Er hörte Stimmen, eilige Schritte, unten im Flur. Sie werden zu dritt oder viert sein, ging es ihm durch den Kopf. Er wusste, nun ging alles sehr schnell! Schon gestern hatte er mit ihnen gerechnet. Deshalb war er jetzt nicht überrascht, hatte sich nicht die Mühe gemacht, vom Fenster aus auf der belebten Straße nach ihnen Ausschau zu halten. Er war weder nervös, noch war er beunruhigt, obwohl sie jetzt kamen, um ihn zu töten. Er konnte es nicht verhindern – wollte es nicht mehr verhindern. Die letzten Minuten meines Lebens, überlegte er. Er schaute sich noch einmal um in dem Hotelzimmer. In den drei langen Tagen, seit seiner Ankunft aus Deutschland war es so etwas wie ein Zuhause für ihn geworden. Es war der letzte Ort, an dem er lebte. Der letzte Ort, der all seine Gedanken, all seine verlorenen Wünsche und Träume noch für eine Zeit beherbergen würde, wenn er gleich sterben musste. Alles andere war fern und unwirklich. Als hätte es nie existiert. So, als hätte er nie ein tatsächliches, nie ein reales Leben vor diesen drei Tagen hier gelebt. Er betrachtete die vergilbte Tapete. Sie war stark verblasst in all den Jahren, die sie nun schon hing. Hier und da waren Schrammen und Einkerbungen in Tapete und Wand, fehlten ein paar kleine Stückchen. Unachtsamkeit und Sorglosigkeit hatten dies hinterlassen. Jemand war mit einem kantigen Koffer oder mit einem sperrigen Gegenstand vorbeigeschrammt. Das Muster war vor langer Zeit einmal modern gewesen, aber, dass war wohl schon lange her. So, wie er selber, so schien auch diese Tapete aus einer anderen Welt zu stammen. Im Zimmer war die Zeit einfach stehen geblieben, wie bei ihm in den letzten Tagen. Auch er kam aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, in der sich Dinge zugetragen hatten, die er sich früher niemals hätte vorstellen können. Unerwartete Ereignisse waren eingetreten, hatten sich und dann irgendwann auch ihn selber überstürzt. Sie hatten ihn überrascht und plötzlich überrollt! Bisher gelebte Normalität war aus dem Gleichgewicht, aus den Fugen geraten! Sie war gegen eine andere, gegen eine grausame, aber doch tatsächlich existierende Realität ausgetauscht worden. Nur diese neue Realität zählte noch! Es gab kein Entrinnen mehr daraus für ihn. Er lebte in ihr, war ein Teil von ihr geworden, gestaltete sie urplötzlich mit, lebte und erfüllte diese Realität mit ihren eigenen und grausamen Gesetzen. So viel war geschehen! Sein Blick blieb im Spiegel schräg gegenüber von dem Tisch, an dem er saß, hängen. Emotionslos betrachtete er sich – fast emotionslos, denn er bemerkte, die letzten Wochen waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Müde sah er aus. In Kürze wäre er 45 Jahre alt geworden. Seine sportlich schlanke Figur, sein markantes Gesicht, die kurzen dunklen Haare, die den Ansatz eines Grautons langsam hervorbrachten, sein gesamtes, gepflegtes Äußeres, machte ihn wohl zu so etwas, was man einen attraktiven und gutaussehenden Mann nannte. Langsam löste er sich von seinem Spiegelbild, schaute hinüber zu den matten, dünnen Gardinen. Gleich am Tag seiner Ankunft hatte er sie zugezogen. Das grelle Tageslicht drang so nur mäßig in sein Zimmer. Schlaff und träge bewegten sie sich ab und zu im Hauch eines kaum wahrnehmbaren Luftzuges, der viel zu warm von der Wüste her durch das geöffnete Fenster drang, vermischt mit dem quirligen Lärm der Straße. Sein Blick glitt weiter zu dem schmucklosen, schmalen Kleiderschrank. Die Zeit und der achtlose Umgang durch seine Benutzer hatten ihm über die Jahre arg zugesetzt. Eine der beiden Türen schloss wohl schon lange nicht mehr richtig. Der Schlüssel fehlte. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, ihn zu ersetzen. Sobald man die Türe schloss, öffnete sie sich gleich darauf wieder mehr als nur einen Spalt breit. Es störte im Vorbeigehen, da sie den wenigen Platz zwischen Schrank und Bett noch schmaler machte. Man musste die Türe jedes Mal im Vorbeigehen zudrücken. Doch wen interessierte dies schon wirklich, ging es ihm durch den Kopf. Der schmuddelige, dicke Besitzer des Hotels, der unten an der Rezeption saß, wusste wahrscheinlich nicht einmal um diese Sache. Und wenn, so wäre es ihm wohl ziemlich gleichgültig gewesen. Er hätte es eh nicht geändert. Umso erstaunlicher war es, dass das Zimmer trotz der Jahre und trotz dieses schmuddeligen Besitzers so sauber war, überlegte er weiter. Die Einrichtung war wahrscheinlich vom ersten Tag an bis heute die gleiche geblieben. Nichts war je geändert worden. Nur die Zeichen der Zeit und des Gebrauchs hatten ihre Spuren hinterlassen. So, wie Falten im Gesicht der Menschen langsam ihre Spuren hinterlassen, sich mehr und mehr eingruben und ihn durch diesen prägenden Eindruck immer stärker charakterisierten. So ähnlich war es auch diesem Hotelzimmer ergangen, dachte er. Er schaute zu dem Bild an der Wand. Es war ein Kunstdruck in einem einfachen Holzrahmen. Und wie so oft, dachte er, war es der Druck eines Renoirs. Wahrscheinlich gehörte diese Art der Drucke zum Standardrepertoire von Hotelausstattern weltweit, überlegte er. In vielen Hotels, in denen er gewesen war, hatte er ähnliche Bilder wie diese hängen sehen. Auch an diesem Renoir waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Der Druck hatte seine ursprünglichen Farben wohl zeitgleich mit den ausgebleichten gelblichen Gardinen oder bereits etwas früher verloren. Die erblasste Sonnenblumenlandschaft passte nunmehr zumindest farblich dazu. Wer das Bild wohl ausgesucht hatte, damals, vor langer Zeit? Der Dicke unten an der Rezeption bestimmt nicht. Vielleicht gehörte ihm das Hotel noch nicht, als es eröffnet wurde. Und wenn doch, hatte seine Frau es bestimmt ausgesucht. Hatte der Dicke überhaupt eine Frau? Seltsam, dachte er, welche Gedanken einen beschäftigen, wenn man seine Mörder erwartet. Auch diese Situation hätte er sich anders vorgestellt, wenn ihn früher jemand nach solchen Dingen befragt hätte. Bestimmt war die Frau dem Dicken eines Tages weggelaufen, nachdem sie sein wahres Wesen, seine zunehmende Trägheit nach Jahren stetiger Gleichgültigkeit erkannt hatte. Bestimmt hatte er sie auch ab und zu geschlagen. Irgendwann war sie dann mit einem Gast oder einfach so auf und davon gewesen. Der Dicke war wahrscheinlich nicht einmal erstaunt gewesen, als er eines Tages mehrere Male nach ihr gerufen hatte und keine Antwort bekam, sie war einfach nicht mehr erschienen. Ohne Abschiedsbrief, ohne ein Wort. Er war durchs Hotel gegangen, hatte sie nirgendwo gefunden. Dann hatte er im Schlafzimmer nachgesehen, die Kleiderschränke hatten offen gestanden. Er sah, dass einige ihrer Sachen fehlten, Koffer und Reisetasche waren verschwunden, so wie sie. Sie war plötzlich einfach nicht mehr da gewesen in seinem Leben. Er würde sie schon nach kurzer Zeit nicht wirklich vermisst haben. Heute nicht und damals nicht. Nur ihre Arbeitskraft und ihr Gefällig sein im Bett von Zeit zu Zeit, das fehlte ihm wohl ab und zu. Denn jetzt musste er jemanden für all die Dinge bezahlen, die sie früher verrichtet hatte. Im Hotel und auch im Bett. Ja, so würde es gewesen sein mit den Beiden, dachte er, sie war plötzlich einfach nicht mehr da. So, wie ich gleich einfach nicht mehr da sein werde, überlegte er, auch ich werde einfach verschwunden sein aus diesem Leben, von dieser Welt und niemanden interessierte es, niemand würde ihn vermissen! Gleich würde nichts mehr so sein, wie früher – obwohl, wie früher war für ihn schon seit einiger Zeit nichts mehr! Doch dies alles, dieses Früher, lag weit zurück, obwohl es noch gar nicht so lange her war. Ein fernes, anderes Leben streifte vorbei, wie hinter dumpfen Nebelschwaden. So weit zurück… Er dachte an früher, so fern… Wann hatte es eigentlich angefangen? Er überlegte kurz, erinnerte sich. Er hatte Necla zum ersten Mal in Hamburg in dem türkischen Bistro gesehen. Dort ging er hin, nach der Arbeit, um einen Kaffee zu trinken oder am Abend, wenn er noch eine Kleinigkeit essen oder auch nur ein Bier trinken wollte. Dort hatte er sie kennen gelernt. Gencal, der Besitzer, war ein freundlicher junger Mann und Eldem, seine Frau, verstand es, türkische Gerichte und Spezialitäten schmackhaft zuzubereiten. Es war immer etwas los hier. Gencal stand auch an diesem Abend wie immer hinter dem Tresen, als er das Lokal betrat. „Hallo, Sebastian, ein Bier?“ grüßte der Wirt ihn freundlich, als er sich an die Theke setzte. „Hallo! Ja, bitte.“ Er schaute sich um, während Gencal ein noch tropfendes und frisch gespültes Glas neben dem glänzenden Edelstahlbecken wegnahm, um es dann unter den Zapfhahn zu halten. Er drehte den Hahn auf und der Bierstrahl ergoss sich schäumend in das bauchige Glas. Am Tresen saßen noch zwei Gäste, die Sebastian vom sehen her flüchtig kannte. Ein paar Tische waren besetzt, zumeist mit Paaren unterschiedlichen Alters. An einem dieser Tische stand eine junge Frau und nahm eine Bestellung auf. Er kannte sie nicht. Muss wohl eine neue Bedienung sein, dachte er bei sich. Dann wandte er sich wieder Gencal zu, der einen Bierdeckel vor ihm auf den Tresen legte, um das frisch gezapfte Bierglas darauf abzustellen. „Wohl bekomm's.“ Er nahm das Glas vom Deckel, es hinterließ einen runden feuchten dunklen Kreis als Abdruck. „Danke dir, dann Prost.“ Die neue Bedienung kam jetzt hinter die Theke. Sie gab die Getränkebestellung an Gencal weiter. „Zwei Bier und ein Radler für Tisch 5“, sagte sie kurz, wandte sich dann an der Durchreiche zur Küche hinüber und schob einen Zettel über die Ablage. Dabei rief sie etwas in die Küche hinein. Sebastian konnte es nicht verstehen, es würde wohl türkisch sein, nahm er an. Dann drehte sie sich um. Sie bemerkte, dass ein neuer Gast am Tresen saß und grüßte kurz zu ihm hinüber. Sebastian erwiderte den Gruß. Gencal wies auf ein Tablett mit Getränken und stellte noch ein frisches Bier darauf ab. „Tisch 3 ist fertig“, wandte er sich zu ihr. Sie nahm das Tablett und ging zu den Gästen hinüber. „Hast du eine neue Bedienung, Gencal?“ „Ja, das ist Necla, meine Schwester. Sie ist vor kurzem von Süddeutschland nach hier gezogen.“ „Sie macht einen sehr netten Eindruck.“ „Ist doch klar, bei dem Bruder“, erwiderte er scherzhaft. Necla kam zurück. Sie fing an, einige Gläser zu spülen. „Wie viele Geschwister hast du denn überhaupt?“ Gencal überlegte kurz, während er die Bestellung für Tisch 5 fertig machte. „Also, wie gesagt, Necla hier ist meine ältere Schwester.“ Er wandte sich zu ihr. „Das ist übrigens Sebastian, ein guter Stammgast, also sei nett zu ihm“, stellte er die beiden kurz vor. „Hallo“, sagte Necla und er gab ein kurzes „Hallo“ zurück. „Dann ist da noch meine Zwillingsschwester Sema und mein älterer Bruder Hakan. Außerdem haben wir noch zwei Halbschwestern und einen Halbbruder, also sieben insgesamt.“ „Und leben alle in Deutschland?“ „Nein. Nur wir beide und Sema wohnen in Deutschland. Hakan wohnt inzwischen in Amerika und die anderen Geschwister in der Türkei.“ Sebastian trank sein Glas leer. „Und eure Eltern, wo wohnen die?“ Gencal hielt einen Moment inne und schaute ihn an. Dann fuhr er etwas kürzer angebunden fort: „Die wohnen auch in Deutschland. Jetzt weißt du aber genug! Trink lieber noch ein Bier.“ „Ich wollte nicht zu neugierig sein, sorry. Dann mach mir doch endlich noch eins.“ „Ist schon in Ordnung“, antwortete Gencal, nahm ein neues Glas und zapfte es an. Sebastian wandte sich an die Neue. „Gefällt Ihnen Hamburg, Necla?“ „Ja, was ich bisher so gesehen habe, es ist sehr schön hier. Ich hatte aber noch nicht viel Zeit, mir die Stadt anzuschauen.“ Sie stellte die frisch polierten und sauberen Gläser hinter sich ins Regal. Dann drehte sie sich wieder zu ihm. Sie war wirklich sehr nett, dachte Sebastian, nein, sogar sehr hübsch, korrigierte er sich dann in seinen Gedanken. Sie hatte dunkle Augen und eine sehr sympathische, angenehme Stimme, weich und geschmeidig hörte sie sich an. „Sobald ich meine Wohnung fertig eingerichtet habe, wird sich das ändern, dann schaue ich mir alles hier in Ruhe an.“ Sie lächelte ihm kurz zu, nahm ein leeres Tablett und ging wieder zu einem der besetzten Tische, um eine neue Bestellung aufzunehmen. Ja, so hatte alles angefangen, ging es Sebastian jetzt durch den Kopf. Er starrte wieder in den Spiegel gegenüber von ihm, im Hotelzimmer. Die Gedanken an früher und an seinen bevorstehenden Tod berührten ihn nicht mehr wirklich. Es machte ihm nichts mehr aus! Er hatte abgeschlossen. Er wollte nur noch Rache, nur noch Gerechtigkeit. Erst hatte er gedacht, dass Geschehene würde ihm das Herz zerreißen, ihn in den Wahnsinn treiben. Aber dem war nicht so. Darüber war er des Öfteren selbst verwundert gewesen, in letzter Zeit, wenn ihn die Gedanken über das Vergangene, die Gedanken über das, was er selber auch getan hatte, einholten, am Tag, in der Nacht, diese ihn nicht mehr losließen. Nachdem der erste tiefe Schmerz nachgelassen hatte, die wirren Gedanken der existierenden Realität gewichen waren, hatte überlegtes, ja, fast kaltes, logisches Denken sein Handeln geprägt. Mit Erfolg! Wenn man in einem solchen Fall überhaupt von so etwas wie Erfolg reden konnte. Aber, das war auch ein Grund, weshalb er sich nicht an die deutsche Botschaft wandte, um dort den Schutz zu suchen, der ihm als deutscher Staatsangehöriger wohl zugestanden hätte hier im Ausland. Er hatte sich bewusst von Deutschland aus nach Afrika abgesetzt vor drei Tagen und er hatte bewusst Spuren hinterlassen, damit die anderen ihn finden würden. Er hatte gewusst, die deutsche Justiz würde etwas länger brauchen, um ihn ausfindig zu machen, als diese Männer, die nun kamen, um ihn zu töten. Die Behörden würden länger brauchen, um ihn über die Botschaft verhaften und ausliefern zu lassen. Eh dies seinen bürokratischen Weg nehmen würde, war er längst tot, hatte sein Plan sich lange schon erfüllt. Es blieben ihm noch die wenigen Minuten, dieser Raum, der Tisch, der Stuhl, auf dem er saß, das Glas mit dem Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand. Vor allen Dingen aber, die geladene, entsicherte Pistole, die vor ihm lag, neben dem Wasserglas. Die Waffe gab ihm Ruhe, gab ihm die Gelassenheit, die ihn jetzt erfüllte. Er braucht ihn nicht, um sein Leben zu retten, um sich zu verteidigen. Nein, das wollte er nicht! Nur einen bestimmten dieser Männer, die sich nun vorsichtig über die Treppe im Flur seinem Zimmer näherten, einen ganz bestimmten, den wollte und würde er mit in den Tod nehmen. Das war sein einziges, sein wirkliches Ziel in der letzten Zeit gewesen! Die anderen, die mitkamen, die interessierten ihn nicht wirklich. Sie waren unbedeutend für ihn. Völlig unbe- deutend. Auch, wenn sie dabei waren, um ihn umzubringen. Sein Blick fiel wieder auf das mit Glas Wasser, das vor ihm auf dem Tisch stand. Er hatte es seit Stunden immer wieder angestarrt. Es befand sich nur noch ein Rest Wasser darin. Es würde gewiss mehr als lauwarm sein, so lange stand es schon da. Er hatte einige Schlucke genommen, als es noch frisch und kühl war. Seitdem war die Zeit vergangen, langsam und unaufhaltsam war sie zerronnen. Eine Ewigkeit, dachte er, wie eine Ewigkeit, wenn man auf seinen Tod wartet. Die Stimmen kamen näher, waren gedämpft zu vernehmen. Selbst, wenn sie lauter geredet hätten, er hätte sie nicht verstanden, er sprach kein türkisch. Die Männer hatten wohl die oberen Treppenstufen im Flur erreicht. Sie nahmen wahrscheinlich an, er habe sie vorher nicht kommen hören, unten an der Rezeption. Aber, wenn man auf seinen Tod wartete, dann hörte man auf viele Dinge, die man vorher nicht beachtet, denen man keinerlei Bedeutung geschenkt hatte. Sie hatten an der Rezeption nach ihm gefragt und der fette, unangenehm riechende Besitzer gab gegen einen kleinen Obolus neugierig und gewichtig sofort die Auskunft, dass sich der besagte Gast bereits seit seiner Ankunft vor drei Tagen da oben aufhielt. Nur das Frühstück und das Abendessen ließ er sich aufs Zimmer kommen – wohl ungewöhnlich genug. Zumal er die ganze Zeit darin alleine verbrachte, was auch nicht so üblich war in einer Stadt wie dieser, am Rande der Wüste Afrikas. Er wies den Männern den Weg zur Treppe und zum Zimmer Nr. 23 hin. Obwohl dem Dicken da unten seine Neugierde mächtig zusetzte, wusste er doch zu gut, dass es nun besser wäre, wenn er jetzt für kurze Zeit seinen Stammplatz an der Rezeption verlassen würde. Er würde nach gegenüber in die kleine Bar gehen, sich einen Kaffee und einen Cognac oder einen Pastis bestellen und solange warten, bis die Männer sein kleines Hotel wieder verlassen hatten. Er wusste, dass konnte nicht allzu lange dauern. Er selber würde anschließend schnell zurückkehren, die Treppe empor hasten, schwitzend vor Hitze, schwitzend wegen seiner Körperfülle, aber auch ein wenig deswegen, weil ihm in solchen Situationen immer die Angst im Nacken saß. Er wusste genau, was ihn erwartete, aber trotzdem war immer etwas Angst dabei. Dann würde er die angelehnte Türe zu Zimmer 23 langsam einen Spalt weit öffnen, um sich zu überzeugen, dass die Leiche dieses Fremden dort in seiner Blutlache lag, dass der Mann auch wirklich tot war. In all den Jahren war er clever genug gewesen, in solchen Momenten den Toten schnell noch die Ringe vom Finger zu ziehen, die Armbanduhr zu entfernen, um sie einzustecken und dann die Brieftasche zu leeren. Niemand würde jemals nachweisen können oder auch wirklich danach fragen und wissen wollen, ob er die Wertgegenstände entwendet und an sich genommen hatte. Wen interessierte das schon? Dann erst würde er wieder hinunter an die Rezeption gehen, um die Polizei zu alarmieren. Bevor die Polizisten eintrafen hatte er noch Zeit genug, Ringe und Uhr in sein Büro zu bringen und dort zu verstecken. Es wusste ja eh niemand, welche Gegenstände der Fremde bei sich getragen hatte. Also brauchte er sich eigentlich nicht einmal die Mühe machen, um etwas wirklich zu verbergen oder zu verstecken. Hinsichtlich der Zimmermiete musste er sich auch keine Gedanken machen. Der Fremde hatte für eine Woche im Voraus bezahlt. So saß der Besitzer aber erst einmal schwitzend in der Bar gegenüber und wartete ab – er wartete genau wie der Mann dort oben in seinem Hotelzimmer. Nur würde der Dicke in einigen Minuten noch am Leben sein, der Fremde aber nicht. Sollte die Polizei aus irgendeinem Grunde unangenehme Fragen stellen, so könnten genügend Leute bezeugen, dass er sich gerade in der Bar aufgehalten hatte, als der Mord passiert war, als die Schüsse fielen. Er konnte also kaum wissen, wer zu dem besagten Zeitpunkt im Hotel ein- und ausgegangen war. Sebastian schaute noch einmal zu der Pistole hin, die ein kleines Stück entfernt vom Wasserglas lag. So ruhig, wie das Wasser im Glas vor ihm, so ruhig saß er auf seinem Stuhl. So klar, wie dieses Wasser da vor ihm, so klar waren seine Gedanken, so klar konnte er die Situation übeblicken. Dann griff er nach der Waffe. Verwundert bemerkte er, wie kühl sie sich in seiner Hand anfühlte. Trotz der Hitze um ihn herum fühlte sie sich kühl an. Die Männer im Flur draußen würden jetzt sicherlich sehr schwitzen, ging es ihm durch den Kopf. Sie würden schwitzen von der Hitze draußen in den engen, staubigen Straßen, von der Hitze unten im Empfangsraum und von der Aufregung und Angst, da sie ihn gleich umbringen mussten. Und von dem Treppensteigen in dieser feuchtschwülen, stickigen, heißen Luft, überlegte er weiter. Plötzlich waren keine Schritte mehr zu vernehmen. Sie mussten am oberen Ende der Treppe, oben im Flur angekommen sein und sie würden sich für einen Augenblick orientieren. Eine seltsame Stille herrschte für den Moment. Auch von der Straße her, so schien es ihm jetzt, drang kaum noch ein Geräusch zu ihm hinauf. Dabei war dort doch immer bis spät in die Nacht hinein reger Trubel. Und es war noch nicht spät. Seltsam, dachte er, aber es wird wohl so sein, dass der Trubel immer noch da ist. Die Straße wird ja plötzlich nicht leer sein oder die Leute draußen schwiegen, nur weil er gleich erschossen würde oder weil er vor seinem Tod noch einen Menschen umbringen würde. Besser gesagt, erschießen würde, korrigierte er sich in seinen Gedanken, denn umbringen war nicht die treffende Definition. Er würde ihn nur erschießen, das war etwas anderes. Es war ein großer Unterschied für ihn, da er sich im Recht fühlte, im Recht war! Er lauschte wieder zur Türe hin, lauschte in sich hinein. Er bemerkte, dass er keine größere Regung empfand, dort drinnen, in sich. Im Gegenteil. Er empfand Ruhe! Ruhe und Genugtuung. Es wird wohl eher so sein, überlegte er, um noch einmal auf die vermeintliche Stille dort draußen zurückzukommen, dass das Hirn einem einen Streich spielt. Wahrscheinlich wird es sich für den Augenblick dieses endgültigen Momentes ausschließlich nur auf sich selber und auf die anstehende Situation konzentrieren. In seinem Fall konzentrierte es sich auf die Männer draußen im Flur und auf seinen Tod. Es wird sich auf das konzentrieren, was gleich unweigerlich geschehen wird, nun endgültig geschehen musste, analysierte er weiter, um eine logische Erklärung für diese äußere und innere Ruhe zu finden. Dabei fiel ihm ein, dass Necla ihm einmal von dieser Ruhe, von diesem Aussetzen im Kopf bei völligem Bewusstsein erzählt hatte. Es war bei ihr damals in der Türkei gewesen. Sie war gerade zwölf Jahre alt. Ein älterer fremder Mann hatte ihr eine Axt an ihren Hals gehalten, eine Frau hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie festgehalten und wieder ein anderer, ein jüngerer Mann, der hatte sie dann vergewaltigt. Als wäre es damals, hörte er Neclas weiche, sanfte Stimme wieder erzählen. Sie beide hatten sich gerade etwas näher kennen gelernt, damals, in Hamburg. Sie gefiel ihm. Er hatte sie eines Abends im Lokal Ihres Bruders gefragt, ob er ihr in den nächsten Tagen den Hafen und die Gegend um die Landungsbrücken zeigen könnte, damit sie etwas mehr sehe von der Stadt. Sie hatte ja gesagt. Zwei Tage später hatten sie sich zum ersten Mal außerhalb des Lokals getroffen. Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Sie verstanden und unterhielten sich gut, später hatten sie gemeinsam eine Hafenrundfahrt gemacht. Abends waren sie etwas essen gegangen. So hatten sie sich einige Male getroffen und dann hatte er Necla gefragt, ob er sie einmal zu sich nach Hause eingeladen dürfe, auf ein Glas Wein. Sie hatte ja gesagt. An jenem Abend, bei sich zu Hause, er war gerade dabei gewesen, eine Flasche Wein zu öffnen, als sie unvermittelt und ohne Verbitterung anfing zu erzählen. „Weißt du“, hatte sie begonnen, „er war mein Cousin, er hat mich vergewaltigt. Ich kannte ihn und die anderen zu diesem Zeitpunkt erst seit kurzer Zeit. Wir waren ja gerade von Deutschland in den Ferien in die Türkei gekommen. Meine Eltern waren dann ohne mich zurückgereist, hatten mich für eine Hochzeit dort gelassen, mich verkauft. Ich wollte diese Hochzeit nicht, wollte auf keinen Fall jemals mit ihm schlafen, mit diesem Cousin. Außerdem war ich ja erst zwölf, er war 24 Jahre alt. Sein Vater, mein Onkel, hat mir eine Axt an den Hals gehalten und ich fragte ihn verstört und entsetzt, was dass alles sollte? Ich war so jung und ich verstand es doch nicht, was da geschah. Da hat er zu mir gesagt, heute Nacht wirst du mit Murat, meinem Sohn schlafen oder ich schlitze dich auf! Ich merkte, er meinte es ernst. Trotz meiner panischer Angst habe ich ihm entgegen geschrien: ehe ich mit ihm schlafe, da schlitze ich mich eher selber auf! Außerdem sei ich noch zu klein für solche Dinge und ich müsse noch zur Schule. Er hatte die Klinge für einen Moment von meinem Hals genommen, da bin ich schnell aufgesprungen und zu dem kleinen Fenster im Raum gelaufen. Ich habe es aufgerissen, aber nur die schwarze Nacht starrte mich dort an, sprang mir entgegen. Laut habe ich um Hilfe geschrien. Verzweifelt habe ich gehofft, dass mir jemand zu Hilfe käme, denn die Menschen mussten mich ja hören ringsumher. Ich sah, wie einige Lichter in den Häusern angingen, einige gingen aus, aber nirgendwo öffnete sich eine Tür. Niemand vom Dorf kam mir zu Hilfe, niemand. Ich stand da mit meinen zwölf Jahren, verloren und alleine und ich habe geweint. Am fernen Horizont wurde es langsam heller, irgendwo dort hinten würde bald das erste Morgenrot die dunkle Nacht zerreißen und vertreiben. Da haben sie mich an den Haaren vom Fenster weggezogen, mich angeschrien und geschlagen. Die Alte, Murats Mutter, trat nach mir, es schmerzte und dann warfen sie mich aufs Bett. Plötzlich verließen sie den Raum, da draußen einige Männerstimmen riefen, um eingelassen zu werden. Es waren andere Onkel von Murat, meinem Cousin. Sie waren nun alle im Nebenraum. Du bist gerettet, dachte ich erleichtert, aber dann hörte ich, wie sie mit Murat laut und heftig schimpften. Was für ein Mann er denn sei, dass er immer noch nicht mit mir geschlafen habe. Eine Schande sei er, eine Schande für die ganze Familie, seine Eltern hätten schließlich für mich bezahlt, so, wie es Tradition sei und nun habe die Familie auch ein Recht, dass die Ehe und vor allen Dingen die Entjungferung der zukünftigen Frau, der Braut von ihm vollzogen würde, auch bereits vor der offiziellen Hochzeit, solche Dinge sagten sie. Da bin ich vorsichtig zur Türe gegangen, habe sie einen Spalt geöffnet und den Murat gerufen, ich wollte mit ihm alleine sprechen. Bitte Murat, habe ich ihm gesagt, wenn es nur dafür ist, dass du nach Deutschland willst, ich werde dich auch so heiraten, damit du rüber kannst, ich werde so tun, als sei ich deine Frau, aber, bitte, bitte fass mich nicht an, lass mir meine Unschuld. Da hat er mir einfach mit voller Wucht so eine ins Gesicht gehauen und geschrien: du wirst meine Frau und ich werde mit dir schlafen! Alle sagen zu mir, ich sei kein Mann und sie lachen mich aus, wir werden das heute machen und ab dann immer wieder! Dann ist er wieder raus, zu den anderen. Viele laute Stimmen redeten nebenan durcheinander. Ich stand in dem kalten Raum, alleine und einsam und habe nur noch geweint. Warum hatte Mutter mich hier alleine zurück gelassen? Sie würde doch genau gewusst haben, was sie hier mit mir machen wollten. Plötzlich öffnete sich die Türe und Murat kam mit den beiden Alten wieder rein. Mit harten Griffen schmissen sie mich auf das Bett zurück. Der Alte, Murats Vater, drückte mir wieder die Axt gegen den Hals, dass ich mich nicht mehr traute, mich zu bewegen oder zu wehren, ich wusste in dem Moment, er hätte mich umgebracht. Meine Tante beschrie mich ununterbrochen an mit Schimpfworten, die ich teilweise gar nicht kannte und sie riss mir dabei die Kleider vom Leib, dann hielt sie mich fest. Da hat der Murat sich langsam die Hose geöffnet, im Beisein seiner Eltern, kannst du dir das vorstellen? Er öffnete sich die Hose und holte sein Ding raus.“ Sie hielt damals für einen Moment inne im Erzählen. Sie hatte natürlich keine Antwort auf ihre Frage von ihm erwartet und es klang fast so, als wäre das Schlimmste an dieser grausigen Situation gewesen, dass der Cousin sich im Beisein seiner Eltern die Hose öffnete! Sebastian hatte sie etwas verdutzt, aber auch verunsichert angesehen. In der einen Hand hielt er die noch ungeöffnete Flasche Wein, in der anderen den Korkenzieher. Doch, als sei es das Selbstverständlichste dieser Welt, sprach sie einfach leise weiter, mit ihrer warmen, unverkennbaren Stimme. Fast so, als bemerke sie ihn nicht, als sei er nicht im Raum gewesen und doch erzählte sie ihm alleine die ganze Geschichte. „Als ich den endgültigen Ernst der Situation begriff, die Axt an meinem Hals spürte und mir plötzlich schlagartig klar wurde, dass ich gleich gegen meinen Willen meine Unschuld verlieren würde, als ich begriff, dass ein für mich fremder Mann, vor dem ich mich in diesem Augenblick nur noch ekelte, mir das Wertvollste nehmen würde, das ich nach unserer Tradition besaß, da wurde alles still um mich herum. Die Stimmen der anderen aus dem Wohnraum nebenan, die laute Musik, die bis dahin aus dem Radio dort gedudelt hatte, dies alles verschwand gegen eine seltsame, unwirkliche Stille. Wie in einem fernen Nebel nahm ich die Geräusche nur noch wahr – und mein Herz, mein junges unschuldiges Herz, das hörte ich ganz heftig schlagen. Poch, Poch, Poch! So hörte ich es deutlich und schnell in meiner Brust schlagen! Ich sah, wie in Zeitlupe, aber exakt umrissen und wie durch einen Fokus betrachtet, die unabwendbaren Geschehnisse auf mich zukommen, in einem Raum voll Stille, der aber dennoch nicht ruhig war. Weder diese drei schrecklichen Menschen im Zimmer waren still, noch war es draußen ruhig. Mir aber kam es so vor. Ich nahm plötzlich nur noch die Geschehnisse wahr, aber, ich hörte keine Geräusche mehr um mich herum. Ich fühlte nur noch die kalte Klinge am Hals, spürte die Angst, dass diese jeden Augenblick meine Kehle durchtrennen könnte, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung machte oder den Kopf drehen würde. Ich wusste, sie meinten es ernst! Ich sah die alte Frau, die mir die Sachen vom Leibe riss und dann spürte ich Murat, meinen zwölf Jahre älteren Cousin. Mit aufgerissenem Mund und irrem, gierigem Blick in den Augen warf er sich über mich. Die Alte hielt mich nun mit hartem und unbarmherzigem Griff fest. Als sie merkte, dass ich mich wehrte und dass ich Murat mit seinem steifen Glied nicht in mich hineinlassen wollte, drückte sie mir mit aller Kraft die Beine auseinander. In diesem Moment wollte ich nicht mehr leben, ich schloss die Augen und spürte nur noch den Schmerz. Spürte den Schmerz zwischen meinen Beinen und ich spürte den Schmerz in meinem kleinen Herzen. Ich war doch noch so jung. Ich war doch noch ein Kind. Ich fing wieder an zu weinen und ließ es über mich ergehen. Für einen Moment wurde ich ohnmächtig. Dann ging alles sehr schnell, ich war wieder bei Sinnen und plötzlich zeriss auch die Stille. Es war fast so, als wäre sie mit meiner Entjungferung zerrissen. Ich hörte nun wieder deutlich die Musik und die Stimmen von nebenan, von Murats verdammter Verwandtschaft. Alle waren eingeweiht, alle wussten bescheid. Ich hörte seine keifende Mutter neben mir, die mich anschrie. Sie schrie, dass ich selber Schuld hätte, dass dies so geschehen musste. Ich müsse meinem zukünftigen Mann im Bett eine gute Frau und ihm willig sein, so wie es die Tradition verlange. Einem Miststück wie mir würde man schon beibringen, was sich gehöre in einer anständigen Familie. Dies alles würde mir eine Lehre sein. Dann wandten sie sich von mir ab. Murat war fertig. Sie gingen aus dem Raum und ließen mich dort liegen, ließen ein kleines, weinendes Kind blutend auf dem Bett so einfach da liegen!“ Necla hatte ihre Ausführungen nur kurz unterbrochen, dann fuhr sie fort: „Draußen war es inzwischen hell geworden. Ich hörte, wie noch mehr Menschen ins Haus kamen, Männer und Frauen. Nebenan wurde gefeiert. Durch den Türspalt konnte ich ihnen zusehen, wie sie sich zuprosteten und Rhaki tranken. Meine Entjungferung wurde gefeiert – von einem Fremden vollzogen und von fremden Menschen gefeiert! Und die beiden Alten waren wohl froh, dass sie mich doch nicht hatten umbringen müssen. Jetzt kannst du dich nur noch selber umbringen, habe ich damals gedacht, jetzt hast du nur noch diese Möglichkeit! Ich hatte doch von meinen Eltern gelernt, dass Jungfräulichkeit das Wichtigste ist, was man als Mädchen, als Frau besitzt. Ohne diese brauchte man nicht weiterleben, konnte man keine Bindung in der Zukunft, keinen Mann lieben, keine Ehe mehr eingehen.“ Sie hatte wieder einen Moment geschwiegen. Er wusste nicht, ob sie sich erinnern musste oder ob sie nur Mut und Kraft sammeln wollte, bevor sie die Bilder der damaligen Geschehnisse weiter in sich aufsteigen ließ. Sie schaute ihn nicht an. Wohl nicht, weil sie sich schämte. Aber, sie war in diesem Moment ganz bei ihren Gedanken, ganz in dieser schrecklichen Vergangenheit. Er hatte inzwischen vorsichtig die Flasche entkorkt und sich kaum getraut, die Gläser mit Rotwein zu füllen, als sie unvermittelt weitersprach: „Ich weinte noch eine Zeit. Ich hatte Schmerzen. Als ich mich traute, an mir hinunter zu blicken, sah ich das Blut. Mein Herz krampfte sich zusammen. Das Bett, das Laken, meine Beine, alles war voll damit. Es war ein furchtbarer Anblick. Ich verstand das alles nicht, ich war doch erst Zwölf, hatte keine richtige Ahnung von solchen Dingen. Auch hatte ich nicht mehr die Kraft zu weinen, ich schämte mich nur noch. Alle draußen im Raum würden wissen, was geschehen war. Das war ein furchtbarer Gedanke. Sie alle wussten, dass ich meine Unschuld verloren hatte und ich musste ihnen doch irgendwie später ins Gesicht sehen! Wie sollte ich dies nur schaffen?“ Zum ersten Mal seit sie angefangen hatte, zu erzählen, sah sie Sebastian direkt an. Ihre Augen schauten traurig aus für einen Moment. Er hatte sich noch nicht zu ihr an den Wohnzimmertisch gesetzt. Etwas unbeholfen stand er mitten im Raum. Sollte er zu ihr gehen und direkt neben ihr den Platz einnehmen? Oder besser gegenüber von ihr? Er war unsicher. Dann entschied er sich für den Sessel schräg gegenüber. Er setzte sich, schüttete vorsichtig Wein in die Gläser und schaute sie an. Er entdeckte weder Verbitterung noch Zorn in ihrem Gesicht, nur Trauer. Ihre Stimme war einmal kurz etwas lauter geworden während ihrer bisherigen Ausführungen. Ansonsten hatte sie einfach nur erzählt. Fast so, als wäre dies die Geschichte einer anderen Person, einer anderen Frau. Aber, an ihr war es geschehen. Es war ihre Geschichte. Sie sah zu dem Weinglas vor sich auf dem Tisch. Sie hatte es wahrgenommen, ergriff es aber nicht. Dann schaute sie ihn wieder an. Ihre dunklen, tiefgründigen Augen waren ihm gleich zu Anfang schon aufgefallen, als er Necla zum ersten Mal gesehen hatte. Sie ist wirklich hübsch, dachte er bei sich und überlegte einen Moment, ob er etwas sagen sollte, zu den Dingen, die sie ihm so offen dargelegt hatte. Aber er schwieg. Die Stille, die für den Moment im Raume lag, war weder bedrückend, noch hatte er sie damals als unangenehm empfunden. Sie war einfach da, stand nicht zwischen ihnen. Wie ein Mantel der Vertrautheit verband sie zwei Menschen, schuf plötzlich eine Nähe, eine Tiefe, wohltuende Intimität des Verstehens und der Zusammengehörigkeit zwischen ihnen beiden. Necla durchbrach irgendwann diese Stille. Ihr Weinglas hatte sie immer noch nicht angerührt. „Kurze Zeit nach diesem Vorfall fasste ich einen Entschluss! Ich wollte es nicht zulassen, dass diese Menschen mich fertig machten, dass sie Macht und endgültige Bestimmung über mein Leben hatten! Sie konnten mir die Unschuld rauben, aber mein Herz und meinen Willen würden sie niemals rauben können. Sie würden meinen Willen nicht brechen! Das wollte ich ihnen nicht erlauben. Ich musste irgendwie zurück nach Deutschland! Ich musste zurück in eine Welt, in der ich selbst entscheiden konnte, in der ich mein eigenes Leben selbst bestimmen konnte! Ich hatte zwar gerade meine Kindheit hinter mich gelassen, aber mein Leben lag noch vor mir! Plötzlich spürte ich eine ungeheure Kraft in mir! Ich wusste, ab jetzt konnte ich mich nur noch auf mich verlassen und vielleicht auf meine Brüder. Besonders auf Hakan, den älteren, Gencal war ja noch zu jung, um etwas zu unternehmen. Eines wusste ich nun aber genau: auf meine Eltern konnte ich mich nicht mehr verlassen. Sie hatten mich verraten! Auf Vater nicht, der mich nach alter Tradition verkauft hatte und auch nicht auf Mutter, die nichts dagegen unternommen hatte. Wie ein Stück Vieh hatten sie mich weggegeben! Einfach so.“ Für einen Moment starrte sie aus dem Fenster. „Mein Vater hatte mir und meinem Bruder Gencal damals gesagt, wir würden mit der Mutter in Urlaub fahren, in die Türkei. Es waren Sommerferien. Mein Bruder Hakan war ein paar Jahre älter, er ging in die Lehre und er musste schon arbeiten. Wo Sema, meine Schwester in dieser Zeit blieb, weiß ich gar nicht. Wir wohnten damals in Deutschland. Seit acht Jahren wohnte ich schon in Deutschland und ich hatte die Türkei bis dahin nicht mehr gesehen. Ich freute mich riesig. Es war ja überhaupt auch unser erster Urlaub, den wir machten. Und so fuhren und fuhren wir. Die Reise kam mir dann irgendwann doch nur noch endlos vor. Sie ging über drei Tage und drei Nächte hindurch. Und immer wieder fragten wir Kinder ungeduldig, wann wir denn endlich da seien. Wir fragten so lange, bis es meinem Vater zu viel wurde und er uns in seiner unerbittlichen und bestimmenden Art anherrschte: wer jetzt noch einmal diese Frage stellt, den werde er an der Straße aussteigen lassen und ihn nie mehr abholen, so schnauzte er uns an. Da waren Gencal und ich still hinten im Auto und wir fragten nicht mehr. Wir trauten dem Vater zu, so etwas zu machen und uns einfach da draußen alleine stehen zu lassen. Er hatte ja in all den Jahren zuvor schon so schreckliche Dinge mit uns und den Geschwistern gemacht! Und irgendwann waren wir endlich da. Als wir ankamen, war ich schockiert, denn ich hatte mir alles so anders vorgestellt, meinte von früher alles anders in Erinnerung gehabt zu haben. Es war wohl so lange her und so viele Dinge von damals hatte ich einfach vergessen. So zum Beispiel, wie es dort wirklich war. Zum Beispiel die Landschaft, die kargen Berge, das Dorf. Hier schien die Zeit einfach stehengeblieben. Ganz anders, als in Deutschland. Eine holprige Straße führte in den Ort hinein, mit seinen teils unfertigen, unverputzten Häusern. Die Hauptstraße war nicht geteert. Die Nebenstraßen natürlich auch nicht! Staubige Gassen mit tiefen Löchern, die bei Regen zu schlammigen Kuhlen wurden, zweigten rechts und links ab. An überwiegend schiefen Holzmasten hingen träge Stromkabel, um dann seitlich zu den einzelnen Gebäuden abzuzweigen, um wenigstens diesen einen Komfort der modernen Zivilisation weiterzugeben, wie mir schien. Ich sah keine Geschäfte, keine Boutiquen, keinen Kiosk. Bürgersteige gab es nicht. Langsam fuhren wir die Straße hinunter. Ein beklemmendes Gefühl kroch plötzlich in mir hoch, um mich dann gänzlich zu erfassen. So sehr ich mich auf diesen Augenblick des Wiedersehens gefreut hatte, hier könnte ich niemals mehr leben, dachte ich bei mir. Dann entdeckte ich einen kleinen Laden. Es war die einzige Einkaufsmöglichkeit im Ort, wie ich später erfuhr. Ich versuchte mich zu erinnern, an damals, an die Zeit, in der ich hier gelebt hatte. Acht Jahre war es her, als ich hier aus meiner heilen Welt gerissen wurde.“ Necla hatte an der Stelle innegehalten in ihren Erzählungen. Sie schien das Glas auf dem Tisch vor sich wahrzunehmen. Sie wandte ihren Blick kurz zu ihm, dann wieder auf das Weinglas. Vielleicht war sie plötzlich über sich selber überrascht gewesen, ihm so von all diesen Dingen zu erzählen. Sie kannten sich ja noch nicht lange. Bis auf die einige Male ausgehen, seit sie sich vor drei Wochen in Gencals Kneipe kennengelernt hatten. Sie mochten sich, das war klar. Aber für mehr hatten sie sich zuvor noch nicht entschieden. Erst einmal war es einfach so. Sie ergriff das Glas und während sie es langsam in ihrer Hand etwas hin und her schwenkte, schaute sie einen Moment gedankenverloren auf den sich darin bewegenden Wein. Die glatte blutrote Oberfläche schwappte träge von einer Seite zur anderen. Draußen setzte die Dämmerung ein. Es hatte zu regnen begonnen. „Ich war damals vier“, fuhr sie unvermittelt fort, fast so, als hätte sie Angst, dass sie mit dem Erzählen aufhören würde, falls sie jetzt eine längere Pause einlegte, „es geschah alles so plötzlich, so unvorbereitet! Irgendwann hielt ein großes Auto vor dem Haus, ein fremder Mann und eine fremde Frau standen in der Türe. Sie sprachen kurz mit den beiden älteren Erwachsenen im Raum. Es gab Streit und der fremde Mann wurde sehr laut und sehr zornig. Er sagte, sie würden uns abholen, Hakan, Gencal und mich, um uns nach Deutschland zu bringen. Ich wusste nicht, was diese Leute wollten, wusste nicht, wovon sie sprachen! Deutschland? Was war das? Wo war das? Ich kannte doch nur unser Dorf und die geliebte Großmutter, die ich damals Mama nannte. Und den geliebten Großvater, den ich Papa nannte! Ich wollte nicht mit diesem fremden Mann und dieser fremden Frau fahren. Nicht nach Deutschland und nirgendwo hin! Wozu auch? Im Dorf, da war doch mein zu Hause, meine Heimat! Und plötzlich merkte ich, dass dies alles ernst war, sehr ernst. Ich fing an zu weinen und lief zu meiner Großmutter. Ich klammerte mich an sie. Doch es half nichts. Eine harte Männerhand packte mich und zerrte mich einfach aus dem Haus. Ich riss mich los und lief so schnell ich konnte wieder zu Großmutter zurück. Da sah ich, dass auch sie weinte. Der fremde Mann kam zurück, er schrie Großmutter an, dann brachte er mich zum Auto zurück. Er öffnete eine der hinteren Wagentüren und warf mich hinein. Großvater hatte während der ganzen Zeit mit versteinertem Gesicht am Küchentisch gesessen und nur aus dem Fenster gestarrt. Kein Wort hatte er gesprochen. Meine beiden Brüder mussten ebenfalls einsteigen, der Mann setzte sich hinters Steuer, startete den Wagen, dann fuhren wir los. Wir konnten uns nicht einmal verabschieden! Alles war so schnell gegangen!“ Necla war nun etwas heftiger und emotionaler in ihren Ausführungen geworden. Ihre Stimme wurde ein wenig lauter. Zum ersten Mal trank sie an ihrem Glas, das sie bis dahin immer noch zwischen ihren Händen gehalten und ohne Unterbrechung langsam hin und her geschwenkt hatte. Der Regen draußen war stärker geworden. „Da hatte ich plötzlich Angst. Große Angst! Was würde mit mir geschehen? Was würde man uns antun? Warum hatten die beiden Alten sich nicht gewehrt oder Hilfe gerufen? So viele Fragen schossen mir damals durch den Kopf. So viele Fragen und keine Antworten. Auch mein Bruder Gencal hatte plötzlich angefangen zu weinen. Der Fremde fuhr uns unwirsch an, wir sollten auf der Stelle ruhig sein und aufhören zu weinen. Gencal gehorchte eingeschüchtert. Doch bei mir hatte es nichts genutzt. Ich konnte einfach nicht aufhören und so schluchzte ich weiter vor mich hin. Der Wagen rumpelte über die unbefestigten Straßen. Verschwommen sah ich die Häuser des Dorfes vorübergleiten. Nach kurzer Fahrt hielten wir vor einem Haus. Später erst erfuhr ich, dass hier ein Onkel und eine Tante von mir wohnten. Ich kannte sie nicht näher, obwohl wir im selben Dorf wohnten. Der fremde Mann stieg kurz aus, ging ins Haus und kam mit einem Mädchen heraus, das er, genau wie mich vorher, an der Hand hinter sich herzog. Ich kannte das Mädchen flüchtig, sie hieß Sema. Im Streit hatten wir uns einmal mit Steinen beworfen. Sonst hatten wir keinen Kontakt gehabt. Der Mann hatte die Türe des Wagens geöffnet und das Mädchen einfach so hineingestoßen. Wie ein Stück Vieh, wie kurz zuvor mich. Dann warf er die Türe zu. Was wir damals noch nicht wussten, dieses Mädchen war unsere Schwester Sema! Und was wir zu dem Zeitpunkt alle drei nicht wussten, sie war die Zwillingsschwester von Gencal. Verängstigt hatte Sema uns damals angesehen und ebenfalls angefangen zu weinen. Sie kauerte sich auf einen Sitz, der Mann war wieder eingestiegen und losgefahren. So fuhren wir in die dunkle Nacht, in eine ungewisse Zukunft hinein. Die fremde Frau sprach kein Wort und so brachten sie uns nach Deutschland. Sie waren unsere Eltern! Bis zu jenem Tag hatten wir sie nicht gekannt. Drei lange Tage hatten wir Mädchen auf der Rückfahrt fast nur geweint, bis uns zwischendurch immer wieder die Müdigkeit übermannte und wir aus unserer trostlosen und verlorenen Situation in unruhigem Schlaf so etwas wie Geborgenheit fanden. Ich hatte damals Angst, große Angst. Ebenso wie meine Geschwister. Wir sprachen kaum ein Wort miteinander. Wir waren eingeschüchtert und verzweifelt. Manches Mal hatte ich während der Fahrt Hakans Hand gesucht, sie ganz fest umklammert, so als würde dies etwas an der Situation ändern. Er war ja mein großer Bruder und er hatte mich auch schon immer im Dorf beschützt, wenn Streit mit anderen Mädchen war oder wenn Jungs mich zu sehr geärgert hatten. Hakan ging dann einfach hin, sprach kurz mit den anderen und wenn diese nicht hören wollten, dann flogen die Fäuste. Er war auch immer mutig gegen größere Jungs aufgetreten. So, wie man es von einem älteren Bruder halt erwarten konnte!“ Für einen Moment hielt sie wieder inne, ehe sie fortfuhr: „Aber, damals, da merkte ich, dass auch Hakan Angst hatte. Während der gesamten langen Fahrt sprach er fast kein Wort. Er saß da, wie versteinert und schaute nur aus dem Seitenfenster des Wagens in die Ferne. Er war damals neun Jahre alt. Er weinte nicht. Dazu war er wohl zu stolz gewesen. Noch schlimmer musste es ja dem fremden Mädchen ergehen. Es kannte doch damals keinen einzigen, ich hatte wenigstens meine Geschwister. Verloren, wir sind verloren! Sie haben uns entführt, so habe ich immer wieder gedacht. Ich kannte diesen Mann und diese Frau doch gar nicht. Die Großmutter war für mich die Mutter gewesen und der Großvater der Vater! Wann durfte ich zu der geliebten Großmutter zurück? Wann würde ich meine Freundinnen wiedersehen? So viele Fragen gingen mir während der Fahrt immer wieder durch den Kopf und ich weinte und weinte. Da wusste ich nicht, dass es acht Jahre dauern würde, bis ich dorthin zurückkehren würde, bis ich zurückkehren würde, um noch schlimmere Dinge an mir geschehen zu lassen. Dabei hatte ich doch damals gedacht, dies sei das Schlimmste, was mir je geschehen könnte!“ Sie unterbrach, trank einen Schluck Rotwein und hatte ihn dann angesehen. Dieser Abend, an dem sie ihm all diese Dinge erzählt hatte, die Vertrautheit jener Stunden und der Zeit danach, die dann folgte, das alles lag scheinbar so weit zurück. Er blickte wieder auf die Pistole. Zwei Patronen waren noch im Magazin. Er hatte sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, nachzuladen, nachdem er vor einigen Tagen diese drei anderen Männer in Deutschland erschossen hatte. Diese zwei Patronen würden reichen, so wie ihm je zwei Patronen gereicht hatten, die drei anderen vorher zu töten. Hatte er sie überhaupt getötet oder war es der Lauf des Lebens gewesen, der ihn veranlasst hatte, einfach nur zu reagieren, sie zu erschießen? Natürlich hätte er sich den Behörden in seinem Heimatland stellen können. Natürlich hätte ein guter Anwalt aufgrund der Gesamtumstände eine kurze Haftstrafe oder gar Bewährung für ihn aushandeln können. Natürlich war es schwer, dem Gericht zu erklären, dass er es geschafft hatte, gleich alle drei gezielt und kaltblütig niederzustrecken, bevor die drei türkischen Männer überhaupt eine Chance gehabt hatten, zu reagieren. Wäre er ins Gefängnis gekommen, so hätte man ihn dort gewiss umbringen lassen, ohne dass er eine einzige Möglichkeit gehabt hätte, sich zu wehren bzw. denjenigen zu erwischen, dessen Tod ihm jetzt noch so wichtig war. Wäre er ohne Gefängnisstrafe davongekommen, dann wäre die Situation jetzt ähnlich in Deutschland gewesen. Die anderen hätten in gesucht und aufgespürt. Sie wollten, sie mussten ihn töten. So verlangte es die Tradition! Nur hier und jetzt in diesem Moment aber war die Situation überschaubar, sie war kontrollierbar für ihn. Hier brauchte er nichts dem Zufall überlassen! Er konnte den einen Mann gezielt töten. So, wie er zuvor die anderen gezielt getötet hatte. Alles andere spielte jetzt keine Rolle mehr. Hauptsache war, er hatte es getan und er hatte seine Aufgabe gut erledigt. Nur das zählte noch. Der Zeitpunkt, an dem sein Leben eine dramatische Wende genommen hatte, war ja nicht der Augenblick gewesen, als die drei Männer blutüberströmt vor ihm zusammenbrachen, sie noch ein letztes Mal zuckten, sich ihre Hände verzweifelnd nach ihm reckten, um dann röchelnd zu sterben. Ihre erst erstaunten und dann entsetzten Blicke, welche gleichzeitig fast starr vor Angst waren, sah er noch jetzt genau vor sich. Sie verfolgten ihn nach ihrem Tode. Er war ja kein Killer. Er hatte vorher noch nie jemanden umgebracht. Er hatte die Drei überrascht und sie hatten nicht damit gerechnet. Es war eine Genugtuung, sie getötet zu haben und es war wichtig gewesen für ihn. Genauso wichtig, wie jetzt diesen einen Mann noch zu töten. Wieder schaute er auf das Glas mit dem Rest Wasser und überlegte, ob es überhaupt jemals voll gewesen war. Wenn er es so recht überlegte, dann war ein Wasserglas niemals richtig voll! Immer fehlte ein wenig, wenn man es serviert bekam oder sich selber eines eingoss. Ja! Als Kind vielleicht zwei, drei oder einige Male mehr, daran konnte er sich jetzt erinnern, da hatten sie aus Spaß schon einmal ein Glas so voll gegossen, bis es überlief. Vorsichtig hatten sie es so lange bis zum Rand und immer noch etwas voller mit Wasser gefüllt, bis sich eine leichte Wölbung über dem Glas bildete, diese dann irgendwann in sich brach und das Wasser über den Rand hinaus an der Glaswand hinunterlief. Aber das hatten sie wohl nur aus Jux gemacht, Mama hatte geschimpft über den Unfug und den nassen Tisch oder das feuchte Tischtuch und dann hatten sie das Glas wieder ausgeschüttet. Aber später, danach, als Erwachsener, da hatte er das nie mehr wieder gemacht. Da hatte er sich niemals mehr ein wirklich volles Wasserglas eingeschüttet oder servieren lassen. Das fiel ihm jetzt ein, als er dieses Glas vor sich auf dem Tisch ansah. Wieso eigentlich nicht? fragte er sich. Es war schön anzusehen, wenn das Wasser bis zum Rand stand und die Oberfläche die etwas runde, gewölbte Haut bildete. Eigentlich war das Glas doch auch dann erst richtig voll. Aber immer bekam man es serviert, wenn es nur bis circa einen Fingerbreit unter den Rand ging. Beim Bier schüttete man es doch auch so weit voll, bis der Schaum überlief, ging es ihm durch den Kopf. Wieso denn eigentlich nicht beim Wasser? Vielleicht ist es mit dem Wasserglas so, wie mit dem Leben, überlegte er weiter. Bei sehr vielen endete es, bevor die normale Lebenserwartung erreicht war. Nie bekommst du alles, nie bekommst du ein ganzes Leben geschenkt, dachte er. Seine Gedanken waren jetzt so klar, wie das Wasser in dem Glas vor ihm. Er spürte in diesem Moment, da er hier im Hotelzimmer auf seinen Tod wartete, wieder die Vertrautheit, die damals zwischen ihm und Necla gelegen hatte, als sie ihm all diese furchtbaren Dinge erzählte. Er war irgendwann aufgestanden aus seinem Wohnzimmersessel, hatte sich zu ihr gesetzt und wie selbstverständlich ihre Hand genommen. Warm und weich hatte sie sich angefühlt. Weich und zärtlich. So fühlte er sie auch jetzt wieder in diesem Moment der Erinnerungen. Wie viel Zeit war seitdem vergangen? überlegte er weiter. Zehn Monate! Es sind nur zehn Monate vergangen, gab er sich die Antwort. Zehn Monate, in denen so viel geschehen war. Eine kurze Zeit, die sie eng miteinander verbunden hatte, eine kurze Zeit, in der sie zusammen gewesen waren, in der sie tiefe Vertrautheit und Nähe gespürt und gelebt hatten. Vielleicht zu kurz, um eine wirklich tiefe Liebe zu entwickeln oder war genau dies die wahre Liebe gewesen? Sebastian wusste es nicht genau. Zu kurz war ihr Zusammensein gewesen, um etwas entstehen zu lassen, wie es Paare vielleicht empfanden, die seit vielen Jahren glücklich zusammen waren. Bei ihnen beiden hatte die Zeit für all das nicht gereicht und doch hatten sie sich im Prinzip vom ersten Tag an zueinander hingezogen gefühlt, hatte sich jeder nach dem ersten wirklich gemeinsamen und intimeren Abend beim anderen aufgehoben und geborgen, hatte sich in Sicherheit gefühlt. Necla hatte bei ihm das gefunden, was sie bisher nie im Leben gefunden hatte, nicht mehr zu finden glaubte. Sie hatte endlich jemanden gehabt, der ihr zuhörte, der sie zärtlich und behutsam in den Arm nahm, der ihre Sehnsüchte, ihre Ängste und ihre Hoffnungen mit ihr teilte. An jenem Abend damals, war sie zum ersten Mal über Nacht bei ihm geblieben. Sie hatte ihn gefragt, später, nachdem sie noch weitere Dinge über ihre Kindheit, ihren Vater, über die Mutter erzählt hatte, ob sie bei ihm übernachten dürfe. In der Nacht, waren sie dann gemeinsam ins Bett gegangen. Ein vorsichtiger und behutsamer Moment war es gewesen, als die Intimität des Vertraut seins durch ihr Erzählen und sein Zuhören noch die zusätzliche Dimension und Steigerung durch die Berührung ihrer Körper im Bett erhielt. Sie war als Erste ins Bad gegangen. Er hatte im Schlafzimmer eine kleine Lampe eingeschaltet, die nur ein wenig Licht an die Wände und in den Raum abgab. Necla kam zurück aus dem Bad und fing an sich zu entkleiden. Ohne Scham, ganz selbstverständlich. Als wäre es nie anders zwischen ihnen beiden gewesen. Dann ging er ins Bad. Als er das Schlafzimmer wieder betrat, lag sie schon im Bett, das Laken über sich gezogen. Sie schaute ihm zu, während er sich auszog und seine Kleider ordentlich über den Stuhl legte, der neben seinem Kleiderschrank stand. Für den Moment war er froh, dass das Licht der Lampe nur so schummrig war. Dann ging er zu ihr ins Bett unter die Decke. Von diesem Tag an waren sie zusammen. An jenem Abend hatte sie ihm noch erzählt, dass ihr Cousin Murat sie nach wenigen Tagen ihrer Ankunft in der Türkei, bevor all diese schrecklichen Dinge passiert waren, gefragt hatte: „Du, Necla, willst du mit mir spazieren gehen?“ Natürlich hatte sie Lust dazu gehabt, sie wollte ja etwas von der Gegend sehen und es war so langweilig im Dorf. Also hatte sie geantwortet: „Ja, gerne, Murat.“ Das Dorf war von Bergen umgeben und so waren sie losgegangen. Sie gingen und gingen und plötzlich war es immer später geworden. Sie wurde müde vom vielen Gehen im hügeligen Gelände. Sie war ja erst zwölf und er war 24 Jahre alt. Er konnte länger gehen und er machte größere Schritte als sie. Sie hatte ihn schon mehrmals darum gebeten, doch langsamer zu gehen, auf ihn zu warten. Doch er hatte sie dabei kaum beachtet und ihr war es so vorgekommen, als hätte er seine Schritte danach umso größer gemacht. Da hatte sie geschwiegen und war ihm nur noch still gefolgt. „Bruder Murat“, hatte sie irgendwann gesagt, „es ist schon so spät, können wir nun wieder nach Hause?“ Er hatte sie kurz von der Seite angesehen und geantwortet: „Weißt du, Necla, ich glaube, wir haben uns verlaufen.“ Aber sie konnte wirklich nicht mehr und hatte nur gesagt: „Ich möchte nach Hause, Murat. Wir laufen schon so lange und ich bin müde!“ Murat antwortete: „Ich weiß nicht, wo wir sind, aber wir werden schon den Heimweg finden. So lange musst du weiter.“ Da war sie wieder still und wünschte sich nur noch, sie würden bald die ersten Häuser des Dorfes sehen. Als sie so gingen, war plötzlich ein Mann aus einem Gebüsch hervorgekommen. Sie hatte sich erschrocken und instinktiv Murats Hand ergriffen. Sie hielt diese ganz fest. „Murat, wer ist das? Was will dieser Mann von uns?“ „Ja, weißt du, Necla, das ist ein Mann, der sich auch verlaufen hat.“ „Ich hab Angst, Murat“, hatte sie ihm leise und eingeschüchtert zugeflüstert. „Du brauchst keine Angst haben. Der geht jetzt mit uns und gemeinsam werden wir den Weg schon finden.“ So gingen sie dann eine Weile schweigend zusammen und eine immer größer werdende innere Beklemmung und Furcht hatte sie ergriffen. Aber, was sollte sie machen? Sie kannte ja nur Murat, wenn auch erst seit drei oder vier Tagen, er würde schon wissen, was richtig war. Er war ja auch so viele Jahre älter als sie! Plötzlich waren aus dem Nichts noch zwei weitere Männer dazu gekommen. Sie hatten kein Wort gesprochen. Sie gingen einfach mit ihnen. „Was sind das für Männer?“ hatte sie noch verängstigter gefragt. „Die haben sich auch verlaufen. Hier verlaufen sich ganz viele Menschen, weißt du. Aber¸ wenn sie sich zusammentun, dann finden sie auch wieder nach Hause“, war seine knappe Antwort gewesen. Und dann liefen und liefen sie, bis es dämmrig wurde. Irgendwann kamen sie oben am Berg an eine Straße und da hatte so etwas wie ein Lieferwagen gestanden. „Schau“, hatte der Cousin gesagt, „ da ist ein Auto, das wartet auf uns. Da gehen wir jetzt hin und dann fahren wir nach Hause.“ Da hatte sie sich gefreut und war erleichtert gewesen. Sie war so froh, endlich nicht mehr gehen zu müssen und wieder heimzukommen. Als sich die Wagentüre öffnete, hatte sie schon einen gehörigen Schreck bekommen! Es saßen nur Männer darin, aber Murat hatte sie hineingedrängt, dann stieg auch er ein und schlug die Wagentür hinter zu. Keiner der Männer sagte ein Wort, alle starrten sie nur an. In diesem Moment hatte sie panische Angst bekommen und sich an Murat geklammert. Sie kannte ja nur ihn. Dann fuhren sie ab. Niemand sagte ein Wort. Dicht an Murat gedrängt, presste sie sich hinten im Wagen so tief in den Sitz, wie es nur ging. Es war eine unheimliche und beklemmende Situation, wie sie diese nie zuvor erlebt hatte! Irgendwie spürte sie plötzlich instinktiv, dass sich in ihrem Leben ab jetzt mit einem Schlag etwas verändern würde. Sie fuhren nur wenige Minuten, dann näherten sie sich einem Dorf. Als sie die ersten Häuser erreichten, sah Necla zu ihrem Erstaunen, dass es das Dorf ihrer Mutter war. Da waren sie all die Stunden gelaufen und nun nahte der Ort in so kurzer Zeit, hatte sie noch gedacht, und dabei war es nicht allzu weit entfernt vom Dorf ihres Vaters, wo sie zu Besuch waren. Viel später erst erfuhr sie, dass Murat sie die ganzen Stunden des Nachmittags bis zum Abend hin immer nur auf Umwegen durch die Berge um die Dörfer herum geführt hatte, um sie zu täuschen, um sie zu verwirren und um sie müde zu machen. Im Dorf angekommen, hatte das Auto vor einem der Häuser gehalten. Alle waren ausgestiegen und sie hatte sich noch enger an Murat geklammert. Immer noch sprach niemand ein Wort. Sie traute sich erst recht nicht, etwas zu sagen. Alles war so unheimlich. Am liebsten hätte sie angefangen zu weinen, aber auch dies traute sie sich nicht. Murat zog sie ins Haus und die anderen folgten. Drinnen waren noch mehr Menschen, auch einige Frauen. Sie kannte niemanden. Da hatte sie zu Murat gesagt: „Murat, ich möchte jetzt nach Hause, ich bin müde und ich habe Angst hier.“ Alle schauten sie an und er antwortete: „Du kannst nicht mehr nach Hause, Necla.“ „Wieso nicht?“ hatte sie entsetzt gefragt. „Weil ich dich entführt habe!“ Sie dachte, sie habe ihn nicht richtig verstanden und sie hatte ihre Frage wiederholt: „Wieso nicht?“ „Weil ich dich entführt habe!“ bekräftigte er noch einmal seine Aussage. Er wiederholte es so, wie man einem Kind geduldig etwas langsam wiederholt, wenn es nicht richtig verstanden hat. Ihr Herz, so glaubte sie damals, hatte für einen Moment zu schlagen aufgehört. Sie wusste plötzlich genau, er machte keinen Spaß. Er meinte es ernst, was er da sagte. Das wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, als sie wiederholt wie von Ferne seine Worte an ihr Ohr dringen hörte. Und dabei sah sie diese schrecklichen fremden Menschen um sich herum, die sie nur teilnahmslos anstarrten. Sie dachte, sie würde ohnmächtig, müsse einfach umfallen und dann wäre dieser Spuk endlich vorbei. In ihrem Kopf hämmerte es, ihre Kehle schnürte sich zusammen, sie rang nach Luft und sie sah wieder nur in die versteinerten und verschlossenen Gesichter der teilnahmslosen Menschen. Alle wussten von ihrem Schicksal und von dem, was sich hier ereignete. Sie alle wussten, was das kleine Mädchen erwarten würde. So war die Tradition! Weshalb sollte es ihr anders ergehen, als den meisten hier, als den meisten Frauen in diesem Raum? Niemand würde ihr helfen – so viele Menschen und niemand kam auf den Gedanken, zu helfen! Was geschah, war Sitte und der Brauch. Wurde ein junges Mädchen entführt und wehrte sich nicht oder wurde es von den Eltern nicht beschützt, so durfte der Entführer es heiraten. Sie war seine rechtmäßige Braut und seine Frau durch diese alte Tradition geworden. Der Bräutigam oder seine Familie mussten nur noch einen Obolus als Entschädigung an die Eltern des Mädchens zahlen. Fast schien es ihr damals, als hätte sie aus einigen Gesichtern der anwesenden Frauen so etwas wie Schadenfreude und Genugtuung entnehmen können. Ihnen war dieses Schicksal widerfahren und es war wohl nur recht, wenn es dem zwölfjährigen türkischen Mädchen aus Deut- schland auch so ergehen würde. Ihr war es die Jahre zuvor im Ausland gewiss schon zu gut ergangen, bis zu diesem Augenblick! Es schien ihr, als schlüge ihr, dem kleinen Kind, eine unermessliche Grausamkeit in diesem Moment unter so vielen erwachsenen Menschen entgegen. Sie konnte es nicht wirklich fassen. Sie spürte, wie ihr langsam Tränen über das Gesicht liefen. Ihr Atem stockte. Als sie wieder etwas Luft bekam, da hatte sie hilflos und matt zugleich gefragt: „Murat, warum hast du gerade mich entführt?“ „Es ist zwischen deinem Vater und meiner Familie so abgesprochen“, lautete seine knappe Antwort. Sie war entsetzt gewesen! Wenn ihr Vater sie auch oft geschlagen und Mutter ziemlich gleichgültig hatte alles geschehen lassen, so konnte sie sich in diesem Augenblick nicht wirklich vorstellen, dass die Beiden über diese Dinge hier bescheid wussten. Doch schon einige Zeit später erfuhr sie, dass es tatsächlich so war! Ihr Vater hatte sie verkauft! Ihre Mutter hatte es zugelassen. „Aber, ich bin noch klein, ich bin zwölf Jahre alt und ich muss in die Schule. Ich kann nicht deine Frau werden“, hatte sie irgendwann gesagt, zögerlich und verängstigt. Dabei hatte sie immer noch verloren mitten im Raum gestanden. „Murat, und du bist doch mein Cousin.“ Er aber entgegnete nur: „Weißt du, Necla, du bist hier nicht mehr in Deutschland. Wenn ein Mann hier eine Frau entführt, dann muss sie den Mann heiraten. Sonst entehrt sie ihre und seine Familie und diese müssten sich für immer gegenüber den anderen Dorfbewohnern schämen. So ist die Sitte und dies verlangt die Ehre!“ Schwach hatte sie erwidert: „Aber, ich bin doch keine Frau, ich bin doch noch ein kleines Kind.“ Einen Moment herrschte eisige Stille im Raum. Sie roch die Menschen, nahm plötzlich den Geruch aus ihrem Atem, aus ihrer Haut wahr. Und sie spürte den Hass, der ihr entgegenschlug. Trotz dieser Eiseskälte fasste sie plötzlich wieder Mut. „Nein!“ schrie sie. „Ich will zu meiner Mutter und zu meinem Vater!“ Da hatten sie nur gesagt: „Das geht jetzt nicht mehr, du hast die Ehre verletzt, willst du auch noch die Tradition verletzen?“ Sie hatte nicht gewusst, was sie damit meinten, weshalb sollte sie die Ehre verletzt haben? „Ja, was hab ich denn getan?“ „Du bist mit deinem Cousin weggelaufen“, antwortete jemand. „Ich bin aber nicht mit meinem Cousin abgehauen“, rief sie ihnen trotzig entgegen. „Er hat zu mir gesagt, ich möchte mit dir spazieren gehen und er hat mich abgeholt und wir haben uns verlaufen!“ Einige der Anwesenden lachten sie aus, einige haben sich auch nur angeschaut und einfach geschwiegen. Es war eine beklemmende Situation und sie wusste in diesem Augenblick nicht mehr, was sie noch machen sollte. Sie spürte, sie würden sie dabehalten. Sie würden sie nicht gehen lassen! „Ich bin müde“, sagte sie dann irgendwann nur noch. Es stimmte, sie war müde. Müde, vom vielen Laufen, von der Auseinandersetzung, von den Geschehnissen insgesamt. Sie konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Sie wollte in ihrer Verzweiflung nur noch schlafen, im Schlaf dem Furchtbaren für den Augenblick entrinnen. Morgen, ja morgen sah alles vielleicht schon anders aus. Ihre Eltern würden sie suchen, sie würde rufen und man würde sie finden. Dann wird alles wieder gut, dachte sie, alles wird wieder sein, wie früher. Insgeheim hoffte sie dies. „Ich bin müde, ich möchte schlafen gehen.“ Da hatten sie gesagt: „Na gut, dann leg dich schlafen.“ Argwöhnisch schaute sie in die Runde. „Aber, ich möchte alleine schlafen!“ hatte ich geantwortet. Da lachten sie wieder: „Ja, natürlich, du kannst mit diesen zwei Mädchen schlafen, aber bei uns Erwachsenen in einem Raum, so wie es hier üblich ist!“ Sie zeigten auf die beiden Mädchen. Sie kannte sie nicht. Es war ihr aber auch egal in dem Moment. Sie war nur noch müde, traurig und wütend zugleich. Sie wollte einfach nur noch schlafen in diesem Augenblick. Sie dachte dabei an morgen. Dachte daran, dass sie im Dorf ihrer Mutter war und dass ihre Eltern sie vermissen und suchen würden. Morgen würde sie hier abgeholt werden. Bis dahin würde ihr schon nichts geschehen. Sie war ja noch ein Kind und es waren ja auch noch andere Kinder da! Sie bemerkte noch, wie ein Teil der fremden Leute das Haus verließ. Sie ging mit den Mädchen in einen Nebenraum, mehrere Betten standen hier. Sie legte sich auf eines nieder, welches man ihr zuwies. Ihre Kleider hatte sie anbehalten. Sie schlief sofort ein! Nachts wurde sie einmal kurz wach. Im ersten Moment wusste sie nicht mehr, wo sie war. Sie musste sich erinnern, doch dann kamen jäh die dunklen Schatten der Erinnerung zurück, formierten sich zu einem schrecklichen Ganzen. Alles fiel ihr wieder ein. Sie erhob sich einwenig von ihrem Lager, lauschte angestrengt in den dunklen stickigen Raum hinein. Schnarchen und teilweise schweres Atmen war zu vernehmen. Die ganze Familie schlief hier zusammen, Kinder und Erwachsene. Trotz der Fremde, trotz der Angst war sie froh, als sie wieder eine bleierne Müdigkeit überfiel und sie dann einschlief. Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Wie schon in der Nacht zuvor musste sie sich erst wieder kurz erinnern, wo sie war, was geschehen war. Dann tauchten die Ereignisse von diesem schrecklichen Tag wieder in ihr auf. Sie war schlagartig hellwach. Leise erhob sie sich etwas von ihrer Matratze, um sich zu orientieren. Das schwache Licht der ersten Morgendämmerung drang durch die dünnen, alten Vorhänge am Fenster hinein. Ein seltsamer und unangenehmer Geruch umgab sie. Sie erschrak und wollte aufschreien! Neben ihr, unter ihrer Decke lag Murat, ihr Cousin! Sie glaubte, ihr Herz bliebe stehen und das tat es wahrscheinlich auch für den Moment dieses schrecklichen Augenblicks. Ihr Cousin Murat lag neben ihr im Bett und sie wusste im ersten Augenblick nicht, ob sie sich mehr schämen oder mehr wütend sein sollte über diese Tatsache. Sie fühlte schnell nach ihren Kleidern und bemerkte, das sie noch alles so anhatte, wie sie gestern Abend zu Bett gegangen war. Also hatte er sie nicht berührt oder gar sonst etwas mit ihr gemacht. Außerdem war sie ja noch viel zu jung für diese Dinge. Aber jetzt schämte sie sich, obwohl sie nichts dafür konnte, dass er hier lag. Umso mehr schämte sie sich, da die anderen dies wissen würden – es war einfach nur furchtbar, die Situation, diese Menschen hier! Sie wollte nur noch so schnell wie möglich zurück zu ihren Eltern, so schnell wie möglich fort von diesen schrecklichen Leuten. Sie würde leise aufstehen und dann einfach davon laufen. Aber wohin? hatte sie überlegt, sie kannte sich ja überhaupt nicht aus. Gestern waren sie so lange und so weit gelaufen. Und wenn sie auf die Straße lief und nach Hilfe rufen würde, ging es ihr durch den Kopf. Sie ließ den Gedanken schnell wieder fallen. Hier würde ihr gewiss niemand helfen. Dass wurde ihr klar, als sie an den gestrigen Abend, die Gespräche und die Menschen dachte, die dabei gewesen waren, teils zur Familie gehörten und teils nicht. Aber versuchen wollte sie es auf jeden Fall! Vorsichtig setzte sie einen Fuß aus dem Bett. Doch Murat wurde wach neben ihr. Als er sah, dass sie aufstehen wollte, fragte er barsch: „Wo willst du hin?“ „Nach Hause, ich möchte zu meinen Eltern, nach Hause“, entgegnete sie trotzig und aufgebracht. „Was machst du überhaupt in meinem Bett?“ „Ja, Necla, ich bin nun dein Mann. Du bist mit mir gelaufen, ich habe dich entführt, also gehören wir ab jetzt zusammen. Tag und Nacht. Ich darf bei dir schlafen, wann immer ich will. Auch jetzt schon, wo wir noch nicht verheiratet sind.“ „Nein!“ schrie sie ihn an. „Ich will weder deine Frau sein, noch möchte ich jemals mit dir schlafen! Ich möchte zu meinen Eltern zurück. Wenn du mich jetzt nicht sofort heim bringst, dann schreie ich das ganze Dorf zusammen!“ Die anderen im Raum wurden wach und schauten sie schlaftrunken an. Es war noch früh. Es war ihr egal, es ging um sie, um ihr Leben! Sie machte eine kurze Pause und wartete auf seine Reaktion. Er lachte kurz. „Schlaf weiter, du störst die anderen“, entgegnete er nur träge. „Ich muss nach Hause, ich muss in die Schule und meine Eltern machen sich sicher schon Sorgen“, fuhr sie aufgebracht fort. Murat richtete sich auf, schaute sie an und wiederholte abermals, diesmal in noch barscherem Ton: „Du bist meine Frau und damit Schluss jetzt. Wir werden heiraten und ich werde mit dir schlafen wann und so oft ich will!“ Er meinte es ernst, was er da sagte. Sie bekam wieder Angst. Eine kalte Angst kroch in ihr hoch und jedes seiner Worte hämmerte noch in ihrem Kopf nach. Sie sprang auf und rannte zur Türe. Sie war verschlossen. Sie rüttelte und klopfte daran. Da schaltete sich Murats Mutter ein, die auch im Raum anwesend war und mit ihrem Mann in einem anderen Bett lag. „Beruhige dich, du kommst hier nicht mehr weg. Wir werden jetzt alle aufstehen und frühstücken. Du wirst dich hier schon eingewöhnen!“ Aus ihrer Stimme klang eine eisige Kälte. Necla hatte angefangen zu weinen und sich ermattet auf die Bettkante gesetzt. Sie war gefangen! Sie war tatsächlich in der Gewalt dieser fremden Menschen hier. Verzweifelt schluchzte sie noch: „Ich will zu meiner Mama, ich will zu meinem Papi.“ Dabei fielen ihr plötzlich Geschichten von ehemaligen Mädchen und Freundinnen aus ihrem Bekanntenkreis in Deutschland ein. Auch sie waren eines Tages mit ihren Eltern in ihr Heimatland gereist und sie hatte sie nie mehr gesehen oder je noch etwas von ihnen gehört. Sie waren plötzlich einfach nicht mehr da gewesen und niemand hatte nach ihnen gefragt. Ein Teil war in ihrem Alter gewesen. War ihnen allen dieses gleiche, grausame Schicksal widerfahren? Waren sie einfach so von ihren Eltern weggebracht worden und man hatte sie für eine Art Brautgeld gegen ihren Willen dort gelassen, in der Fremde verheiratet? War all dies im Namen der Tradition geschehen? Gegen den Willen der eigenen Töchter, ihrer eigenen Kinder? Jetzt erst merkte sie, dass Murat sie am Arm gepackt hatte. Sein fester Griff schmerzte. „Du kommst jetzt mit frühstücken und hörst sofort mit diesem Gejammer auf“, fuhr er sie an. Er wollte sie zur Türe ziehen, aber sie riss sich los. Sie spürte plötzlich Kraft und einen starken Willen in sich. „Fass mich nie mehr so an“, sagte sie dann fast ruhig zu ihm. „Wenn ja, so verspreche ich dir, werde ich dir irgendwann nachts ein Messer durch die Kehle stechen. Ja, das verspreche ich dir!“ Sie war über sich selber überrascht, über ihren Mut, über ihre Äußerung. Aber es war ihr absolut ernst gewesen in diesem Moment! Und Murat hatte es wohl auch bemerkt. Schnell ließ er sie los. Sie gingen nach nebenan, in den Raum, der Wohnraum und zugleich Küche war. Die Frauen heizten den alten Ofen an und bereiteten das Frühstück zu. Sie setzte sich unbeteiligt in eine Ecke. „Du musst wissen“, fing Murats Mutter noch einmal an, während sie Kleinholz im Ofen nachlegte, „hier in unserer Gegend ist es so, wenn ein Mädchen entführt wird, muss es den Mann heiraten, der es entführt hat.“ Die Alte schaute einen Moment eindringlich zu ihr hinüber. „Verstehst du dass? Und nun hilf beim vorbereiten“ „Nee“, hatte sie geantwortet, „ich muss ihn nicht heiraten und ich muss gar nichts machen!“ Da war Murats Mutter vom Herd zu ihr herübergekommen, langsam war sie durch den Raum auf Necla zugegangen, war vor ihr stehen geblieben. Dann hatte sie Necla kurz angeschaut und hatte ihr eine mit der Hand ins Gesicht geknallt. So fest, dass Necla vom Hocker fiel. Danach drehte sich die Alte ohne ein Wort um und ging wieder zurück zum Herd. Bis zum Frühstück sprach niemand im Raum mehr ein Wort. Alles schien gesagt, alles schien geklärt! Obwohl der Schlag sie hart getroffen hatte, war Necla in diesem Moment zu stolz gewesen, um zu weinen. Schläge konnte sie ab, die hatte sie genug von ihrem Vater bekommen. Aber, die Ohnmacht! Die Ohnmacht, dies alles über sich ergehen zu lassen, die trieben ihr vor Wut die Tränen in die Augen. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als sich vor dieser furchtbaren alten Frau und den anderen hier eine Blöße zu geben! Als das Frühstück aufgetragen war, wies man ihr einen Platz zu und sie setzte sich. Die anderen nahmen ebenfalls Platz, wie selbstverständlich fingen alle an zu essen. In diesem Moment wurde ihr endgültig bewusst, dass man sie hier nicht mehr weglassen würde. Ihr Schicksal hatte für den Moment eine furchtbare Wende ereilt, ohne dass sie eingreifen konnte! Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Sie raffte sich plötzlich auf und sagte laut und deutlich in den kargen Raum: „Ich werde ihn heiraten!“ Ihr Onkel, den sie gestern zum ersten Mal gesehen hatte, wandte sich zu ihr: „Willst du ihn wirklich heiraten?“ „Ja, ich habe ja keine andere Möglichkeit, die Ehre ist ja ansonsten verletzt!“ „Gut“, antwortete der Onkel, „dann gehen wir später zu deinen Eltern, du küsst ihre Hände und damit ist es besiegelt.“ Sie hatte gar nicht mehr richtig zugehört. Sie wollte nur noch zu ihren Eltern und wenn sie bei ihnen war, dann würde alles gut werden. Sie würden sie auf keinen Fall bei diesen furchtbaren Menschen hier lassen. Egal, was ihr Vater ihr und den Geschwister all die Jahre angetan hatte, dies hier würde er gewiss nicht zulassen, dessen war sie sich sicher! Außerdem musste sie ja bald wieder in die Schule und Papilein würde es niemals dulden, dass sie auch nur einen Tag fehlte. In Deutschland hatte es immer mächtig Prügel gesetzt, wenn sie oder jemand von den Geschwistern schon einmal geschwänzt hatten und er dies im Nachhinein erfahren hatte. Nur zuerst einmal zurück in den Nachbarort, zu den Eltern, dachte sie erleichtert. Am späten Vormittag brachten sie Necla tatsächlich zu ihren Eltern. Als sie dort ankamen, waren noch einige ihrer Onkel da, die sie kurz zuvor kennengelernt hatte, Gencal, ihr Bruder, saß da und Gott sei Dank, die Eltern! Sie lief sofort zu ihrem Vater und klammerte sich an ihn. „Papilein, Papilein, bitte schick diese schrecklichen Menschen fort“, hatte sie ihn auf Deutsch angefleht, damit die anderen nichts verstehen konnten. „Sie wollen, dass ich Murat heirate, sie sagen, er hätte mich entführt und nun gehöre ich zu ihm!“ Ihre Stimme hatte sich fast überschlagen, so aufgeregt war sie gewesen. „Ich bin doch noch ein Kind und ich bin noch Jungfrau und der Murat wollte diese Nacht mit mir schlafen und er hat gesagt, ich müsse seine Frau werden und ihn heiraten, so verlange es die Tradition. Ich kann und will aber nicht heiraten, ich bin doch viel zu jung!“ Er aber hatte sich barsch aus ihrer verzweifelten Umklammerung gelöst, sie kurz angesehen und nur geantwortet: „Du wirst ihn heiraten, das ist beschlossene Sache! Ansonsten wirst du, wie deine Schwester in Deutschland im Kinderheim landen, dort auch abhauen und aus dir wird ein schlechter Mensch. Hier ist gesorgt für dich und alles hat seine Ordnung. Du hast zu gehorchen, wenn deine Eltern etwas für dich beschließen!“ Sie hatte ihn entsetzt und ungläubig angestarrt. Dann fing sie an zu weinen und flehte ihn an: „Papilein, ich bin noch klein, ich muss doch noch zur Schule und er ist doch mein Cousin.“ Es nutzte alles nichts. Der Vater hatte sie zur Seite geschubst und dann nach seinem Bier gegriffen und einen Schluck getrunken. Mama saß die ganze Zeit mit versteinertem Gesicht da, starrte auf den Boden und sagte kein einziges Wort zu alledem. Da wusste Necla, sie war endgültig verloren. Plötzlich war ihr Bruder Gencal aufgesprungen, er schrie den Vater an: „Wenn du ihm meine Schwester gibst und wir ohne sie zurück nach Deutschland fahren, dann bring ich dich um!“ Der Alte hatte ihn für einen Moment verdutzt angesehen, dann ergriff er die Flasche Bier, die vor ihm auf Tisch stand. Necla bemerkte, dass er auch zu dieser Uhrzeit, vor dem Mittag, schon wieder betrunken war, wie so oft zuvor in Deutschland. Ihr stockte der Atem. Das würde er nicht tun. Doch er tat es! Er schlug mit voller Wucht mit der Flasche nach Gencal. Einfach so, als ginge es darum, ein lästiges Tier abzuwehren oder dieses in seine Schranken zu weisen. Wäre Gencal nicht noch schnell etwas zur Seite ausgewichen, so hätte ihn die Flasche voll am Kopf getroffen. So traf sie hart und schmerzhaft seine Schulter. Ihr Bruder brüllte auf vor Schmerz. Der Vater schrie ihn noch an: „Und dich lasse ich auch hier, wenn du nicht aufpasst. Dann könnt ihr sehen, wie ihr hier verreckt!“ Necla hatte Gencal an der Hand gepackt und ihn schnell nach draußen gezerrt. Dort fing ihr kleiner Bruder an zu weinen. Vor Schmerzen, aber auch vor Zorn und Wut über das Geschehene. Er war doch erst elf Jahre alt! „Ich bringe ihn um, dieses Schwein!“ „Sei still, Gencal“, hatte sie ihn angefleht. „Papilein ist betrunken, der bringt dich sonst noch um, wenn er dich hört!“ „Ist mir doch egal! Vorher erledige ich ihn“, brüllte er, schluchzend vor Schmerz und vor Wut. Sie versuchte ihn zu beruhigen: „Sag so etwas nicht, Gencal! Was willst du denn machen? Du bist doch noch viel zu klein. Du musst alles Hakan erzählen, wenn du wieder zu Hause bist, er ist der Älteste, ihm wird schon etwas einfallen. Versprich mir nur, dass ihr mich hier wieder rausholt. Aber bitte lasst Vater am Leben, das bringt sonst noch mehr Unglück über uns alle, versprich mir das!“ Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, nahm sie ihm das geforderte Versprechen ab. Auch für Hakan. Sie kannte ihren größeren Bruder zu genau und sie wusste, er würde Vater ansonsten etwas antun, wenn er von all dem hier erfuhr. Sie nahm Gencal dieses Versprechen nicht zum Schutz ihres Vaters ab, der war ihr in diesem Augenblick egal. Sie tat es für ihre beiden Brüder, um sie zu schützen, damit sie anschließend nicht ins Gefängnis mussten. Als Gencal sich etwas beruhigt hatte, ging sie wieder ins Haus. Sie wollte mit Mutter sprechen, vielleicht würde sie ihr helfen. Die Mutter saß mit Murats Vater am Tisch. Sie unterhielten sich. Als sie näher trat, beachteten sie Necla nicht. Sie unterhielten sich über den Ablauf ihrer Hochzeit! Ihr stockte wieder der Atem. Einen Moment lang musste sie sich zusammenreißen und dann tief Luft holen. „Mama, was erzählst du da? Ich will Murat nicht heiraten, bitte nimm mich wieder mit nach Deutschland!“ flehte sie ihre Mutter an. Doch Necla sah keinerlei Regung in ihrem Gesicht und schwach fügte sie noch hinzu: „Ich muss doch noch zur Schule.“ „Das ist jetzt vorbei, es ist zu spät. Du hast selber schuld! Hättest ja nicht mit ihm gehen brauchen auf diesen langen Spaziergang. Es ist Ehrensache, dass du Murat heiratest. Du willst doch keine Schande über uns alle bringen.“ Verzweifelt und ratlos hatte Necla die Mutter angeschaut. Sie wandte sich auf Türkisch an ihren Onkel: „Ich werde deinen Sohn nicht heiraten!“ schrie sie ihn an. Er aber lachte nur: „Du bist noch klein, du wirst dich schon daran gewöhnen, wie hier die Sitten und Gebräuche sind. An ihn und an das Frau sein, an die Pflichten, die du dann hast, im Haus, auf dem Feld und im Bett. Und wenn nicht, so bringen wir dir diese schon noch bei!“ Alle lachten und sie sah, dass niemand sie verstand, dass niemand sie verstehen wollte. Auch ihre Eltern nicht. Mit einem letzten verzweifelten Versuch wandte sie sich noch einmal weinend an ihre Mutter. Sie flehte sie an, dass sie noch Jungfrau sei und schließlich noch nie mit einem Mann etwas gehabt habe. Nie wieder sollte sie den Satz der Mutter vergessen, den diese daraufhin zu ihr sagte: „Dann denke daran, Kind, wenn du das erste Mal mit deinem Mann schläfst, halte die Beine nach oben, dann tut es nicht so weh.“ Das war alles, was sie ihrer zwölfjährigen Tochter als Mutter mit auf den Weg in die ungewisse Zukunft gab. Entsetzt hatte Necla sie nur noch angestarrt. In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles. Sie hatte aufgehört zu weinen. Da nahm sie all ihre Kraft zusammen und schrie der Mutter ins Gesicht: „Mach es doch selber mit ihm!“ Dann lief sie wieder hinaus zu Gencal und presste sich an ihn. Er war ihr vertraut, er war ihr Bruder. Tränen der Verzweiflung rannen über ihr Gesicht. Sie waren doch beide noch Kinder! Der Abschied von Gencal am folgenden Tag war furchtbar. „Vergesst mich hier nicht“, hatte sie ihm bei der Umarmung noch einmal ins Ohr geflüstert. Es war üblich, so hatte sie erfahren, dass die Eltern der Braut an den Hochzeiten ihrer Töchter nicht teilnahmen. Nach alter Sitte wurden die Mädchen bei der fremden Familie nur abgegeben, gehörten ab da ganz zu den anderen. Auch Besuche waren von diesem Zeitpunkt an selten oder fanden kaum noch statt. Selbst dann nicht, wenn die gesamte Verwandtschaft im nächsten Ort wohnte. Necla sollte den Eltern die Hände küssen, zum Abschied, so war es üblich, hatte man ihr mehrere Male eindringlich gesagt und sie aufgefordert, dies auch zu tun. Sie aber drehte sich nur um, an jenem Tage, beim Abschied von ihrer Familie. Sie drehte sich nur um und ging die staubige, unbefestigte Straße hinunter. Ohne ein weiteres Wort. Sie ging einfach, bis sie an den Rand des Dorfes kam und als sie diesen erreicht hatte, ging sie weiter, lange Zeit einfach nur weiter, die unbefestigte, staubige Straße entlang. Niemand sah die Tränen in ihren Augen, niemand sah die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen. Niemand fühlte den Schmerz in ihrem kleinen, verlorenen Herzen. Die nächste Zeit verbrachte sie wie in Trance. Sie bekam nicht wirklich mit, wie man ihr die Kleidung wegnahm und diese gegen andere, ungewohnte Dinge tauschte. Sie durfte fortan nur noch verschleiert gehen, durfte keine Hosen und keine T-Shirts mehr tragen. Es war so furchtbar warm unter der neuen und ungewohnten Kleidung. Alles musste verdeckt sein. Keine Haut und kein Fleisch durfte man mehr sehen. Es war unerträglich für sie. Sie verstand dies alles nicht, nahm die Dinge nur schemenhaft wahr. Aber, sie tat, was sie verlangten, sprach kaum noch ein Wort mit jemandem. Niemand war ihr vertraut in dieser neuen, fremden Umgebung, niemand ihr Freund. Es war eine völlig andere Welt, die sie nun umgab. In Deutschland, da war sie auf die Straße gegangen, zu Freundinnen oder zum einkaufen, wann sie wollte, wann sie Lust dazu hatte. Hier war sie fern und abseits jeglichen Lebens, so etwas hatte sie bisher nicht gekannt. Nichts durfte sie alleine machen. Sie wurde behandelt, wie eine Gefangene. Sie nahmen sie mit aufs Feld, zum arbeiten. Es war eine ungewohnte und harte Arbeit für Necla gewesen. Tabak wurde angepflanzt, auf großen, staubigen Feldern. So manche Stunde weinte sie in der sengenden Sonne still vor sich hin. Dann musste sie lernen, die Kühe zu melken und es war ihre Aufgabe, mit den anderen Frauen Wasser vom Brunnen zu holen. Es war zu Anfang für sie überhaupt nicht vorstellbar, dass es dies so gab, das solch eine Welt existierte! In Deutschland drehte man den Wasserhahn auf und das Wasser floss einfach so dahin. Sie hatte sich früher noch nie Gedanken darüber gemacht, wo das Wasser überhaupt herkam. In keinem der Häuser gab es fließendes Wasser. Das Dorf hatte einen Brunnen und alles musste fürs Kochen, Putzen, Waschen mühsam herangeschleppt werden. Es war ein zusätzlicher riesiger Schock für sie. Sie kam sich vor, wie 100 oder 200 Jahre in eine andere Zeit zurück versetzt. Das alles kannte sie doch nicht. Es war schrecklich! Zu ihrem großen inneren Leid und Kummer kamen die unvorstellbaren, äußeren Umstände noch hinzu, verstärkten das Gefühl des Verloren seins, des Alleinseins. Es war so anstrengend für sie gewesen, damals. Sie war doch noch so jung, alles war so schwer und ungewohnt für ihren kleinen Körper. Abends taten ihr alle Knochen weh, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie sollten nicht merken, wie sehr sie auch dieses Äußere noch alles belastete. Sie war zu stolz. Jeden Abend weinte sie sich still in den Schlaf. Ihre Gedanken waren dann in der Heimat, bei ihren Freundinnen und Geschwistern in Deutschland. Aber dies alles war so weit fort. Fast, wie ein unrealistischer, nie dagewesener Traum. Hier, in dieser anderen Welt, verschob sich alles. Manchmal glaubte sie, das Leben vor dieser Zeit hätte sie sich vielleicht nur eingebildet, alles nur geträumt. Am schlimmsten waren die Abende, wenn sie im Bett lag. Murat, der Cousin wollte immer mit ihr schlafen. Sie hasste ihn dafür, hatte große Angst vor diesem furchtbaren Augenblick. Außerdem sollte ein Mädchen nach der Tradition absolut unberührt in die Ehe gehen. So lag sie da, weinte leise vor sich hin und lauschte auf die Geräusche der anderen, auf die Geräusche der dunklen Nacht. Dass war, bevor sie von Murat mit Hilfe seiner Eltern vergewaltigt wurde, kurze Zeit vor ihrer ungewollten Hochzeit. So lag sie abends lauschend im Bett, im Schlafraum mit den anderen, mit den Kinder und mit den Erwachsenen. Ihr Onkel, Murats Vater, hatte zwei Frauen. Er hatte meist bei seiner zweiten Frau im Haus nebenan gewohnt. Nur manche Nacht, dann blieb er da, dann waren für kurze Zeit, wenn sie zu Bett gingen, so komische, ungewohnte Geräusche und stöhnen zu hören. Immer nur vom Onkel. Nach kurzer Zeit wurde es aber wieder still! Wenn sie auch noch nicht viel wusste, von diesen Dingen zwischen Mann und Frau, so wollte sie sich dies doch unbedingt bewahren. Ursprünglich für den Mann, den sie einmal lieben würde, später, wenn sie groß, wenn sie erwachsen war. Ihre Unschuld war etwas Heiliges, wenn sie dies alles auch nicht so wirklich zuordnen konnte, mit ihren zwölf Jahren. Obwohl sie immer todmüde war, setzte sie sich jeden Abend auf diese Truhe, die im Schlafraum stand. Sie wartete, bis Murat und die anderen eingeschlafen waren. Aber, er schien nie wirklich müde zu sein. Immer wieder drängte er sie, zu ihm ins Bett zu kommen. Sie verweigerte dies natürlich, blieb einfach da sitzen, bis sie selber immer wieder vor Erschöpfung und Müdigkeit einnickte. Jeden Abend, über Wochen hinweg, hatte Murat sie abends nicht in Ruhe gelassen. Er traute sich aber trotz seiner 24 Jahre nicht, sie seit jener grausamen Nacht wieder anzupacken oder einfach ins Bett zu ziehen. So saß sie auf der Truhe, bis er endlich einschlief. Irgendwann legte sie sich dann zusammengekauert an das Ende des Bettes, um im Halbschlaf immer wieder zu lauschen, ob er nicht doch wach würde, um sie anzufassen. Ganz in der Früh war sie dann immer schnell aus dem Bett, damit er ja nicht vor ihr wach wurde und sie anpacken konnte. Es war furchtbar. Wie früher zur Schulzeit, fand sie nun auch hier keinen Schlaf. Den einzigen Moment am Tag, den sie genießen konnte, war die kurze Mittagsruhe. Bevor die Sonne am höchsten Punkt stand und die Hitze über den Feldern flimmerte, machten alle in einem schattigen Platz unter den Bäumen ein Picknick, aßen etwas und schliefen eine Stunde. Das war der schönste Augenblick des Tages für sie. In diesem Moment konnte auch Necla einen kurzen Schlaf finden, ohne Angst haben zu müssen, dass sie von Murat belästigt würde. Immer schlief sie dann sofort ein, sobald sie mit dem Essen fertig waren. Eines Tages hatte sie Murat gesagt, sie wolle ihren Stiefbruder Fari besuchen, er wohnte im selben Dorf und war schon verheiratet. Die Schwiegermutter war dagegen gewesen, aber Necla war trotzdem gegangen. Sie war die Dorfstraße entlang gerannt, damit Murats Mutter sie nicht mehr aufhalten konnte. Mit klopfendem Herzen war sie beim Stiefbruder angekommen, rief an der Türe des Hauses nach ihm. Nach kurzem Warten öffnete ihr die Schwägerin lächelnd die Türe, lud sie ein, hereinzutreten. Der Stiefbruder saß im Wohnzimmer und rauchte. Er begrüßte sie herzlich, sie waren ja verwandt, hatten denselben Vater. Sie hatte immer Achtung vor ihren Brüdern gehabt, nie in deren Anwesenheit geraucht. Vor Fari aber hatte sie keine Achtung, keinen Respekt. Auch er hatte ihr nicht geholfen in jener Nacht. Deshalb nahm sie sich, ohne ihn zu fragen, eine Zigarette aus der Schachtel vom Tisch, zündete sie an und tat ein paar tiefe Züge. Das Rauchen hatte sie mit neun angefangen, als sie wegen ihrer Unkonzentriertheit und dauernden Müdigkeit in die Sonderschule musste. Dort rauchte fasst jeder. "Ja, rauch nur", hatte Fari damals gesagt, "ich bin ein verständnisvoller Bruder." Sie hatte ihn nur angesehen, und ihm dann im kargen Raum vor die Füße gespuckt mit ihren 12 Jahren, ihn gefragt, weshalb er ihr dann nicht helfe, sie nicht zu ihm hole, in sein Haus? Da hatte er sie angesehen und geantwortet: „Weißt du, Necla, ich kann dich nicht zu uns holen. Unsere Mütter sind zwar gleich, wir sind Geschwister, aber unsere Väter sind nicht dieselben. Sie werden mich fragen, warum ich dich da wegnehme. Sie werden sagen, es ist so bestimmt zwischen den Eltern und es ginge mich nichts an!“ Da kam sich noch verlorener vor. Trotzdem konnte sie ihn sogar verstehen, war froh, ihn von Zeit zu Zeit besuchen zu können, ab und zu einmal zu rauchen. Sie wusste, Gencal, mit seinen elf Jahren, war zu jung, etwas für sie in ihrer verlorenen Situation zu unternehmen. Aber, Hakan, mit seinen18 Jahren, er war immer schon so erwachsen, so unerschrocken und stark. Er würde ihr gewiss helfen, so hoffte sie Tag für Tag. Und eines Tages war es dann so weit gewesen! Sie war mit Murat und den anderen auf dem Weg zum Feld gewesen, da war eine Nachbarin gekommen, die immer sehr nett zu ihr gewesen war. „Lauf, lauf ins Dorf zurück“, hatte sie gerufen. Necla hatte nicht gewusst, warum sie ins Dorf zurück sollte und sie erstaunt angesehen. Außer Atem hatte sie ihr eröffnet: „Dein Bruder aus Deutschland ist da, du musst schnell zu ihm!“ Necla hatte ihren Korb fallen lassen, wollte loslaufen, aber Murat ergriff schnell ihren Arm und hielt sie fest. „Du läufst nirgendwo hin“, fuhr er sie barsch an, „wir gehen zum Feld und du verrichtest deine Arbeit wie immer, heute Abend werden wir sehen.“ „Versuch mich jetzt nicht aufzuhalten“, hatte sie ihn angeschrien und sich rasch aus seinem Griff gelöst, dann war sie losgerannt. Am Dorf angekommen, erkannte sie ihren Bruder schon von weitem, sah seine große, kräftige Gestalt, seine langen Haare. An seiner rechten Seite stand ihr Onkel, Murats Vater und ein paar andere Männer aus dem Dorf waren ebenfalls da. „Hakan, Hakan!“ schrie sie lauthals und ihre Stimme überschlug sich dabei fast vor Erregung und von der Anstrengung vom Laufen in den langen Kleidern. Er schaute zu ihr, erkannte sie aber im ersten Moment überhaupt nicht. Er hatte sie ja noch nie in solchen Kleidern, nie mit einem Kopftuch gesehen. Sie rannte weiter, bis sie ihn erreichte, weinte vor Freude und fiel ihm um den Hals, umarmte ihn fest. Alles wollte Necla ihm auf einmal erzählen, kein Wort brachte sie vor Aufregung heraus. „Beruhige dich, Necla, beruhige dich“, sagte Hakan auf Deutsch. Er hielt sie fest im Arm. „Ich bin für dich gekommen, bin gekommen, um dich zu holen. Alles wird gut.“ Sie wurde noch aufgeregter. Alles wollte sie ihm in einer Sekunde erzählen! Alles, was sie ihr angetan hatten in dieser Zeit! Aber kein Wort kam in diesem Moment über ihre Lippen. Nur Tränen, Tränen der Erleichterung rannen über ihr Gesicht. Nie mehr wollte sie ihn loslassen, auch nicht, als sie jetzt zum Haus des Onkels gingen. „Necla, du kannst mich ruhig loslassen. Hab keine Angst mehr, ich gehe nicht ohne dich!“ redete er beruhigend auf sie ein. Aber sie löste sie sich nicht von ihm. „Ich muss mal zur Toilette“, sagte er, bevor sie ins Haus gingen. „Aber ich lass dich nicht los!“ „Du kannst doch nicht mitgehen“, gab er zurück. „Doch“, antwortete sie, „ich gehe mit. Dann warte ich eben davor, bis du fertig bist. Aber, bitte, lass mich hier nicht mehr alleine mit diesen Menschen.“ Da nahm er sie an der Hand mit bis zu dem Plumpsklo, dass etwas abseits vom Haus stand. Davor erst ließ sie seine Hand los. Sobald er wieder heraus kam, ergriff sie diese sofort wieder. Murat kam die Straße hoch vom Feld. Er begrüßte Hakan etwas unsicher: „Willkommen in der Türkei, Schwager“, sagte er dann. „Pass mal auf“, gab dieser grob zurück, ich heiße nicht Schwager, ich heiße Hakan. Merk dir das!“ Er baute sich vor Murat auf, war ein Stück größer als dieser. Dann sagte er: „Geh mir aus den Augen und lass dich nicht mehr blicken, sonst werde ich dir eine rein knallen, du Dreckskerl!“ Da sie immer noch Hakans Hand hielt, merkte sie, dass er aufgeregt war. Er zitterte. Sie wusste, er war erregt, vor Wut, nicht vor Angst. Er musste sich zurück halten, um das Ausgesprochene nicht sofort in die Tat umzusetzen. Als sie dies bemerkte, wusste sie, sie konnte ihm nicht die ganze Wahrheit erzählen. Konnte ihm nicht sagen, dass Murat sie fast jeden Tag verprügelte, dass er ihr unter Zwang die Unschuld geraubt, sie entjungfert hatte. Hakan würde ihn auf der Stelle umbringen. Murats Eltern ebenfalls. Er würde ins Gefängnis kommen und sie wäre immer noch in der Türkei. Also erzählte sie ihm nichts. Hakan war gekommen, um sie nach ihrer Hochzeit, die in einigen Tagen vollzogen werden sollte, nach Deutschland zu bringen. Als sie alleine waren, flehte Necla ihn an: „Ich will ihn nicht heiraten, Hakan, bitte, lass uns sofort zurückfliegen!“ Er hatte sie traurig angeschaut. „Necla, das geht nicht. Ich konnte nur mit dem Versprechen an Vater hierhin, dass zumindest die Hochzeit vollzogen wird, bevor ich dich zurückbringe. Ich habe mit ihm gestritten und ihm abgerungen, dass du zumindest deine Schule beendest, bevor du mit deinem Ehemann zusammenleben musst. Versteh doch, Necla, der Vater würde mich sonst umbringen!“ Sie wusste, Hakan legte ebenfalls viel wert auf die Tradition. Wenn er auch in Deutschland groß geworden war, er war doch so erzogen, dass das Wort es Vaters Gewicht hatte, seine Entscheidung galt. Im Grunde war es ihr auch egal. Sie wollte nur fort von hier. Nach all dem Geschehenen kam es nicht mehr darauf an, ob sie verheiratet war oder nicht. Hauptsache fort von hier. Die Hochzeit dauerte drei Tage. Viele Verwandte von Murats Seite kamen, steckten ihr Geld oder Goldschmuck ans Brautkleid. Sie weinte unter ihrem Schleier. Hakan war auch nicht glücklich während dieser Zeit. Sie war nur froh, dass er da war. Diese Tage der Feierlichkeiten schienen für Necla kein Ende zu nehmen, aber irgendwann war das endlich alles vorbei. Der Murat war am Abend meist so betrunken, dass er sofort einschlief, wenn er sich in der großen Schlafkammer zu Bett legte. Endlich war es soweit, der Abreisetag war da. Hakan kam morgens und sagte: „Pack deine Sachen zusammen, Necla, wir fliegen heute nach Deutschland zurück.“ Sie glaubte es kaum! Er würde sie tatsächlich mitnehmen. Sie hatte während der Feiern manches Mal schon Zweifel bekommen, ob er dies wirklich tun würde, ob er sich gegen die anderen durchsetzen konnte. Wie sie erwartet hatte, mischte Murat sich nun doch noch ein, obwohl die Väter es wohl am Dorftelefon so abgesprochen hatten vor Hakans Ankunft aus Deutschland: „Egal, was die Alten beschlossen haben, meine Frau kannst du nirgends hin mitnehmen, die bleibt hier!“ Hakan ging einen Schritt näher auf ihn zu, packte ihn barsch am Hemdkragen und zog ihn ein Stück näher auf sich zu: „Hör mal gut zu, wenn sie jetzt auch deine Frau ist, sie ist zuerst einmal meine Schwester, sie ist noch jung und sie muss in die Schule. So ist es mit dem Vater abgesprochen, ich vertrete hier meine Familie, mein Vater hat mich geschickt und dein Vater weiß davon, klär dies mit deinem Alten ab!“ Dann ließ er ihn wieder los. „Necla muss erst einmal in die Schule und diese fertig machen. Dann kann sie dich nach Deutschland holen!“ Natürlich haben sie sich da noch eine Zeitlang hin und her gestritten, aber der Murat hatte irgendwie Angst vor Hakan und er schaute immer zur Tür hinaus auf die Straße, aber der Onkel, sein Vater, ließ sich nicht blicken. Hakan hat sich irgendwann nur umgedreht und zu mir gesagt: „Mach dich jetzt fertig und zieh endlich dieses Kopftuch runter.“ Sie tat, was er sagte. Murat war wütend hinausgegangen. Necla hatte große Angst, dass er die anderen, seine Eltern und Verwandte holen würde, dass sie die Beiden aufhalten würden. Aber seltsamerweise geschah nichts dergleichen. Hakan schaute zum Abschied noch kurz bei einigen Onkels vorbei. Necla verabschiedete sich von niemandem. Angstvoll wartete sie am Dorfbrunnen, bis er endlich kam. Unbehelligt konnten sie das Dorf verlassen. Im Flugzeug erst fing sie an, Hakan alles zu erzählen. Sie konnte es nicht länger für sich behalten, es musste aus ihr heraus. Hakan saß wie versteinert da, während es aus ihr heraussprudelte. Er sah sie nicht an, hörte nur zu. Auch, als sie ihre Ausführungen beendet hatte, sprach er nicht viel. Er nahm nur kurz ihre Hand und sagte: „Es tut mir so leid, Necla, es tut mir so leid, dass du all dies erleben musstest.“ Dann war er still. Er schien zu überlegen. Nachdem sie in München gelandet waren und Hakan sein Gepäck vom Band geholt hatte, sie war ohne etwas abgereist, hatte nur ihr altes T-Shirt und ihre Jeans angezogen, eröffnete ihr der Bruder: „Wir müssen noch kurz ins Reisebüro, hier im Flughafen.“ „Wieso?“ hatte Necla ihn gefragt. Sie hatte ihn nur verwundert angesehen, als er auch schon das nächste Büro betrat. Hakan fragte die Angestellte, wann der nächste Flug nach Ismir zurück ginge. „Was machst du, Hakan?“ hatte sie erstaunt gefragt. „Ich fliege so bald wie möglich zurück“, war seine knappe Antwort, „ich bringe ihn um, diesen Dreckskerl. Warum hast du mir dies alles nicht in der Türkei erzählt, dann würde er jetzt schon nicht mehr leben!“ „Genau deshalb habe ich dir nichts gesagt“, entgegnete sie entsetzt, „ich wusste, dass du so reagieren würdest. Aber, was bringt uns das? Dann bringen sie dich um oder du wirst verhaftet, kommst ins Gefängnis und dann? Hakan, und dann? Wer beschützt mich? Wer hilft mir dann? Es ist doch egal, was mit mir passiert ist! Es ist vorbei! Hauptsache ist doch, ich bin jetzt hier in Deutschland, in Sicherheit, bei dir!“ Verzweifelt hatte sie ihn angesehen, stand hilflos da, hatte angefangen zu weinen. Dann redete sie wieder auf ihn ein, war froh, als er sich endlich überzeugen ließ, mit ihr heim nach Lindau, zu den Eltern zu fahren. Zurück in Deutschland, war die Zeit dort mit den Eltern unerträglicher denn je für sie gewesen. Necla musste irgendwann wieder in die Schule, etwas wie Normalität trat ab da in ihren Alltag. Die Eltern aber taten so, als wäre nichts Schlimmes geschehen. Als wäre all das Geschehene selbstverständlich, fast taten sie so, als wäre Necla nur für kurze Zeit zu Besuch bei ihnen, irgendwie gehörte sie nicht mehr zu ihnen, so kam es ihr vor. Über die Monate hinweg konnte sie als kleines Mädchen die Eltern nicht anschauen. Sie konnte ihnen nicht in die Augen sehen, sprach kaum ein Wort mit ihnen. Immer, wenn Necla die Eltern sah, stellte sie sich vor, dass sie auch diese schrecklichen Dinge taten, im Bett, dass sie Sex hatten, dass der Vater in die Mutter eindrang. Nachts, wenn diese komischen, ekelhaften Geräusche zu hören waren. Sie schämte sich so sehr. Auch dann, wenn sie daran dachte, dass die Eltern wussten, dass sie selber mit ihren zwölf Jahren solche Dinge schon gemacht hatte. Sie schämte sich für das, was man mit ihr gemacht, was man ihr angetan hatte. Aber auch dafür, dass es so etwas wie den Geschlechtsverkehr, diese furchtbaren Sachen zwischen Mann und Frau überhaupt gab. Und sie schämte sich auch für die Eltern. Für die Dinge, die sie an ihr hatten geschehen lassen. Sie hatte mit ihren 12 Jahren nicht den Mut gehabt, mit ihnen darüber zu reden, traute sich nicht, ihnen zu sagen, was ihr dort alles widerfahren war, obwohl sie es ja auch so wissen mussten. Wie sollte sie dies alles nur verkraften und verarbeiten, das Geschehene, die jetzige Situation? Die Mutter hatte es wahrscheinlich damals ähnlich erlebt, als sie in ihrem Alter war. Necla wusste nicht wohin mit ihren Gedanken, Schmerzen und mit ihrem Leid in ihrem Herzen. Die erste Zeit, als sie zurück war, war sie nicht zur Schule gegangen. Sie kam nur nachts aus ihrem Zimmer, um sich etwas zu essen zu holen. Seitdem sie zurück war und offiziell verheiratet, kam der Vater seltsamerweise nachts nicht mehr ins Zimmer und verprügelte sie grundlos. Nur in der Nacht, da hatte sie sich jetzt noch getraut, durch die Wohnung zu gehen. Da war sie sich sicher, dass sie den Eltern nicht begegnen würde, sie nicht ansehen musste. Sie konnte doch niemandem von ihnen nach alledem mehr in die Augen sehen. Und trotzdem, wie sehr hätte sie sich gewünscht, von der Mutter einmal in die Arme genommen zu werden! Doch die tat das nicht. So, wie sie nie etwas tat, wenn der Vater sie früher verprügelt hatte und sie dabei mit „du kleine schwarze Wildsau“ anschrie. Necla kam sich dann noch nicht einmal mehr wie ein kleines Mädchen vor, sondern nur noch einfach wie ein Tier, dass man prügeln und beschimpfen kann, wie man Lust dazu hat. Sie kam sich vor, wie der letzte Dreck. Wie eine kleine schwarze Wildsau eben. Dann war der Vater durch nichts zu stoppen, auch dann nicht, wenn sie ihn traurig anblickte und fragte: Papilein, was habe ich dir denn getan? Immer sagte sie Papilein zu ihm. Und wie viele Abende saß Necla weinend im Nebenzimmer und dachte, sie müsse verrückt werden, wenn die Beiden sich das Video über ihre Hochzeit anschauten. Murats Eltern hatten es ihnen geschickt. Auch ohne dieses Videoband waren die Erinnerungen der furchtbaren Geschehnisse, jede Sekunde, jede Minute den ganzen Tag über immerzu präsent in ihr. Aber, es zerriss ihr fast das Herz, wenn sie in ihrem Zimmer auf dem Bett lag, sich die Ohren zuhielt und trotzdem von nebenan die Musik hörte, dazu die fröhlichen Stimmen und die Gesänge der Peiniger. Oftmals nahm sie sich in ihrer Verzweiflung vor, ins Wohnzimmer zu gehen, eine Schere zu nehmen, um das Band einfach zu zerschneiden. Dann hätte zumindest das dauernde Abspielen, das erneute Miterleben dieser Zeremonie ein Ende. So hätte sie endlich Ruhe vor diesen Stimmen gehabt. Doch sie tat es nicht. Immer und immer wieder spulten sie es ab, waren stolz, wahrscheinlich sogar glücklich. Glücklich über die erzwungene Hochzeit einer Zwölfjährigen, die als Kind kurz zuvor und auch danach fast zerbrochen wäre! Und sie taten dabei so, als wäre dies alles normal, verschlossen die Augen vor der Realität, vor der grausigen Wirklichkeit und dem, was sie ihr wirklich angetan hatten. Dies alles und mehr hatte Necla Sebastian in vielen Nächten der gemeinsamen Nähe erzählt. Fast, als wäre es unwirklich, wurde er aus seinen Erinnerungen zurück in die reale Wirklichkeit geholt. Weit weg aus diesem Hotelzimmer war er mit seinen Gedanken gewesen. Er vernahm leises Geflüster vom Flur her durch die Zimmertüre. Die Türe war nicht verschlossen. Die Mühe hatte er sich nicht mehr gemacht. Wozu auch? Er wollte ja, dass sie ins Zimmer kamen. Er erwartete sie! Er horchte in sich hinein. Die Ruhe in ihm war geblieben. Auch jetzt, da sich alles dem Ende näherte. Er empfand diese Ruhe weder als beklemmend, noch als beängstigend. Sie gab ihm das Gefühl einer gewissen Überlegenheit. Hinzu kamen das fast leere, klare Glas Wasser vor ihm auf dem Tisch und seine Pistole. Das Glas schien ihm seine Klarheit in dieser Situation widerzuspiegeln. Die Waffe gab ihm eine natürliche Sicherheit! Nicht, um sich damit zu verteidigen, Dazu brauchte er sie nicht! Nein, sein Leben wollte er damit gewiss nicht verteidigen. Nur den Einen, den Bestimmten, den wollte er noch töten. Er wusste, dass es jetzt Zeit war, die Waffe vom Tisch zu nehmen. Wahrscheinlich würde alles schnell gehen! Er nahm sie mit der rechten Hand auf, umklammerte fest den harten Griff, betrachtete den matten schwarzen Stahl für einen Moment. Dann entsicherte er und legte die Hand mit der Pistole in seinen Schoß. Zwischen ihm und der Türe stand der Tisch. Sie konnten also nicht sofort sehen, dass er die Waffe bereits in den Händen hielt. Natürlich würden sie damit rechnen, dass er bewaffnet war. Aber, die Situation, so wie sie jetzt war, gab ihm einen kleinen Vorteil. Außerdem hatten sie ja keine Vorstellung, wie das Zimmer aussah, wo er sich genau befand. Der Bruchteil der Orientierung, den sie benötigten, der reichte ihm, um den Betreffenden gezielt zu erschießen. Es dürfte nicht so schwierig sein. Bald würde die Türe auffliegen, ging es ihm durch den Kopf. Oder würden sie diese langsam und vorsichtig öffnen? Vorsichtig würden sie auf jeden Fall sein. Die Bilder, der drei Leichen ihrer Landsmänner, ihrer Verwandten, die die Polizei ihnen gezeigt hatte, waren zu einprägsam in ihren Köpfen. Auch die frischen Kreidespuren, die die ehemals menschlichen Konturen umrissen, waren ihnen gewiss im Gedächtnis haften geblieben. Die Polizei hatte sie um die Niedergestreckten gezogen, bevor diese in ein Leichenhaus abtransportiert wurden. Und da waren noch die getrockneten, hässlichen Blutlachen gewesen, die sich in den Teppichen und im Holzboden eingesogen hatten. So etwas vergisst man nicht! Es ist für lange Zeit eine grausige und bleibende Erinnerung. Besonders auch dann, wenn die Menschen, die dort gelegen hatten, dort getötet wurden, die eigenen Brüder und Cousins gewesen waren! Daran würden sie sich jetzt bestimmt wieder erinnern, die Männer da draußen im Flur. Sie alle waren ja keine gedungenen Mörder, keine eiskalten Profis, keine wirklich geübten Killer. Die anderen hatte ihre Tradition dazu getrieben. Ja, vielleicht hatte der ein oder andere von ihnen schon einmal eine ähnliche Situation mitgemacht. Aber Profis waren sie alle nicht. Auch und gerade er hier im Hotelzimmer nicht! Sebastian hatte lediglich die kalte Rache dazu getrieben, die Männer umzubringen. Das Verlangen, etwas gegen diese Ungerechtigkeit zu unternehmen. Die Genugtuung, im Nachhinein das Geschehene an Necla zu sühnen! Deshalb hatte er die Drei in Deutschland umgebracht. Wenn die deutsche Justiz schon nicht in der Lage gewesen war, diese Männer zu belangen, so war es seine Aufgabe gewesen, zu vollstrecken. Sie waren schuldig, das wusste er. Trotzdem wurden sie freigesprochen! Nur ihr Tod hatte danach für ihn noch gezählt. Sie hatten ihn vor einigen Tagen nicht erwartet, die Drei. Das Gericht hatte sie einen Tag vor deren Tod freigesprochen und als unschuldig entlassen. Sie waren unbesorgt gewesen, dass ihnen etwas zustoßen würde. Hier gab es ja keine Lynchjustiz. Deutsche machten so etwas nicht. Das Urteil des Gerichtes war eindeutig gewesen. Man, hatte nicht sicher beweisen können, dass die Betreffenden überhaupt am Tatort gewesen waren, hatte nicht Um die zweite Hälfte des Romans zu erwerben bitte zurück auf die Homepage wechseln: siehe "Allgemeine Infos" www.manuskript.info
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