P. Wagner: Stadtplanung für die Welt? - H-Soz-u-Kult

P. Wagner: Stadtplanung für die Welt?
Wagner, Phillip: Stadtplanung für die Welt? Internationales Expertenwissen 1900–1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. ISBN:
978-3-525-37044-5; 400 S.
Rezensiert von: Dirk Thomaschke, Institut
für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Die Geschichte der Stadt zählt momentan
zu den umfangreichsten sowie interessantesten Forschungsfeldern der Geschichtswissenschaft. Für viele andere Bereiche, unter anderem die Wissenschaftsgeschichte, eröffnet
die Aufnahme stadtgeschichtlicher Ansätze
gewinnbringende neue Perspektiven. Im Gegenzug hat die Geschichte der Urbanisierung
in den letzten Jahrzehnten selbst einige methodische Erweiterungen erlebt. Vor allem ist
sie zu einer international vergleichenden und
transnationalen Geschichtsschreibung geworden. Dies gilt gleichermaßen für die Geschichte der Stadtplanung, die sich am Schnittpunkt
von Stadt- und Wissenschaftsgeschichte bewegt und die in den letzten Jahrzehnten maßgeblich zur Erforschung länderübergreifender Expertennetzwerke in der Moderne beigetragen hat.
Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass Phillip Wagner in seiner an der
Berliner Humboldt-Universität entstandenen
Dissertationsschrift über den Ländervergleich
hinausgeht und sich einer der führenden internationalen Organisationen der Stadtplanung zuwendet: der International Federation for Housing and Town Planning (IFHTP)
bzw. ihrer Vorgängerorganisation, der International Garden Cities and Town Planning
Association (IGCTPA). Dabei handelte es sich
um einen Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten, informellen Zusammenschluss internationaler Experten, der – unter europäischer und nordamerikanischer Hegemonie –
versuchte, die Stadtplanung als Politikfeld zu
etablieren und ihre fachlichen Grundlagen zu
vereinheitlichen. Allerdings sucht Wagner dabei in erster Linie den Anschluss an die jüngeren Forschungen zu internationalen Organisationen, insbesondere auch zur Stellung
internationaler „Experten“ in der „Hochmoderne“ im Allgemeinen. Die Geschichte der
Stadtplanung selbst (ihre Paradigmen, Prakti-
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ken etc.) ist für ihn demgegenüber nur von sekundärer Bedeutung. In diesem Rahmen legt
Wagner einen sehr gut lesbaren und sorgfältig recherchierten Beitrag zur Organisationsgeschichte des internationalen Expertentums
vor. Seine Ausführungen gründet der Autor
auf eine umfangreiche Auswahl einschlägiger
Dokumente aus einer ganzen Reihe europäischer und nordamerikanischer Archive (die
Unterlagen der IFHTP selbst sind leider zu
großen Teilen vernichtet).
Dabei schreibt Wagner weder eine reine
Institutionengeschichte noch eine reine Ideengeschichte im konventionellen Sinn. Er
legt der Auswertung der Quellen eine beide Seiten berücksichtigende Unterscheidung
von „operativer“ und „programmatischer“
Ebene zugrunde. Im Zentrum der Analyse
stehen die „Internationalisierungspraktiken“
des Verbandes und die Akteure, die sie vollzogen. Es handelt sich um – historisch wandelbare – Praktiken, mit denen die Vertreter der Organisation Wissensbestände und
Handlungserfordernisse als „objektiv“, „wissenschaftsbasiert“ und „international gültig“
auszeichneten. Wagner analysiert diese Praktiken mit dem Begriff „Performanz“, der es ermöglicht, die Untersuchung nicht auf die bewusst geplante Umsetzung ausbuchstabierter Programme zu beschränken. Ein weiteres
methodisches Stichwort sind „Inszenierungsstrategien“, deren Berücksichtigung die rhetorischen und materiellen Formen einbezieht,
mit denen die IFHTP operierte. Faktisch tauchen vor allem visuelle Analysen jedoch eher
selektiv und episodisch auf.
Wagner setzt seine Ausführungen fortlaufend in den Kontext der Geschichte anderer, thematisch verwandter Organisationen
mit „sozialreformerischem“ und „technokratischem“ Charakter, um die Besonderheiten
der Ziele und Praktiken der IFHTP herauszustellen – beispielsweise im Vergleich zum
Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, dem Comité Permanent des Congrès
Internationaux d’Habitations, dem Internationalen Verband für Wohnungswesen oder
der Union Internationales des Villes. Durchgehende, zentrale Orientierungspunkte für alle diese Organisationen waren dabei die Institutionen des Völkerbundes und später der
Vereinten Nationen. Zudem kontextualisiert
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Wagner seine Beobachtungen in der Politikund Sozialgeschichte der Zeit. Dabei tauchen immer wieder die Entwicklung der Urbanisierung und der Stadtplanung auf; den
Hauptkontext stellt allerdings die Geschichte
der modernen (Gesellschafts-)Expertise dar.
Der Hauptteil des Buches ist in vier chronologisch aufeinanderfolgende Kapitel untergliedert (mit sehr kleinteiliger Binnengliederung), die sich am Wandel der Internationalisierungspraktiken der IFHTP orientieren. Kapitel 1 setzt mit den ersten beiden Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts ein, die Wagner als eine Zeit der beginnenden Institutionalisierung
des modernen Expertentums in internationalen Organisationen skizziert. In diesem Kontext stand auch die Gründung der IGCTPA.
Der Verband wurde von britischen Stadtplanern beherrscht und auf das Ziel ausgerichtet, das britische Modell der Gartenstadt als
weltweites Vorbild zu etablieren. Die Planer
argumentierten vor allem mit sozialmedizinischen, hygienischen und nationalökonomischen Daten und sprachen vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs immer wieder
von der angeblich pazifistischen Wirkung ihrer Bemühungen.
Im Kontext des Wiederaufbaus und der
Wohnungskrise nach dem Krieg erwies sich
die uninationale Orientierung der Organisation als überholt. Kapitel 2 zeigt, wie ihre
Vertreter den Einbezug von Experten weiterer Nationen anstrebten. Vor dem Hintergrund der allgemeinen „Planungseuphorie“ der 1920er-Jahre verzichteten sie allerdings auf eine stärkere Strukturierung der
Arbeitsabläufe. Stattdessen setzte die IFHTPFührung auf die Wirkung informeller „Rituale“. Aus dem mehr oder weniger offenen Zusammentreffen internationaler Experten sollten sich gewissermaßen automatisch universelle Normen der Stadtplanung ergeben. Dieser Ansatz sei Ende der 1920er-Jahre jedoch
endgültig an der politischen Spannung zwischen Liberalismus und Sozialismus gescheitert, den die Konferenzen und Arbeitstreffen
der IFHTP nicht mehr überbrücken konnten.
In den 1930er-Jahren richtete die Föderation standardisierte, hierarchiebetonte Arbeitsstrukturen ein, um ihre Arbeitsfähigkeit im
„Zeitalter der Extreme“ aufrechtzuerhalten
(Kapitel 3). Ein kleines Führungsgremium der
IFHTP legte eine rigide „Choreographie“ für
ihre Konferenzen fest und gab verbindliche
Muster für die Erfassung und Klassifikation nationaler Daten vor. Auf den internationalen Treffen sollten vorrangig solche Daten
zusammengetragen und stetig ergänzt werden. Die IFHTP strebte dadurch eine weitere Verwissenschaftlichung der Stadtplanung
an (nach der Etablierung einer „transnationalen Stadtplanungswissenschaft“). Auch wenn
die IFHTP mit diesen Praktiken punktuelle Erfolge verzeichnen konnte, beispielsweise
die Vollendung eines mehrsprachigen Glossars der Stadtplanung, schützten solche Erfolge die Organisation nicht vor der machtpolitischen Indienstnahme – die letztendlich zu ihrer Spaltung in einen nationalsozialistischen
und einen „westlichen“ Strang führte.
Der letztere Teil der IFHTP begann bereits während des Zweiten Weltkriegs auf eine „pluralistische Performance“ umzustellen
(nicht zuletzt in dezidierter Abgrenzung von
der nationalsozialistischen Teilorganisation).
Die hierarchischen Abläufe des vorangegangenen Jahrzehnts waren zunehmend unproduktiv geworden. Stattdessen setzte die Föderation, wie Wagner in Kapitel 4 zeigt, auf
einen eher „experimentell und induktiv organisierten“ Austausch. Hierzu entwickelte die
IFHTP das Konzept von „Study Groups“, die
Debatten „stimulieren“, „Innovationen“ anregen, „produktive Kontroversen“ hervorbringen oder „Impulse“ geben sollten. Zu Beginn
der 1950er-Jahre erlag der Verband jedoch den
Vereinnahmungsversuchen der Vereinten Nationen. Letztere hatten vor allem politischen
Einfluss, benötigten die informellen Wissenschaftsverbände jedoch, um ihre Maßnahmen wissenschaftlich zu legitimieren. Darüber hinaus trugen der Kalte Krieg und die
Dekolonisation zusätzlich zur Marginalisierung informeller Expertenorganisationen bei.
Dieser Niedergang begründet auch das Ende des Untersuchungszeitraums von Wagners
Studie. Zugleich erzählt das Buch allerdings
die Geschichte der Etablierung und Normalisierung der Stadtplanung auf der staatlichen
Ebene, wodurch eine zentrale Forderung der
IFHTP zur Umsetzung gelangt war.
Wagners Ausführungen sind nicht zuletzt
deshalb von besonderem Wert, da er den
historischen Wandel zwischen den vier Pha-
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P. Wagner: Stadtplanung für die Welt?
sen immer wieder in abschnittsübergreifende Aspekte einbettet, von denen hier nur eine Auswahl genannt sei: Erstens berücksichtigt der Autor das fortwährende Spannungsfeld zwischen den jeweiligen nationalen Interessen der Akteure und den internationalen
Ansprüchen der Föderation, in dem Organisationen wie die IFHTP sich bewegten. Zweitens taucht die Konstruktion eines vermeintlich objektiven, unpolitischen, rein wissenschaftlichen Universalismus in verschiedenen
Kontexten und im Zusammenhang mit wechselnden Inszenierungspraktiken auf. Drittens
bettet Wagner die Ausführungen immer wieder in die staatenübergreifende Kontroverse
um (Staats-)Interventionismus und Liberalismus ein, die die „Hochmoderne“ prägte. Viertens schließlich wirft der Autor wiederholt die
Frage nach der nationalen Implementation
des international sanktionierten (Handlungs-)
Wissens auf; dies ist freilich eine Frage, die in
der vorliegenden Arbeit nur ansatzweise zusätzlich beantwortet werden kann. Etwas präsenter hätten demgegenüber die eugenischen
und rassistischen Implikationen der Stadtplanung sein können, die während des gesamten Untersuchungszeitraums virulent waren.
Dies ist jedoch nur eine randständige Anmerkung zu einem im Ganzen sehr gelungenen
Buch, das auf umfassender Quellenarbeit basiert, stets nachvollziehbar argumentiert und
für kommende Studien zu internationalen Organisationen und zur Stadtplanung mit Sicherheit als Ausgangspunkt dienen wird.
HistLit 2017-1-011 / Dirk Thomaschke über
Wagner, Phillip: Stadtplanung für die Welt? Internationales Expertenwissen 1900–1960. Göttingen 2016, in: H-Soz-Kult 06.01.2017.
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