Predigt am Heiligen Abend

Christmette am 24. Dezember 2016
Dom zu Hildesheim
Predigt: Bischof Norbert Trelle
Weihnachten in der Heiligen Nacht
Jesaja 9, 1-6; Titus 2, 11-14; Lukas 2, 1-14
„Von Gott abgelöst bewegt sich unsere Welt. –
Nur Jerusalem hängt noch an des Schöpfers heiligen Traumes Schnur.“
(Else Lasker-Schüler)
Liebe Schwestern und Brüder!
Im Schein der Kerzen haben wir diesen Gottesdienst begonnen. Und hier im Dom
war eine ganz besondere Stimmung zu spüren, als wir vor dem einzigartigen
Heziloleuchter mit seinen 72 Lichtern Station gemacht haben.
Weihnachtlicher Friede breitet sich aus – hier in unserem Mariendom und wohl auch
bei Ihnen zu Hause, wo Sie vielleicht eine Kerze an der Krippe angezündet haben
oder ein Christbaum den Raum erleuchtet. Die festliche Freude dieser Nacht
verbindet uns hier im Dom mit Ihnen zu Hause in den Wohnzimmern.
Aber – so müssen wir doch fragen – steht die weihnachtliche Freude nicht in einer
ungeheuren Spannung zu der Welt, in der wir leben? Wir sind erschüttert nach dem
schrecklichen Anschlag von Berlin. Der Terror ist bei uns angekommen. Täglich
erreichen uns fürchterliche Nachrichten aus dem winterkalten Syrien. Im Herbst
wurden ganze Landstriche in unserem Kontinent Europa durch Erdbeben zerstört.
Das Schicksal der Menschen in der Ostukraine oder in Nigeria können wir nur noch
am Rande wahrnehmen. Und doch betrifft uns die Situation an ganz anderen Orten
der Welt sehr intensiv – durch die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind und in
unserem Land leben. Die politische Landschaft hier bei uns in Europa und in Amerika
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scheint immer unübersichtlicher zu werden.
Viele haben das Empfinden, als sei etwas ins Rutschen geraten, der Blick in die
Zukunft eher getrübt und unklar. Die Schreie der Unglückspropheten werden lauter.
Sie rufen „Fürchtet Euch“: Fürchtet Euch vor den Fremden! – Fürchtet Euch vor
denen, die anders sind. – Fürchtet Euch vor der Zukunft. Angst ist im Spiel. Den
Menschen wird eng ums Herz.
Angst und Unsicherheit, die finden sich auch im Weihnachtsevangelium. Auch dort
gerät vieles in Bewegung: Ausgelöst durch einen Befehl des Kaisers, entsteht ein
unvorstellbares Chaos. Alle müssen ihr zu Hause verlassen und ihren Geburtsort
aufsuchen, auch Josef macht sich auf den Weg – mit seiner hochschwangeren
Ehefrau, es entwickelt sich eine unruhige Hatz auf der Suche nach einer Unterkunft.
Die Menschen werden von einem Sog erfasst.
Und doch gibt es einen Orientierungspunkt in der nächtlichen Kälte und Dunkelheit:
Ein Engel erscheint, umstrahlt vom Licht des Herrn, und verkündet die Geburt von
Gottes Sohn. – Mitten im Chaos gibt sich Gott selbst einen Ort, an dem sich die
Menschen festmachen können. Mit Zeit und Ort wird dieses Datum angegeben:
„Heute“, so heißt es, als „Quirinius Statthalter von Syrien“ (Lk 2,2) ist – ausgerechnet
Syrien! –, „heute ist Euch in Betlehem, in der Stadt Davids, der Retter geboren“ (Lk
2,11).
Die Bibel erzählt also keine lieblichen Märchen. Sie birgt stattdessen einen
ungeheuren Schatz von Erfahrungen. Unruhe, Unsicherheit und Dunkelheit waren
auch damals in der Welt. Aber genauso wirklich ist das Licht, das von Gott ausgeht
und Orientierung gibt.
Und eben dieses Licht gehört zur Grunderfahrung von vielen gläubigen Menschen.
Vor allem deshalb hat uns ja der lichtvolle Beginn dieses Gottesdienstes so berührt.
Wir wurden daran erinnert, dass Gott das Licht unseres Lebens ist, das uns innerlich
erfasst und unsere Herzen hell macht. Der schlesische Dichter Angelus Silesius
bezieht diese Erfahrung auf das Geheimnis der Weihnacht; er sagt: „Und wäre
Christus tausendmal in Betlehem geboren und nicht in dir, du bliebest doch in
Ewigkeit verloren.“
Katholisches Rundfunkreferat – www.ndr.de/kirche
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Das Vertrauen darauf, dass Gott unser Licht ist und in uns zur Welt kommen will, gibt
eine Sicherheit, an der wir uns festmachen können – auch in der Unsicherheit
unserer Tage. Deshalb ruft der Engel Gottes auch in dieser Nacht: „Fürchtet Euch
nicht!“ (Lk 2,10) – Er sagt: „Fürchtet Euch nicht!“ (ebd.) – Fürchtet Euch nicht, auf
fremde Menschen zuzugehen. Fürchtet Euch nicht, einzutreten für die Würde und
das Lebensrecht jedes Einzelnen. Fürchtet euch nicht, dem anderen zuzuhören, um
zu erfahren, was er zu sagen hat. Habt keine Angst vor der Zukunft! Bringen wir das
Licht, das uns erfüllt, zu den Menschen, damit auch ihr Leben hell wird.
Der berühmte mittelalterliche Heziloleuchter, unter dem das Weihnachtsevangelium
verkündet worden ist, ist ein eindrucksvolles Zeichen dafür. Er stellt das himmlische
Jerusalem dar, jene Stadt, die der Seher Johannes in der Offenbarung auf die Erde
herabkommen sieht – die Stadt, in der Gott bei den Menschen wohnt.
Auf dem Leuchter brennen 72 Kerzen. Für jede im Mittelalter bekannte Sprache der
Welt eine. 72 Kerzen für alle 72 Völker der Erde.
Sie brennen in dieser Nacht für die Verlassenen in Aleppo, für die Opfer des Terrors
in Nigeria, für die, die in der Ostukraine im Bürgerkrieg leben, für unsere koptischen
Schwestern und Brüder in Ägypten und für die Opfer der Anschläge in der Türkei und
in Zürich. – Ja und für die Toten, die Verletzten und die Trauernden in Berlin.
Und ein Licht brennt auch für Sie, die Sie zu Hause diesen Gottesdienst mit uns
feiern und sich nach dem Frieden der Weihnacht sehnen.
Meine Bitte an Sie: Zünden wir in diesen unruhigen Tagen bewusst die Kerzen an –
als Zeichen der Nähe Gottes. Ihr Licht gibt uns Orientierung und Halt. Ihr Licht hat
mehr Recht als alle Finsternis.
Katholisches Rundfunkreferat – www.ndr.de/kirche