Statement Oliver Huizinga (PDF, 182 KB )

Presse-Statement
foodwatch zur Vorstellung der TK-Ernährungsstudie 2017 "Iss was, Deutschland."
Berlin, 11. Januar 2017. Im Rahmen der Pressekonferenz zur TK-Ernährungsstudie "Iss was,
Deutschland." am 11. Januar 2017 in Berlin, erklärt Oliver Huizinga, Experte für
Übergewichtsprävention von der Verbraucherorganisation foodwatch:
Bildung als Mittel gegen Fehlernährung wird massiv überschätzt
Über den Befund sind wir uns einig: zu viele Menschen in Deutschland sind übergewichtig
beziehungsweise fettleibig, zu viele Menschen sind an Typ-2-Diabetes erkrankt. Diesen Befund
streitet selbst die Lebensmittelindustrie nicht ab. Vehement gestritten wird über die geeigneten
politischen Maßnahmen, um der Problematik gerecht zu werden.
Wenn Sie die Vertreter der Lebensmittelwirtschaft fragen, was zu tun ist, lautet die Antwort:
Bildung und Aufklärung. Im Januar 2015 begrüßte BLL-Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff
einen Antrag der Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD zum Thema gesunde Ernährung mit
den Worten: „Ernährungsbildung und Aktionen zur Förderung der Bewegung sind der Schlüssel
zum Erfolg in Sachen Übergewichtsprävention.“ 1 Wenn Sie den Bundesernährungsminister
Christian Schmidt fragen, was zu tun ist, lautet die Antwort: Bildung und Aufklärung mit einem
Unterrichtsfach Ernährung. 2 Ähnlich haben sich auch Vertreter verschiedener Krankenkassen
vergangene Woche in der F.A.Z. geäußert. 3
1
2
3
https://www.bll.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-20150115-bll-begruesst-bildungsinitiative-ernaehrung-regierungs-fraktionen-cdu-csu-spd
http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/Gruenbuch.pdf?__blob=publicationFile
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutschlands-krankenkassen-lehnen-zuckersteuer-ab-14605012.html
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Nun hat natürlich niemand hat etwas dagegen, Kinder und Jugendliche über gesunde Ernährung
aufzuklären und die Folgen eines hohen Konsums von Schokoriegeln, Chips und Cola näher zu
bringen. Aber mangelt es tatsächlich an dem Wissen, dass ein Apfel gesünder ist als ein
Schokoriegel? Und viel wichtiger: Beugen solche Bildungsprogramme, die zu der sogenannten
Verhaltensprävention zählen, tatsächlich Übergewicht vor? Professor James Müller,
Vorstandssprecher des staatlich geförderten Kompetenznetzes Adipositas, kommt nach
Auswertung der Studienlage zu dem Schluss, dass mithilfe von Verhaltensprävention die Prävalenz
von Adipositas lediglich um 1 Prozent gesenkt werden kann. Die Erfolge seien zudem selektiv und
würden „eher bei Kindern schlanker Eltern“ und „aus bildungsstärkeren Familien“ erreicht. 4 Die
Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten, ein Zusammenschluss aus 17 medizinischwissenschaftlichen Fachgesellschaften, formuliert es noch deutlicher. Im aktuellen
„Grundsatzpapier“ schreibt die Allianz:
„Diese Strategie [Verhaltensprävention] ist gescheitert, die steigende Zahl chronisch
Kranker zeigt dies deutlich.“ 5
Wir leben in einer übergewichtsfördernden Welt
Man könnte nun sagen: Jede einzelne Verbraucherin, jeder einzelne Verbraucher, ist ausschließlich
selbst für die eigene Ernährungsweise verantwortlich. Doch wählen wir wirklich „frei“ aus, was und
wie viel wir essen? Sind wir „mündig“ in unserem Einkaufsverhalten?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen: Zahlreiche Faktoren, die unseren Einkauf
beeinflussen, liegen nicht in unserer Hand: Wie sind die Produkte, insbesondere Fett/Zucker/Salz,
4
Vgl. JM Müller. Kompetenznetz Adipositas. Positionspapier des Kompetenznetzes Adipositas. Prävention von Übergewicht und Adipositas. 2013.
https://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Deutsche_Konferenzen_fuer_Tabakkontrolle/11_Deutsche_Konferenz_fuer_Tabakkontrolle/Manfred_James_Mueller_2103.pdf?m=
1421897700
5
Vgl. DANK – Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten. Prävention nichtübertragbarer Krankheiten – eine Gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Grundsatzpapier der Deutschen
Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), 2016. http://www.dank-allianz.de/files/content/dokumente/DANK-Grundsatzpapier_ES.pdf
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gekennzeichnet? Wie wurde mein Geschmacksempfinden im Kindesalter geprägt? Was finde ich
für Angebot vor im Supermarkt oder auch unterwegs, zum Beispiel am Bahnhof? Wie teuer sind
welche Lebensmittel? All das beeinflusst unser Ess- und Einkaufsverhalten erheblich. Zurzeit leider
eher zum Schlechten als zum Guten: Schon im Kinderfernsehen wird für zuckrige
Frühstücksflocken geworben… in der Schule und Kita gibt es zu häufig Fleisch und Süßes und zu
wenig Gemüse… die Kennzeichnung der Nährwerte ist eine Zumutung mit komplizierten Tabellen,
Prozentangaben und unrealistischen Portionsgrößen… der Großteil der Erfrischungsgetränke ist
völlig überzuckert, ungesüßte Getränke mit Geschmack sind praktisch nicht existent… ein Gericht
aus frischen Zutaten ist teurer als eine Fertigpizza oder eine Bratwurst im Weizenbrötchen…
Kurz gesagt: Wir leben in einer übergewichtsfördernden Welt. Es wird uns erschwert, die gesunde
Wahl zu treffen. Das ist der Grund für die weit verbreitete Fehlernährung in Deutschland – und
nicht etwa mangelndes Wissen. Präventionspolitik muss deshalb nicht beim Einzelnen ansetzen,
sondern bei unserer „Essensumwelt“: Bei der Kennzeichnung, der Werbung, dem Angebot. Die
gesunde Wahl muss die einfache Wahl werden, sie darf nicht mit dem extra Aufwand und extra
Preis verbunden sein. Doch was heißt das konkret?
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Drei prioritäre Maßnahmen gegen Fehlernährung
Die WHO Kommission „Ending Childhood Obesity“ hat genau vor einem Jahr, im Januar 2016, ihre
Empfehlungen vorgelegt. Die drei prioritären Maßnahmen gegen Fehlernährung aus Sicht der
WHO sind a) eine verbraucherfreundliche und verständliche Nährwertkennzeichnung, b) eine
gesetzliche Beschränkung der an Kinder gerichteten Werbung sowie c) eine Sonderabgabe/-steuer
für zuckergesüßte Getränke 6. Diese Einschätzung teilen wir bei foodwatch voll und ganz.
Zu a) Mit der aktuell vorgeschriebenen Nährwert-Kennzeichnung in Tabellenform im
Kleingedruckten ist es unmöglich, auf einen Blick zu beurteilen, wie viel Zucker/Fett/Salz in den
Produkten steckt. Mit einer verpflichtenden Ampelkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite
ginge das. Dafür sollte sich die Bundesregierung auf EU-Ebene einsetzen.
Zu b) Mit der an Kinder gerichteten Werbung – fast ausschließlich für zuckrige, fettige, salzige
Produkte – torpediert die Lebensmittelindustrie gezielt die Bemühungen von Eltern und Lehrer,
Kinder für eine gesunde Ernährung zu begeistern. Andere Staaten machen längst vor, dass das
nicht sein muss. Großbritannien, Südafrika, Quebec oder auch Chile zum Beispiel beschränken die
an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit einem hohen Gehalt an Fett/Zucker/Salz.
Zu c) Bei einer Produktgruppe bedarf es mehr als Werbebeschränkungen und bessere
Kennzeichnung. Zuckergetränke sind besonders gefährlich, sie fördern bereits in geringen Mengen
Typ-2-Diabetes und Übergewicht. Die Hersteller brauchen dringend Anreize, den Zuckergehalt in
den Produkten drastisch zu reduzieren – denn der Großteil des Angebots ist überzuckert.
Großbritannien macht vor, wie das gehen kann. Dort werden die Hersteller ab 2018 zur Kasse
gebeten, wenn sie mehr als 5 Gramm Zucker auf 100 Milliliter Getränk mischen. Entweder sie
6
Vgl. World Health Organization. Report of the commission on ending childhood obesity. 2016. S. 10:
http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/204176/1/9789241510066_eng.pdf?ua=1
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ändern die Rezepturen, oder sie müssen bezahlen. Und die erwarteten Einnahmen werden für
gesundes Schulessen und Schulsport verwendet. Das ist fortschrittliche Präventionspolitik.
Doch keine einzige dieser drei Forderungen der WHO wird aktuell von der Bundesregierung
befürwortet. Die WHO-Generaldirektorin Margaret Chan hat im Jahr 2013 in einer vielbeachteten
Rede ein solches Regierungshandeln kritisiert. Sie sagte:
„Kein einziger Staat hat es geschafft, die Fettleibigkeits-Epidemie in allen Altersgruppen zu
stoppen. Hier mangelt es nicht an individueller Willenskraft. Hier mangelt es am
politischen Willen, sich mit einer großen Industrie anzulegen.“ 7
7
Übersetzung von foodwatch. Im Original: „Not one single country has managed to turn around its obesity epidemic in all age groups. This is not a failure of individual will-power. This is
a failure of political will to take on big business.” Vgl. http://www.who.int/dg/speeches/2013/health_promotion_20130610/en/
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