Gesellschaft Homestory Warum ich meine Tochter den autoritären Methoden einer britischen Nanny unterwarf ange Zeit dachte ich, über Kinder und Erziehung werde viel zu viel geschrieben und geredet. Als Vater oder Mutter hat man, wenn man ehrlich ist, ohnehin nur begrenzten Einfluss auf das Endergebnis. Außerdem glaube ich an evolutionäre Intuition, ich glaube, dass Eltern fähig sind zu lernen. Wer braucht schon eine eigene Hausbibliothek für einen Prozess, der jahrtausendelang ohne die Tipps von Psychologen, Meditationsexperten, Sprach-, Verhaltens- und Neurowissenschaftlern funktioniert hat? Vor etwas über einem Jahr änderte sich meine Einstellung, irgendwann zwischen der zehnten und zwölften schlaflos verbrachten Nacht nach der Geburt unserer Tochter. Es war die Phase des akuten Deliriums. Müde und ratlos griff ich zu dem Buch „The New Contented Little Baby Book“, das bis dahin ungelesen im Regal gestanden hatte, neben den Kochbüchern. Die Autorin ist Gina Ford, eine britische Hebamme, die laut Vorwort auf eine Betreuungsgeschichte von 300 Babys blickt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass meine Freundin und ich zu Gina-Ford-Jüngern wurden. Ihr Buch wurde unsere Bibel. Wir waren damit nicht allein. Seit ihrem Ratgeberdebüt vor 16 Jahren wird Ford von Eltern in England zu gleichen Teilen vergöttert, gefürchtet und gehasst. Ihre Befehle an frischgebackene Eltern verpackt sie als Ratschläge, die entweder Unterwerfung oder Widerstand hervorrufen, wie die Äußerungen einer Diktatorin. Ich würde gern behaupten, dass wir immun gegen Fords Propaganda waren. Stattdessen atmeten wir ihre Sätze. Nach kurzer Zeit besaß sie so viel Macht in unserer Wohnung, dass meine Freundin ihr den Spitznamen „Nazitante“ gab. Wir hatten jetzt zwei neue Mitbewohner, das Baby und die Nazitante. Gina Ford war uns von Freunden in Notting Hill empfohlen worden, einem Banker-Ehepaar, das uns das Buch mit einem Dutzend eingeklebter Lesezettelchen und dem Hinweis anvertraut hatte, wir sollten nicht alles darin wörtlich nehmen. Das war leichter gesagt als getan. Gina Fords Trick besteht darin, dass sie das Neugeborene und dessen Eltern in einen gnadenlosen Zeitplan presst, in dem sich Füttern, Wickeln und Schlafen wie in einem Fiebertraum abwechseln. Sie lässt wenig Spielraum. Für den Preis eines gut gelaunten Babys verlangt sie nichts weniger als die bedingungslose Kapitulation, etwa so wie Sergeant Hartman in „Full Metal Jacket“. Hunderttausende Eltern könnten bezeugen, dass sich die Mühe lohne, schreibt Ford. Meine Freundin ließ sich überreden, das Experiment eine Woche lang probehalber durchzuführen. Ein Tag in Woche L THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL Nazitante vier bis sechs nach der Geburt sollte Ford zufolge so beginnen: 7 Uhr, das Baby ist wach, frisch gewickelt und trinkt Muttermilch, allerdings nicht länger als bis 7.45 Uhr. Anschließend Herumstrampeln auf der Krabbeldecke. Mama frühstückt nicht später als 8 Uhr Cornflakes, Toast und ein Getränk. 8.45 Uhr: Baby wird müde. 9.45 Uhr: Baby wird wach. 10 Uhr: Waschen, Anziehen. 10.30 Uhr: Stillen an der ersten Brust, Herumstrampeln auf der Krabbeldecke, zweite Brust. Undsoweiter. Frustrierend war, dass sich unsere Tochter nicht an die Zeiten hielt. Für die Krabbeldecke interessierte sie sich auch nicht. Dauernd waren wir mit etwas in Verzug, mit dem Sterilisieren der Flaschen, mit Waschen, Kochen oder Essen. Außerdem brachte ich es nicht übers Herz, dem Rat zu folgen, dass man vor dem Zubettgehen dem Blick der Kleinen ausweichen solle, um sie nicht unnötig zu stimulieren. Magischerweise aber, nach drei oder vier Tagen, wurde sie ruhiger. Nachts weckten wir sie zu den vorgegebenen Zeiten zum Füttern auf, tagsüber spielten wir mit ihr nur dann, wenn Ford es gestattete. Was soll ich sagen, es klappte. Das Baby wirkte satter, ausgeschlafen. Es war plötzlich zufrieden. Freunde und Verwandte lobten uns, kaum etwas betet unsere Generation so sehr an wie das Entspanntsein. In den Gesichtern anderer Eltern meinte ich, Neid aufscheinen zu sehen, was mich motivierte, den Zeitplan noch genauer einzuhalten. Ich wurde zur Über-Gina. Unsere Abendessen begannen mit den Worten: „Gina Ford sagt …“, „Auf Seite 30 steht …“ und „In Kapitel drei schreibt sie …“. Inzwischen weiß ich, dass die Erziehung mittels Stundenplan schon einmal in Mode war, in der Nachkriegszeit und bis weit in die Sechzigerjahre hinein. Die Adressatin dieser Ratschläge war eine Mutter, die ihre Familie wie ein kleines Unternehmen leitete. Die Ideologie hieß Effizienz und Präzision. Ford knüpft an diese Tradition an, obwohl sie betont, ihr Zeitplan sei nur das Mittel zum Glücklichwerden, kein Wert an sich. Sie richtet sich an jene karrierebewussten, tendenziell überforderten Großstadteltern, die To-do-Listen aus dem Büro gewohnt sind und kein Problem darin sehen, ihr Privatleben einem ähnlichen Takt zu unterwerfen. Für diese Eltern sind genaue Vorgaben eine Erleichterung. Ford schreibt, aus welchem Material Baby-Bodys sein müssen, was man mittags kochen soll und weshalb das Kinderzimmer nachts unbedingt stockfinster zu sein hat („so dunkel, dass nicht einmal die feinsten Umrisse von Spielzeug oder Büchern zu sehen sind“). Unsere Tochter fühlte sich damit offensichtlich wohl. Sie schlief die Nächte durch und wachte nur noch selten auf. Wir machten kein großes Thema daraus, aber mit der Zeit wurde mir mein stiller Triumph unheimlich, wenn andere Paare aus unserem Geburtskurs klagten, wie schlecht ihr Nachwuchs esse, wie sehr er quengle und wie wenig er nachts schlafe. Nach acht Monaten legten wir das Buch beiseite und behaupteten nun uns selbst und anderen gegenüber, dass wir mit der Kleinen einfach sehr viel Glück gehabt hätten. Das Buch machte im Bekanntenkreis die Runde, aber ich merke, dass ich den Namen der Autorin nicht mehr so unbefangen aussprechen kann wie früher. Heute sind wir frei und zufrieden. Gina Ford ist nur noch eine dunkle Erinnerung an Zeiten, die wir überwunden haben, obwohl ich betonen will, dass unter ihr nicht alles schlecht war. Christoph Scheuermann DER SPIEGEL 2 / 2016 53
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