Friedrich Christian Delius Warum Luther die Reformation versemmelt hat (24400 Z) NDR, Sendung Januar 2017) Lachen Sie mal wieder, Herr Luther, sagte ich zu der Gestalt auf dem Denkmal, lockern Sie einfach die Kiefermuskeln, versuchen Sie‘s, schütteln Sie ein bisschen Ernst aus Ihren Gesichtszügen, so unnahbar sind Sie doch gar nicht, lächeln Sie, ja, sehr schön, drehen Sie vorsichtig den Kopf, langsam, sehr gut. Auch als deutsche Geschichtsbuchfigur brauchen Sie doch mal eine Abwechslung, kommen Sie! Bewegen Sie die Stirnfalten, die Finger, Hände, die Arme, die Beine, offenbar funktionieren auch die Ohren und die Augen noch bestens, und jetzt steigen Sie bitte vorsichtig vom Sockel, warten Sie, ich helfe Ihnen, setzen Sie sich her zu mir. Ich will Ihnen was erzählen, Sie müssen nichts sagen, weder zu Ihrem Befinden noch zu Karl V. noch zur heutigen Weltlage, ich würde Sie nur gern etwas fragen, was Ihr Werk betrifft, ganz kurz, keine halbe Stunde. Brauchen Sie was zu trinken, zum Wachwerden, fragte ich, damit das Gehirn wieder anspringt nach so langem Denkmalschlaf, nach dem ewigen Dämmern im kalten Bronzekopf? Ich rate zu einem Bier, einem guten Humpen Bier. Denn alles, wirklich alles hat sich verändert seit Ihrer Lebenszeit, seit fünfhundert Jahren, der Mensch, die Kirche, die Geschichte, die Moral, die Bräuche, alles, nur das Bier nicht. Also ein Bier, ordentlich gezapft, das dauert einen Moment. 1 Sie lächeln, Sie hören mir zu, skeptisch, mit Recht, in diesem Jahr werden Sie von allen Seiten mit Phrasen bombardiert, mit Reden zugeschüttet, mit Feiern umheiligt, aber Sie müssen sich keine Sorge machen, ich bin keiner der hunderttausend Lutheranbeter und Lobredner, die derzeit an allen Lutherorten und in allen Lutherstädten, vor Lutherdenkmälern und Luthereichen mit mehr oder weniger frommen, biederen, sanftprotestantischen Sätzen sich über Sie und Ihre Taten und Ihre Aktualität auslassen und brüchige Brücken schlagen von 1517 bis 2017. Ich bin auch keiner der vielen Lutherspezialisten, die mit immer dickeren Büchern immer dünnere, angeblich neue Details aus Ihrem Leben und Wirken zum Besten geben, ohne auch nur einen Funken Ihrer Sprachkraft, Sprachwut oder Sprachlust zu haben. Nein, Sie werden von mir nicht zum tausendsten Mal gewürdigt als wichtigster Reformator aller Zeiten, als Papstgegner, mutiger Rebell, tüchtiger Ketzer, als trefflicher Übersetzer und Begründer des evangelischen Glaubens, sogar als ungewollter Retter des Katholizismus, alles richtig, in Ordnung, aber schon tausendmal gesagt und hunderttausendmal wiederholt. Keine Sorge, fuhr ich fort, ich werde Ihnen auch nicht mit dem Gegenteil kommen und statt der Lutherlobrednerei die allbekannten Lutherverdammungsurteile auspacken, ich werde Ihnen nicht vorhalten, wie stur und gnadenlos Sie gegenüber Ihren Mitreformatoren gewesen sind, wie verbrecherisch gegenüber den Bauern, wie widerlich gegenüber den Juden, wie herrisch gegenüber den Frauen, wie opportunistisch gegenüber den Fürsten. Alles richtig, an diesen Ihren schwersten Vergehen gibt es nichts zu beschönigen, das ist mit Recht schon 2 zehntausendmal vorgebracht worden, darüber muss ich nicht auch noch urteilen. Prosit, sagte ich, so viel Latein kann ich noch, wohl bekomme Ihnen das Bier, und als er das Glas selig lächelnd wieder abstellte und mit seinem Blick mich aufforderte, allmählich mein Anliegen vorzutragen, fuhr ich fort: Nun hab ich mich lange genug eingeschmeichelt bei Ihnen, jetzt kann ich anfangen, keine Sorge, ich will nichts von Ihnen, der Grund, Sie vom Sockel zu locken, ist nur eine Frage, die leise, die vorsichtige, die sehr diskrete Frage, ob Sie ahnen, welcher der größte Fehler Ihres Lebens, oder, um in Ihrer Sprache zu sprechen, die größte Sünde Ihres Lebens gewesen sein könnte. Nein, ich bin nicht Ihr Beichtvater, habe keinen theologischen Rang, aber Sie können sich ruhig einem neutralen Mann, einem protestantisch gebildeten Ketzer anvertrauen. Da wir nun einmal, wie es der Zufall oder meine Absicht so will, beisammen sitzen, sollten wir die Gelegenheit eines Gesprächs nutzen, sagte ich. Sie wollen nicht rausrücken mit der Sprache, nutzen Sie Ihre Chance, lockte ich ihn, endlich mal was Neues zu Luther und dann noch von Luther persönlich, provozierte ich, bis mir dämmerte, welche Spielregel er für seinen Auftritt gelten lassen wollte. Aha, sagte ich, ich sehe, Sie möchten ein Tischgespräch führen auf Luthersche Art, einer redet, und die anderen hören zu und schreiben mit, und Sie als kluger Mann ziehen es im Jahr 2017 vor zu schweigen, nun, dann rede jetzt erst einmal ich, Sie hören zu, und ich schreib nachher alles auf, falls Sie einverstanden sind. 3 Ihre größte Sünde, um es mal zuzuspitzen, sagte ich, ist meiner Ansicht nach, dass Sie sich immer als Sünder und alle Menschen grundsätzlich als Sünder gesehen und den Begriff der Sünde und Erbsünde nie infrage gestellt und deswegen Ihre ganze schöne Reformation versemmelt haben, wie man sagen müsste, wenn man dem Volk aufs Maul schaut heutzutage, meinetwegen auch vergeigt, verkorkst. Sie sind, wie es scheint, immer ein kreuzbraver Augustiner geblieben, einmal verführt von der ungewöhnlichen Offenheit und subjektiven Ehrlichkeit der „Bekenntnisse“ und von den Verlockungen des „Gottesstaates“ sind Sie ein unkritischer Nachbeter des Augustinus und seiner ganzen Unterwerfungstheologie geworden. Bis hin zur irrwitzigsten seiner Theorien, die Erfindung der Erbsünde, haben Sie alles mitgemacht. Auch die haben Sie geschluckt, ja verschärft, weil sie Ihnen offenbar unverzichtbar war und gebraucht wurde als Baustein für Ihre Rechtfertigungs- und Gnadentheorie. Auch Sie haben sich wie viele Theologen gern in Sündengefühlen und Sündenbegriffen gesuhlt und genüsslich die Abscheu vor Teufel und Hölle ausgemalt. Echte, also kritische Protestanten könnten Ihnen mit Recht vorhalten, mit Ihrer unkritischen Haltung zu Augustinus und seiner Erbsünde auf halbem Weg des Reformierens stehengeblieben zu sein. Also, wundern Sie sich nicht, wenn man Ihnen morgen die Nachricht bringt, an der Schlosskirche in Wittenberg sei eine 96. These zu lesen: weil Luther von seinem Augustinus nicht loskam, hat er die Reformation vergeigt. Entschuldigung, ich frage ja nur, ein bisschen Provokation macht einem Kerl wie Ihnen doch nichts aus. Nehmen Sie noch einen Schluck, bevor ich Ihnen weiter 4 den schönen Nachmittag, den kleinen Urlaub vom öden Denkmalsdasein mit solchen komplexen und doch so simplen Streitfragen und mit solchen zum Widerspruch reizenden Vorwürfen versüße. Es ist gut, dass wenigstens Sie den Widerspruch lieben im Gegensatz zu den heutigen Theologen, die sich gern vor der Frage drücken, was denn nun nach welchen von wem bestimmten Maßstäben Sünde sei und was nicht. Und die sich noch mehr hüten, das wacklige, morsch gewordene Fundament der Erbsünde auch nur anzurühren, auf dem das kirchlich vorgegebene Christentum gebaut ist, ob katholisch oder evangelisch. Katholiken lassen auf ihren heiligen Augustinus, der uns die Erbsünde eingebrockt hat, nichts kommen und Protestanten auch nicht, weil Sie, Herr Luther, so ein verdammt treuer Augustiner geblieben sind, sagte ich. So geistert diese angeblich seit Adam und Eva gültige Ursünde als größtes christliches Tabu durch die Köpfe. Nur wenige trauen sich, die Fakten bei der Erfindung und der staatlich-päpstlichen Durchsetzung der sogenannten Erbsünde genauer zu betrachten. Und zur Kenntnis zu nehmen, wie der ehrenwerte Kirchenvater nicht nur genial geschummelt, sondern seine Theorie mit Betrug und Bestechung durchgepaukt hat, bis seine Irrlehre zum Dogma und alle anderen Lehren zu diesem Thema zu Irrlehren erklärt wurden. Sie lachen, Herr Luther, das freut mich, aber die besten Witze kommen ja noch. Wenn der berühmte Kirchenvater philologisch sauber gearbeitet hätte und wenn er ein redlicher Mann gewesen wäre, hätte das christliche Abendland vom Jahr 418 an einen ziemlich anderen Verlauf genommen, so völlig anders, die Seelen, die Menschen, die Konflikte, die Geschichte, dass sich das niemand 5 ausmalen kann. Sie zucken, sagte ich, wollen Sie es wirklich genauer wissen, dass da einer mit Ihnen am Tisch beim Bier sitzt, der behauptet, Sie, der bedeutendste Reformator weit und breit, könnten auf ein geniales Schlitzohr, den Bischof von Hippo hereingefallen sein? Ihr großes Vorbild, Ihr Herr und Meister Augustinus hat ja stets den Eindruck erweckt, der größte Grübler, gewissenhafteste Bibelkenner und Gottes bescheidenster größter Diener zu sein, darüber wollen wir nicht richten und keines seiner Verdienste schmälern. Aber bei seinem zentralen Thema Sünde hat er es sich verdammt einfach gemacht. Er beruft sich auf den fünften Römerbrief, zitiert aber nicht, obwohl er das könnte, nach dem griechischen Original des Paulus, sondern nach der schlampigen lateinischen Übersetzung, die er dann noch falsch deutet. Bei Ihnen, Herr Luther, heißt der Vers, auf den er sich stützt, Vers 12, Sie kennen ihn, „Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben“. Zuhörer heute verstehen solchen Satz kaum mehr, selbst wenn sie ihn dreimal hören. Aber Sie als erfahrener Exeget sehen sofort, was Augustinus daraus gemacht hat: Anders als alle Bibeldeuter vor ihm, bezieht er den zweiten Halbsatz fälschlicherweise auf Adam. Statt „eph ho = weil“ nimmt er die strittige Übersetzung „in quo = in ihm“, Sie erinnern sich vielleicht. Schon kann er mit der Behauptung auftrumpfen, dass alle Menschen in Adam gesündigt hätten und deshalb jedermann, jedefrau vom 6 Moment der Zeugung an aus eigener Kraft nie und nimmer seiner Sündhaftigkeit entkommen könne. Ob der Kirchenvater mit Absicht oder aus Unkenntnis seinen Paulus falsch gelesen hat, steht dahin, er wollte und brauchte jedenfalls diese eigenwillige Deutung. Die ganze Theorie der Erbsünde fußt auf einem falsch verstandenen Nebensatz, der zudem den Vorteil hat, dass die Frauen an allem schuld sind, weil sie alle miteinander Adam verführt haben. Experten könnten Ihnen das auf Wunsch noch genauer aufdröseln und auch erzählen, was uns Zeitgenossen besonders interessiert, mit welcher Wollust der ehemalige Hurenbock als alter Kirchenvater die Sexualität, jede sexuelle Regung, den Makel der Libido, sowie quasi jeden einzelnen Samenfaden verteufelt hat. Aber das soll uns jetzt nicht weiter beschäftigen. Mich beschäftigt eher die Frage, ob man Ihnen, Herr Luther, vorwerfen kann, solche Fehldeutung oder Fälschung nicht bemerkt oder überprüft zu haben, ob Sie hätten wissen können, was die Fachleute für die Erfindung des Erbsündendogmas in den letzten Jahrzehnten ans Licht gebracht haben aus den Quellen, aus denen Sie auch hätten schöpfen können, die Sie in der Bibliothek Ihrer Universität hatten. Aber jeder wird verstehen, dass Sie neben Ihrer Arbeit als Übersetzer, Prediger, Autor, Lehrer, Briefschreiber, Streithammel und so weiter nicht auch noch ein gründlicher AugustinusPhilologe sein konnten. Aber hätten Sie nicht Ihren Freund Melanchthon bitten können, diesen zentralen Punkt Ihres reformatorischen Anliegens, diesen zentralen Punkt bei Augustinus einmal zu überprüfen? Oder hätte nicht 7 Melanchthon selbst ohne viel Mühe entdecken können, wie der Kirchenvater hier geschludert hat? Aber ich vermute mal, fuhr ich fort, Sie wollten das gar nicht. Sie haben sich selber viel zu oft seit Anfang als junger Mönch bis zum Ende mit Ihren eigenen Sünden oder angeblichen Sünden herumgequält, es ist ja der Satz überliefert, den Ihr augustinischer Beichtvater lange vor 1517 zu Ihnen gesagt haben soll: „Magister Martin, ich verstehe Euch nicht, Ihr klagt Euch der Sünde an und wisst doch keine Sünden aufzuzählen.“ Sie wollten den Sündensumpf, vermute ich, Sie brauchten ihn. Es hat auch Ihnen nicht gepasst, dass am Anfang des Christentums die moralische Autonomie des Menschen noch zur „frohen Botschaft“ gehört hat. Mit Augustinus war der Mensch nun für alle Zeiten zum „Sündenklumpen“ degradiert, verderbt, elend, schwach, unfähig zur Besserung. „Jeder, weil aus verdammter Wurzel entsprungen, ist von Adam her notwendig böse und fleischlich“, sagte Ihr großes Vorbild. Die frohe Botschaft als drohende Botschaft, irgendwie muss Ihnen das gefallen haben. Und nicht nur Ihnen. Denn wir fragen uns heute, warum wurde diese Vergewaltigung des Christentums hingenommen, warum konnte dieser gerissene Bischof aus Hippo sich durchsetzen und alle anderen, von seinem Kurs abweichenden Lehren als Irrlehren abqualifizieren? War er nicht eigentlich der sogenannte Ketzer und seine Lehre eine Irrlehre, die das Christentum auf den Kopf stellte und Gott zum allerhöchsten Zyniker und Sadisten machte, der eine Spezies ewiger Sünder geschaffen haben soll? Pervers, sagen wir heute, schwer zu begreifen, auch ich habe das lange nicht begriffen, aber dieser höhere Ratschluss ist nun keineswegs unerforschlich: 8 Weil Staat und Papst es so wollten, erklären uns die Historiker. Weil weltliche und geistliche Herrscher den unerschöpflichen Nutzen der Augustinischen Lehre erkannten. Noch ein Bier, ein garantiert sündenfreies Bier? Denn wenn nun jeder böse und sündig ist, wenn alle Menschen per se schlecht sind, dann braucht es eine allmächtige Kirche, um einigen wenigen die Gnade des Heils zu vermitteln, und einen allmächtigen christlichen Staat, der die Sünder niederzuhalten hat. Dann braucht es die absolute Herrschaft von Papst und Kaiser, Bischöfen und Fürsten. Dann ist jedes obrigkeitliche Regiment recht und unverzichtbar, und sei es die Tyrannei. Nur wegen der Erbsünde, kurz gesagt, konnte das Christentum Staatsreligion werden. Verzeihen Sie, Herr Luther, das geht Sie alles nichts mehr an, aber uns durchaus, und hier liegt schon der nächste Witz auf dem Tisch: die theologische Erfindung der Erbsünde hätte sich gar nicht durchsetzen können, wenn sie nicht der römische Kaiser befohlen hätte, der sie dem Papst befohlen hat, ja, so waren die Verhältnisse um das Jahr 418 herum. Natürlich hatten sich viele Bischöfe gegen den scharfen Hund aus Hippo gewehrt, vor allem ein gewisser Pelagius, der das traditionelle humanitäre Christentum vertrat und sich auf den frühen Augustinus berief. Das konnte der alte Besserwisser nun gar nicht vertragen und wollte Pelagius von einer Synode zum Ketzer verdammen lassen, aber der verteidigte sich und galt weiter als rechtgläubig. Doch Augustin gab keine Ruhe, rief seine nordafrikanischen Bischöfe zusammen, die stempelten den Gegner zum Ketzer 9 und drängten schließlich auch den Papst Innozenz I. zu dieser Ansicht. Was die Christen dreihundert Jahre geglaubt hatten, war plötzlich zur Irrlehre erklärt. Pelagius beschwerte sich, dass er nicht angehört worden sei, und schickte eine Verteidigungsschrift an den Papst, aber der starb, bevor sie ihn erreichte. Sein Nachfolger Zosimus prüfte diese Schrift, rehabilitierte Pelagius in allen Punkten, mahnte Augustinus und seine nordafrikanische Fraktion, die Sektiererei mit dem Erbsündenkrampf zu beenden, in Liebe zu handeln und den christlichen Frieden nicht zu stören und entketzerte diesen Pelagius also wieder. Darauf ein Bier, Prost auf die wilden Zeiten der Kirchengeschichte! Was hätten Sie nun getan an Augustinus Stelle? Dem Papst gehorchen? Sie nicht, Herr Luther, und Ihr Vorbild auch nicht! Der wandte sich nun an den Kaiser, obwohl der nicht bekannt dafür war, für schwierige theologische Finessen wie die Deutung von Römer 5 Vers 12 kompetent zu sein. Doch Augustinus war ein Freund der kaiserlichen Familie noch aus gemeinsamen Tagen am Hof in Mailand. Und zum zweiten schickte er seinen Freund und Bischofsbruder Alypius als Botschafter mit achtzig numidischen Zuchthengsten über das Mittelmeer an den Hof in Ravenna. Rassepferde, arabische Hengste, die weitere Hengste und Stuten zeugten, springendes Schmiergeld, sehr begehrt am Hof der ravennischen Krieger, erst acht Jahre zuvor hatten die Goten Rom überfallen, Ravenna blieb nur dank seiner Sümpfe verschont. Die prächtigen Pferde wirkten allemal besser als die prächtigsten Argumente, Kaiser Honorius tat, was Augustin wünschte, und erklärte Pelagius zum Störer der öffentlichen Ordnung und drängte den Papst, den Augustinus-Gegner 10 wieder zum Ketzer zu erklären, zur ewigen Verdammnis zu verurteilen, zu verbannen, seine Schriften zu verbrennen, das übliche Programm. Machen wir‘s kurz, die Hengste waren auch stärker als der klügste Mann aus der nächsten Bischofsgeneration. Dieser Julian von Eclanum zerpflückte die ErbsündenErfindung mit so abgewogenen, kräftigen Argumenten, dass Augustinus zwölf Jahre lang bis zu seinem Tod an sechs unvollendeten Büchern schrieb, um diesen Gegner zu widerlegen, und doch nicht damit fertig wurde. Aber der Lauf der Dinge war entschieden, Julian wurde abgesetzt, auch als Ketzer verbannt, seine Schriften verbrannt, die Erbsünde Gesetz und als Gnadenlehre verkauft. Nachdem er sich durchgesetzt hatte, verkündete Augustinus das nächste Dogma: Rom hat entschieden, Schluss der Debatte, Roma locuta, causa finita. Alle andersdenkenden Christen und milder gestimmten Gemeinden wurden als Feinde und Teufel aus der Kirche getrieben. Der Erbsünden-Sieger kannte kein schlechtes Sünden-Gewissen, in seinen Schriften verschwieg er auch die Hengst-Aktion nicht, die ihm Julian vorgeworfen hatte. Jahrhundertelang schien das niemanden zu stören, es gab ja auch kaum ein Konzil ohne Korruption, Intrigen und Erpressung, und bei einem Heiligen, der nebenbei auch noch der lauteste Antisemit und Befürworter des Heiligen Krieges und der Folter war, ist bekanntlich alles heilig. Achtzig Hengsten und dem Genie eines einzigen Kirchenvaters verdankt das christliche Abendland sein stärkstes Seelenfolterinstrument, die Erbsünde, sowie die Verdammung jeder Art Geschlechtslust und Lebensfreude. Das ist gewiss nicht Ihre Sicht, Herr 11 Luther, aber nehmen Sie es an diesem Tisch einfach mal zur Kenntnis, dass dieser Coup Folgen hatte für so gut wie jede Frau, jeden Mann, jedes Kind in den christlichen Ländern. Achtzig edle Gäule sorgen seit fast 1600 Jahren für ein finsteres Gottesbild, ein finsteres Menschenbild, ein finsteres Weltbild, auch das sehen Sie ein bisschen anders, ich weiß. Aber es lässt Sie doch auch nicht ganz kalt, dass ein Übersetzungsfehler und achtzig schuldlose schöne Pferde seit unendlich langer Zeit die gesamte Menschheit, jeden einzelnen homo sapiens zum schwerstschuldbeladenen Sündenklumpen gemacht haben, oder? Eine solche unbegreifliche Schuld- und Schuldenlast, dass nicht nur die einfachen Christen daran verzweifeln. Auch die klügsten Theologen wurden jahrhundertelang mit diesem Kuckucksei nicht froh, das der Alte der Kirche ins Nest gelegt hatte, bis die Katholiken die Formel fanden, mit der Taufe sei die Erbsünde getilgt, aber doch wieder nicht so ganz. Und denken Sie nur an die Quälerei, bis Sie, Herr Luther, für die Protestanten und die Rechtfertigungslehre die Formel fanden, allein durch den Glauben werde die Erbsünde gelöscht. Noch ein Bier? Gleich können Sie wieder auf Ihr Denkmal steigen, sich zurückziehen in die Bronze und lächeln über das alles, über das riesige Minenfeld der Sündentheologie. Ich frage mich jetzt, ob es Ihren alten Widerspruchsgeist nicht doch jucken könnte, ein wenig an der Autorität des alten Augustinus zu kratzen und das Kuckucksei als hohles Ei zu entlarven. Was halten Sie von der Idee, dass beim Punkt Erbsünde wirklich mal eine Reformation fällig wäre, eine Reformation für Fortgeschrittene? Oder sollen wir für die nächsten 12 fünfhundert Jahre ausschließen, dass Sie oder Ihre Anhänger kapieren, einen Grundfehler, wie ich sagen würde, eine Sünde, wie Sie sagen würden, eine Unterlassung, wie man objektiv sagen müsste, beim großen Reformationsprojekt begangen zu haben? Die Ausrede, Sie hätten nicht genug Zeit zum Lesen gehabt, ist eine schwache. Aber wenn Sie damals den Augustinus bis zum Ende gelesen hätten, alle sechs Bücher des „Opus imperfectum contra Iulianum“, dann wären Sie, vermute ich fast, selbst darauf gekommen, welch ein fieses Spiel der Alte hier durchgezogen hat, dann hätten Sie gewiss auch bei der Sündengrundsatzfrage gründlich reformiert, dann hätte es keine halbe, keine versemmelte Reformation gegeben. Ein Prost auf den Konjunktiv, verzeihen Sie meine Belästigung, nehmen Sie es als Kompliment, wenn ich sage, Sie werden noch gebraucht, oder eine wie Sie oder einer wie Sie. Die heutigen Kirchenmänner und Kirchenfrauen fassen das Thema Sünde nur mit spitzen Fingern an. Bei kriminellen Aktionen der Kirchengeschichte hören die meisten Gläubigen sowieso weg. So wird das alte Erbsündendogma zu einem doppelten Tabu. Bei Katholiken, die auf ihren heiligen Augustinus nichts kommen lassen, kann man das ja noch verstehen. Aber bei Protestanten? Können Sie Ihren Verehrern wenigstens in diesem Lutherjahr nicht etwas mehr Mut einhauchen, dies wacklige Dogma anzutasten? Und nicht zu kneifen vor dem höllischen Aufwand sowie den möglichen Konsequenzen, die ganze Sündentheorie neu durchdenken, revidieren, radikal reformieren zu müssen? Die Erbsünde in die Tonne zu treten, es sich bei der Frage der Böswerdung des Menschen nicht mehr so dämlich einfach zu 13 machen und Gut und Böse neu zu justieren? Zumal, anders als 418, die Zeiten der Staatsreligion vorbei sind? Bis jetzt schweigt man, aus Feigheit oder Faulheit oder Gewissheit, bläst die Posaunen für Luther und lässt die heikle Sündenkiste im tiefen, tiefen Keller der Geschichte. Selbst die Zunft der schreibenden Allgemeindenker, das muss ich Ihnen noch erzählen, hält sich, wenn solche Fakten auftauchen, an das Tabu. Diese braven Leute, die sonst auf Sensationen jeder Art aus sind, wollen offenbar nicht sehen, wie morsch dieser Grundpfeiler abendländischen Denkens oder wie ergiebig dieser größte Coup der Kirchengeschichte ist. Sie belohnen jedenfalls die wenigen Theologen, die etwas zur Erfindung der Erbsünde publizieren, nicht mit nennenswerter Aufmerksamkeit. Der mythische, von Augustin missbrauchte Apfelbiss, der die grausamsten Folgen für alle Europäer hatte und hat, wird in einem Land, wo sonst alles rauf und runter diskutiert wird, nicht diskutiert. Auch deswegen habe ich mir vorhin erlaubt, die Gelegenheit zu ergreifen, Sie, den gefeierten Reformator persönlich, in dieses Tischgespräch hineinzuziehen. Ich danke Ihnen, sagte ich, und wenn Ihnen meine Fragen und Gedanken nicht geschmeckt haben, das Bier hat Ihnen immerhin geschmeckt, wie man sieht. Und ich hoffe, es freut Sie, dass wenigstens einer Ihnen zutraut, aus der halben Reformation noch eine ganze zu machen. Da sehe ich noch eine Frage hinter Ihrer Stirn, richtig, sagte ich, verzeihen Sie, da ich die knappe Zeit nutzen wollte, bin ich noch nicht dazu gekommen, mich vorzustellen. Mein Name spielt keine Rolle, Herr Luther, 14 um mich geht es nicht, ich habe schon als Kind nicht verstanden, weshalb ich ein Sünder sein soll, nur weil ich geboren bin. Das bisschen Schummeln und Lügen als Schulkind, das bisschen Wichsen oder Beischlaf mit Nichtangetrauten oder Nochnichtangetrauten, das kann einen Jüngling doch nicht zum Sünder machen. Ach, da gehen Sie lieber, warten Sie, noch eine letzte Frage: Wenn es eine Sünde sein soll, ein „gestörtes Verhältnis zu Gott“ zu haben und nicht an ihn zu glauben, könnte das nicht auch der Fehler von Augustinus oder von Ihnen sein, ein Bau- oder Webfehler Ihrer christlichen Gotteskonstruktion? Verstehe, da stolpern Sie lieber auf Ihren Sockel zurück. Sei‘s drum, meine Zuversicht, rief ich dem Fliehenden noch nach, speist sich aus dem tröstlichen Satz von Georg Christoph Lichtenberg: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.“ 15
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