachts ein Messer durch die Kehle stechen. Ja, das
verspreche ich dir!“
Sie war über sich selber überrascht, über ihren Mut, über
ihre Äußerung. Aber es war ihr absolut ernst gewesen in
diesem Moment! Und Murat hatte es wohl auch bemerkt.
Schnell ließ er sie los.
Sie gingen nach nebenan, in den Raum, der Wohnraum
und zugleich Küche war. Die Frauen heizten den alten
Ofen an und bereiteten das Frühstück zu. Sie setzte sich
unbeteiligt in eine Ecke.
„Du musst wissen“, fing Murats Mutter noch einmal an,
während sie Kleinholz im Ofen nachlegte, „hier in unserer
Gegend ist es so, wenn ein Mädchen entführt wird, muss es
den Mann heiraten, der es entführt hat.“
Die Alte schaute einen Moment eindringlich zu ihr
hinüber. „Verstehst du dass? Und nun hilf beim
vorbereiten“
„Nee“, hatte sie geantwortet, „ich muss ihn nicht heiraten
und ich muss gar nichts machen!“
Da war Murats Mutter vom Herd zu ihr herübergekommen, langsam war sie durch den Raum auf Necla
zugegangen, war vor ihr stehen geblieben. Dann hatte sie
Necla kurz angeschaut und hatte ihr eine mit der Hand ins
Gesicht geknallt. So fest, dass Necla vom Hocker fiel.
Danach drehte sich die Alte ohne ein Wort um und ging
wieder zurück zum Herd.
Bis zum Frühstück sprach niemand im Raum mehr ein
Wort. Alles schien gesagt, alles schien geklärt!
Obwohl der Schlag sie hart getroffen hatte, war Necla in
diesem Moment zu stolz gewesen, um zu weinen. Schläge
konnte sie ab, die hatte sie genug von ihrem Vater
bekommen. Aber, die Ohnmacht! Die Ohnmacht, dies alles
über sich ergehen zu lassen, die trieben ihr vor Wut die
Tränen in die Augen. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
Eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als sich vor dieser
furchtbaren alten Frau und den anderen hier eine Blöße zu
geben!
Als das Frühstück aufgetragen war, wies man ihr einen
Platz zu und sie setzte sich. Die anderen nahmen ebenfalls
Platz, wie selbstverständlich fingen alle an zu essen.
In diesem Moment wurde ihr endgültig bewusst, dass man
sie hier nicht mehr weglassen würde. Ihr Schicksal hatte
für den Moment eine furchtbare Wende ereilt, ohne dass
sie eingreifen konnte!
Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Sie raffte sich
plötzlich auf und sagte laut und deutlich in den kargen
Raum:
„Ich werde ihn heiraten!“
Ihr Onkel, den sie gestern zum ersten Mal gesehen hatte,
wandte sich zu ihr:
„Willst du ihn wirklich heiraten?“
„Ja, ich habe ja keine andere Möglichkeit, die Ehre ist ja
ansonsten verletzt!“
„Gut“, antwortete der Onkel, „dann gehen wir später zu
deinen Eltern, du küsst ihre Hände und damit ist es
besiegelt.“
Sie hatte gar nicht mehr richtig zugehört. Sie wollte nur
noch zu ihren Eltern und wenn sie bei ihnen war, dann
würde alles gut werden. Sie würden sie auf keinen Fall bei
diesen furchtbaren Menschen hier lassen. Egal, was ihr
Vater ihr und den Geschwister all die Jahre angetan hatte,
dies hier würde er gewiss nicht zulassen, dessen war sie
sich sicher! Außerdem musste sie ja bald wieder in die
Schule und Papilein würde es niemals dulden, dass sie
auch nur einen Tag fehlte. In Deutschland hatte es immer
mächtig Prügel gesetzt, wenn sie oder jemand von den
Geschwistern schon einmal geschwänzt hatten und er dies
im Nachhinein erfahren hatte.
Nur zuerst einmal zurück in den Nachbarort, zu den Eltern,
dachte sie erleichtert.
Am späten Vormittag brachten sie Necla tatsächlich zu
ihren Eltern. Als sie dort ankamen, waren noch einige
ihrer Onkel da, die sie kurz zuvor kennengelernt hatte,
Gencal, ihr Bruder, saß da und Gott sei Dank, die Eltern!
Sie lief sofort zu ihrem Vater und klammerte sich an ihn.
„Papilein, Papilein, bitte schick diese schrecklichen
Menschen fort“, hatte sie ihn auf Deutsch angefleht, damit
die anderen nichts verstehen konnten. „Sie wollen, dass ich
Murat heirate, sie sagen, er hätte mich entführt und nun
gehöre ich zu ihm!“
Ihre Stimme hatte sich fast überschlagen, so aufgeregt war
sie gewesen.
„Ich bin doch noch ein Kind und ich bin noch Jungfrau
und der Murat wollte diese Nacht mit mir schlafen und er
hat gesagt, ich müsse seine Frau werden und ihn heiraten,
so verlange es die Tradition. Ich kann und will aber nicht
heiraten, ich bin doch viel zu jung!“
Er aber hatte sich barsch aus ihrer verzweifelten Umklammerung gelöst, sie kurz angesehen und nur
geantwortet:
„Du wirst ihn heiraten, das ist beschlossene Sache!
Ansonsten wirst du, wie deine Schwester in Deutschland
im Kinderheim landen, dort auch abhauen und aus dir wird
ein schlechter Mensch. Hier ist gesorgt für dich und alles
hat seine Ordnung. Du hast zu gehorchen, wenn deine
Eltern etwas für dich beschließen!“
Sie hatte ihn entsetzt und ungläubig angestarrt. Dann fing
sie an zu weinen und flehte ihn an: „Papilein, ich bin noch
klein, ich muss doch noch zur Schule und er ist doch mein
Cousin.“
Es nutzte alles nichts. Der Vater hatte sie zur Seite
geschubst und dann nach seinem Bier gegriffen und einen
Schluck getrunken. Mama saß die ganze Zeit mit versteinertem Gesicht da, starrte auf den Boden und sagte kein
einziges Wort zu alledem. Da wusste Necla, sie war
endgültig verloren.
Plötzlich war ihr Bruder Gencal aufgesprungen, er schrie
den Vater an:
„Wenn du ihm meine Schwester gibst und wir ohne sie
zurück nach Deutschland fahren, dann bring ich dich um!“
Der Alte hatte ihn für einen Moment verdutzt angesehen,
dann ergriff er die Flasche Bier, die vor ihm auf Tisch
stand. Necla bemerkte, dass er auch zu dieser Uhrzeit, vor
dem Mittag, schon wieder betrunken war, wie so oft zuvor
in Deutschland. Ihr stockte der Atem. Das würde er nicht
tun. Doch er tat es! Er schlug mit voller Wucht mit der
Flasche nach Gencal. Einfach so, als ginge es darum, ein
lästiges Tier abzuwehren oder dieses in seine Schranken zu
weisen.
Wäre Gencal nicht noch schnell etwas zur Seite
ausgewichen, so hätte ihn die Flasche voll am Kopf getroffen. So traf sie hart und schmerzhaft seine Schulter. Ihr
Bruder brüllte auf vor Schmerz.
Der Vater schrie ihn noch an: „Und dich lasse ich auch
hier, wenn du nicht aufpasst. Dann könnt ihr sehen, wie ihr
hier verreckt!“
Necla hatte Gencal an der Hand gepackt und ihn schnell
nach draußen gezerrt. Dort fing ihr kleiner Bruder an zu
weinen. Vor Schmerzen, aber auch vor Zorn und Wut über
das Geschehene. Er war doch erst elf Jahre alt!
„Ich bringe ihn um, dieses Schwein!“
„Sei still, Gencal“, hatte sie ihn angefleht. „Papilein ist
betrunken, der bringt dich sonst noch um, wenn er dich
hört!“
„Ist mir doch egal! Vorher erledige ich ihn“, brüllte er,
schluchzend vor Schmerz und vor Wut.
Sie versuchte ihn zu beruhigen: „Sag so etwas nicht,
Gencal! Was willst du denn machen? Du bist doch noch
viel zu klein. Du musst alles Hakan erzählen, wenn du
wieder zu Hause bist, er ist der Älteste, ihm wird schon
etwas einfallen. Versprich mir nur, dass ihr mich hier
wieder rausholt. Aber bitte lasst Vater am Leben, das
bringt sonst noch mehr Unglück über uns alle, versprich
mir das!“
Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, nahm sie ihm das
geforderte Versprechen ab. Auch für Hakan. Sie kannte
ihren größeren Bruder zu genau und sie wusste, er würde
Vater ansonsten etwas antun, wenn er von all dem hier
erfuhr.
Sie nahm Gencal dieses Versprechen nicht zum Schutz
ihres Vaters ab, der war ihr in diesem Augenblick egal. Sie
tat es für ihre beiden Brüder, um sie zu schützen, damit sie
anschließend nicht ins Gefängnis mussten.
Als Gencal sich etwas beruhigt hatte, ging sie wieder ins
Haus. Sie wollte mit Mutter sprechen, vielleicht würde sie
ihr helfen. Die Mutter saß mit Murats Vater am Tisch. Sie
unterhielten sich. Als sie näher trat, beachteten sie Necla
nicht. Sie unterhielten sich über den Ablauf ihrer Hochzeit!
Ihr stockte wieder der Atem. Einen Moment lang musste
sie sich zusammenreißen und dann tief Luft holen.
„Mama, was erzählst du da? Ich will Murat nicht heiraten,
bitte nimm mich wieder mit nach Deutschland!“ flehte sie
ihre Mutter an. Doch Necla sah keinerlei Regung in ihrem
Gesicht und schwach fügte sie noch hinzu: „Ich muss doch
noch zur Schule.“
„Das ist jetzt vorbei, es ist zu spät. Du hast selber schuld!
Hättest ja nicht mit ihm gehen brauchen auf diesen langen
Spaziergang. Es ist Ehrensache, dass du Murat heiratest.
Du willst doch keine Schande über uns alle bringen.“
Verzweifelt und ratlos hatte Necla die Mutter angeschaut.
Sie wandte sich auf Türkisch an ihren Onkel:
„Ich werde deinen Sohn nicht heiraten!“ schrie sie ihn an.
Er aber lachte nur: „Du bist noch klein, du wirst dich schon
daran gewöhnen, wie hier die Sitten und Gebräuche sind.
An ihn und an das Frau sein, an die Pflichten, die du dann
hast, im Haus, auf dem Feld und im Bett. Und wenn nicht,
so bringen wir dir diese schon noch bei!“
Alle lachten und sie sah, dass niemand sie verstand, dass
niemand sie verstehen wollte. Auch ihre Eltern nicht.
Mit einem letzten verzweifelten Versuch wandte sie sich
noch einmal weinend an ihre Mutter. Sie flehte sie an, dass
sie noch Jungfrau sei und schließlich noch nie mit einem
Mann etwas gehabt habe.
Nie wieder sollte sie den Satz der Mutter vergessen, den
diese daraufhin zu ihr sagte:
„Dann denke daran, Kind, wenn du das erste Mal mit
deinem Mann schläfst, halte die Beine nach oben, dann tut
es nicht so weh.“
Das war alles, was sie ihrer zwölfjährigen Tochter als
Mutter mit auf den Weg in die ungewisse Zukunft gab.
Entsetzt hatte Necla sie nur noch angestarrt. In ihrem Kopf
drehte sich plötzlich alles. Sie hatte aufgehört zu weinen.
Da nahm sie all ihre Kraft zusammen und schrie der
Mutter ins Gesicht:
„Mach es doch selber mit ihm!“
Dann lief sie wieder hinaus zu Gencal und presste sich an
ihn. Er war ihr vertraut, er war ihr Bruder. Tränen der
Verzweiflung rannen über ihr Gesicht. Sie waren doch
beide noch Kinder!
Der Abschied von Gencal am folgenden Tag war furchtbar.
„Vergesst mich hier nicht“, hatte sie ihm bei der
Umarmung noch einmal ins Ohr geflüstert.
Es war üblich, so hatte sie erfahren, dass die Eltern der
Braut an den Hochzeiten ihrer Töchter nicht teilnahmen.
Nach alter Sitte wurden die Mädchen bei der fremden
Familie nur abgegeben, gehörten ab da ganz zu den
anderen. Auch Besuche waren von diesem Zeitpunkt an
selten oder fanden kaum noch statt. Selbst dann nicht,
wenn die gesamte Verwandtschaft im nächsten Ort
wohnte.
Necla sollte den Eltern die Hände küssen, zum Abschied,
so war es üblich, hatte man ihr mehrere Male eindringlich
gesagt und sie aufgefordert, dies auch zu tun. Sie aber
drehte sich nur um, an jenem Tage, beim Abschied von
ihrer Familie. Sie drehte sich nur um und ging die staubige,
unbefestigte Straße hinunter. Ohne ein weiteres Wort. Sie
ging einfach, bis sie an den Rand des Dorfes kam und als
sie diesen erreicht hatte, ging sie weiter, lange Zeit einfach
nur weiter, die unbefestigte, staubige Straße entlang.
Niemand sah die Tränen in ihren Augen, niemand sah die
Tränen, die ihr über das Gesicht liefen. Niemand fühlte
den Schmerz in ihrem kleinen, verlorenen Herzen.
Die nächste Zeit verbrachte sie wie in Trance. Sie bekam
nicht wirklich mit, wie man ihr die Kleidung wegnahm und
diese gegen andere, ungewohnte Dinge tauschte. Sie durfte
fortan nur noch verschleiert gehen, durfte keine Hosen und
keine T-Shirts mehr tragen. Es war so furchtbar warm
unter der neuen und ungewohnten Kleidung. Alles musste
verdeckt sein. Keine Haut und kein Fleisch durfte man
mehr sehen. Es war unerträglich für sie.
Sie verstand dies alles nicht, nahm die Dinge nur schemenhaft wahr.
Aber, sie tat, was sie verlangten, sprach kaum noch ein
Wort mit jemandem. Niemand war ihr vertraut in dieser
neuen, fremden Umgebung, niemand ihr Freund.
Es war eine völlig andere Welt, die sie nun umgab. In
Deutschland, da war sie auf die Straße gegangen, zu
Freundinnen oder zum einkaufen, wann sie wollte, wann
sie Lust dazu hatte. Hier war sie fern und abseits jeglichen
Lebens, so etwas hatte sie bisher nicht gekannt. Nichts
durfte sie alleine machen. Sie wurde behandelt, wie eine
Gefangene.
Sie nahmen sie mit aufs Feld, zum arbeiten. Es war eine
ungewohnte und harte Arbeit für Necla gewesen. Tabak
wurde angepflanzt, auf großen, staubigen Feldern. So
manche Stunde weinte sie in der sengenden Sonne still vor
sich hin.
Dann musste sie lernen, die Kühe zu melken und es war
ihre Aufgabe, mit den anderen Frauen Wasser vom
Brunnen zu holen. Es war zu Anfang für sie überhaupt
nicht vorstellbar, dass es dies so gab, das solch eine Welt
existierte! In Deutschland drehte man den Wasserhahn auf
und das Wasser floss einfach so dahin. Sie hatte sich früher
noch nie Gedanken darüber gemacht, wo das Wasser
überhaupt herkam. In keinem der Häuser gab es fließendes
Wasser. Das Dorf hatte einen Brunnen und alles musste
fürs Kochen, Putzen, Waschen mühsam herangeschleppt
werden. Es war ein zusätzlicher riesiger Schock für sie. Sie
kam sich vor, wie 100 oder 200 Jahre in eine andere Zeit
zurück versetzt. Das alles kannte sie doch nicht. Es war
schrecklich! Zu ihrem großen inneren Leid und Kummer
kamen die unvorstellbaren, äußeren Umstände noch hinzu,
verstärkten das Gefühl des Verloren seins, des Alleinseins.
Es war so anstrengend für sie gewesen, damals. Sie war
doch noch so jung, alles war so schwer und ungewohnt für
ihren kleinen Körper. Abends taten ihr alle Knochen weh,
aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie sollten nicht
merken, wie sehr sie auch dieses Äußere noch alles belastete. Sie war zu stolz. Jeden Abend weinte sie sich still
in den Schlaf. Ihre Gedanken waren dann in der Heimat,
bei ihren Freundinnen und Geschwistern in Deutschland.
Aber dies alles war so weit fort. Fast, wie ein unrealistischer, nie dagewesener Traum.
Hier, in dieser anderen Welt, verschob sich alles.
Manchmal glaubte sie, das Leben vor dieser Zeit hätte sie
sich vielleicht nur eingebildet, alles nur geträumt.
Am schlimmsten waren die Abende, wenn sie im Bett lag.
Murat, der Cousin wollte immer mit ihr schlafen. Sie
hasste ihn dafür, hatte große Angst vor diesem furchtbaren
Augenblick. Außerdem sollte ein Mädchen nach der
Tradition absolut unberührt in die Ehe gehen. So lag sie da,
weinte leise vor sich hin und lauschte auf die Geräusche
der anderen, auf die Geräusche der dunklen Nacht.
Dass war, bevor sie von Murat mit Hilfe seiner Eltern
vergewaltigt wurde, kurze Zeit vor ihrer ungewollten
Hochzeit.
So lag sie abends lauschend im Bett, im Schlafraum mit
den anderen, mit den Kinder und mit den Erwachsenen. Ihr
Onkel, Murats Vater, hatte zwei Frauen. Er hatte meist bei
seiner zweiten Frau im Haus nebenan gewohnt. Nur
manche Nacht, dann blieb er da, dann waren für kurze
Zeit, wenn sie zu Bett gingen, so komische, ungewohnte
Geräusche und stöhnen zu hören. Immer nur vom Onkel.
Nach kurzer Zeit wurde es aber wieder still!
Wenn sie auch noch nicht viel wusste, von diesen Dingen
zwischen Mann und Frau, so wollte sie sich dies doch
unbedingt bewahren. Ursprünglich für den Mann, den sie
einmal lieben würde, später, wenn sie groß, wenn sie
erwachsen war. Ihre Unschuld war etwas Heiliges, wenn
sie dies alles auch nicht so wirklich zuordnen konnte, mit
ihren zwölf Jahren.
Obwohl sie immer todmüde war, setzte sie sich jeden
Abend auf diese Truhe, die im Schlafraum stand. Sie
wartete, bis Murat und die anderen eingeschlafen waren.
Aber, er schien nie wirklich müde zu sein. Immer wieder
drängte er sie, zu ihm ins Bett zu kommen. Sie verweigerte
dies natürlich, blieb einfach da sitzen, bis sie selber immer
wieder vor Erschöpfung und Müdigkeit einnickte.
Jeden Abend, über Wochen hinweg, hatte Murat sie abends
nicht in Ruhe gelassen. Er traute sich aber trotz seiner 24
Jahre nicht, sie seit jener grausamen Nacht wieder anzupacken oder einfach ins Bett zu ziehen. So saß sie auf der
Truhe, bis er endlich einschlief. Irgendwann legte sie sich
dann zusammengekauert an das Ende des Bettes, um im
Halbschlaf immer wieder zu lauschen, ob er nicht doch
wach würde, um sie anzufassen. Ganz in der Früh war sie
dann immer schnell aus dem Bett, damit er ja nicht vor ihr
wach wurde und sie anpacken konnte. Es war furchtbar.
Wie früher zur Schulzeit, fand sie nun auch hier keinen
Schlaf.
Den einzigen Moment am Tag, den sie genießen konnte,
war die kurze Mittagsruhe. Bevor die Sonne am höchsten
Punkt stand und die Hitze über den Feldern flimmerte,
machten alle in einem schattigen Platz unter den Bäumen
ein Picknick, aßen etwas und schliefen eine Stunde.
Das war der schönste Augenblick des Tages für sie. In
diesem Moment konnte auch Necla einen kurzen Schlaf
finden, ohne Angst haben zu müssen, dass sie von Murat
belästigt würde. Immer schlief sie dann sofort ein, sobald
sie mit dem Essen fertig waren.
Eines Tages hatte sie Murat gesagt, sie wolle ihren
Stiefbruder Fari besuchen, er wohnte im selben Dorf und
war schon verheiratet. Die Schwiegermutter war dagegen
gewesen, aber Necla war trotzdem gegangen. Sie war die
Dorfstraße entlang gerannt, damit Murats Mutter sie nicht
mehr aufhalten konnte. Mit klopfendem Herzen war sie
beim Stiefbruder angekommen, rief an der Türe des
Hauses nach ihm. Nach kurzem Warten öffnete ihr die
Schwägerin lächelnd die Türe, lud sie ein, hereinzutreten.
Der Stiefbruder saß im Wohnzimmer und rauchte. Er
begrüßte sie herzlich, sie waren ja verwandt, hatten denselben Vater. Sie hatte immer Achtung vor ihren Brüdern
gehabt, nie in deren Anwesenheit geraucht. Vor Fari aber
hatte sie keine Achtung, keinen Respekt. Auch er hatte ihr
nicht geholfen in jener Nacht. Deshalb nahm sie sich, ohne
ihn zu fragen, eine Zigarette aus der Schachtel vom Tisch,
zündete sie an und tat ein paar tiefe Züge. Das Rauchen
hatte sie mit neun angefangen, als sie wegen ihrer Unkonzentriertheit und dauernden Müdigkeit in die Sonderschule musste. Dort rauchte fasst jeder.
"Ja, rauch nur", hatte Fari damals gesagt, "ich bin ein
verständnisvoller Bruder."
Sie hatte ihn nur angesehen, und ihm dann im kargen
Raum vor die Füße gespuckt mit ihren 12 Jahren, ihn
gefragt, weshalb er ihr dann nicht helfe, sie nicht zu ihm
hole, in sein Haus?
Da hatte er sie angesehen und geantwortet:
„Weißt du, Necla, ich kann dich nicht zu uns holen. Unsere
Mütter sind zwar gleich, wir sind Geschwister, aber unsere
Väter sind nicht dieselben. Sie werden mich fragen, warum
ich dich da wegnehme. Sie werden sagen, es ist so bestimmt zwischen den Eltern und es ginge mich nichts an!“
Da kam sich noch verlorener vor. Trotzdem konnte sie ihn
sogar verstehen, war froh, ihn von Zeit zu Zeit besuchen zu
können, ab und zu einmal zu rauchen.
Sie wusste, Gencal, mit seinen elf Jahren, war zu jung,
etwas für sie in ihrer verlorenen Situation zu unternehmen.
Aber, Hakan, mit seinen18 Jahren, er war immer schon so
erwachsen, so unerschrocken und stark. Er würde ihr
gewiss helfen, so hoffte sie Tag für Tag.
Und eines Tages war es dann so weit gewesen! Sie war mit
Murat und den anderen auf dem Weg zum Feld gewesen,
da war eine Nachbarin gekommen, die immer sehr nett zu
ihr gewesen war.
„Lauf, lauf ins Dorf zurück“, hatte sie gerufen. Necla hatte
nicht gewusst, warum sie ins Dorf zurück sollte und sie
erstaunt angesehen. Außer Atem hatte sie ihr eröffnet:
„Dein Bruder aus Deutschland ist da, du musst schnell zu
ihm!“
Necla hatte ihren Korb fallen lassen, wollte loslaufen, aber
Murat ergriff schnell ihren Arm und hielt sie fest.
„Du läufst nirgendwo hin“, fuhr er sie barsch an, „wir
gehen zum Feld und du verrichtest deine Arbeit wie
immer, heute Abend werden wir sehen.“
„Versuch mich jetzt nicht aufzuhalten“, hatte sie ihn
angeschrien und sich rasch aus seinem Griff gelöst, dann
war sie losgerannt.
Am Dorf angekommen, erkannte sie ihren Bruder schon
von weitem, sah seine große, kräftige Gestalt, seine langen
Haare. An seiner rechten Seite stand ihr Onkel, Murats
Vater und ein paar andere Männer aus dem Dorf waren
ebenfalls da.
„Hakan, Hakan!“ schrie sie lauthals und ihre Stimme
überschlug sich dabei fast vor Erregung und von der
Anstrengung vom Laufen in den langen Kleidern.
Er schaute zu ihr, erkannte sie aber im ersten Moment
überhaupt nicht. Er hatte sie ja noch nie in solchen
Kleidern, nie mit einem Kopftuch gesehen. Sie rannte
weiter, bis sie ihn erreichte, weinte vor Freude und fiel ihm
um den Hals, umarmte ihn fest. Alles wollte Necla ihm auf
einmal erzählen, kein Wort brachte sie vor Aufregung
heraus.
„Beruhige dich, Necla, beruhige dich“, sagte Hakan auf
Deutsch. Er hielt sie fest im Arm. „Ich bin für dich gekommen, bin gekommen, um dich zu holen. Alles wird
gut.“
Sie wurde noch aufgeregter. Alles wollte sie ihm in einer
Sekunde erzählen! Alles, was sie ihr angetan hatten in
dieser Zeit! Aber kein Wort kam in diesem Moment über
ihre Lippen. Nur Tränen, Tränen der Erleichterung rannen
über ihr Gesicht. Nie mehr wollte sie ihn loslassen, auch
nicht, als sie jetzt zum Haus des Onkels gingen.
„Necla, du kannst mich ruhig loslassen. Hab keine Angst
mehr, ich gehe nicht ohne dich!“ redete er beruhigend auf
sie ein. Aber sie löste sie sich nicht von ihm.
„Ich muss mal zur Toilette“, sagte er, bevor sie ins Haus
gingen.
„Aber ich lass dich nicht los!“
„Du kannst doch nicht mitgehen“, gab er zurück.
„Doch“, antwortete sie, „ich gehe mit. Dann warte ich eben
davor, bis du fertig bist. Aber, bitte, lass mich hier nicht
mehr alleine mit diesen Menschen.“
Da nahm er sie an der Hand mit bis zu dem Plumpsklo,
dass etwas abseits vom Haus stand. Davor erst ließ sie
seine Hand los.
Sobald er wieder heraus kam, ergriff sie diese sofort
wieder.
Murat kam die Straße hoch vom Feld.
Er begrüßte Hakan etwas unsicher:
„Willkommen in der Türkei, Schwager“, sagte er dann.
„Pass mal auf“, gab dieser grob zurück, ich heiße nicht
Schwager, ich heiße Hakan. Merk dir das!“
Er baute sich vor Murat auf, war ein Stück größer als
dieser. Dann sagte er:
„Geh mir aus den Augen und lass dich nicht mehr blicken,
sonst werde ich dir eine rein knallen, du Dreckskerl!“
Da sie immer noch Hakans Hand hielt, merkte sie, dass er
aufgeregt war. Er zitterte. Sie wusste, er war erregt, vor
Wut, nicht vor Angst. Er musste sich zurück halten, um
das Ausgesprochene nicht sofort in die Tat umzusetzen.
Als sie dies bemerkte, wusste sie, sie konnte ihm nicht die
ganze Wahrheit erzählen. Konnte ihm nicht sagen, dass
Murat sie fast jeden Tag verprügelte, dass er ihr unter
Zwang die Unschuld geraubt, sie entjungfert hatte. Hakan
würde ihn auf der Stelle umbringen. Murats Eltern
ebenfalls. Er würde ins Gefängnis kommen und sie wäre
immer noch in der Türkei.
Also erzählte sie ihm nichts.
Hakan war gekommen, um sie nach ihrer Hochzeit, die in
einigen Tagen vollzogen werden sollte, nach Deutschland
zu bringen.
Als sie alleine waren, flehte Necla ihn an:
„Ich will ihn nicht heiraten, Hakan, bitte, lass uns sofort
zurückfliegen!“
Er hatte sie traurig angeschaut.
„Necla, das geht nicht. Ich konnte nur mit dem
Versprechen an Vater hierhin, dass zumindest die Hochzeit
vollzogen wird, bevor ich dich zurückbringe. Ich habe mit
ihm gestritten und ihm abgerungen, dass du zumindest
deine Schule beendest, bevor du mit deinem Ehemann
zusammenleben musst. Versteh doch, Necla, der Vater
würde mich sonst umbringen!“
Sie wusste, Hakan legte ebenfalls viel wert auf die
Tradition. Wenn er auch in Deutschland groß geworden
war, er war doch so erzogen, dass das Wort es Vaters
Gewicht hatte, seine Entscheidung galt. Im Grunde war es
ihr auch egal. Sie wollte nur fort von hier. Nach all dem
Geschehenen kam es nicht mehr darauf an, ob sie verheiratet war oder nicht. Hauptsache fort von hier.
Die Hochzeit dauerte drei Tage. Viele Verwandte von
Murats Seite kamen, steckten ihr Geld oder Goldschmuck
ans Brautkleid. Sie weinte unter ihrem Schleier. Hakan war
auch nicht glücklich während dieser Zeit. Sie war nur froh,
dass er da war.
Diese Tage der Feierlichkeiten schienen für Necla kein
Ende zu nehmen, aber irgendwann war das endlich alles
vorbei. Der Murat war am Abend meist so betrunken, dass
er sofort einschlief, wenn er sich in der großen Schlafkammer zu Bett legte.
Endlich war es soweit, der Abreisetag war da. Hakan kam
morgens und sagte:
„Pack deine Sachen zusammen, Necla, wir fliegen heute
nach Deutschland zurück.“
Sie glaubte es kaum! Er würde sie tatsächlich mitnehmen.
Sie hatte während der Feiern manches Mal schon Zweifel
bekommen, ob er dies wirklich tun würde, ob er sich gegen
die anderen durchsetzen konnte.
Wie sie erwartet hatte, mischte Murat sich nun doch noch
ein, obwohl die Väter es wohl am Dorftelefon so abgesprochen hatten vor Hakans Ankunft aus Deutschland:
„Egal, was die Alten beschlossen haben, meine Frau
kannst du nirgends hin mitnehmen, die bleibt hier!“
Hakan ging einen Schritt näher auf ihn zu, packte ihn
barsch am Hemdkragen und zog ihn ein Stück näher auf
sich zu:
„Hör mal gut zu, wenn sie jetzt auch deine Frau ist, sie ist
zuerst einmal meine Schwester, sie ist noch jung und sie
muss in die Schule. So ist es mit dem Vater abgesprochen,
ich vertrete hier meine Familie, mein Vater hat mich
geschickt und dein Vater weiß davon, klär dies mit deinem
Alten ab!“
Dann ließ er ihn wieder los.
„Necla muss erst einmal in die Schule und diese fertig
machen. Dann kann sie dich nach Deutschland holen!“
Natürlich haben sie sich da noch eine Zeitlang hin und her
gestritten, aber der Murat hatte irgendwie Angst vor Hakan
und er schaute immer zur Tür hinaus auf die Straße, aber
der Onkel, sein Vater, ließ sich nicht blicken. Hakan hat
sich irgendwann nur umgedreht und zu mir gesagt:
„Mach dich jetzt fertig und zieh endlich dieses Kopftuch
runter.“
Sie tat, was er sagte. Murat war wütend hinausgegangen.
Necla hatte große Angst, dass er die anderen, seine Eltern
und Verwandte holen würde, dass sie die Beiden aufhalten
würden. Aber seltsamerweise geschah nichts dergleichen.
Hakan schaute zum Abschied noch kurz bei einigen
Onkels vorbei. Necla verabschiedete sich von niemandem.
Angstvoll wartete sie am Dorfbrunnen, bis er endlich kam.
Unbehelligt konnten sie das Dorf verlassen.
Im Flugzeug erst fing sie an, Hakan alles zu erzählen. Sie
konnte es nicht länger für sich behalten, es musste aus ihr
heraus. Hakan saß wie versteinert da, während es aus ihr
heraussprudelte. Er sah sie nicht an, hörte nur zu.
Auch, als sie ihre Ausführungen beendet hatte, sprach er
nicht viel. Er nahm nur kurz ihre Hand und sagte:
„Es tut mir so leid, Necla, es tut mir so leid, dass du all
dies erleben musstest.“
Dann war er still. Er schien zu überlegen.
Nachdem sie in München gelandet waren und Hakan sein
Gepäck vom Band geholt hatte, sie war ohne etwas
abgereist, hatte nur ihr altes T-Shirt und ihre Jeans
angezogen, eröffnete ihr der Bruder:
„Wir müssen noch kurz ins Reisebüro, hier im Flughafen.“
„Wieso?“ hatte Necla ihn gefragt.
Sie hatte ihn nur verwundert angesehen, als er auch schon
das nächste Büro betrat.
Hakan fragte die Angestellte, wann der nächste Flug nach
Ismir zurück ginge.
„Was machst du, Hakan?“ hatte sie erstaunt gefragt.
„Ich fliege so bald wie möglich zurück“, war seine knappe
Antwort, „ich bringe ihn um, diesen Dreckskerl. Warum
hast du mir dies alles nicht in der Türkei erzählt, dann
würde er jetzt schon nicht mehr leben!“
„Genau deshalb habe ich dir nichts gesagt“, entgegnete sie
entsetzt, „ich wusste, dass du so reagieren würdest. Aber,
was bringt uns das? Dann bringen sie dich um oder du
wirst verhaftet, kommst ins Gefängnis und dann? Hakan,
und dann? Wer beschützt mich? Wer hilft mir dann? Es ist
doch egal, was mit mir passiert ist! Es ist vorbei!
Hauptsache ist doch, ich bin jetzt hier in Deutschland, in
Sicherheit, bei dir!“
Verzweifelt hatte sie ihn angesehen, stand hilflos da, hatte
angefangen zu weinen.
Dann redete sie wieder auf ihn ein, war froh, als er sich
endlich überzeugen ließ, mit ihr heim nach Lindau, zu den
Eltern zu fahren.
Zurück in Deutschland, war die Zeit dort mit den Eltern
unerträglicher denn je für sie gewesen. Necla musste
irgendwann wieder in die Schule, etwas wie Normalität
trat ab da in ihren Alltag. Die Eltern aber taten so, als wäre
nichts Schlimmes geschehen. Als wäre all das Geschehene
selbstverständlich, fast taten sie so, als wäre Necla nur für
kurze Zeit zu Besuch bei ihnen, irgendwie gehörte sie nicht
mehr zu ihnen, so kam es ihr vor. Über die Monate hinweg
konnte sie als kleines Mädchen die Eltern nicht anschauen.
Sie konnte ihnen nicht in die Augen sehen, sprach kaum
ein Wort mit ihnen. Immer, wenn Necla die Eltern sah,
stellte sie sich vor, dass sie auch diese schrecklichen Dinge
taten, im Bett, dass sie Sex hatten, dass der Vater in die
Mutter eindrang. Nachts, wenn diese komischen, ekelhaften Geräusche zu hören waren. Sie schämte sich so
sehr. Auch dann, wenn sie daran dachte, dass die Eltern
wussten, dass sie selber mit ihren zwölf Jahren solche
Dinge schon gemacht hatte. Sie schämte sich für das, was
man mit ihr gemacht, was man ihr angetan hatte. Aber
auch dafür, dass es so etwas wie den Geschlechtsverkehr,
diese furchtbaren Sachen zwischen Mann und Frau überhaupt gab. Und sie schämte sich auch für die Eltern. Für
die Dinge, die sie an ihr hatten geschehen lassen.
Sie hatte mit ihren 12 Jahren nicht den Mut gehabt, mit
ihnen darüber zu reden, traute sich nicht, ihnen zu sagen,
was ihr dort alles widerfahren war, obwohl sie es ja auch
so wissen mussten. Wie sollte sie dies alles nur verkraften
und verarbeiten, das Geschehene, die jetzige Situation?
Die Mutter hatte es wahrscheinlich damals ähnlich erlebt,
als sie in ihrem Alter war.
Necla wusste nicht wohin mit ihren Gedanken, Schmerzen
und mit ihrem Leid in ihrem Herzen.
Die erste Zeit, als sie zurück war, war sie nicht zur Schule
gegangen. Sie kam nur nachts aus ihrem Zimmer, um sich
etwas zu essen zu holen. Seitdem sie zurück war und
offiziell verheiratet, kam der Vater seltsamerweise nachts
nicht mehr ins Zimmer und verprügelte sie grundlos. Nur
in der Nacht, da hatte sie sich jetzt noch getraut, durch die
Wohnung zu gehen. Da war sie sich sicher, dass sie den
Eltern nicht begegnen würde, sie nicht ansehen musste. Sie
konnte doch niemandem von ihnen nach alledem mehr in
die Augen sehen. Und trotzdem, wie sehr hätte sie sich gewünscht, von der Mutter einmal in die Arme genommen zu
werden!
Doch die tat das nicht. So, wie sie nie etwas tat, wenn der
Vater sie früher verprügelt hatte und sie dabei mit „du
kleine schwarze Wildsau“ anschrie. Necla kam sich dann
noch nicht einmal mehr wie ein kleines Mädchen vor,
sondern nur noch einfach wie ein Tier, dass man prügeln
und beschimpfen kann, wie man Lust dazu hat. Sie kam
sich vor, wie der letzte Dreck. Wie eine kleine schwarze
Wildsau eben. Dann war der Vater durch nichts zu
stoppen, auch dann nicht, wenn sie ihn traurig anblickte
und fragte: Papilein, was habe ich dir denn getan?
Immer sagte sie Papilein zu ihm.
Und wie viele Abende saß Necla weinend im Nebenzimmer und dachte, sie müsse verrückt werden, wenn die
Beiden sich das Video über ihre Hochzeit anschauten.
Murats Eltern hatten es ihnen geschickt. Auch ohne dieses
Videoband waren die Erinnerungen der furchtbaren
Geschehnisse, jede Sekunde, jede Minute den ganzen Tag
über immerzu präsent in ihr. Aber, es zerriss ihr fast das
Herz, wenn sie in ihrem Zimmer auf dem Bett lag, sich die
Ohren zuhielt und trotzdem von nebenan die Musik hörte,
dazu die fröhlichen Stimmen und die Gesänge der
Peiniger. Oftmals nahm sie sich in ihrer Verzweiflung vor,
ins Wohnzimmer zu gehen, eine Schere zu nehmen, um
das Band einfach zu zerschneiden. Dann hätte zumindest
das dauernde Abspielen, das erneute Miterleben dieser
Zeremonie ein Ende. So hätte sie endlich Ruhe vor diesen
Stimmen gehabt. Doch sie tat es nicht.
Immer und immer wieder spulten sie es ab, waren stolz,
wahrscheinlich sogar glücklich. Glücklich über die erzwungene Hochzeit einer Zwölfjährigen, die als Kind kurz
zuvor und auch danach fast zerbrochen wäre! Und sie taten
dabei so, als wäre dies alles normal, verschlossen die
Augen vor der Realität, vor der grausigen Wirklichkeit und
dem, was sie ihr wirklich angetan hatten.
Dies alles und mehr hatte Necla Sebastian in vielen
Nächten der gemeinsamen Nähe erzählt.
Fast, als wäre es unwirklich, wurde er aus seinen
Erinnerungen zurück in die reale Wirklichkeit geholt.
Weit weg aus diesem Hotelzimmer war er mit seinen
Gedanken gewesen. Er vernahm leises Geflüster vom Flur
her durch die Zimmertüre. Die Türe war nicht verschlossen. Die Mühe hatte er sich nicht mehr gemacht.
Wozu auch? Er wollte ja, dass sie ins Zimmer kamen. Er
erwartete sie!
Er horchte in sich hinein. Die Ruhe in ihm war geblieben.
Auch jetzt, da sich alles dem Ende näherte. Er empfand
diese Ruhe weder als beklemmend, noch als beängstigend.
Sie gab ihm das Gefühl einer gewissen Überlegenheit.
Hinzu kamen das fast leere, klare Glas Wasser vor ihm auf
dem Tisch und seine Pistole.
Das Glas schien ihm seine Klarheit in dieser Situation
widerzuspiegeln. Die Waffe gab ihm eine natürliche
Sicherheit! Nicht, um sich damit zu verteidigen, Dazu
brauchte er sie nicht! Nein, sein Leben wollte er damit
gewiss nicht verteidigen. Nur den Einen, den Bestimmten,
den wollte er noch töten.
Er wusste, dass es jetzt Zeit war, die Waffe vom Tisch zu
nehmen. Wahrscheinlich würde alles schnell gehen!
Er nahm sie mit der rechten Hand auf, umklammerte fest
den harten Griff, betrachtete den matten schwarzen Stahl
für einen Moment. Dann entsicherte er und legte die Hand
mit der Pistole in seinen Schoß.
Zwischen ihm und der Türe stand der Tisch. Sie konnten
also nicht sofort sehen, dass er die Waffe bereits in den
Händen hielt. Natürlich würden sie damit rechnen, dass er
bewaffnet war. Aber, die Situation, so wie sie jetzt war,
gab ihm einen kleinen Vorteil. Außerdem hatten sie ja
keine Vorstellung, wie das Zimmer aussah, wo er sich
genau befand.
Der Bruchteil der Orientierung, den sie benötigten, der
reichte ihm, um den Betreffenden gezielt zu erschießen. Es
dürfte nicht so schwierig sein.
Bald würde die Türe auffliegen, ging es ihm durch den
Kopf. Oder würden sie diese langsam und vorsichtig
öffnen?
Vorsichtig würden sie auf jeden Fall sein. Die Bilder, der
drei Leichen ihrer Landsmänner, ihrer Verwandten, die die
Polizei ihnen gezeigt hatte, waren zu einprägsam in ihren
Köpfen. Auch die frischen Kreidespuren, die die ehemals
menschlichen Konturen umrissen, waren ihnen gewiss im
Gedächtnis haften geblieben. Die Polizei hatte sie um die
Niedergestreckten gezogen, bevor diese in ein Leichenhaus
abtransportiert wurden. Und da waren noch die getrockneten, hässlichen Blutlachen gewesen, die sich in den
Teppichen und im Holzboden eingesogen hatten. So etwas
vergisst man nicht! Es ist für lange Zeit eine grausige und
bleibende Erinnerung. Besonders auch dann, wenn die
Menschen, die dort gelegen hatten, dort getötet wurden,
die eigenen Brüder und Cousins gewesen waren! Daran
würden sie sich jetzt bestimmt wieder erinnern, die
Männer da draußen im Flur.
Sie alle waren ja keine gedungenen Mörder, keine eiskalten Profis, keine wirklich geübten Killer. Die anderen
hatte ihre Tradition dazu getrieben. Ja, vielleicht hatte der
ein oder andere von ihnen schon einmal eine ähnliche
Situation mitgemacht. Aber Profis waren sie alle nicht.
Auch und gerade er hier im Hotelzimmer nicht! Sebastian
hatte lediglich die kalte Rache dazu getrieben, die Männer
umzubringen. Das Verlangen, etwas gegen diese Ungerechtigkeit zu unternehmen. Die Genugtuung, im Nachhinein das Geschehene an Necla zu sühnen!
Deshalb hatte er die Drei in Deutschland umgebracht.
Wenn die deutsche Justiz schon nicht in der Lage gewesen
war, diese Männer zu belangen, so war es seine Aufgabe
gewesen, zu vollstrecken. Sie waren schuldig, das wusste
er. Trotzdem wurden sie freigesprochen!
Nur ihr Tod hatte danach für ihn noch gezählt.
Sie hatten ihn vor einigen Tagen nicht erwartet, die Drei.
Das Gericht hatte sie einen Tag vor deren Tod freigesprochen und als unschuldig entlassen. Sie waren unbesorgt gewesen, dass ihnen etwas zustoßen würde. Hier
gab es ja keine Lynchjustiz. Deutsche machten so etwas
nicht. Das Urteil des Gerichtes war eindeutig gewesen.
Man, hatte nicht sicher beweisen können, dass die Betreffenden überhaupt am Tatort gewesen waren, hatte nicht
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