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JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 5 07
Season’s Greetings
E
igentlich unglaublich, aber wahr: Wir haben noch nie Weihnachtskarten
verschickt, bekommen jedoch seit vielen Jahren welche. Sie stehen dann
eine Weile auf der Kommode, ich nehme mir vor, den Absendern
herzlich zu danken, dann beginnt wieder die Arbeit und die ganzen
Karten landen im Müll. Das ist ein schöner Brauch und es werden
massenhaft altmodische Briefmarken dafür benötigt. Das gefällt mir.
Viele Menschen geben sich mit diesen Grußkarten eine enorme Mühe
und inszenieren opulente Familienbilder. Oder dokumentieren das Jahr
in einer Collage. Oder verkleiden sich. Bekannte von uns fotografieren sich sogar mit
Nikolausmützen im Sommerurlaub, um das Bild später im Jahr für die Karte zu verwenden.
Verrückt. Ich bewundere diesen Weitblick, eigentlich macht er mir Angst. Jedes Jahr sage ich
im Oktober zu Sara, dass wir auch mal so eine Karte machen müssten. Aber wir vergessen es,
finden keinen Termin, haben keine Idee und schieben es vor uns her. Spätestens wenn die
ersten Weihnachtsgrüße von Freunden eintreffen, schämen wir uns, weil wir es wieder nicht
hinbekommen haben.
Dieses Jahr wollte ich das alles anders machen. Ich schickte eine Nachricht in die familiäre
Whatsapp-Gruppe, dass am 1. Advent ein Fototermin sei. Um 15 Uhr. Im Wohnzimmer.
Meine Kinder fanden sich ein und knabberten Plätzchen, wobei sie eine höchst interessante
Diskussion führten. Nick erläuterte nämlich seinen Plan für den perfekten Mord: „Du musst
einfach jemanden mit der Pistole bedrohen und sagen, er solle sich aufhängen. Das
hinterlässt keine Spuren und sieht aus wie Selbstmord.“ Ich fand das genial, aber Carla sagte:
„Ganz tolle Idee. Weißt Du, was ich sagen würde? Schieß doch, Du Wurst. Wenn ich eh
sterben muss, ist mir das doch egal. Außerdem geht schießen schneller.“ Das war ein
interessantes Argument, fand ich. Aber Nick war unbeeindruckt: „Ich glaube, Du würdest
Dich erhängen, denn Du willst ja nicht, dass der ganze Teppich versaut ist.“ Dagegen hatte
Carla nichts mehr vorzubringen. Dann begannen wir unsere weihnachtliche Foto-Session.
Wir klebten uns Bärte an, ich positionierte das Handy auf einem Stapel Bücher und
betätigte den Selbstauslöser. Ich machte genau 156 Bilder von meiner Familie und mir.
Zwischendurch musste ständig jemand auf die Toilette oder eine Nachricht schicken oder
etwas umrühren. Dann gingen wir in mein Büro und wählten aus. Das war nicht einfach, weil
meine Frau und die Kinder an jedem Bild etwas auszusetzen hatten. Habe die Augen zu, sehe
doof aus, Papa sieht doof aus, unscharf, Bart hängt runter, gucke zur Seite, so etwas eben.
Nachdem es uns in ausführlichen Diskussionen gelungen war, ein Bild auszusuchen,
gestaltete ich eine Karte, überlegte mir einen Text und schickte das Motiv an eine OnlineDruckerei, die zwei Tage später einen Karton mit 100 Karten lieferte. Am zweiten Advent
saßen wir wieder zusammen und unter meiner strengen Aufsicht wurden sämtliche Karten
adressiert und von allen Familienmitgliedern unterzeichnet und mit Sondermarken der Post
beklebt. Es war ein großes Murren und Knurren bei Kindern und Gattin, es hob an ein
Schimpfen und Meckern, doch ich bestand auf penible Pflichterfüllung, die den halben
Sonntag dauerte.
Dienstags fuhr ich ins Dorf. Ich hatte zwei Kartons dabei. Erst steuerte ich den
Wertstoffhof an und warf das Altpapier weg. Dann ging es weiter zum Gemüse– und
Postmann. Als ich an der Reihe war, öffnete ich den Karton, schloss in ganz schnell wieder
und raste zurück zum Wertstoffhof. Ich lief winkend zur Papppresse und rief „Hallo, hallooo“
Der Albaner an der Presse winkte zurück und drückte auf den großen Knopf, der den Inhalt
des Containers auf ein Zehntel der ursprünglichen Dichte zusammendrückte. Und unsere
Weihnachtsgrüße auch.
Ich warf den Karton mit dem Altpapier hinterher und fuhr nach Hause. Heute Morgen
sagte Sara beim Frühstück, dass sie es schon komisch finde, dass wirklich niemand auf unsere
lustige Karte reagiert habe. „Machen wir doch auch nie,“ sagte ich. „Aber dass sich überhaupt
niemand meldet, ist ja schon seltsam,“ sagte Sara. Ich finde noch nicht die Kraft zur Beichte.
Und bitte: verpetzen Sie mich nicht. Danke. Frohe Weihnachten. •
26. DEZEMBER 2016