PDF anzeigen… - Naturforschende Gesellschaft in Zürich

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Hundert Jahre Bäächtelistag
in der ZB
Unsere Agenda kündigt jedes Jahr auf den
2. Januar «Stubenhitze und NeujahrsblätterVerkauf» in der Zentralbibliothek an. Wer kennt
eigentlich noch die Begriffe Bäächtelistag, Stubenhitze und Neujahrsblatt? Und warum ist der
alte Brauch immer noch aktuell?
heute noch englisch «bright») und bezieht sich
auf das Fest der Epiphanie (6. Januar), der
Erscheinung des Herrn.
In Zürich und einigen andern Kantonen
hat sich diese Bedeutung auf den 2. Neujahrstag verschoben, der dort seit Jahrhunderten als
Feiertag gilt. Er ist mit viel Essen, Trinken, TanBäächtelistag
zen und Beschenken verbunden, besonders seit
Der 2. Januar heisst auf Deutsch Berchtoldstag, 1713, als der Zürcher Rat solche Exzesse für den
auf Züritüütsch Bäächtelistag. Im Heiligen- Neujahrstag untersagte.
kalender findet sich kein Namenstag eines
Berchtold. Auch Herzog Berchtold von ZährinStubenhitzen
gen fällt ausser Betracht, obwohl die ZB am Seit dem 14. Jahrhundert bestimmten die ZünfZähringerplatz zu Hause ist. Eine einleuchten- te (Handwerkervereine) das politische Leben
de Erklärung gibt das Schweizerdeutsche Wör- in Zürich. Im 17. und 18. Jahrhundert kamen
terbuch (www.idiotikon.ch/wortgeschichten1/ verschiedene Gesellschaften hinzu, welche die
wortgeschichten-register). Mittelhochdeutsch Bildung und die allgemeine Wohlfahrt anzielten,
«berchtel» heisst «glänzend, leuchtend» (wie so auch unsere 1746 gegründete Gesellschaft.
Sie alle hatten ihr Zunfthaus oder Versammlungslokal.
Gemäss altem Brauch leisteten die Mitglieder alljährlich Beiträge an die Beheizung und
Verschönerung der Stuben, zunächst in Form
von Brennholz, «Stubenhitzen» genannt, später
in Geld. Meist waren es die Kinder, welche am
2. Januar die Gaben überbrachten. Dafür wurden sie zum Dank bewirtet, mit Weissbrot, Zuckerwerk und Süsswein.
Beliebt bei Jung und Alt: Die Neujahrsblätter der Zürcher
Gesellschaften, die jeweils am 2. Januar in der ZB verkauft
werden.
Neujahrsblatt
Das erste Neujahrsblatt wurde 1645 als Einblattdruck von der Bürgerbibliothek (Stadtbibliothek) ausgegeben. Es war ein zusätzliches
Geschenk an die Kinder, vermutlich sehr beliebt, da Bilder damals noch selten waren. Die
Radierung von Conrad Meyer (1618–1689) trägt
den Titel «Tischzucht» und zeigt das Idealbild
einer sittsamen bürgerlichen Familie beim Mittagsmahl.
Im Lauf der Jahre folgten andere Gesellschaften dem Vorbild der Bürgerbibliothek, und
die Einblattdrucke entwickelten sich allmählich zu umfangreicheren Druckwerken. Sie wurden aber stets als «Neujahrsblätter» bezeichnet (s. Tabelle 1).
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Vierteljahrsschrift — 4 | 2016 — Jahrgang 161 — NGZH
Titelbild des ersten Neujahrsblattes der
NGZH (1799). Radierung von Johann
Martin Usteri und Johann Rudolf Schellenberg. «...ein Vater der seinen Kindern die
ihm aufmerksam zuhören Unterricht giebt,
ist eins der schönsten Bilder häuslicher
Glückseligkeit...». Das Bild sucht zu
erklären, womit sich die NGZH beschäftigt.
Es zeigt Landkarten auf dem Tisch,
Naturalien im Schrank sowie ein Bild des
Staubbachs und eine Büste Conrad
Gessners..
Neujahrsblätter der NGZH
Auch die NGZH nahm die ehrwürdige Tradition
auf. Zum Jahr 1799 erschien ihr erstes Neujahrsblatt mit dem Titel «An die Zürcherische
Jugend». Es umfasst ein ganzseitiges Bild und
acht Seiten Text, verfasst von Stadtarzt Hans
Caspar Hirzel d. J., der im selben Jahr unter
dem Eindruck des Kriegselends die «Hülfsgesellschaft» gründete und 1810 auch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft.
Die Neujahrsblätter der NGZH wurden
bis 1866 in der alten deutschen Frakturschrift
gedruckt, damit die Jugend sie besser lesen
konnte. Die heute modern anmutende Antiqua
blieb den erwachsenen Lesern der anderen
NGZH-Publikationen (z. B. Vierteljahrsschrift)
vorbehalten! Seit 1867 erscheint das Neujahrsblatt in Antiqua; seit 1871 fehlt die Widmung an
die Jugend, womit die Reihe definitiv in der Welt
der Erwachsenen angelangt ist.
Über hundert Jahre später, ungefähr 1996
zur Zeit des 250-Jahre-Jubiläums, erweckte
die NGZH die Jugendneujahrsblätter zu neuem
Leben. Als Verfasserin und Gestalterin wirkte
zuerst Denise Schönle, die Frau des damaligen
Präsidenten; seit 2000 ist es Susanne HallerBrem. Die Jugendneujahrsblätter sind meist
Einzelblätter im A3-Format und lehnen sich
thematisch an das Neujahrsblatt des selben
Jahres an.
Der von der NGZH seit 1767 verwendete Prägestempel. Im
Zentrum steht ein Brennglas, das Lichtstrahlen auf den
Altar des Vaterlandes lenkt, um dort ein Opfer anzuzünden. Rundum finden sich Symbole der Arzneikunst,
Naturkunde und Landwirtschaft.
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Ausgabe der Neujahrsblätter in der ZB
Vor hundert Jahren öffnete die Zentralbibliothek ihre Tore (s. Seite 4). Als Nachfolgerin der Bürgerbibliothek setzte sie bis 1939 deren Neujahrsblätter fort und bewahrte den Brauch der
Ausgabe am Bäächtelistag. Andere Gesellschaften wurden damals wohl auch eingeladen, ihre
Neujahrsblätter am 2. Januar in der ZB feil zu
bieten. In seiner «Geschichte der NGZH» von
1947 schreibt Eduard Rübel: «Die Kinder bekamen Gebäck und Malaga. Teils war es wohl echter Wein, so viel ich mich erinnere aber hauptsächlich von Apotheker Lavater mit Süssholzsaft
eigens für die Kinder der Bächtele zubereiteter.
Ein Hauptteil des Anlasses war, dass die Kinder
dazu die schöne zoologische Sammlung besichtigen durften. [...] In neuerer Zeit wurde der Malaga zu Schokolade, unser Blatt wird nicht mehr
in der zoologischen Sammlung, sondern neben
andern in der Zentralbibliothek ausgegeben.»
Auch wenn die ZB nach 1939 kein Neujahrsblatt mehr herausgab: Seit 2005 gibt sie
jedoch eine Musik-CD heraus. So ist die Ausgabe der Neujahrsblätter in der ZB ein fester
Bestandteil des Jahreskalenders und soll 2017
besonders festlich begangen werden.
Das 219. Neujahrsblatt der NGZH
Das Neujahrsblatt auf das Jahr 2017 ist der
100-jährigen Partnerschaft von NGZH und ZB
gewidmet. Das «Brennglas des Wissens» zierte
als Goldprägung zahlreiche Prachtbände in der
Bibliothek der NGZH. Vor 100 Jahren schenkte
die NGZH sämtliche 30 000 Bände ihrer Bibliothek der ZB und legte damit einen wichtigen
naturwissenschaftlichen Grundstock. Das von
Heinzpeter Stucki und Martin Schwyzer herausgegebene Neujahrsblatt beschreibt die Geschichte der NGZH-Bibliothek bis hin zur laufenden Digitalisierung im Projekt DigiTUR und
enthält schöne Illustrationen aus den originalen
handkolorierten Tafelwerken.
Martin Schwyzer
Literatur
Rübel, E. 1947. Geschichte der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich. 149.
Neujahrsblatt der NGZH
Stucki, H. und Schwyzer, M. Hrsg. 2017.
Brennglas des Wissens. Hundert Jahre
Partnerschaft Naturforschende Gesellschaft
und Zentralbibliothek Zürich. 219. Neujahrsblatt der NGZH
Name
Zweck
gegr.
NJB
Bemerkungen
Bürgerbibliothek
(Stadtbibliothek)
öffentliche Bibliothek
und Kunstkammer
1629
seit 1645
1916 zur Zentralbibliothek
FeuerwerkerGesellschaft
Artilleriekunst,
Mörserschiessen
1686
seit 1689
Die Schützengesellschaft der Stadt Zürich
besteht sogar seit dem 15. Jh., publiziert
aber kein Neujahrsblatt
Naturforschende
Gesellschaft NGZH
Naturwissenschaften,
Medizin, Technik,
Landwirtschaft
1746
seit 1799
Gründer Johannes Gessner
(1709–1790)
Hülfsgesellschaft in
Zürich
Wohltätigkeit
1799
seit 1801
Gründer Stadtarzt Hans Caspar
Hirzel d.J. (1751–1817)
Allgemeine Musikgesellschaft
Musikpflege, Ursprung
des Tonhalleorchesters
1812
seit 1813
Zusammenschluss älterer Gesellschaften
seit 1600
Antiquarische
Gesellschaft
Zürcher Geschichte und
Altertümer
1832
seit 1837
Gründer Ferdinand Keller (1800–1881);
auch Sekretär der NGZH
Gelehrte Gesellschaft
Alle Gebiete der Wissenschaft; Wohltätigkeit
(Waisen)
1838
seit 1838
Anknüpfung an das alte Chorherrenstift
(erstmals erwähnt 1259, aufgehoben 1831)
Zentralbibliothek
Zürich
Kantons-, Stadt- und
Universitätsbibliothek
1916
1916–
1939;
seit 2005
Aus Zusammenführung älterer Bibliotheken (Stadtbibliothek, Kantonsbibliothek,
Kloster Rheinau, Chorherrenstift, NGZH)
Gesellschaft zu
Fraumünster
Rolle der Frau in Zürich
1989
seit 2007
Ergänzung zu den Zünften, die nur Männer
aufnehmen
Tabelle 1: Zürcher Gesellschaften und ihre Neujahrsblätter