Weihnachtsgeschichte

Ein Polizist als Weihnachtsengel, Lutz Dettmann
Ein Polizist als Weihnachtsengel
Mein Großvater ist nun schon über 30 Jahre tot. Doch noch immer sehe ich seine
stämmige Gestalt, das schmale Gesicht mit dem, auch noch im hohen Alter vollen,
schlohweißen Haar. Sein Wesen, seine Art, die von Altersweisheit und Zufriedenheit
gezeichnet waren, habe ich nicht vergessen. Und manchmal, besonders in der
Vorweihnachtszeit, höre ich seine Stimme, die uns Kindern damals so schöne
Geschichten erzählen konnte.
Wenn die Weihnachtszeit kam, begann auch die schönste Zeit für unseren
Großvater. Er begab sich mit uns in die Gedankenwelt seiner Kindheit zurück,
erzählte von mecklenburgischen Wintern voller Schnee und klirrender Kälte, von
Schlittenfahrten über tief verschneite Wege, die er mit seinem Vater, der Arzt war,
gemacht hatte. Und Märchen konnte er erzählen! Selbst noch als Zwölfjähriger nahm
er mich mit seinen Märchen gefangen. Ich höre seine Stimme, die im
mecklenburgischen Mischplatt, für uns Enkelkinder Wunderwelten erschuf, mit
Trollen, Elfen, Weihnachtsmännern und Hexen. Und natürlich siegte immer das Gute
in seinen Märchen. Es konnte ja nicht anders sein – erst recht nicht zur
Weihnachtszeit.
Besonders erinnere ich mich an das letzte Weihnachtsfest mit meinem Großvater.
Als wäre es erst im letzten Jahr gewesen, sehe ich ihn vor mir sitzen, in seinem alten
Ohrensessel, meine Schwester und ich vor ihm. Und er erzählt, von damals, von
früher – als die Winter noch voller Schnee und ohne grelle Weihnachtsreklame
waren, als sich Kinder noch über Äpfel und Rosinen freuten, als es den
Maronenmann noch gab und richtige Wachslichter und Haaspoppen am Baum
hingen...
„So, so, eine Weihnachtsgeschichte soll ich euch erzählen?“
Der Großvater drehte sich zu uns um, und ein spitzbübisches Grinsen flog über sein
Gesicht.
„Meint ihr nicht, ihr seid langsam zu alt dafür?“
Wir wussten, dass diese Frage kommen würde. Sie kam an jedem Heiligen Abend,
wenn die Eltern und die Großmutter uns aus der guten Stube der Großeltern treiben
mussten. Wie aus einem Mund verneinten wir dies natürlich. Ist man mit zehn oder
zwölf Jahren zu alt für die Vorfreude auf das Weihnachtsfest? Nein, in diesem
Moment wollten wir wieder klein sein. Und wie immer ließ sich der Großvater
natürlich erweichen. Auch das gehörte zum alljährlichen Ritual.
„Na gut, dann ab!“
Der Großvater öffnete die Tür zum Herrenzimmer, wie es noch immer hieß, obwohl
es so gut wie nie benutzt wurde, denn die Herren, mit denen sich der Großvater
früher immer zum Skat oder Schach getroffen hatte, spielten mittlerweile weiter oben
ihre Spiele. Ohne den Großvater, was er manchmal bedauerte, denn zum Skatspiel
hatten wir Jungen nun wirklich keine Lust, wenn wir auch sonst fast alles für ihn
getan hätten.
Der Geruch von Winteräpfeln, die Großmutter auf dem großen Bücherschrank
lagerte, schlug uns entgegen und wohlige Wärme, die besonders auffiel, da dieses
Zimmer sonst nur spärlich geheizt wurde. Das Dämmerlicht des beginnenden
Weihnachtsabends tauchte den großen Esstisch, den Bücherschrank und den
Schreibsekretär, an dem schon Generationen von Großvätern gesessen hatten, in
ein besonderes Licht. Meine Schwester zog die Vorhänge zu. Ich entzündete die
große Adventskerze auf dem Rauchtisch; wir rückten drei Stühle um den großen
Ohrensessel, auf dem sich unser Großvater niederließ.
Ein Polizist als Weihnachtsengel, Lutz Dettmann
Heute frage ich mich manchmal, wie es möglich war, dass unser Großvater in diesen
Minuten aus halbwüchsigen Enkelkindern solche erwachsenen, artigen Zuhörer
schaffen konnte.
Und dann saßen wir um seinen Sessel geschart, knabberten von den
Weihnachtsplätzchen, die auf dem kleinen Rauchtisch standen und warteten, was
nun kommen würde.
Der liebe alte Mann saß auf seinem Sessel, hatte seine Anzugjacke aufgeknöpft
(Weihnachten trug er immer einen Anzug), die goldene Uhrkette glänzte auf der
dunklen Weste.
In diesem Moment hätte er den personifizierten Großvater für alle Enkelkinder
abgeben können. Er strich sich über das Kinn, musterte uns kurz. Dann lächelte er
sein Großvaterlächeln.
„Ihr seid wohl ganz schön aufgeregt, wann es nun mit der Bescherung losgeht. Na,
lasst mal eure Eltern machen.“
Wir fingen an zu drängeln – wie in jedem Jahr – und der Großvater begann zu
erzählen – wie in jedem Jahr. Doch vorher räusperte er sich.
„Wisst ihr, dass mir langsam die Märchen und Geschichten ausgehen? Schließlich
musste ich euch ja auch schon jedes Jahr eine Geschichte erzählen. Mein Kopf ist alt
geworden. Da fällt es einem schwer, immer wieder neue Geschichten zu erfinden.“
Dann machte er eine Pause und griff sich ein Plätzchen.
„Heute will ich euch etwas Wahres erzählen. Ob es überhaupt eine Geschichte wird,
weiß ich noch gar nicht. Wollen wir abwarten, was es wird.“
Der Großvater hielt kurz inne.
„Wisst ihr “, und er legte sein Plätzchen gedankenversunken wieder auf den Teller
zurück, „ zu Hause bei meinen Eltern lief unser Weihnachtsfest immer sehr
harmonisch ab. Alles war vorgeplant. Die Weihnachtsgans hatte meine Mutter mit
unserem Hausmädchen schon im September ausgesucht. Den Weihnachtsbaum
kaufte mein Vater und ließ ihn vier Tage vor Weihnachten nach Hause liefern.
Aufgestellt und geschmückt hat er ihn immer alleine. Das ließ er sich nicht nehmen,
auch wenn er Medizinalrat war, und damals, vor dem ersten großen Krieg, war das
schon eine Stellung. Also, alles lief geplant ab – bis auf ein Weihnachtsfest. Das war
so um 1910. Ich war gerade acht oder neun geworden. Jedenfalls weiß ich, dass die
Elektrische gerade fuhr.“
Wieder griff der Großvater nach einem Plätzchen, biss diesmal ab, schnippte die
Krümel von seiner Weste, lächelte und ermahnte uns, diesen Lapsus nicht der
Großmutter zu petzen und fuhr fort:
„Klapperkalt war es in diesem Dezember gewesen. Die Leute rannten bis über beide
Ohren vermummt durch die Gegend. Bei meinem Vater in der Praxis war die Hölle
los. Die Mutter rannte, Vater hatte eine zweite Hilfe eingestellt. Die Arbeit war kaum
zu schaffen. Aber das war genau das richtige für ihn. Er brauchte Druck. Pfeifend
rannte er durch die Praxisräume.“
Der Großvater schaute kurz auf.
„Wisst ihr, er liebte Operetten – er pfiff also den ganzen Tag Operettenmelodien,
wuschelte Kinderköpfe im Vorbeigehen durch, erwischte auch manchmal schon
einen älteren Kopf. Wie gesagt, er lief zur Hochform auf. Einziges Problem: Er konnte
sich nicht um den Baum kümmern. Und das betrübte ihn immer mehr, denn der
Weihnachtsbaum war sein Heiligtum. Hoch musste er sein, eine Tanne musste es
sein und frisch geschlagen musste sie sein. Denn er liebte den harzigen Duft.
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Wenn der Baum fünf Reichsmark kostete! Es war egal. Vater vergaß in diesem
Moment seine Sparsamkeit. Aber er konnte keinen Baum holen. Die Kranken fielen
wie die Heuschrecken in seine Praxis ein.
Mein Bruder und ich genossen das Winterwetter. Wir liefen mit den anderen
Fridericianern* Schlittschuhe auf dem Pfaffenteich, lieferten uns
Schneeballschlachten mit den Jungen von der Hospitalstraßenschule und rodelten
den Arsenalberg herunter, dabei immer auf der Flucht vor Schutzmann Stüdemann.
Mich hatte dieser besonders ins Herz geschlossen, da ich ihm einmal durch die
Beine gerodelt war.“
Der Großvater lächelte.
„Doch, ehrlich. Und das war damals ganz schön frech. Denn Schutzmänner hatten
was zu sagen. Und dieser besonders. Wachtmeister Stüdemann war schon eine
Furcht einflößende Person. Vor dem hatten sogar Erwachsene Respekt.“
Wieder griff er nach einem Plätzchen.
„Dann, in der Woche vor Weihnachten verschlechterte sich die Stimmung unseres
Vaters gewaltig. Wir saßen beim Frühstück. Ich stopfte mir gerade meine Stulle
hochkant in den Mund, denn ich war einmal wieder viel zu spät dran, da kam ein
Knurren hinter der „Mecklenburgischen Zeitung“ hervor.
„Nun kommt schon wieder ´ne neue Grippewelle“, verkündete mein Vater.
Er sprach am Tisch übrigens hochdeutsch. Nur mit seinen Patienten sprach er platt.
Das väterliche Gesicht erschien über der Zeitung.
„Marta, wann ich wohl mit Lembke den Baum holen soll?“, wandte er sich vorwurfvoll
an meine Mutter, als ob sie für diese neue Grippewelle verantwortlich sei.
Mutter verschluckte sich fast, mein Bruder sah mich an, ich würgte noch mehr an
meiner Stulle, um möglichst schnell den elterlichen Frühstückstisch verlassen zu
können. Diesen Ton kannten wir nicht von unserem Vater.
„Erich, dann muss Lembke den Baum wohl alleine holen“, stellte die Mutter lakonisch
fest. Vater legte seine Zeitung nieder und schaute die Mutter an, als ob sie soeben
den Verkauf der Praxis verkündet hätte.
„Soweit kommt’s noch. Was der wohl holt? Der kommt doch mit `ner Kiefer nach
Hause und versäuft den Rest mit dem Förster. Ne, alleine lass ich den Lembke nicht
los“, stellte mein Vater fest.
Und seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Die Mutter schwieg. Mutter kannte
meinen Vater. Und damit war das Thema vom Tisch. Vorerst!
Die nächste Grippewelle rollte an, die nächste Patientenwelle überschwemmte die
Praxisräume in der Alexandrinenstraße. Das Husten und Schnaufen war bis in die
Wohnung zu hören. Und das Weihnachtsfest nahte unerbittlich.
Eines Mittags, wir kamen aus der Schule, stand ein Baum auf dem Hof. Er sah nicht
schlecht aus, er war auch dicht gewachsen, er war grün. Aber er sah trotzdem
anders aus. Irgendwie war er nicht so schön, wie sonst. Aber er war ein
Weihnachtsbaum. Und das war das wichtigste für mich und meinen Bruder.
Am späten Nachmittag kam mein Vater aus der Praxis. Er kam in die Küche, wusch
sich die Hände, setzte sich an den Tisch, fragte, ob wir unsere Hausaufgaben
gemacht hätten. Was wir natürlich sofort bejahten.
*Schüler des Fridericianums Schwerin, altsprachliches Gymnasium in Schwerin, 1553 gegründet
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Dann Blick zu Minna, unserem Hausmädchen. Minna hieß übrigens nicht Minna,
sondern Berta. Aber das war Vater egal. Das erste Hausmädchen hatte auf den
Namen Minna gehört – also hatten alle auf den Namen Minna zu hören. Vater hielt
an Traditionen fest.
„Und, war Lembke den Baum holen?“
Das Mädchen bejahte.
Ungläubig schauten mein Bruder und ich uns an. Der Vater war keinen Baum
aussuchen gefahren? Das war doch seine Mission! Pest und Cholera mussten
ausgebrochen sein! Sonst hätte dies nicht geschehen können!
Wie beiläufig ging der Vater zum Fenster, schaute auf den Hof.
„Hm, von hier oben sieht er ja ganz vernünftig aus. Lembke soll ihn anhängen, sonst
uriniert der Kater dagegen.“
Großvater hob den Finger.
„Mein Vater sagte natürlich nicht ‚pinkeln’. Das zierte sich nicht für einen
Medizinalrat. – Na ja, und wir nickten natürlich voller Verständnis, obwohl ich immer
‚pinkeln’ sagte, wenn die Erwachsenen nicht anwesend waren. Und mein Bruder
natürlich auch. Wortlos trank der Vater den Nachmittagskaffee, blätterte in seiner
Zeitung. Und dann rauschte er wieder in die Praxis.
Wir verdünnisierten uns wieder in Richtung Arsenalberg, den Schutzmann ärgern.
Die Tage bis Weihnachten wollten einfach nicht vergehen und auch die Grippewelle
ging nicht. Unsere Eltern sahen wir nur am Abend.
Vater lief mit angespanntem Gesicht durch die Räume. Die gute Laune war
vergangen. Er wuselte keine Patientenköpfe mehr durch. Hätte es damals das Wort
Stress schon gegeben, hätten wir gedacht, unser Vater habe Stress. Aber so war er
nur fleißig. Mutter ging es ähnlich. Nichts war in diesem Jahr so wie in den anderen:
Kein gemeinsames Plätzchenbacken, kein Marzipankugeln rollen, keine lauschigen
Abende mit Vorlesen am Kamin. Dafür lief Minna, die ja eigentlich Berta hieß, zur
Hochform auf. Sie schmiss komplett den ärztlichen Haushalt. Mutter war selig. Nur
Vater nicht, denn der Baum stand immer noch auf dem Hof. Wie gesagt: Er stand –
er hing nicht. Trotz ärztlicher Bitte, nein Befehl, meines Vaters. Trotz Katergefahr.
Denn die pissten oder besser – urinierten – zu gerne an Weihnachtsbäume. Doch
Hausdiener Lemke hatte andere Dinge zu tun, meinte er. Auch, als Vater ihn zwei
Tage vor Weihnachten noch einmal strengstens ermahnte.
„Der Lembke wird schon sehen, was er davon hat!“, verkündete er am familiären
Abendbrottisch. Da halfen auch Mutters Schlichtungsversuche nicht. Lembke würde
in diesem Jahr kein Weihnachtsgeschenk erhalten.
„Nichts mit Zigarren!“, schmetterte Vater und legte resolut die Abendausgabe
beiseite. Sein Kaiser-Wilhelm-Bart zitterte, so wütend war er, obwohl die Grippewelle
sich langsam nach Ostpreußen verzogen hatte, wie es in der Abendausgabe hieß.
Als ich vorsichtig anbot, den Baum mit meinem jüngeren Bruder aufzuhängen, ich
hatte einiges gutzumachen, denn Stüdemanns Pickelhelm war gestern Opfer einer
Schneeballschlacht geworden, schüttelte er nur den Kopf und strich mir mit
wohlwollend väterlicher Geste über den Scheitel. Die Mutter lächelte mich an und
mein Bruder trat mir gegen das Schienbein, um mir seinen Unmut mitzuteilen. Denn
warum sollte er meine Anbiederungsversuche unterstützen. Schließlich hatte ich den
Helm getroffen.“
Der Großvater machte eine kurze Pause und schaute auf die Wanduhr.
„Ich glaube, ich muss mich sputen. Sonst ist die Bescherung heute um acht.“
Doch uns war das inzwischen egal. Denn er hatte uns wie immer seinen Bann
gezogen.
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„Also gut – weiter! Endlich war der Tag des Heiligen Abend angebrochen. Vater hatte
die Praxis noch bis um elf geöffnet. Aber es waren keine Patienten mehr gekommen.
Die Grippe war wohl nun in Riga oder Reval. Das ärztliche Gewissen konnte sich auf
das Weihnachtsfest konzentrieren. Mutter wirbelte in der Küche mit Minna-Berta.
Vater hatte im Salon, wie unser Wohnzimmer damals hieß, die Glocken, Kugeln und
Weihnachtsterne herausstellen lassen. Eine Flasche Rotspon war geöffnet worden.
Denn zu den Sinnesfreuden gehört auch die Gaumenfreude. Und unser Vater war für
alle Sinnesfreuden empfänglich. Wir standen bereit, um die Handreichungen zu
machen. Es konnte beginnen. Aber so richtig in Vorfreude war unser Vater noch
immer nicht.
Dann war da der Weihnachtsbaum. Er stand noch immer unten auf dem Hof. Wie
gesagt: Er stand! Denn Lembke hatte ihn nicht aufgehängt. Warum nicht, das ist nie
ans Tageslicht gekommen. Und Lembke war nicht da. Obwohl er für das Aufstielen
des Baumes verantwortlich war. Lembke war heute Morgen am Baum gesehen
worden, von Minna, die Berta hieß. Aber nun war er fort, obwohl seine
Weihnachtsferien erst nach dem Aufstielen des Baumes begannen.
Wir standen mit Vater vor dem kapitalen Baum. Es schneite. Die Luft roch nach Zimt.
Es war Weihnachten. Und unser Vater war unzufrieden. Er murmelte etwas von
neuen Hausknecht zu Ostern suchen und dass jeder mache, was er wolle. Dann
legte er den Baum um. Vater fasste vorne an, wir hinten. Vater ließ den Baum wieder
los.
„Hans, Otto, kommt doch mal her.“
Wir postierten uns neben Vater.
„Sagt mal, riecht der Baum?“
In seiner Stimme lag ein leichtes Knurren.
Ich weitete meine Nüstern. Der Baum roch wirklich. Doch ich hütete mich, seinen
Verdacht zu bestätigen.
„Nein Papa, der Baum riecht nicht. Nur wie immer, nach Harz oder so“, versicherte
ich hoch und heilig. Und mein kleiner Bruder Otto musste meine Gedanken gelesen
haben. Denn auch er bestätigte mich mit dem unschuldigsten Kindergesicht, das er
nur aufsetzen konnte.
Der Vater schnupperte wieder.
„Na ja, wenn ihr meint. Der Karbolgeruch der letzten Tage hat wohl meine
Schleimhäute geätzt.“
Vater griff nach dem Stamm, und hoch ging es in die elterliche Wohnung.
Da stand der Baum neben dem großen Büfett. Vater hatte ihn aufgestielt. Hoch war
er, voll war er, gerade gewachsen – und er stank. Er stank nach Kater. Die
Befürchtung unseres Erzeugers hatte sich bewahrheitet. Doch wir hielten unseren
Mund. Vater schnüffelte, schüttelte den Kopf und wandte sich an uns.
„Also, ich sage euch: Der Baum stinkt nach Katerurin.“
Er hatte recht. Der Baum stank nach Katerpisse.
Vater rief nach Minna. Die kam in ihrer Schürze angerauscht.
„Minna, nach was riecht der Baum?“
Minna, die ja Berta hieß, schnüffelte kurz, hockte sich hin, schnüffelte noch einmal.
„Herr Medizinalrat, der Baum stinkt nach Katerpisse!“
Dann wurde sie rot.
„Ich mein, nach Kater!“
Und verschwand wieder in Richtung Küche.
„Seht ihr.“
In Vaters Stimme klang fast Triumph.
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„Ich hab´ s doch gleich gesagt! Lembke dieser faule Schuft.“
Inzwischen war auch Mutter angerauscht gekommen.
„Erich, der Baum stinkt! Der Baum muss raus!“
Mein Vater war erschüttert. Seine ganze heile Weihnachtswelt mit Krippe, Plätzchen,
Bescherung, Kerzenglanz und Baum brach in diesem Moment zusammen. Er sackte
auf seinen Lieblingssessel, griff nach dem Weinglas, stürzte es herunter und schaute
unsere Mutter jämmerlich an.
„Ja, kann man denn nicht mit Parfüm….“
Er brach mitten im Satz ab, wusste er doch, auch das würde nicht helfen.
Mit zitternder Hand goss er sich das Glas voll, nahm wieder einen tiefen Schluck und
schaute hilfeflehend in die Runde. Unser sonst so starker Vater, der Retter von
Grippekranken und Halsentzündeten, der Samariter und Trostspender, war seelisch
und körperlich zusammengebrochen.
„Und nun?“, fragte er.
Mutter schaute ihn an.
„Na, als erstes muss der Baum raus. Die ganze Wohnung stinkt schon. Und dann
muss ein neuer Baum her.“
Dann mehr zu sich: „Und Lembke ist nicht da.“
Vater stöhnte auf.
„Am Heiligen Abend einen Baum herbekommen. Wie soll das denn gehen? Und
dann in der Stadt? Hier wachsen doch keine. Wir können doch keinen aus dem
Schlossgarten nehmen!“
Ich sah in Gedanken den Großherzog hinter meinem Vater hinterher jagen, da dieser
mit einer großen Säge im hochherrschaftlichen Garten Baumfrevel begangen hatte.
Eins war klar: Ohne Baum war das Weihnachtsfest gelaufen.
Vater hatte sein Glas schon wieder geleert. Er war hilflos.
„Ich brauche Ruhe, ich muss nachdenken!“
Er ergriff die Flasche, schnappte sein Weinglas. Die Tür zum Herrenzimmer fiel ins
Schloss. Der Vater war verschwunden. Mutter schaute auf uns.
„Typisch euer Vater! In der Praxis ein Held, ein Retter. Zuhause hilflos wie ein kleines
Kind! Jungs, schafft den Baum raus. Mir wird schon etwas einfallen. Aber erst muss
die Gans versorgt werden.“
Und sie verschwand ebenfalls.
Da lag nun der stinkende Baum. Otto und ich hielten Kriegsrat. Ein Baum musste
her, das war uns klar. Nur woher nehmen, wenn nicht stehlen? Also, hier auf dem
Hof würden wir keinen bekommen. Wir machten uns auf in die Stadt. Kommt Zeit,
kommt Rat. Aber diesen Spruch kannten wir damals noch nicht. Vorher sammelten
wir unser Erspartes zusammen: 2.74 Reichsmark, ich weiß die Summe, als ob ich
erst gestern das Geld gezählt hätte. Schwer war meine Tasche vom Kupfer- und
Nickelgeld. Wir machten uns auf dem Weg, natürlich ohne etwas der Mutter zu
sagen. Aber die polterte sowieso mit Minna in der Küche. Und Vater war nicht zu
sehen.“
„Ihr müsst wissen, Schwerin war damals eine beschauliche Stadt. Es gab keine
Autos. Statt der vielen Taxen standen Pferdedroschken vor dem Bahnhof. Und selbst
die Elektrische, die sonst quietschend und kreischend bei „Sterns Hotel“ in die
Kaiser-Wilhelm-Straße bog, hörte man an jenem Nachmittag kaum.
Wie eine weiße Decke, die alle Geräusche dämpfte, hatte sich der Schnee über die
Stadt gelegt. Wenige Leute gingen an uns vorbei, als wir durch die Kaiser-WilhelmStraße mehr schlitterten als liefen. Dick vermummt waren sie und dampften aus den
Mündern. Denn kalt war es an diesem Tag.
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Vor der Hauptpost stand ein Maronenverkäufer. Es duftete herrlich. Doch er bot
seine Früchte vergebens an.
Uns war klar, wenn wir noch einen Baum bekommen konnten, dann auf dem
Schlachtermarkt. Denn dort stand immer ein Baumverkäufer. Aber auch noch heute,
am Heiligen Abend, um diese Zeit? Wir hatten keinen Blick für die weihnachtlich
geschmückten Ladenauslagen. Selbst der sonst obligatorische Abstecher zu
Scharffenberg in die Wladimirstraße fiel aus. Riesige Ankerbausteinburgen standen
in der großen Auslage, ganze Regimenter von Zinnsoldaten und eine
Dampfmaschine, die mit Petroleum arbeitete. Sonst konnten wir stundenlang dem
ewigen Kreisen der großen Blecheisenbahn zusehen. Heute war dafür keine Zeit.
Der bronzene Bismarck vor dem Neuen Gebäude auf dem Marktplatz hatte eine
weiße Mütze über seinen Pickelhelm gestülpt. Mein kleiner Bruder wollte im
Vorbeilaufen mit einem Schneeball den Helm treffen. Doch ich zog ihn weiter. Das
würde uns noch fehlen, wenn Wachtmeister Stüdemann, der im Stadthaus saß, uns
hopp nehmen würde.
Der Schlachtermarkt war leer! Vorne, am Durchgang zum Markt, packte eine
Fischfrau gerade ihren Stand zusammen. Dann war da noch ein Glühweinverkäufer,
um den noch einige vermummte Dienstleute und Arbeiter standen. Die Fischfrau
hauchte in ihre verklamten Fäuste und schaute uns erwartungsvoll an.
„Wuult je noch wat?“*
Ich schüttelte nur den Kopf. Die Enttäuschung hatte mir die Kehle zugeschnürt. Für
uns brach eine Welt zusammen. Meinem kleinen Bruder standen die Tränen in den
Augen.
Da wieherte ein Pferd. Ganz hinten, fast vor dem Domhof, stand ein
Weihnachtsbaumverkäufer. Er war gerade dabei, die restlichen Bäume auf seinen
Wagen zu laden. Wer wollte auch jetzt noch einen Baum kaufen? Wenn nicht wir! Ich
stieß meinen Bruder an, und wir liefen los.
Dann standen wir vor ihm. Er beachtete uns überhaupt nicht. Grimmig sah er aus.
Sein Geschäft war wohl heute nicht gut gelaufen. Das sollte sich ja nun ändern.
Seine Pelzmütze hatte er tief in sein gefurchtes Gesicht gezogen. Der Kragen seines
Kutschermantels war hochgeschlagen. Wir waren für ihn Luft. Doch dann nahm er
uns war.
„Wat wullt jie?“**
Eine Schnapsfahne schlug mir entgegen.
„Wir wollen noch einen Baum kaufen“, stammelte ich.
Und mein Bruder ergänzte: “Wir haben ja einen, aber der stinkt nach Kater.“
Er musterte uns von oben bis unten.
„Juch Vadder weid wohl nich, dat de Boom uphangt ward. De is wohl so ´n
Überstudierter?“***
„Der ist Doktor“, sagte mein Bruder stolz.
„Ok, dat noch. Heww je ok Geld mit?“****, wollte der Vermummte wissen.
„Hemm we. Twei vierunsömsig!“*****, erwiderte ich stolz.
Und nun ging eine Verwandlung in dem Griesgram vor. Ich musste etwas ganz
Schlimmes gesagt haben. Sein Gesicht arbeitete, zeigte erst Erstaunen, dann
Erschrecken.
*“Wollt ihr noch etwas?“
**“Was wollt ihr?“
***“Euer Vater weiß wohl nicht, dass der Baum aufgehängt wird. Der ist wohl ein Überstudierter?“
****“Auch das noch. Habt ihr auch Geld mit?“
*****“Haben wir. Zweivierundsiebzig.“
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„Sagt mal“, ihm hatte es sogar das Plattdeutsch verschlagen, „ihr spinnt wohl. Meint
ihr, für nicht mal einen Taler hole ich hier noch einen Baum runter. Wisst ihr, wie spät
das ist?“
Und er zeigte in Richtung Domuhr, die gar nicht zu sehen war.
„Das ist gleich vier. Ich will nach Trebbow. Ihr spinnt völlig. Haut ab. Klaut euch doch
einen Baum!“
Zaghaft wollte ich mich auf Bitten verlegen. Doch er schnitt mir das Wort mit einer
heftigen Handbewegung ab und wandte sich seinen Pferden zu.
Das war´ s gewesen! Wir würden ein Weihnachten ohne Baum feiern – also kein
richtiges Weihnachten haben.
Mein Bruder heulte auf.
„Nu flennt de ok noch“*, meldete sich der Kutschermantel, und ich zog Otto fort.
Da standen wir nun beide im kleinen Durchgang vor dem Stadthaus. Keine 100
Meter vor uns lagen mindestens 20 Bäume aufgeschichtet auf dem Wagen. Einen
wollten wir haben. Nur einen Baum! Er würde sie doch sowieso verheizen, der
Kutschermantel. Und so eilig hatte er es auch wieder nicht. Die Pferde hatten ihre
Futtersäcke vor, und der Kutschermantel stand nun beim Glühweinverkäufer.
Amüsieren schien er sich auch noch über uns, dieser Unmensch. Sein Lachen
schallte zu uns herüber.
Da schoss es mir durch den Kopf. Was hatte er gesagt: „Klaut euch doch einen
Baum!“ Das war´s! Mein Bruder strahlte mich an, als ich ihm meinen Vorschlag
schilderte. Und fast einen Taler würden wir ja so auch noch sparen. Unauffällig, so
glaubte ich jedenfalls, schlichen wir uns an den Leiterwagen heran. Er stand dicht an
der Hauswand. So hatten wir genügend Deckung. Ein Ruck, der oberste Baum fiel
herunter, ich griff nach dem Stamm, mein Bruder nach der Spitze und weg waren wir.
Neben dem Eingang zum Hotel de Paris verschnauften wir. Niemand hatte uns
gesehen, niemand hinter uns her gerufen. Wir hatten einen Baum, schön war er.
Nicht ganz so schön, wie der andere, aber er stank nicht! Zuhause würden sich alle
freuen, denn wie wir ihn erworben hatten, würden wir natürlich nicht erzählen.
Die Domuhr schlug vier. Höchste Zeit nach Hause zu kommen! Den Baum gegriffen,
und ab Richtung Friedrichstraße. Damit direkt vor den Augen des Gesetzes über den
Markt zu laufen, trauten wir uns doch nicht. Ich griff wieder nach dem Stamm, mein
Bruder ergriff das andere Ende. Wir richteten uns auf – und vor mir stand der
Kutschermantel. Breit grinste er mich an.
„So, die Herrschaften haben also doch noch einen Baum bekommen. Secht mal, ihr
seid ja ganz gemeine Diebe. Sone feinen Pinkel und klauen wie die Raben. Na dann
mal ab zu Stüdemann. Der wird sich freuen. Und den Baum nehmt ihr mit.“
In uns brach eine Welt zusammen. Hinter Gittern würden wir das Weihnachtsfest
verbringen. Unsere Eltern würden sich zu Tode schämen, weil ihre Söhne Diebe
sind. Mein Bruder schluchzte hinter mir zum Steinerweichen. Doch der
Kutschermantel zeigte kein Mitleid.
Im Gegenteil, er grinste nur und berichtete im Vorbeigehen den wenigen Passanten
von unserer Straftat. Wir waren kurz vor dem Stadthaus. Gleich würde die
Hinrichtung beginnen. Und da, mein Herz setzte für einen Moment aus, trat
Stadtwachtmeister Stüdemann, von Kopf bis Fuß das Gesetz der Stadt, vor die Tür.
Jovial grüßte er einen vorbeieilenden Passanten zurück, dann fiel das Auge des
Gesetzes auf uns.
Er stutzte einen Moment. Dann setzte er sich in unsere Richtung in Bewegung.
*“Nun heult der auch noch.“
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Mein Bruder jaulte auf. Ich hätte am liebsten mitgejault. Aber das ging ja nicht.
Ich war ja der ältere Bruder. Die Hände auf dem Rücken, steuerte er zu dem
Kutschermantel. Der riss seine Mütze vom Kopf und grüßte. Der Wachtmeister nickte
kurz. Unsere Prozession blieb stehen.
„Sagen Sie mal, lassen Sie die Kinder den Baum tragen?“
„Das sind Diebe, Herr Wachtmeister! Gemeine Diebe!“
Das Auge des Gesetzes musterte mich, und mein Herz blieb stehen. „Aha, dann
tragen die Jungen das Corpus dilicti.“
In mir brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Hinter Gittern würden wir das
Weihnachtsfest verbringen. Wer weiß, welche Strafe das CORPUS DILICTI
bedeutete! Unsere Eltern würden sich zu Tode schämen, weil ihre Söhne Diebe sind.
Alle Strafen des Fegefeuers geisterten durch mein Hirn. Und als die Schlimmste, das
CORPUS DILICTI!
„Ich kenn dich, Junge. Du bist doch der Sohn von Doktor Schmidt aus der
Alexandrinenstraße. Stimmt´s?“
Ich konnte nur nicken.
„Und der Schneeballwerfer und Durchdiebeine-Rodler“, ergänzte er.
„Und ich bin der Bruder“, tönte es von hinten.
Und wie durch Zauberhand ging der Anflug eines Lächelns durch das sonst so
strenge Wachtmeistergesicht.
„Und ihr habt den Baum gestohlen?“, wollte er sich noch einmal vergewissern.
Wieder konnte ich nur nicken. Inzwischen waren zwei neugierige ältere Frauen
stehen geblieben.
„Gehen Sie weiter!“, bellte er sie an. Wir waren wieder alleine.
Er schaute mich an, schaute den Kutschermantel an, der noch immer die Mütze in
seinen Händen hielt.
„Die Söhne vom Doktor Diebe? Das kann ich mir nicht vorstellen.“
“Aber es ist so, Herr Wachtmeister. Bei meiner Ehre!“, versicherte der
Kutschermantel.
„Na, mit der Ehre würde ich vorsichtig sein. Habe ich Sie nicht schon mal völlig
betrunken im Marktdurchgang einsammeln lassen?“
Als der Kutschermantel etwas erwidern wollte, winkte der Wachtmeister nur ab.
Er wandte sich mir zu.
„Dann legt erstmal den Baum ab. Und dann erzähle mir mal, was nun los war. So
einfach klaut ihr doch nicht.“
Die Stimme des Wachtmeisters klang so ganz anders, als wenn er hinter uns her rief.
Und plötzlich vertraute ich ihm. Ein Damm brach in meinem Inneren, meine Angst
verschwand vor diesen lächelnden Augen. Ich begann zu erzählen – alles: Vom
überarbeiteten Vater, von der Katerpisse, von unserer Angst, dass das Fest ausfallen
würde, von dem missglückten Weihnachtsbaumkauf, von meiner Idee…. Der
Wachtmeister hörte zu, lächelte manchmal, mein Bruder nickte und der
Kutschermantel knitterte seine Mütze. Als ich geendet hatte, wandte sich das Auge
des Gesetzes an den Kutschermantel.
„Sagen Sie mal, fünf Reichsmark wollten sie den Kindern für diesen lausigen Baum
abknüpfen. Sie sind wohl nicht bei Trost?“
„Ach halten Sie den Mund!“, herrschte er den Baumverkäufer an, der etwas erwidern
wollte.
Der Wachtmeister überlegte einen Moment. Dann wandte er sich an mich.
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„Ja Jungs, da will ich dann mal Gnade vor Recht ergehen lassen“, und die Augen
des Gesetzes verwandelten sich fast in die Augen unseres Pastors, soviel Wärme
ging von ihnen aus, „weil heute Weihnachten ist. Ich denke mal, ihr gebt diesem
Menschenfreund euer Geld.“
Für einen Moment wurde wieder das Auge des Gesetzes sichtbar.
„Dafür bekommt ihr den Baum. Und dann ab nach Hause. Euer Vater erfährt nichts
davon, versprochen.“
„Das ist ja wohl ein angemessener Preis, oder?“, wandte er sich an den potentiellen
Verkäufer.
In diesem Moment hätte ich den Wachtmeister küssen können.
„Wenn du mir noch einmal vor die Füße rodelst, gehst du aber in den Arrest, klar?“
Und da funkelten ein himmlisches und ein Gesetzesauge.
„Das kommt nie mehr vor, versprochen.“
Ich hätte in diesem Moment tausend Eide schwören können. Mit klammen Fingern
nestelte ich die Münzen aus meiner Hosentasche und drückte sie dem
Kutschermantel in die Hand. Der schaute mich wütend an, sagte aber nichts.
„So Jungs, nun ab. Eure Eltern werden sich Sorgen machen. Und ihr sagt auch kein
Wort zu euren Freunden über diese Sache. Ist das klar?
Er lächelte schon wieder.
„Die müssen doch weiter Angst vor mir haben!“
Wir nickten beide wortlos.
Bedanken konnte ich mich nicht. Aber unsere Gesichter werden eine klare Sprache
gesprochen haben. Während wir den Baum aufnahmen, wünschte ich dem
Wachtmeister dann noch ein frohes Fest. Der nickte und wandte sich an den
Kutschermantel.
„Sagen Sie mal, haben Sie auch ´ne Konzession zum Weihnachtsbaumverkauf?
Dürfte ich die einmal sehen?“
Und nun klang seine Stimme wieder dienstlich, und das Auge des Gesetzes funkelte
böse.
Ich hörte nur noch ein Stammeln und sah von weitem, wie der Wachtmeister seinen
Quittungsblock zückte und der böse Weihnachtsbaumverkäufer mit verkniffenem
Gesicht seine gerade erworbenen Münzen in die Gesetzeshand zählte.
So hatte der Weihnachtsbaumverkäufer seine gerechte Strafe erhalten.“
Mein Großvater schaute auf mich.
„Eigentlich waren wir ja wirklich Diebe gewesen. Ich habe übrigens nie wieder etwas
stehlen wollen. –Tja, was soll ich noch erzählen. Wachtmeister Stüdemann hatte an
diesem Weihnachtstag sein mitfühlendes Herz entdeckt. Mein Versprechen hielt bis
zum nächsten Winter. Dem Weihnachtbaumverkäufer begegneten wir zum Glück
nicht wieder. Als wir dann nach Hause kamen, kriegten wir das große Staunen. Im
Salon war die gesamte Familie bereits versammelt. Mit unserem Hausknecht und mit
Minna. Und alle waren natürlich in Sorge. In der Mitte stand ein wunderschöner
Baum, der nicht roch. Zunächst gab es eine Standpauke, doch dann spürten wir
Mutters warme Wange an unseren Gesichtern und Vaters Hand über den Scheiteln.
Erzählt haben wir natürlich nicht, wie wir den Baum bekommen hatten. Sonst hätten
wir Vaters Hand wohl weiter unten gespürt. Obwohl – es war ja Weihnachten – das
Fest der Liebe.
Lembke bekam doch noch seine Zigarren, denn er hatte ja einen neuen Baum
besorgt.
Und Vater trank während der Feiertage keinen Rotwein mehr.
Ein Polizist als Weihnachtsengel, Lutz Dettmann
Für uns war dies ein Weihnachten mit drei Tannenbäumen. Und soviel werden wohl
nicht mal beim Großherzog im Schloss gestanden haben.“
Der Großvater schaute für einen Moment in die Ferne, als ob er mit seinen
Gedanken noch immer in der Vergangenheit weilte. Wir schwiegen, und ich stellte
mir den Großvater vor, wie er mit seinem Bruder den Baum geschleppt hatte.
Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Die Großmutter schaute herein.
„Mann, hast du den Kindern wieder Läuschen erzählt. Nun aber ab zur Bescherung.“
Meine Schwester und ich sprangen auf. Ich drehte mich noch einmal zu meinem
Großvater um. Er schaute mich an, lächelte. Und sein Blick schien zu fragen: „Nun,
ist meine Geschichte wahr, oder ausgedacht?
Für mich ist die Geschichte wahr- auch noch nach mehr als dreißig Jahren.