Die Morgenandacht Montag bis Samstag, 5.55 Uhr (NDR Info) und 7.50 Uhr (NDR Kultur) 2.-7. Januar 2017 „Hätt´ ich dich heut erwartet…“ Von Diakon Carsten Lehmann, Krankenhausseelsorger in Osnabrück Gottesdienst gibt´s nicht nur in der Kirche. Er ereignet sich manchmal einfach mitten in der Fußgängerzone, beim Essen oder im Kino, meint Diakon Carsten Lehmann. Redaktion: Ruth Beerbom Katholische Kirche im NDR Redaktion Osnabrück Schillerstraße 15, 49074 Osnabrück Tel. 0541 - 318 656 www.radiokirche.de Der Autor Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung der Kath. Kirche im NDR zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. 1 Montag, 2.1.2017: Unterbrechung Das Klingen der Gläser konnte unseren guten Wünsche nicht übertönen: „Ein glückliches Neues Jahr“, riefen wir uns zu. Wie immer haben wir mit befreundeten Familien den Jahreswechsel gefeiert und diesmal durften wir die Gastgeber sein. Mit ein paar Knallfröschen, Silvesterraketen und Wunderkerzen machten wir uns auf den Weg ins Freie. Aber vor dem Zünden des Feuerwerks musste ich noch in die Sakristei, um die Kirchenglocken anzuschalten. Da standen wir also vor der Kirche, die Sektgläser noch in der Hand, und langsam drangen die ersten vollen Töne zu uns hinunter - bis sich alle Glocken zum vollen Geläut aufgeschwungen hatten. Rund um uns begann das Feuerwerk, aber wir standen noch immer regungslos im Kreis. Schließlich durchbrach einer unserer Freunde die Sprachlosigkeit und sagte: „Mann ist das schön.“ Und ein zweiter erwiderte: „Ja, das ist wirklich schön!“. Seit Jahren feiern wir Silvester immer auf die gleiche Weise, mit den immer gleichen Ritualen und Traditionen, aber in diesem Jahr war es für einen Moment anders. Der übliche Ablauf wurde durch das Glockengeläut unterbrochen. Von dem bekannten Theologen Johann Baptist Metz ist die kürzeste Definition des Begriffes Religion überliefert, nämlich „Unterbrechung“. Unterbrechungen können einen aus dem Alltagstrott herausholen, sie können stören oder auch den Alltag strukturieren. Unterbrechungen können lästig sein oder auch eine willkommene Ablenkung. Ich will die kleine Begebenheit in dieser Silvesternacht nicht überstrapazieren, aber für einen kurzen Moment wurde uns bewusst, was immer dieses neue Jahr für uns auch bringen mag: In all unserem Tun werden wir von jemanden begleitet, der sich vor allem in der Unterbrechung zeigt. Dann, wenn man ihn am wenigsten erwartet. Die Glocken in der Silvesternacht waren mehr als Folklore oder schönes Ambiente, sie waren ein kurzer Gottesdienst. Dienstag, 3.1.2017: Nun danket alle Gott Irgendetwas irritiert mich. Ich weiß zunächst nicht genau, was es ist, aber ich merke, es gehört einfach nicht hierhin. Hier, das ist mitten in der Fußgängerzone an einem normalen Werktag. Schließlich finden Hörnerv und 2 Verstand zueinander und ich erkenne, was es ist: Da pfeift jemand den Choral „Nun danket alle Gott“. Jetzt ist es klar und deutlich zu hören, überrascht taxiere ich die Menschen, wer könnte es wohl pfeifen? Es muss doch gelingen die Quelle auszumachen - und dann sehe ich sie. Vor einem Mülleimer sitzt ein Wohnungsloser auf Durchreise, mit einem Hund. Gerade ist er damit beschäftigt, seine Habseligkeiten zu sortieren und ich merke, dieses Lied pfeift er nicht, um mit einem Kirchenlied den einen oder anderen Euro mehr zu erbetteln, sondern weil er einfach gerade ein Lied pfeifen möchte. Mittlerweise bin ich fast an seiner Decke angekommen. Rings um Hund und Herrchen sind zwei Rucksäcke verteilt, einige Plastiktüten und eine Schale für die Münzen. Das Alter des Mannes ist schwer einzuschätzen, ich denke er wird so Mitte 50 sein. „Nun danket alle Gott“ – es gibt eine Stelle in diesem Lied, bei der ich regelmäßig die Zähne zusammenbeißen muss: „…der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an, unzählig viel zu gut, bis hierher hat getan“. Oft denke ich dann, wie viele Stellen gibt es, an denen Menschen sitzen, an denen sie eigentlich gar nicht sitzen möchten. Ich möchte nicht auf dieser Decke in der Fußgängerzone sitzen. „Hast du etwas Kleingeld für mich?“, tönt es mir entgegen. Der Mann hat wohl mitbekommen, dass ich innerlich irgendwie mit ihm auf Sendung war. Ich krame ein paar Münzen heraus und lege sie ihm in die Hand. Dann fange ich an zu grinsen, „wie kommen Sie denn gerade auf dieses Lied?“, frage ich ihn. „Weil mir kein besseres eingefallen ist!“, lautet seine Antwort. Wir wechseln noch ein paar Worte, schließlich trennen sich unsere Wege wieder. Am Ende der Fußgängerzone muss ich ein wenig über mich selbst lachen. Erst jetzt merke ich, was ich nun plötzlich pfeife… „nun danket alle Gott“. Ein kurzer Gottesdienst, mitten in der Fußgängerzone. Mittwoch, 4.1.2017: „Zwiebelröschtbraten“ Neunzehn Uhr! Jetzt wäre der Moment, an dem ich eigentlich auf dem Flughafen in Mumbai landen sollte. Stattdessen sitze ich nun in einem völlig fremden Wohnzimmer in Stuttgart-Plieningen. Mit einer Gruppe von zwanzig Diakonen hatte ich mich am frühen Morgen auf den Weg gemacht, um in der indischen Hafenstadt ein Hilfsprojekt kennenzulernen. Dann der Schreck beim Einchecken, die Fluggesellschaft weigerte sich mich mitzunehmen! Mein Visum war falsch ausgestellt worden. Die übrigen neunzehn machten sich auf den Weg, für mich endete die Reise schon vor dem Abflug in Stuttgart. 3 Meine Laune ist unterirdisch – gefühlt bin ich gerade der einsamste Mensch auf der Welt. Auf der Suche nach etwas Essbaren durchstreife ich nun die Gegend um mein Hotel. Ein paar Straßen weiter stoße ich auf eine „Besenwirtschaft“. Eine Winzerfamilie hat für zwei Monate ihr heimisches Wohnzimmer ausgeräumt und in diesem nun einen Restaurantbetrieb eröffnet, ihre Haustür steht weit offen. Fünf Minuten nach meinem zögerlichen Eintreten hat mir der Winzer einen Stuhl an einen großen Tisch mit heran gestellt, obwohl eigentlich schon alles besetzt ist. Mit gut fünfzig wildfremden Menschen sitze ich nun in einem mir wildfremden Wohnzimmer. Meine Tischgenossen sind zwei Pärchen aus der Nachbarschaft, zwei Obstbauern und zwei junge Familien, deren Kinder bei Apfelküchlein in Vanillesauce immer wieder aufstehen und spielen. „Nehmen sie den Zwiebelröschtbraten, der ist hier wunderbar“, raunt mir einer der Obstbauern zu meiner Rechten zu. „Wo kommst du denn her?“, fragt mich einer aus der Gruppe zu meiner Linken. Brot, Weißwein, Käse und natürlich dem empfohlenen Röstbraten bringt das Winzerehepaar in Windeseile. Mit jedem Schluck und jedem Bissen und jedem Gespräch hebt sich meine Stimmung – nicht nur wegen des köstlichen Weines. Am Ende des Abends bin ich noch immer traurig, aber ich habe eine wichtige Erfahrung gemacht, nämlich wie wichtig und tragend eine Tischgemeinschaft sein kann. Das Teilen von Brot und Wein, Tisch und Stuhl. Auch wenn es nur für ein paar Stunden war. Donnerstag, 5.1.2017: „Apfel“-Eucharistie Überall auf dem Rasen und neben der Friedhofseinfahrt liegen sie, dicht an dicht. Eigentlich würde man hier gar keine Äpfel vermuten, aber man sieht sie nicht nur, man riecht sie auch, den süßlichen Duft des überreifen Fallobstes. In meinen Gedanken versuche ich schon ein paar Minuten weiter in die Zukunft zu blicken: Wer wird mich bei der Urnenbeisetzung wohl erwarten? Viele werden es nicht sein, aber Benny und sein Vater, die sind auf alle Fälle da. Das Schicksal hatte uns drei vor ein paar Tagen das erste Mal zusammengeführt. Die Klinik konnte die diensthabenden Kollegen aus der Krankenhausseelsorge nicht erreichen und irgendwann hatte dann die Intensivstation mich an der Leitung, obwohl ich schon auf Wochenende eingestellt war. Ziemlich entnervt machte ich mich auf den Weg. 4 Die beiden begegneten mir im Warteraum der Intensivstation. Gerade erst war Chaos und Schrecken in ihre kleine Welt zu dritt hinein gebrochen. Der Mutter ging es schlecht, der Notarzt musste kommen, aber auch die lange Reanimation konnte nichts mehr an der Katastrophe ändern, sie war tot – mit knapp 60 Jahren. Gemeinsam saßen wir am Totenbett. Der Vater selbst kaum in der Lage, Benny zu trösten. Der sagte nicht viel nur ein, „Ja…“, „Ja“, „Ja“ kam ihm von Zeit zu Zeit leise über die Lippen. Schließlich durchbrach er die Stille, streichelte die Hand seiner Mutter und sagte: „Danke Mama“. „Danke Mama“, das sagte er auch jetzt auch am Grab immer wieder. „Danke Mama“. Mittlerweile weiß ich, dass der junge, erwachsene Benny kaum spricht. Seit seiner Geburt ist er geistig behindert und braucht Begleitung. Während der Trauerfeier legt er immer wieder seinen Kopf an meine Schulter und macht deutlich, dass er ein wenig Trost braucht. Auf den meisten Beerdigungen mache ich das nur mit Worten und Zeichen, hier wird es plötzlich ganz greifbar, aber nicht übergriffig. Als wir wieder am Auto angekommen sind, nehme ich mir einen der Äpfel vom Boden, säubere ihn und beiße hinein, Benny macht es mir nach. „Danke“ sagt er beim Abschied zu mir – sonst nichts. „Danke sagen“, nichts anderes bedeutet das Wort Eucharistie. Benny hat sein großes „Danke“ gesprochen, auf seine ganz besondere Weise. Ein Dankesmahl, mal nicht mit Brot und Wein, sondern mit Fallobst. Freitag, 6.1.2017: „Ich habe euch gar nicht erwartet“ „Glohohohohohoooria, in excelsis deheehoooo!“, die letzten Töne der Sternsinger verhallen auf dem langen Flur im Altenheim. Wie in jedem Jahr stehen wir vor dem Zimmer von Frau Lohmöller. Man merkt es ihr an: Sie ist hin- und hergerissen. Einerseits freut sich über Lied und Vortrag der munteren Kinderschar, aber irgendetwas scheint ihr unangenehm zu sein. Und wie in jedem Jahr sagt sie dann: „Das war schön, aber ich habe euch gar nicht erwartet. Jetzt habe ich gar nichts für euch!“ Natürlich freuen sich die Kinder, wenn die eine oder andere Münze in ihrer Spendendose klimpert, und genauso freuen sie sich auch über die eine oder andere Tafel Schokolade, die dabei für sie abfällt. Aber hier in diesem Haus ist das nicht so wichtig. 5 „Ich habe euch gar nicht erwartet“, das hören sie oft hier im Altenheim. Einige der Bewohnerinnen und Bewohner können mit der Ankündigung im Hausblatt und im Fahrstuhl nicht mehr viel anfangen, für manche ist es schon eine Herausforderung, den Weg zu ihrem eigenen Zimmer zurückzufinden. Aber egal an welcher Tür die Sternsingerinnen und Sternsinger auch klopfen, erkannt werden sie immer. „Ach Frau Lohmöller das macht doch nichts“, sage ich zu ihr. „Wir singen auch gratis für sie, und dazu bekommen sie auch noch Gottes Segen für das neue Jahr und der ist sowieso unbezahlbar“. Fein säuberlich wird dieser nun an den Türrahmen geklebt. Keines der Kinder muss sich dafür besonders in die Höhe recken, denn die Reihe der Aufkleber ist im Laufe der Jahre so lang geworden, dass auch die jüngeren Sternsinger sicher heranreichen. Nein, Frau Lohmöller hat die Kinder nicht erwartet - dass stimmt, aber sie hat auf die Kinder gewartet und das merken sie „Aber einmal singen wir noch gemeinsam – oder?“, „Klar Frau Lohmüller… Menschen ohne Haus und Habe, atmen plötzlich wieder auf…“ Samstag, 7.1.2017: Mit ganzem Herzen Sonntagnachmittag, der graue vernieselte Tag ist eine günstige Gelegenheit. Gemeinsam mit unserer jüngsten Tochter nutze ich die Chance, um mal wieder ins Kino zu gehen. Die neuen Abenteuer des kleinen Anemonenfisches und seiner blauen Freundin Dorrie standen schon lange auf unserer „To-DoListe“. Der Film macht uns beiden Spaß. Zusammen fiebern wir mit den beiden auf ihrer Suche nach Dorries Eltern. Wir lachen gemeinsam und fragen uns, was wohl als Nächstes passiert. Am Ende wird es noch einmal richtig spannend, aber nach einer überraschenden Wendung wird die Fischfamilie dann doch wieder zusammengeführt. Neben mir sitzt ein kleines Mädchen mit ihren Eltern. Man merkt ihr das Vergnügen an, aber nun ist sie nicht mehr zu halten. Sie springt auf, jubelt laut und weint gleichzeitig ebenso laut vor Freude. Ich bin ein wenig irritiert – so viele Emotionen für einen kleinen blauen Fisch. Der Film ist schon längst vorbei, aber das Mädchen geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich erinnere mich an meine Kindheit und daran, dass ich eigentlich auch zur derartiger Begeisterung und Freude fähig bin – bei mir war es kein Fisch, sondern Lassie. Wie sehr konnte ich mit diesem Hund mit fiebern, machte mir Sorgen, wenn es ihr schlecht ging, und freute mich unbändig, wenn sie sich unversehrt aus einer verzwickten Lage befreien konnte. 6 Für eine gute Sache mit kindlichem Herzen ganz „Feuer und Flamme“ zu sein, dass gelingt mir heute nur noch sehr selten. Oft bin ich den Dingen mit dem Verstand näher als mit dem Herzen. Aber der Verstand alleine schafft noch keine Leidenschaft. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. So heißt es im Alten und im Neuen Testament. Auch wenn es nur um einen kleinen, computeranimierten Fisch ging: Ich meine, das kleine Mädchen aus dem Kino war an dem „mit ganzem Herzen“ näher dran, als ich in so manchem Gottesdienst. Uns Menschen ist die Gabe zu wunderbaren Gefühlen geschenkt worden. Manchmal ist es ganz gut, wenn uns jemand zeigt, was auch in uns noch schlummert. 7
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