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Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917 – 1990
Abschlussbericht zur Geschichte des BMWi und seiner Vorgängerinstitutionen vorgestellt
Der Abschlussbericht der Unabhängigen Geschichtskommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesministeriums
für Wirtschaft und Energie (BMWi) und seiner Vorgängerinstitutionen liegt nun vor. In vier Bänden befasst sich der Bericht
mit der Geschichte des Hauses und der Wirtschaftspolitik in Deutschland von der Gründung des Reichswirtschaftsamts 1917
bis hin zur Wiedervereinigung 1990. Die Forschungsergebnisse wurden Herrn Minister Gabriel am 7. Dezember im Rahmen
einer öffentlichen Veranstaltung überreicht.
Die Unabhängige Geschichtskommission beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat ihren Abschlussbericht zur Geschichte des
Bundeswirtschaftsministeriums und seiner Vorgängerinstitutionen an Bundeswirtschaftsminister Gabriel übergeben.
Der Auftrag an die Wissenschaftler
Die Vorarbeiten zum Projekt begannen bereits Ende 2010.
Nach einem Symposium mit über 30 Historikern im Juni
2011 berief Bundesminister a. D. Dr. Rösler dann Ende 2011
die Unabhängige Geschichtskommission. Die Mitglieder
der Kommission (siehe Kasten) wurden mit einer unabhängigen wirtschaftshistorischen Aufarbeitung beauftragt.
Diese sollte einen umfassenden Einblick in Funktion und
Wirkungsweise des BMWi und seiner Vorgängerinstitutionen im geschichtlichen Zeitablauf ermöglichen. Ziel war
es dabei, in einer historischen Tiefenperspektive – zurück
bis zu den Anfängen des Ministeriums und weit über das
Dritte Reich hinaus – die Geschichte wirtschaftspolitischen
Denkens in Deutschland nachzuzeichnen.
Die Forschungen wurden in vier Teilprojekten vorangetrieben: zur Weimarer Zeit (ab 1917), zur NS-Diktatur 1933 –
1945, zur Ära der Sozialen Marktwirtschaft 1945 – 1990
sowie zu den Parallelstrukturen in Ostdeutschland 1945 –
1990. Damit ist dieses Projekt eines der ersten geschichtlichen Forschungsvorhaben der Bundesbehörden, das aus
einer gesamtdeutschen Perspektive heraus auch die zentrale Wirtschaftsverwaltung und die Planwirtschaft in der
ehemaligen DDR untersucht.
ISBN: 978-3110465334
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Der Abschlussbericht wird in vier Bänden unter dem Titel „Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917 – 1990“ veröffentlicht.
Die Kommission legt als Ergebnis ausdrücklich nicht „eine
für ausschließlich richtig gehaltene Interpretation mit
alleinigem Wahrheitsanspruch vor“, sondern lässt voneinander abweichende Bewertungen und Gewichtungen zu.
Stefan Fisch ist Professor für Neuere und Neueste
Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, an der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.
Die Publikation ist unter dem Titel „Wirtschaftspolitik in
Deutschland 1917 – 1990“ im De Gruyter Oldenbourg Verlag erschienen. Darüber hinaus wurden bzw. werden weitere Ergebnisse des Projekts als Begleitbände ebenfalls im
De Gryuter Oldenbourg Verlag veröffentlicht: Ein Begleitband unter dem Titel „Erdöl, Mais und Devisen – eine Dokumentation der ostdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen 1951 bis 1967“ – ist bereits publiziert. Zwei weitere
Begleitbände werden 2017 erscheinen. Dabei handelt es
sich zum einen um eine Dokumentation über das Reichswirtschaftsministerium (RWM) im Zweiten Weltkrieg. Zum
anderen geht es um die Erstellung eines Bestandsverzeichnisses für die im Russischen Militärarchiv lagernden Akten
des Reichswirtschaftsministeriums; dieses Verzeichnis
wurde im Rahmen des Projekts ins Deutsche übersetzt.
Damit wurden erstmals Akten des RWM erschlossen, die
bislang der Forschung kaum zugänglich waren.
Dierk Hoffmann, verantwortlich für das Teilprojekt
zur Staatlichen Plankommission der DDR, ist Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und Professor
für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.
Carl-Ludwig Holtfrerich, verantwortlich für das
Teilprojekt zum Reichswirtschaftsministerium der
Weimarer Republik, ist emeritierter Professor für
Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte
an der Freien Universität Berlin.
Albrecht Ritschl, Sprecher der Kommission und verantwortlich für das Teilprojekt zum Reichswirtschaftsministerium im Dritten Reich, ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der London School of Economics.
Michael Hollmann ist Präsident des Bundesarchivs
und stand der Kommission als beratendes Mitglied
zur Verfügung.
Die Kommission
Werner Abelshauser, verantwortlich für das Teilprojekt
zum Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der
Sozialen Marktwirtschaft, ist Forschungsprofessor für
Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität
Bielefeld.
Neben den Kommissionsmitgliedern waren 20 weitere Wissenschaftler als Autoren mit Einzelbeiträgen
beteiligt.
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In einer Abschlussveranstaltung am 7. Dezember 2016 haben
die Mitglieder der Geschichtskommission das vierbändige
Werk an Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie, übergeben. Weitere Informationen zur Veranstaltung sowie zu den Forschungsergebnissen finden Sie unter
folgendem Link: www.bmwi.de/DE/Ministerium/
Geschichte/geschichtskommission.html
Aus der Fülle des von der Geschichtskommission erarbeiteten Materials werden im Folgenden aus jedem der vier
Teilprojekte beispielhaft einige ausgewählte Ergebnisse
vorgestellt.
Das Reichswirtschaftsministerium in der
Weimarer Republik
Die Geschichte des Wirtschaftsministeriums beginnt mit
der Ausgründung des Reichswirtschaftsamtes (RWA) aus
dem Reichsamt des Inneren am 21. Oktober 1917. Das RWA
kümmerte sich um die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Angelegenheiten des Reiches, bevor die sozialpolitischen Aufgaben ein Jahr später an das neu gegründete
Reichsarbeitsamt übergingen. Aus dem RWA wurde im
Jahr 1919 das Reichswirtschaftsministerium.
Dort bildete sich in kurzer Zeit eine hochprofessionelle
Beamtenschaft heraus, die an allen größeren Reformprojekten der Weimarer Republik ihren Anteil hatte. Die
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Beamten standen nicht nur loyal, sondern teilweise auch
aus Überzeugung zur Modernisierung und Demokratisierung des Deutschen Reiches und gehörten zu den Vertei­
digern der Weimarer Republik. 1919/20 wurden verstärkt
junge Akademiker eingestellt, darunter nunmehr auch
Volkswirte und Frauen.
Das RWM wurde mit Aufgaben wie der Bekämpfung der
Inflation, Reparationen an die Siegerstaaten sowie der
Wiedergewinnung von Exportmärkten betraut. Es gewann
zunächst schnell neue Kompetenzen in der Preispolitik,
der sektoralen Wirtschaftslenkung und der Außenwirtschafts- und Devisenkontrolle. Die Wirtschaftsstatistik
wurde rasant modernisiert und ausgebaut. So gab es zur
Vorbereitung der Londoner Reparationskonferenz, auf der
die Reparationsschuld Deutschlands festgesetzt werden
sollte, im Februar 1921 eine bahnbrechende Fragebogenaktion an alle Wirtschaftsverbände und unter RWM-Einfluss
stehenden industriellen Selbstverwaltungskörperschaften.
Bis ins Detail wurde Auskunft über die Produktion und die
maximalen Produktionskapazitäten sowohl im Jahr 1913
als auch im Jahr 1920 verlangt. Das Ergebnis dieser Umfrage
wird von der Geschichtskommission erstmals veröffentlicht.
Diese Art der Befragung konnte damals aufgrund des Widerstands der Wirtschaft nicht auf Dauer eingerichtet werden.
Unter anderem für die Einschätzung der Zahlungsfähigkeit
Deutschlands als Reparationsschuldner wurde die Erfassung
des Volksvermögens und -einkommens allerdings unentbehrlich.
„Das Reichswirtschaftsministerium der Weimarer Republik“ – dazu sprach Prof. Dr. Ursula Büttner von der Universität Hamburg.
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Das Reichswirtschaftsministerium spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung eines neuen Ansatzes der
Handelspolitik, bei dem staatliche Kredite eingesetzt wurden, um Exporte in Länder zu fördern, in denen private
Finanzierungsmöglichkeiten nicht vorhanden waren. Allerdings befand sich das RWM in einem dauernden Kampf
um Zuständigkeiten mit den angrenzenden Ressorts der
Innen-, Arbeits-, Verkehrs- oder Finanzpolitik, sowohl auf
Reichs- wie auch auf Länderebene.
Ab 1929 und mit der Weltwirtschaftskrise gewann die
Devisenpolitik eine besondere Bedeutung. In dieser Zeit
betrieb die Beamtenschaft in sehr professioneller Weise –
und zum Teil gegen die eigene Überzeugung – die Abwicklung von Reformprojekten und den Übergang in eine
Deflationspolitik. Prominent wurde die Rolle des Referenten Wilhelm Lautenbach, der als inoffizieller Chefökonom
des Ministeriums vor dieser Entwicklung warnte und sie
zugleich mitgestaltete. Die Autoren diskutieren kontrovers
die Frage, ob die Deflationspolitik Auswirkung einer fehl­
geleiteten volkswirtschaftlichen Doktrin oder verzweifelte
Austeritätspolitik eines Schuldnerlandes unter dem Druck
einer Troika auswärtiger Zentralbanken war (ähnlich der
aktuellen Krise Griechenlands).
Insgesamt wird festgestellt, dass sich das Reichswirtschaftsministerium nach 1923/24 weit weniger intensiv an der
Formulierung der generellen politischen Linie beteiligte und
bis zum Beginn des NS-Zeit an Einfluss verlor.
Das Reichswirtschaftsministerium (RWM) im
Dritten Reich
Mehrere Beiträge der Veröffentlichung der Geschichtskommission stellen differenziert personelle Entwicklungen
dar. Ein Beitrag hebt die schnelle „Selbstnazifizierung“ des
Ministeriums hervor, 1933 durchgeführt – in der Zeit eines
Machtvakuums – auf Order des Ministers Hugenberg (nicht
auf Anweisung der NSDAP) von dem langjährigen, zuvor
politisch unauffälligen Spitzenbeamten Massenbach. Das
ideologische Feindbild, Antisemitismus und Antirepublikanismus, hatten breite Wurzeln. Zuletzt zeigte sich, dass die
Säuberung steckenblieb, in Teilen zurückgenommen wurde
und die Säuberer selbst traf. Hitler verfolgte die Politik, das
RWM aus Parteisicht systematisch unterzubesetzen und
Parteidogmatiker fernzuhalten.
Bundesminister Sigmar Gabriel bedankte sich bei der Geschichtskommission für ihre außerordentlich gründliche und an Erkenntnissen reiche Studie: „Dabei wird deutlich, wie die furchtbaren Katastrophen in der deutschen Geschichte – zwei verheerende Kriege, das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und der nationalsozialistische Völkermord – auch die wirtschaftspolitischen Strategien beeinflusst haben.“
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Nach der Machtergreifung am 20. Januar 1933 hatte das
RWM zunächst nicht in vorderster Linie der antisemitischen Bewegung gestanden. Mit Hinweis auf volkswirtschaftliche Schäden, die aus ausländischen Reaktionen auf
die Judenverfolgung resultieren könnten, wurden anfangs
sogar immer wieder gesetzwidrige Aktionen und Maßnahmen eifriger Nationalsozialisten untersagt bzw. aufgehoben.
Ende 1937 deutete ein RWM-Erlass dann bereits eine allgemeine antisemitische Wirtschaftspolitik an. Durch Verordnung Görings vom Februar 1938 wurde ein Judenreferat
für die Belange der „Entjudung der deutschen Wirtschaft“
geschaffen. Die Liste ehemaliger Mitarbeiter dieses Referats
im späteren BMWi ist beachtlich. Im April 1938 wurde zeitgleich mit der Anmeldepflicht für jüdisches Vermögen die
Veräußerung jüdischer Gewerbebetriebe genehmigungspflichtig. Ab diesem Zeitpunkt war die wirtschaftliche Vernichtung der jüdischen Minderheit im vollen Gang. Die
starke Verstrickung des RWM in die nationalsozialistische
Terrorherrschaft zeigt sich allein daran, dass nach Ende des
Krieges drei seiner ehemaligen Reichsminister auf der
Anklagebank des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg saßen, die die Wirtschaftspolitik zwischen 1933 und
1945 maßgeblich geprägt hatten (Schacht, Funk, Göring).
Die Ausbalancierung der Devisenbilanz bei einer überbewerteten Währung wurde zur wirtschaftspolitischen Achillesferse des Dritten Reichs. Das zuvor von Reichsbank und
RWM unterhaltene Devisenmonopol wurde zu einem
umfassenden Außenhandelsmonopol mit gespaltenen
Wechselkursen ausgebaut. Diese Planwirtschaft mit lückenloser Kontrolle ermöglichte eine außenwirtschaftliche
Steuerung nach politischen Prioritäten. Schacht setzte sich
als Reichsbankpräsident gegenüber dem damaligen Minister Schmitt damit durch, dieses System in den Dienst der
Aufrüstung zu stellen, nur so viele Exporte zuzulassen, wie
zur Deckung des hierfür nötigen Devisenbedarfs nötig
waren, und den auswärtigen Schuldendienst nun fast völlig
einzustellen.
Seit 1939 war das RWM damit befasst, nicht kriegswichtige
Zivilgüterproduktionen zu identifizieren und den Transfer
der Ressourcen in rüstungsnahe Industrien zu organisieren.
Später hatte es auch Anteil an der Ausplünderung (einschließlich der Ausbeutung durch Zwangsarbeit) in den
besetzten Gebieten.
Neben Devisenkontrolle und lenkungswirtschaftlicher
Kriegsvorbereitung brachte das RWM in den mittleren
30er Jahren eine Reihe von Regulierungsgesetzen auf den
Weg, die nach dem Krieg mit nur leichten Änderungen in
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den Kranz der Ausnahmebereiche der bundesdeutschen
Wettbewerbsordnung übernommen wurden, so z. B. das
Kreditwesengesetz oder das Energiewirtschaftsgesetz. Aus
wirtschaftlicher Sicht bedeutend war auch die Handwerksordnung von 1935, die die Zwangsmitgliedschaft in Kammern und Innungen ebenso wie den Meisterzwang brachte.
Eine Novelle von 1939 führte die Bedürfnisprüfung bei der
Errichtung neuer Handwerksbetriebe ein und erlaubte –
im Vorgriff auf die kriegswirtschaftliche Angebotslenkung
– die Schließung bestehender Betriebe in überbesetzten
Branchen.
Die sich wandelnden Formen der kriegswirtschaftlichen
Organisation waren den Forschungsergebnissen zufolge
jedoch nicht Elemente einer Wirtschaftsideologie: Geplant
war die Rückkehr zu einem weitgehend marktwirtschaft­
lichen System nach dem Krieg. So hat Hitler 1944 in einer
Rede betont, der Staat werde sich nach dem Krieg damit
begnügen, Rahmenbedingungen für die private Wirtschaft
zu schaffen.
Zentrale Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR
Im Mittelpunkt der Forschungen zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und zur DDR stehen die zentrale Wirtschaftsverwaltung und die Planwirtschaft. Fragt man nach
dem Standort der DDR-Zentralverwaltungswirtschaft in
der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, so fallen
zunächst nur Brüche auf:
Die SED sah es als ihren großen Erfolg an, den Kapitalismus
mit seinen negativen Auswirkungen (vor allem die Massenarbeitslosigkeit) endgültig beseitigt zu haben. Dazu wurden
in den ersten Nachkriegsjahren der Großgrundbesitz enteignet, die Industriebetriebe verstaatlicht und ein umfassender Elitenwechsel durchgeführt. Mit diesen Zwangsmaßnahmen verminderte sich aber die Geltungskraft von Kriterien
der wirtschaftlichen Effizienz – ein grundsätzliches Problem,
auf das die SED-Führung in den 1960er Jahren mit Wirtschaftsreformen reagierte.
Bei der Errichtung der Planwirtschaft besaß die Sowjetunion zwar eine wichtige Vorbildfunktion für Ost-Berlin.
Dennoch wird der in diesem Zusammenhang oftmals verwendete Begriff ‚Sowjetisierung‘ der Komplexität dieses
Prozesses nicht gerecht. Zweifellos bestimmte Moskau die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch die verhängten Demontagen und die angeordneten Reparationszahlungen. Außerdem orientierten sich die ostdeutschen Planungsexperten an einzelnen Elementen der sowjetischen
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Lenkungswirtschaft. Schließlich gab es auch noch sowjetische Berater in der DDR-Wirtschaftsverwaltung. Die einzelnen Beiträge der Publikation zeigen aber, dass die ostdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen vielschichtig
waren. So konnte die SED-Führung bei den bilateralen
Gesprächen, die freilich nicht auf gleicher Augenhöhe stattfanden, zeitweilig auch einige Erfolge verbuchen. Um hier
etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen, wurden im Rahmen des Projekts einschlägige Aktenbestände der relevanten Moskauer Archive ausgewertet.
Die DDR grenzte sich wirtschaftspolitisch nicht nur von
der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, sondern auch von der Bundesrepublik ab. Der Kalte Krieg war
im geteilten Deutschland auch eine Auseinandersetzung
um das bessere Wirtschaftssystem: Markt versus Plan. Trotz
der Erfolge des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders war für viele Zeitgenossen der Bonner Republik
zunächst keineswegs ausgemacht, dass das Modell der Sozialen Marktwirtschaft gegenüber dem planwirtschaftlichen
Modell der DDR langfristig gesehen überlegen sein würde.
Vor dem Hintergrund der Sputnik-Euphorie glaubte die
SED-Führung wieder an den eigenen Erfolg im Wettstreit
mit der Bundesrepublik und verkündete weit reichende
Konsumversprechen, die entsprechende Erwartungen in
der DDR-Bevölkerung weckten.
In der DDR sollte der Plan die Grundlage für die Steuerung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden; er legte
Wirtschaftsziele, Investitionsschwerpunkte und Ressourcen­
einsatz verbindlich fest. Die Verteilung der knappen Güter
hatte zentral von oben zu erfolgen. Mit der Errichtung der
Planwirtschaft erfolgte in der DDR der Aufbau völlig neuartiger Institutionen, die in der deutschen Verwaltungstradition beispiellos waren. Eine zentrale Rolle übernahm hier
die am 8. November 1950 gebildete Staatliche Plankommission (SPK). Sie hatte eine koordinierende Funktion gegenüber den Branchenministerien. Trotz der engen Verflechtung der SPK mit der SED-Führung besaß 1960 jeder dritte
SPK-Mitarbeiter noch kein SED-Parteibuch. Ehemalige
NSDAP-Mitglieder waren in der SPK etwa zu 2,8 (1955)
oder 5,3 Prozent (1958) vertreten.
Die einzelnen Beiträge des Bandes stellen nicht nur die
Strukturen und das Personal der zentralen Wirtschaftsverwaltung vor. Sie beschäftigen sich außerdem mit ausgewählten Themenfeldern, die die Verwaltungspraxis
beleuchten und die Relevanz für die DDR-Wirtschaftsgeschichte besitzen: Ordnungs- und Preispolitik, Energieund Rohstoffpolitik, Forschungs- und Technikpolitik, Konsumpolitik sowie Außenwirtschaftspolitik.
Zum Aufbau der DDR-Wirtschaftsstatistik wird erstmals
ausführlich der Rückgriff auf die Wirtschaftsstatistiken und
die Planungsinstrumente der nationalsozialistischen „Lenkungswirtschaft“ beschrieben. So stellte der Industriezensus von 1936 lange Zeit die wichtigste statistische Basis
und Bezugsgröße für die ostdeutschen Planungsexperten
dar. Eine Schlüsselrolle nahm indirekt Rolf Wagenführ ein,
der im Dritten Reich gleichzeitig die Statistikabteilung im
Rüstungsministerium und die Industrieabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) geleitet
hatte. Wagenführ setzte seine außergewöhnliche Karriere
nach Ende des Zweiten Weltkriegs bruchlos fort. Anfangs
stand er für kurze Zeit im Dienst der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), um dann aber in
den Westen zu gehen. Im Juli 1946 wurde er Hauptabteilungsleiter im Statistischen Amt der britischen Zone und
schließlich 1958 erster Generaldirektor des Statistischen
Amtes der Europäischen Gemeinschaften. An seiner Person
lässt sich die zentrale Bedeutung einer hochgradig professionalisierten Statistik für die Funktionsweise moderner
Industriestaaten ablesen, und zwar unabhängig von den
politischen Systemunterschieden.
Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi)
in der Sozialen Marktwirtschaft und die
Personalkontinuitäten aus der NS-Zeit
Das BMWi in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft
Die Autoren der Geschichtskommission analysieren zunächst
die ordnungspolitische Rahmensetzung für wirtschaftspolitisches Handeln und untersuchen die Anwendung dieser
Konzepte exemplarisch auf einschlägigen Operationsfeldern deutscher Wirtschaftspolitik. Die ministeriellen Binnenstrukturen und deren personelle wie administrative
Logiken hätten das BMWi von anderen Bonner Ministerien
unterschieden und ihm seinen Ruf als „Ordnungs- und
Überzeugungsministerium“ verschafft, das – weit über seine
originären Zuständigkeiten hinaus – ein Querschnittsressort
mit Orientierungsfunktionen für die gesamte Regierung
werden konnte.
Da das liberale Ideal einer „Ordnungspolitik der unsicht­
baren Hand“ spätestens in der Weltwirtschaftskrise der
dreißiger Jahre an seine Grenzen gekommen sei, habe das
BMWi mit einer „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“
eine ganz eigene Handlungsmaxime entwickelt. Es habe
eine überraschend aktivistische Politik der Marktgestaltung
betrieben: Zwar wurden Eingriffe zur Erhaltung bestehender Märkte abgelehnt, doch sei die Praxis der Sozialen Markt-
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Auf der Abschlussveranstaltung diskutierte die Geschichtskommission mit Staatssekretär Dr. Rainer Sontowski (2. v. l.).
wirtschaft von Anpassungsinterventionen stark geprägt
gewesen. Politikziel war dabei eine Erhöhung der Produktivität der deutschen Volkswirtschaft bei gleichzeitiger Milderung sozialer Anpassungslasten. Das gesellschaftspolitische
Ziel der Mittelstandsförderung trat ab den frühen siebziger
Jahren in den Hintergrund.
habe das BMWi ein unverwechselbares Profil entwickelt
und weit über seine Zuständigkeiten hinaus Autorität in
wirtschaftspolitischen Fragen und bei der ordnungspolitischen Koordinierung der Wirtschaftspolitik ausgeübt.
NS-belastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Deutsche Wirtschaftspolitik, so ein Beitrag, musste sich vor
allem im Spagat zwischen europäischer Integration und
Weltmarktorientierung bewähren. Als potenzielles Überschussland diente Westdeutschland zunächst der amerikanischen Politik als Instrument, um mit seiner Hilfe West­
europa wieder zu stabilisieren und gegen die sowjetische
Herausforderung (auch militärisch) zu stärken. Die systematische Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit („Handels­
politik nach innen“) habe sich auf dem Weltmarkt nach
der Rückkehr Chinas und der Öffnung des Ostblocks umso
mehr ausgezahlt.
Auch wenn sich das 1949 gegründete BMWi von Anfang
an schwergetan habe, eigene Zuständigkeiten insbesondere
gegenüber klassischen Ressorts wie dem Bundesministerium
der Finanzen oder dem Auswärtigen Amt zu reklamieren,
Insgesamt gab es in der ersten Hälfte der 1950er Jahre eine
generöse Einstellungspraxis. Dabei gab es Beamtenkontinuitäten auf hohem Karriereniveau. Die Abteilungsleiter
Hans Koelfen und Hermann Reinhardt fungierten schon
im Reichswirtschaftsministerium als stellvertretende Abteilungsleiter. Koelfen in der Abteilung „Allgemeine Wirtschaftspolitik“ direkt unter Otto Ohlendorf, Reinhardt in
der Außenwirtschaftsabteilung mit Zuständigkeiten u. a.
für Südosteuropa. Ihr Kollege Elmar Michel, nach langer
französischer Haft ab 1953 Leiter der Mittelstandsabteilung, stand ehedem der Hauptabteilung Wirtschaft des
Militärverwaltungsstabes in Frankreich vor. Dort arbeitete
als Abteilungschef auch der Außenhandelsspezialist und
nachmalige Unterabteilungsleiter Ernst Robert von Mahs.
Sein späterer Kollege Felix-Alexander Prentzel, als Unterab-
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teilungsleiter im Bundesministerium u. a. zuständig für die
Koordinierung der Entflechtung der Chemieindustrie, war
vor 1945 nach einer Tätigkeit bei der IG Farben Abteilungsleiter Gewerbliche Wirtschaft im „Wirtschaftsstab Ost“ und
zugleich stellvertretender Leiter der Abteilung „Besetzte
Gebiete“ in der Außenwirtschaftsabteilung des Reichsministeriums gewesen.
Obendrein beschäftigte das Wirtschaftsministerium mit
Ernst Kutscher, Erhard Moehrke, Carl-Günther von Coelln
und Hans Humbert vier ehemalige Mit- oder Zuarbeiter der
so genannten „Judenreferate“. Kutscher war im Auswärtigen
Amt mit „antijüdischer Auslandsaktion“ befasst gewesen. Er
fungierte dann von 1949 bis 1953 als persönlicher Referent
Erhards und war in dieser Zeit nicht zuletzt mit Fragen des
deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommens
betraut, ehe er ins Auswärtige Amt zurückkehrte. Moehrke,
von Coelln und Humbert hatten nach 1938 im mit Arisierungsfragen befassten Judenreferat des Reichswirtschaftsministeriums gearbeitet und waren in den 1950er Jahren
wieder im Bundeswirtschaftsministerium tätig
Das institutionell-berufliche Rekrutierungsfeld des BMWi
nach dem Krieg war vergleichsweise stark diversifiziert:
Nur knapp zehn Prozent der Belegschaft (1956) entstammten dem direkten Reichsvorgänger, bei der gesamten Führungsebene (1949 – 1990) waren es gut 16 Prozent. Doch
knapp 85 Prozent derjenigen, die zwischen 1949 und 1963
im Rang eines Ministerialdirektors oder -dirigenten amtierten, waren bereits vor 1945 im öffentlichen Dienst gewesen.
Der neben dieser beruflichen Herkunft brisanteste Kontinuitätsfaktor war der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder.
Von den neun zwischen 1949 und 1990 amtierenden Ministern waren zwei in der NSDAP gewesen (Schmücker und
Schiller). Von den 19 Staatssekretären waren es fünf. Deutlich höher lag der Anteil für die operative Führungsebene
der Abteilungs- und Unterabteilungsleiter (1949 – 1963 bei
knapp 59 Prozent). Für den Zeitraum 1949 bis 1990 lag der
Anteil der NSDAP-Mitglieder bei knapp 40 Prozent. Diese
Strukturen entsprachen weitgehend dem Durchschnitt der
Bundesministerien.
Kontakt: Dr. Astrid Klesse und Maleika Grün
Referat: Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik