Die Morgenandacht

Die Morgenandacht
Montag bis Samstag, 5.55 Uhr (NDR Info) und 7.50 Uhr (NDR Kultur)
2.-7. Januar 2017
„Hätt´ ich dich heut erwartet…“
Von Diakon Carsten Lehmann, Krankenhausseelsorger in Osnabrück
Gottesdienst gibt´s nicht nur in der Kirche. Er ereignet sich manchmal einfach mitten in der Fußgängerzone, beim Essen oder im Kino, meint Diakon Carsten
Lehmann.
Redaktion: Ruth Beerbom
Katholische Kirche im NDR
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Montag, 2.1.2017: Unterbrechung
Das Klingen der Gläser konnte unseren guten Wünsche nicht übertönen: „Ein
glückliches Neues Jahr“, riefen wir uns zu. Wie immer haben wir mit
befreundeten Familien den Jahreswechsel gefeiert und diesmal durften wir die
Gastgeber sein.
Mit ein paar Knallfröschen, Silvesterraketen und Wunderkerzen machten wir
uns auf den Weg ins Freie. Aber vor dem Zünden des Feuerwerks musste ich
noch in die Sakristei, um die Kirchenglocken anzuschalten.
Da standen wir also vor der Kirche, die Sektgläser noch in der Hand, und
langsam drangen die ersten vollen Töne zu uns hinunter - bis sich alle
Glocken zum vollen Geläut aufgeschwungen hatten. Rund um uns begann das
Feuerwerk, aber wir standen noch immer regungslos im Kreis. Schließlich
durchbrach einer unserer Freunde die Sprachlosigkeit und sagte: „Mann ist
das schön.“ Und ein zweiter erwiderte: „Ja, das ist wirklich schön!“.
Seit Jahren feiern wir Silvester immer auf die gleiche Weise, mit den immer
gleichen Ritualen und Traditionen, aber in diesem Jahr war es für einen
Moment anders. Der übliche Ablauf wurde durch das Glockengeläut
unterbrochen.
Von dem bekannten Theologen Johann Baptist Metz ist die kürzeste Definition
des Begriffes Religion überliefert, nämlich „Unterbrechung“.
Unterbrechungen können einen aus dem Alltagstrott herausholen, sie können
stören oder auch den Alltag strukturieren. Unterbrechungen können lästig sein
oder auch eine willkommene Ablenkung.
Ich will die kleine Begebenheit in dieser Silvesternacht nicht überstrapazieren,
aber für einen kurzen Moment wurde uns bewusst, was immer dieses neue
Jahr für uns auch bringen mag: In all unserem Tun werden wir von jemanden
begleitet, der sich vor allem in der Unterbrechung zeigt. Dann, wenn man ihn
am wenigsten erwartet. Die Glocken in der Silvesternacht waren mehr als
Folklore oder schönes Ambiente, sie waren ein kurzer Gottesdienst.
Dienstag, 3.1.2017: Nun danket alle Gott
Irgendetwas irritiert mich. Ich weiß zunächst nicht genau, was es ist, aber ich
merke, es gehört einfach nicht hierhin. Hier, das ist mitten in der
Fußgängerzone an einem normalen Werktag. Schließlich finden Hörnerv und
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Verstand zueinander und ich erkenne, was es ist: Da pfeift jemand den Choral
„Nun danket alle Gott“.
Jetzt ist es klar und deutlich zu hören, überrascht taxiere ich die Menschen,
wer könnte es wohl pfeifen? Es muss doch gelingen die Quelle auszumachen
- und dann sehe ich sie. Vor einem Mülleimer sitzt ein Wohnungsloser auf
Durchreise, mit einem Hund. Gerade ist er damit beschäftigt, seine
Habseligkeiten zu sortieren und ich merke, dieses Lied pfeift er nicht, um mit
einem Kirchenlied den einen oder anderen Euro mehr zu erbetteln, sondern
weil er einfach gerade ein Lied pfeifen möchte. Mittlerweise bin ich fast an
seiner Decke angekommen. Rings um Hund und Herrchen sind zwei
Rucksäcke verteilt, einige Plastiktüten und eine Schale für die Münzen. Das
Alter des Mannes ist schwer einzuschätzen, ich denke er wird so Mitte 50 sein.
„Nun danket alle Gott“ – es gibt eine Stelle in diesem Lied, bei der ich
regelmäßig die Zähne zusammenbeißen muss: „…der uns von Mutterleib und
Kindesbeinen an, unzählig viel zu gut, bis hierher hat getan“. Oft denke ich
dann, wie viele Stellen gibt es, an denen Menschen sitzen, an denen sie
eigentlich gar nicht sitzen möchten. Ich möchte nicht auf dieser Decke in der
Fußgängerzone sitzen.
„Hast du etwas Kleingeld für mich?“, tönt es mir entgegen. Der Mann hat wohl
mitbekommen, dass ich innerlich irgendwie mit ihm auf Sendung war. Ich
krame ein paar Münzen heraus und lege sie ihm in die Hand. Dann fange ich
an zu grinsen, „wie kommen Sie denn gerade auf dieses Lied?“, frage ich ihn.
„Weil mir kein besseres eingefallen ist!“, lautet seine Antwort. Wir wechseln
noch ein paar Worte, schließlich trennen sich unsere Wege wieder. Am Ende
der Fußgängerzone muss ich ein wenig über mich selbst lachen. Erst jetzt
merke ich, was ich nun plötzlich pfeife… „nun danket alle Gott“. Ein kurzer
Gottesdienst, mitten in der Fußgängerzone.
Mittwoch, 4.1.2017: „Zwiebelröschtbraten“
Neunzehn Uhr! Jetzt wäre der Moment, an dem ich eigentlich auf dem
Flughafen in Mumbai landen sollte. Stattdessen sitze ich nun in einem völlig
fremden Wohnzimmer in Stuttgart-Plieningen. Mit einer Gruppe von zwanzig
Diakonen hatte ich mich am frühen Morgen auf den Weg gemacht, um in der
indischen Hafenstadt ein Hilfsprojekt kennenzulernen. Dann der Schreck beim
Einchecken, die Fluggesellschaft weigerte sich mich mitzunehmen! Mein
Visum war falsch ausgestellt worden. Die übrigen neunzehn machten sich auf
den Weg, für mich endete die Reise schon vor dem Abflug in Stuttgart.
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Meine Laune ist unterirdisch – gefühlt bin ich gerade der einsamste Mensch
auf der Welt. Auf der Suche nach etwas Essbaren durchstreife ich nun die
Gegend um mein Hotel. Ein paar Straßen weiter stoße ich auf eine
„Besenwirtschaft“. Eine Winzerfamilie hat für zwei Monate ihr heimisches
Wohnzimmer ausgeräumt und in diesem nun einen Restaurantbetrieb eröffnet,
ihre Haustür steht weit offen.
Fünf Minuten nach meinem zögerlichen Eintreten hat mir der Winzer einen
Stuhl an einen großen Tisch mit heran gestellt, obwohl eigentlich schon alles
besetzt ist. Mit gut fünfzig wildfremden Menschen sitze ich nun in einem mir
wildfremden Wohnzimmer. Meine Tischgenossen sind zwei Pärchen aus der
Nachbarschaft, zwei Obstbauern und zwei junge Familien, deren Kinder bei
Apfelküchlein in Vanillesauce immer wieder aufstehen und spielen. „Nehmen
sie den Zwiebelröschtbraten, der ist hier wunderbar“, raunt mir einer der
Obstbauern zu meiner Rechten zu. „Wo kommst du denn her?“, fragt mich
einer aus der Gruppe zu meiner Linken.
Brot, Weißwein, Käse und natürlich dem empfohlenen Röstbraten bringt das
Winzerehepaar in Windeseile. Mit jedem Schluck und jedem Bissen und
jedem Gespräch hebt sich meine Stimmung – nicht nur wegen des köstlichen
Weines.
Am Ende des Abends bin ich noch immer traurig, aber ich habe eine wichtige
Erfahrung gemacht, nämlich wie wichtig und tragend eine Tischgemeinschaft
sein kann. Das Teilen von Brot und Wein, Tisch und Stuhl. Auch wenn es nur
für ein paar Stunden war.
Donnerstag, 5.1.2017: „Apfel“-Eucharistie
Überall auf dem Rasen und neben der Friedhofseinfahrt liegen sie, dicht an
dicht. Eigentlich würde man hier gar keine Äpfel vermuten, aber man sieht sie
nicht nur, man riecht sie auch, den süßlichen Duft des überreifen Fallobstes.
In meinen Gedanken versuche ich schon ein paar Minuten weiter in die
Zukunft zu blicken: Wer wird mich bei der Urnenbeisetzung wohl erwarten?
Viele werden es nicht sein, aber Benny und sein Vater, die sind auf alle Fälle
da.
Das Schicksal hatte uns drei vor ein paar Tagen das erste Mal
zusammengeführt. Die Klinik konnte die diensthabenden Kollegen aus der
Krankenhausseelsorge nicht erreichen und irgendwann hatte dann die
Intensivstation mich an der Leitung, obwohl ich schon auf Wochenende
eingestellt war. Ziemlich entnervt machte ich mich auf den Weg.
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Die beiden begegneten mir im Warteraum der Intensivstation. Gerade erst war
Chaos und Schrecken in ihre kleine Welt zu dritt hinein gebrochen. Der Mutter
ging es schlecht, der Notarzt musste kommen, aber auch die lange
Reanimation konnte nichts mehr an der Katastrophe ändern, sie war tot – mit
knapp 60 Jahren.
Gemeinsam saßen wir am Totenbett. Der Vater selbst kaum in der Lage,
Benny zu trösten. Der sagte nicht viel nur ein, „Ja…“, „Ja“, „Ja“ kam ihm von
Zeit zu Zeit leise über die Lippen. Schließlich durchbrach er die Stille,
streichelte die Hand seiner Mutter und sagte: „Danke Mama“. „Danke Mama“,
das sagte er auch jetzt auch am Grab immer wieder. „Danke Mama“.
Mittlerweile weiß ich, dass der junge, erwachsene Benny kaum spricht. Seit
seiner Geburt ist er geistig behindert und braucht Begleitung. Während der
Trauerfeier legt er immer wieder seinen Kopf an meine Schulter und macht
deutlich, dass er ein wenig Trost braucht. Auf den meisten Beerdigungen
mache ich das nur mit Worten und Zeichen, hier wird es plötzlich ganz
greifbar, aber nicht übergriffig.
Als wir wieder am Auto angekommen sind, nehme ich mir einen der Äpfel vom
Boden, säubere ihn und beiße hinein, Benny macht es mir nach. „Danke“ sagt
er beim Abschied zu mir – sonst nichts.
„Danke sagen“, nichts anderes bedeutet das Wort Eucharistie. Benny hat sein
großes „Danke“ gesprochen, auf seine ganz besondere Weise. Ein
Dankesmahl, mal nicht mit Brot und Wein, sondern mit Fallobst.
Freitag, 6.1.2017: „Ich habe euch gar nicht erwartet“
„Glohohohohohoooria, in excelsis deheehoooo!“, die letzten Töne der
Sternsinger verhallen auf dem langen Flur im Altenheim. Wie in jedem Jahr
stehen wir vor dem Zimmer von Frau Lohmöller. Man merkt es ihr an: Sie ist
hin- und hergerissen. Einerseits freut sich über Lied und Vortrag der munteren
Kinderschar, aber irgendetwas scheint ihr unangenehm zu sein. Und wie in
jedem Jahr sagt sie dann: „Das war schön, aber ich habe euch gar nicht
erwartet. Jetzt habe ich gar nichts für euch!“
Natürlich freuen sich die Kinder, wenn die eine oder andere Münze in ihrer
Spendendose klimpert, und genauso freuen sie sich auch über die eine oder
andere Tafel Schokolade, die dabei für sie abfällt. Aber hier in diesem Haus ist
das nicht so wichtig.
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„Ich habe euch gar nicht erwartet“, das hören sie oft hier im Altenheim. Einige
der Bewohnerinnen und Bewohner können mit der Ankündigung im Hausblatt
und im Fahrstuhl nicht mehr viel anfangen, für manche ist es schon eine
Herausforderung, den Weg zu ihrem eigenen Zimmer zurückzufinden. Aber
egal an welcher Tür die Sternsingerinnen und Sternsinger auch klopfen,
erkannt werden sie immer.
„Ach Frau Lohmöller das macht doch nichts“, sage ich zu ihr. „Wir singen auch
gratis für sie, und dazu bekommen sie auch noch Gottes Segen für das neue
Jahr und der ist sowieso unbezahlbar“.
Fein säuberlich wird dieser nun an den Türrahmen geklebt. Keines der Kinder
muss sich dafür besonders in die Höhe recken, denn die Reihe der Aufkleber
ist im Laufe der Jahre so lang geworden, dass auch die jüngeren Sternsinger
sicher heranreichen. Nein, Frau Lohmöller hat die Kinder nicht erwartet - dass
stimmt, aber sie hat auf die Kinder gewartet und das merken sie
„Aber einmal singen wir noch gemeinsam – oder?“, „Klar Frau Lohmüller…
Menschen ohne Haus und Habe, atmen plötzlich wieder auf…“
Samstag, 7.1.2017: Mit ganzem Herzen
Sonntagnachmittag, der graue vernieselte Tag ist eine günstige Gelegenheit.
Gemeinsam mit unserer jüngsten Tochter nutze ich die Chance, um mal
wieder ins Kino zu gehen. Die neuen Abenteuer des kleinen Anemonenfisches
und seiner blauen Freundin Dorrie standen schon lange auf unserer „To-DoListe“. Der Film macht uns beiden Spaß. Zusammen fiebern wir mit den
beiden auf ihrer Suche nach Dorries Eltern. Wir lachen gemeinsam und fragen
uns, was wohl als Nächstes passiert. Am Ende wird es noch einmal richtig
spannend, aber nach einer überraschenden Wendung wird die Fischfamilie
dann doch wieder zusammengeführt. Neben mir sitzt ein kleines Mädchen mit
ihren Eltern. Man merkt ihr das Vergnügen an, aber nun ist sie nicht mehr zu
halten. Sie springt auf, jubelt laut und weint gleichzeitig ebenso laut vor
Freude. Ich bin ein wenig irritiert – so viele Emotionen für einen kleinen blauen
Fisch.
Der Film ist schon längst vorbei, aber das Mädchen geht mir nicht mehr aus
dem Kopf. Ich erinnere mich an meine Kindheit und daran, dass ich eigentlich
auch zur derartiger Begeisterung und Freude fähig bin – bei mir war es kein
Fisch, sondern Lassie. Wie sehr konnte ich mit diesem Hund mit fiebern,
machte mir Sorgen, wenn es ihr schlecht ging, und freute mich unbändig,
wenn sie sich unversehrt aus einer verzwickten Lage befreien konnte.
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Für eine gute Sache mit kindlichem Herzen ganz „Feuer und Flamme“ zu sein,
dass gelingt mir heute nur noch sehr selten. Oft bin ich den Dingen mit dem
Verstand näher als mit dem Herzen. Aber der Verstand alleine schafft noch
keine Leidenschaft.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele
und mit all deinen Gedanken. So heißt es im Alten und im Neuen Testament.
Auch wenn es nur um einen kleinen, computeranimierten Fisch ging: Ich
meine, das kleine Mädchen aus dem Kino war an dem „mit ganzem Herzen“
näher dran, als ich in so manchem Gottesdienst.
Uns Menschen ist die Gabe zu wunderbaren Gefühlen geschenkt worden.
Manchmal ist es ganz gut, wenn uns jemand zeigt, was auch in uns noch
schlummert.
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