Frank Witzel

Frank Witzel
Martin Luther
Dem Teufel sie sein Werk zerstört
Stotternheim ist ein sprechender Name. Dass ein 21 jähriger Jurastudent,
der auf dem Weg zur Universität nach Erfurt dort auf freiem Feld von einem Gewitter überrascht wird, um göttlichen Beistand fleht, scheint am
Beginn des 16. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich. Gott ruft man am besten
nicht direkt, sondern durch einen Mittler an, jemanden, der zwischen dem
Unfassbaren und dem Menschen steht und wohlgefällig erscheint in beider
Augen. So wie zum Beispiel die Heilige Anna, die Mutter der Jungfrau Maria, die sich damals gerade erst zwanzig Jahre im Kreis der kanonisierten
Heiligen befand, wo sie Bergwerke behütete und vor Gewittern bewahrte.
Ist die Angst besonders groß, wie bei besagtem Studenten, so gibt man
noch ein Versprechen bei, zum Beispiel: "Hilf du heilige Anna, ich will ein
Mönch werden!" Es ist ein bezeichnendes Versprechen, denn es stellt keine Kausalität her, die etwa heißen könnte: "Wenn du mir hilfst, heilige
Anna, dann werde ich Mönch". Vielmehr tut der Student so, als habe der
Blitz einen Wunsch in ihm geweckt oder in Erinnerung gerufen. Und vielleicht war es auch so, denn Jura: Das war die Idee seines Vaters, nicht
seine. Und Mönch? Warum nicht. Der Weinberg des Herren ist für alle Narren offen. Zum Beispiel für die sogenannte Hungermärtyrerin Anna
Laminit, die zur selben Zeit, und nur drei Jahre älter als der Student im
Gewitter, in Augsburg göttliche Visionen hatte, unter anderem von Engeln
und ihrer, auch vom Studenten angerufenen Namenspatronin.
Anna Laminit hatte bereits seit sieben Jahren keinerlei Nahrung mehr zu
sich genommen, außer der Hostie natürlich, und entsprechend auch keine
Ausscheidungen gehabt. Zwei Jahre vor der Gewitterepisode des Studenten Martin Luther, hatte man in Augsburg eine große Prozession ihr zu Eh-
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ren veranstaltet, an der auch Kaiser Maximillian I. mit seiner zweiten Gattin Bianca Maria Sforza teilnahm, sie barfuß und im schwarzen Gewand
der Büßerin. Bianca Maria war von Anna Laminit angetan, wollte es ihr
gleichtun und starb einige Jahre später abgemagert an der damals sogenannten "Dörrsucht". Ein Jahr darauf, 1511, besuchte auch Luther die
Hungerkünstlerin, als er auf dem Rückweg von seiner enttäuschenden
Reise nach Rom war. Und auch Anna, so erzählte er später, genauso wie
er sein Bekehrungserlebnis von Stotternheim auch erst 34 Jahre danach
bei einem Essen zum Besten gab, soll seine Erwartungen nicht erfüllt haben, aber vielleicht meinte er das auch nur mit dem Abstand der Jahre
und dem Wissen ihrer Enttarnung, ein Jahr nach seinem Treffen mit ihr.
Kunigunde von Österreich, die Schwester Maximilians, war zwar ebenso
gläubig wie dessen Gattin Bianca Maria, aber nicht ganz so naiv, weshalb
sie Anna nach München ins Püttrichkloster einlud, sie aber durch eine entsprechende Vorrichtung in ihrer Zelle beobachten ließ. Dort konnte man
die freiwillige Märtyrerin feste und flüssige Nahrung zu sich nehmen und
auch ihre Exkremente durch das Fenster entsorgen sehen. Anna wurde
verwarnt und gelobte ihr unheiliges Treiben einzustellen. Nachdem sie
aber die knapp hundert Kilometer von München nach Augsburg zurückgelegt hatte, wo man sie immer noch feierte und verehrte und vor allem mit
Geldgeschenken überhäufte, setzte sie ihren angestammten Lebenswandel
noch einige Jahre fort, auch wenn sie dazu gegen Ende einige Ortswechsel
vornehmen musste, da herausgekommen war, dass sie von einem ihrer
Liebhaber immer noch Unterhalt für ein Kind erhielt, das schon lange nicht
mehr lebte. 1518 wurde sie mit 38 Jahren in Freiburg zum Tode durch Säcken verurteilt, das heißt man steckte sie in einen Sack und tauchte sie in
den Fluss Saane, bis kein Leben mehr in ihr war. Beim Säcken der beginnenden Neuzeit wurde allerdings, anders als beim Säcken nach römischem
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Recht, nicht auch noch Skorpion, Schlange, Katze oder Hund mit in den
Sack getan.
Im Jahr zuvor hatte Luther seine 95 Thesen anschlagen lassen und jetzt,
nur wenige Monate nach Anna Laminits Tod, machte er sich auf in ihre
Heimatstadt Augsburg, um beim dortigen Reichstag verhört zu werden.
Drei Tage dauerte die Unterredung mit Thomas Cajetan, der Luther für
einen Ketzer hielt, da der darauf bestand, allein aus der Bibel heraus widerlegt zu werden. Von päpstlichen Bullen und ex kathedra verkündeten
Dogmen hielt Luther nicht viel, so auch nicht von dem Unigenitus dei filius
genannten Schreiben, das Papst Clemens VI. Mitte des 14. Jahrhunderts
veröffentlicht hatte und in dem unter anderem festgelegt wurde, dass der
durch den Tod Christus am Kreuz angelegte Schatz des Ablasses an die
Päpste übertragen wurde, damit diese ihn verwalten und an die Gläubigen
verteilen sollten, unter anderem mithilfe der sogenannten Ablassbriefe.
Der Klerus verhielt sich Luther gegenüber relativ zivil, sodass ihm das
Schicksal jenes Ketzers erspart blieb, der dem Papsttum hundert Jahre
zuvor einen ersten schweren Schlag versetzt hatte, und als dessen Nachfolger sich Luther verstand: Jan Hus. Zwölf Jahre später, im Jahr 1530, in
der "Vorrede auf den Propheten Daniel" legt Luther diese Genealogie
schriftlich nieder und schreibt: "Gleich wohl hat der Stoß, (nämlich der
von Hus gegen den Papst ausgeführte) zwo unüberwindliche Wunden dem
Papstthum gegeben: Die erste, dass die Päpste aus dem Himmel gestoßen
sind und die Pfeiffen einziehen mussten, nicht mehr dürfften solche Bullen
und Gebote über die Engel ausgehen lassen (…) Die andere, dass nach St.
Johannes Huß das Papstthum in größere Verachtung kommen ist und St.
Johannes Huß Namen und Lehre mit keiner Macht haben können wehren
noch zu Grunde kämpfen." Einige Dinge fallen hier auf. Zum einen scheut
sich Luther nicht, diese Polemik direkt in die Bibel hineinzuschreiben, aus
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seiner Sicht verständlich, da er seinen Auftrag als einen biblischen betrachtet und, so wie in Augsburg vor dem Reichstag, allein aus der Bibel
heraus, sola scriptura also, zu argumentieren pflegte. Auch ist er dreist
genug, Jan Hus als Sankt Johannes Huß zu bezeichnen und in dessen
Worten eine dem Propheten Daniel analoge Prophezeiung zu entdecken,
die auf keinen anderen als ihn, Luther selbst, verweist. Dazu zitiert er die
folgenden angeblich letzten Worte von Hus: "Über hundert Jahre sollt ihr
Gott und mir antworten: item, sie werden eine Ganß braten (Huß heißt
Gans), es wird ein Schwan nach mir kommen, den werden sie nicht braten", und Luther fügt hinzu: "Und ist also geschehen, er ist verbrandt, Anno 1416. So gieng dieser ietzige Hadder an mit dem Ablaß Anno 1517."
Wie jeder Mann, dem es gelingt, sein eigenes Leben in einen Mythos umzudichten, besitzt auch Luther ein unfehlbares Gespür für Timing. Mit dem
Jahr der Volljährigkeit vom Blitz ins Kloster getrieben, 100 Jahre nach der
Hinrichtung von Hus die Thesen angeschlagen, aus Augsburg entkommen
und später aus Worms und so fort. Und wie jeder Mann, der als singuläre
Erscheinung in der Historie verehrt wird, steht er einerseits auf den Schultern anderer, beißt andererseits Kollegen, die ähnliches versuchen, weg
vom Futtertrog der Geschichte, an dem es für jede Entwicklung immer nur
Platz für einen großen Namen zu geben scheint, auch wenn man weiß,
dass die Glühbirne zweimal erfunden wurde und hinter jedem großen
Mann eine noch größere Frau steht. Die Schultern, auf denen sich Luther
befand, gehörten keinem geringeren als dem Apostel Paulus. Was bei Luther das Gewitter auf dem Weg nach Erfurt bei Stotternheim, das war bei
Paulus das himmlische Licht auf dem Weg nach Damaskus. Luther war
Paulus in seinem Jahr auf der Wartburg nähergekommen, als er sich unter
anderem in den Römerbrief vertiefte. Gleichzeitig hörte er dort auch auf,
seine Tonsur zu scheren, ließ sich Haupt- und Barthaar stehen und von
anderen Junker Jörg nennen, während er an seiner Bibelübersetzung ar-
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beitete. Dabei wurde er, wie übrigens sein gesamtes Leben hindurch, vom
Teufel heimgesucht, der, ähnlich wie Ratten im Gebälk, kratzte und schabte. Die Anekdote aber, dass er das Tintenfass nach dem Leibhaftigen geworfen habe, stammt nicht von Luther selbst, der lediglich meinte, er habe den Satan mit Tinte vertrieben. Doch versinnbildlichte die Geschichte
einen ganz wesentlichen Punkt, der grundlegend für Luthers Einfluss auf
seine Zeit ist, nämlich seine Schriften, vor allem aber die Verbreitung
durch den kurz zuvor erfundenen Buchdruck. Und hier spricht Luther einen ganz wesentlichen Punkt an, der grundlegend für seinen Einfluss auf
seine Zeit ist: seine Schriften, vor allem aber deren Verbreitung durch den
kurz zuvor erfundenen Buchdruck. Allein im Jahr 1520 schrieb Luther 900
Druckseiten, die in 27 Titeln herauskamen, die wiederum 270 Auflagen
erhielten. Geht man von vorsichtigen Schätzungen aus, die bei mindestens 100 000 Exemplaren liegen, so dürfte jeder vierte Deutsche, der des
Lesens mächtig war, eine Schrift des Reformators zuhause gehabt haben.
Ob Luther mithilfe des Schreibens jedoch auch dem Teufel widerstand,
scheint fraglich, denn mit einem Mal wirft er auch noch die Mönchsregeln
über Bord und legt mit ihnen Keuschheit und Bescheidenheit ab. Seinem
Vater schreibt er, das Gebet des Keuschen laute: "Ich gelobe dir, Gott, die
Gottlosigkeit eines ganzen Lebens." Dann verlässt er gegen den Willen des
Kurfürstens die Wartburg. Auch ihm teilt er etwas mit, nämlich: ""Euer
kurfürstliche Gnaden, weiß, oder weiß sie es nicht, so lass sie es hiermit
kund sein, dass ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein
vom Himmel, durch unseren Herrn Jesum Christum habe ... " Luther zitiert hier den Galaterbrief des Paulus, wo es heißt: "Ich tue euch hiermit
kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht
menschlich ist. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch
gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi."
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Indem Luther sich mit Paulus identifiziert, kann er sich aus dem festen
Gefüge der katholischen Kirche mit ihren Dogmen und Regularien hinausbewegen, denn er hat in der Kirche selbst eine Stimme gefunden, die für
ihn spricht. Die Offenbarung, der direkte Kontakt zu Gott, hilft ihm bei
dieser Loslösung zusätzlich. Doch tauscht Luther nicht nur ein Vorbild gegen das andere? Befindet er sich nicht noch immer in einem Zustand der
Nachahmung, die er benötigt, um den in ihm wachsenden Auftrag der Reformation zu erfüllen?
Um diese Frage zu beantworten müssen wir noch einmal zurück in das
Jahr 1505 nach Stotternheim und zu Luthers Schwur, von dem er sich
damals tatsächlich nicht abbringen ließ. Vierzehn Tage später trat er bei
den Augustinern in Erfurt ein und wurde ein eifriger Mönch, der alle Regularien befolgte und so bereits zwei Jahre später, im Februar 1507, zum
Diakon, zwei Monate danach zum Priester geweiht wurde. Dem Vater war
die Entwicklung seines Sohnes, der nach seinen Vorstellungen Jurist hätte
werden sollen, nicht recht. Dennoch kam er zur Luthers Primiz nach Erfurt. Luther erzählt die Begegnung der beiden in einem Brief an seinen Vater noch einmal nach: "Denn ich gedenke noch allzuwohl, da es wieder gut
unter uns ward, und du mit mir redetest, und da ich dir sagte, dass ich
mit schrecklicher Erscheinung vom Himmel gerufen wäre, - denn ich ward
ja nicht gern und willig ein Mönch, viel weniger um Mästung oder des Bauches willen; sondern als ich mit Schrecken und Angst des Todes eilend
umgeben, gelobte ich ein gezwungen und gedrungen Gelübde." Luther
selbst also beschreibt sein Gelübde als "gezwungen und gedrungen" und
die Himmelserscheinung, die ihn bekehrt als "schrecklich". Will er vielleicht dem Vater damit eine Brücke bauen, auf der dieser ihm halbwegs
entgegenkommen soll und sagen, dass es schon richtig war, den von ihm
gewählten Weg des Mönchlebens einzuschlagen? Genau das verweigert
der Vater jedoch. Stattdessen nutzt er die Gelegenheit, am Tag der ersten
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Messe, die der Sohn selbst feiern darf, dessen Selbstzweifel noch zu verstärken. Denn er entgegnet lakonisch: "Gebe Gott, dass es nicht ein Betrug und teuflisch Gespenst war." Luther ist wie vom Donner gerührt. "Das
Wort, gleichsam als hätte es Gott durch deinen Mund geredet, durchdrang
und senkte sich bald in Grund meiner Seele." Mit diesen Worten fasst er
die für ihn traumatische Szene zusammen. Wenn er Jahre später, nun
selbstsicher und triumphierend dem Vater schreibt, dass er nicht nur beschlossen habe, die Mönchsregeln hinter sich zu lassen, sondern sich gegen den Papst selbst zu wenden, musste das in dessen Ohren nicht wie
eine verspätete Bestätigung seiner Ängste klingen, da hinter einer solchen
Idee nur der Satan stecken konnte? War das "gezwungene und gedrungene Gelübde" also doch "ein teuflisch Gespenst"? Der wahre Triumpf Luthers lag darin, dass er seine Selbstzweifel allem Anschein nach überwunden hatte, es ihm egal war, was der Vater und mit ihm auch der Kurfürst
dachte, da er nicht länger Gottes Wort durch ihren Mund vernahm, sondern es selbst aus der Heiligen Schrift herauslas.
Schon Jahre vor seiner intensiven Beschäftigung mit Paulus auf der Wartburg hatte er im Südturm des Klosters in Wittenberg, wo sich sein Arbeitszimmer befand, ein Erweckungserlebnis, als er sich eingehend mit
dem Römerbrief befasste und aus dem erfuhr, dass es allein um Gottes
Gnade geht, sola gratia, und nicht um die Werke des Menschen. Luther
liebte die Absoluta. Immer war das, auf was er gerade stieß, einzigartig,
sei es nun Schrift, Gnade, Glaube oder Christus selbst. Er sah keinen Widerspruch darin und hatte so schon bald vier "Solae" beieinander, deren
Vereinigung, nach seiner Vorstellung, wie konnte es auch anders sein, zu
einem wahren Glauben führte.
Luther war damit keineswegs der außergewöhnliche Denker seiner Zeit,
als der er oft hingestellt wird. Im Wesentlichen schöpfte er aus der Tradi-
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tion der christlichen Mystik, vielleicht mit dem Unterschied, dass der Mystiker die Tendenz hat, sich in seine Erfahrungs- und Offenbarungswelt zurückzuziehen, während Luther nach draußen ging, da er die Erkenntnisse
als Auftrag zur Reform verstand. Dabei half ihm auch hier das Vorbild Paulus, der ähnlich wie Luther seine Stellung als Apostel rechtfertigen musste,
da er Jesus nicht mehr persönlich gekannt hatte und bis kurz vor seiner
Bekehrung ein unbarmherziger Verfolger der Heidenchristen, besonders
aber der Judenchristen war.
"Der 'frohen Botschaft' folgte auf dem Fuß die allerschlimmste: die des
Paulus. In Paulus verkörperte sich der Gegensatz-Typus zum 'frohen Botschafter', das Genie im Haß, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen
Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist alles dem Hasse zum Opfer
gebracht? Vor allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz. Das Leben,
das Beispiel, die Lehre, der Tod, der Sinn und das Recht des ganzen
Evangeliums – nichts war mehr vorhanden, als dieser Falschmünzer aus
Haß begriff, was allein er brauchen konnte." So urteilt Nietzsche im Antichrist über Paulus (77, 241), den er als "sehr gequälten, sehr bemitleidenswerten, sehr unangenehmen und sich selbst unangenehmen Menschen" beschreibt. "Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher: an einer
fixen, stets gegenwärtigen, nie zur Ruhe kommenden Frage: welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetze habe, und zwar mit der Erfüllung
dieses Gesetzes." "Das Gesetz", so fährt Nietzsche fort, "war das Kreuz,
an welches er sich geschlagen fühlte: wie haßte er es! Wie trug er es ihm
nach! Wie suchte er herum, um ein Mittel zu finden, es zu vernichten,nicht mehr es für seine Person zu erfüllen! Und endlich leuchtete ihm der
rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker nicht anders zugehen konnte: ihm, dem wütenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen todmüde war, erschien auf einsamer Straße jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte
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die Worte: 'warum verfolgst du mich?' Das Wesentliche, was da geschah,
ist aber dies: sein Kopf war auf einmal hell geworden: 'es ist unvernünftig,
hatte er sich gesagt, gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der
Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe
und halte ich ja den Vernichter des Gesetzes!'" Und natürlich sieht auch
Nietzsche die Parallele zu Luther und schreibt: "Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in
seinem Kloster werden wollte: und ähnlich wie Luthern, der eines Tages
das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Klerisei
zu hassen begann, mit einem wahren tödlichen Haß, je weniger er ihn sich
eingestehen durfte, - ähnlich erging es Paulus." (58f.)
Nietzsche hatte recht, gerade weil er in einigen Passagen seiner Schilderung sich selbst zu beschreiben scheint, Luther trug einen großen Hass in
sich, gegen sich selbst, gegen den Papst, den Teufel, den freien Willen,
besonders aber gegen alle verstockten Seelen, die nicht bereit waren, aus
dem Alten Testament die Niederkunft des Erlösers herauszulesen, die doch
dort auf jeder Seite angekündigt wurde. Dazu gehörten vor allem die Juden, denen er in jungen Jahren noch mit Sanftmut begegnete, weil er
hoffte, sie von ihrem Irrglauben bekehren zu können. Im Alter jedoch
steigerte sich seine Wut über ihre Unbelehrbarkeit zu einem Hass, der nun
auf Ausgrenzung und Vernichtung drängte, sodass kein geringer als der
Führer Luther später als "großen Mann" und "Riesen" loben konnte, der
mit einem Ruck die Dämmerung durchbrochen habe und den Juden sah,
wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen." (Kaufmann, 13) Ein Reformator auf ganz anderem Gebiet also.
Luther befand sich, wie der evangelische Theologe Thomas Kaufmann
schreibt, in einem "Zweifrontenkrieg": "gegen die Juden und gegen eine
christliche Hebraistik, die das Alte Testament nicht in der Luther gebüh-
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rend erscheinenden Weise christlich interpretierte." (121) Luther ging dabei auf ähnliche Weise gegen die Juden vor wie gegen den Teufel: er warf
mit dem Tintenfass nach ihnen. Schließlich gab es für ihn keinen Unterschied, da alle Ungläubigen, und insbesondere die Juden, vom Teufel besessen waren. "Darumb hüte dich, lieber Christ, fur den Jüden, die du hieraus sihest, wie sie durch Gottes zorn dem Teufel übergeben sind, Der sie
nicht allein des rechten verstands in der Schrift, sondern auch gemeiner
menschlicher vernunfft, scham, sinn, beraubt hat. Darumb, wo du einen
rechten Jüden sihest, magstu mit gutem gewissen ein Creutz für dich
schlahen, und frey sicher sprechen: Da gehet ein leibhafftiger Teufel."
Luther meinte das ernst und verwandelte seine anfänglich noch menschlich gesäumte Abneigung den verstockten Juden gegenüber immer mehr
in eine allumfassende Abscheu, sodass er die Juden am Ende seines Lebens sogar für seinen drohen Tod verantwortlich machte. Zwei Wochen
bevor er mit 63 Jahren tatsächlich stirbt, schreibt er seiner Frau Käthe:
"Aber wenn du werest da gewest, so hettestu gesagt, Es were der Juden
oder ihres Gottes schuld gewest. Denn wir musten durch ein Dorff hart vor
Eisleben, da viel Juden innen wonen, vielleicht haben sie mich so hart angeblasen. So sind hie in der stadt Eisleben itzt diese stund uber funffzig
Juden wonhafftig. Un war istst, do ich bey dem Dorff fuhr, gieng mir ein
solcher kalter wind hinden zum wagen ein auff meinen kopff, Durchs
Parret, als wolt mirs das Hirn zu eis machen."
Das, was wie Ausfälle eines im Alter starr gewordenen und vom ewigen
Kampf gegen den Teufel müde gewordenen Geistes erscheint, ist aber
durchaus im Denken Luthers grundsätzlich angelegt. Das bemerkte Kierkegaard, der auch Paulus und Luther zusammendachte und schrieb: "Es
ist von großer Wichtigkeit, besonders für den Protestantismus, dass der
ungeheuren Verwirrung abgeholfen werde, die Luther angerichtet hat, in-
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dem er das Verhältnis umgedreht und im Grunde Christus durch Paulus,
den Meister durch den Jünger kritisiert hat."
Doch es gibt, glücklicherweise, noch eine andere Seite in Luther. Und auch
wenn Nietzsche Luther mit Paulus vor allem in deren gemeinsamen Hass
gegen das andere gleichsetzte, so schreibt er doch in der Geburt der Tragödie, nachdem er zuvor die Untiefen des deutschen Kulturlebens skizziert
hat: "Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation
hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik
zuerst erklang. So tief, mutig und seelenvoll, so überschwenglich gut und
zart tönt dieser Choral Luthers, als der erste dionysische Lockruf, der aus
dicht-verwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt."
(Die Geburt der Tragödie, 181)
Dies ist nicht nur metaphorisch, sondern ganz konkret gemeint und bezieht sich auf die Bedeutung der Musik bei Luther. Musik hat bei ihm eine
vielfache Funktion, denn sie kann nicht nur trösten, nicht nur lobpreisen,
sondern auch selbst verkünden. Dies wird besonders deutlich am Karfreitag: Während in der katholischen Kirche die Orgel schweigt und selbst die
Schellen durch Holzklappern ersetzt werden, damit die Auferstehung der
Osternacht noch überwältigender erscheint, so lehrt die Musik den gläubigen Protestanten am Karfreitag die ars moriendi, die Kunst des Sterbens,
im Angesicht des Kreuzes. Einerseits wird der Gläubige durch Luther entmachtet, denn er kann sich nicht durch gute Werke von der Sünde befreien, andererseits wird er als Individuum ermächtigt, weil er sich selbstständig mit Gott vereinen kann, sodass dieser seine Sünden übernimmt
und er umgekehrt dessen Herrlichkeit, in einem gegenseitigen Austausch,
das, was Luther in dem Ausruf zusammenfasst: "Sihe, so wirstu denn eyn
kuchen mit christo". Der wirklich Gläubige braucht dazu keinen Priester,
der ihm die Beichte abnimmt und auch keine zusätzlichen Regeln aus Rom
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als Ergänzung der Heiligen Schrift. Doch damit steht dieser Gläubige immer auch allein vor Gott. Ist die Musik in diesem Zusammenhang vielleicht
das nicht nur tröstende, sondern darüber hinaus verbindende Element,
das die Gläubigen im Raum, in dem sie erklingt, anders vereint, als es das
Bildnis im katholischen Kirchenraum tut? Die Passionskantate, das Passionsoratorium bis hin zur oratorischen Passion, die Bach zu einem einsamen Höhepunkt führte, legen davon einen immer noch gültigen Beweis
ab.
In seinem Versuch, eine Phänomenologie des Musikhörens zu entwickeln,
sieht der brasilianische Philosoph Villem Flusser die menschliche Haut
durch Musik verwandelt: Sie ist nicht länger Grenze, sondern Verbindung.
Auch Flusser stellt dem Hören das Sehen gegenüber und entdeckt, dass
die Geste des Hörens im Gegensatz zu der des Sehens, selbst der des
Denkens, nicht stereotypisiert erscheint, was im Sinne Luthers verstanden, aus der Vereinzelung, auch Verinnerlichung, des Hörens resultieren
mag. Im Unterschied zum gesprochenen Wort, das sich von den Lippen
ablesen lässt, ist die Musik nicht darstellbar oder durch ein anderes Medium zu fassen, deshalb ist sie umso wichtiger als Transporteur eines Textes, der sich nie völlig in ihr auflöst, während sie ihn konnotiert, um ihm
selbst an unfassbaren und erschütternden Stellen, doch noch einen Trost
hinzuzufügen.
Flusser beschreibt die Geste des Musikhörens als Körperstellung, in der
der ganze Körper zum Schwingen gebracht wird, weil er sich an eine akustische Botschaft anpasst. Dabei gerät der Hörer in eine Art Habachtstellung, wie etwa bei einem Gardesoldaten, doch während der sich von innen
nach außen konzentriert, konzentriert sich der Musikhörende von außen
nach innen konzentriert. Auch hier findet sich eine Parallele zu Luthers
Theologie, denn nach ihm hat der Mensch sein ganzes Leben in der Hab-
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achtstellung der Buße zuzubringen und kommt zu dieser Haltung der Reue
allein von außen nach innen, nämlich durch den Anblick des Gekreuzigten.
"Kein Erlebnis zeigt so sehr wie das Hören von Musik, daß 'Geist', 'Seele'
oder 'Intellekt' Worte sind, die körperliche Prozesse benennen", schreibt
Flusser weiter. Und auch diese Aussage kann man leicht mit Luther lesen,
um darin einerseits seinen mystischen Ansatz zu erkennen, andererseits
seine Schwäche, die darin bestand, diesen körperlichen Prozess, also die
mystische Erfahrung, die Offenbarung, immer wieder auf den Boden der
Tatsachen, sprich: des Wortes, zurückbringen zu wollen. So ist die Musik
auch das, was Luthers Lehre in den dialektischen Prozess des Denkes zurückführt und seinen blinden Fleck erleuchtet, der darin bestand, dass es,
wie Thomas Kaufmann schreibt, für Luther schlicht und einfach nicht vorstellbar war, "dass man seine 'Schriftbeweise' für konstruiert und willkürlich, ja völlig unplausibel hätte halten können." (73) Denn das Wort trennt
in seiner scheinbaren Eindeutigkeit, weil es immer auch sein Gegenüber
gebiert und die Welt in Dichotomien einteilt, in Gut und Böse, Himmel und
Erde, Christen und Juden, Gläubige und Ungläubige. Und so klingt das Ende von Flussers Ausführungen noch einmal ganz nach Luther, wenn er
schreibt: "Darum ist die Musik das allergrößte, das heiligste Geheimnis.
Sie hat nicht nötig, sich zu verbergen, sie ist in ihrer großartigen, superkomplexen Einfachheit, in der mathematischen Einfachheit, dunkel. Wie
der Tod und das Leben. Denn sie ist Leben im Tod und Tod im Leben. Um
das zu wissen, muß man nicht Schopenhauer gelesen haben (– ich füge
hinzu: oder Luther). Um das zu wissen, muß man nur versucht haben,
richtig Musik zu hören."
So ist die Musik endlich das, was heilt, was die Wunde lindert, die der Stachel dem Fleisch geschlagen hat und die vor allem versöhnt: Nietzsche mit
Luther, Luther mit der Welt, das Leben mit dem Tod. Die Musik transzendiert alle Bilderstürmerei, Juden-, Papst- und oft auch Menschenhasserei
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und wendet sich gegen Selbstherrlichkeit und Wahnideen, die Musik dringt
in die Lücken, die der Teufel lässt und füllt sie auf, denn sie ist die, die das
Werk des Teufels zerstört, mehr noch den Teufel vertreibt, diesen Teufel,
gegen den kein Tintenfass hilft, ob leergeschrieben oder gegen die Wand
geworfen, keine Vorsehung und keine Verdammnis, weil der Teufel nicht
von außen kommt, sondern tief innen wohnt, in Bruder Luther genauso
wie in uns selbst.
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