MEDIZIN ÜBERSICHTSARBEIT Altersepilepsie Konrad J. Werhahn ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund: Epilepsien sind die dritthäufigste Erkrankung des Gehirns im Alter. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird der Anteil von Patienten mit Epilepsie in der Bevölkerung steigen. Methode: Selektive Literaturrecherche (auf Basis von 102 Veröffentlichungen, hiervon 50 Originalarbeiten; Stand September 2008). Ergebnisse: Es besteht ein sehr niedriges Evidenzniveau. Leitlinien, systematische Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen liegen nicht vor, und es gibt nur drei randomisierte doppelblinde Therapiestudien über die Altersepilepsie. Klinisch werden epileptische Anfälle häufig nicht erkannt, weil Anfallsvorgefühle (Auren) und der Übergang in generalisierte tonisch-klonische Anfälle seltener sind als bei jungen Patienten. Andererseits kommen plötzliche Bewusstseinsstörungen im Alter häufiger vor, was die Differenzialdiagnose erschwert. Die Therapie ist durch häufige Komorbidität und multiple Pharmakotherapie kompliziert und erfordert ein behutsames Vorgehen. Hier ist insbesondere auf Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten zu achten. Positiv ist zu vermerken, dass epileptische Anfälle im Alter scheinbar besser durch Medikamente kontrollierbar sind als bei jungen Patienten. Schlussfolgerung: Epilepsien im Alter sind oft schwerer zu erkennen als bei jungen Patienten. Die Therapie ist durch Neben- und Wechselwirkungen erschwert, weswegen eine sichere Diagnose unabdingbar und der Einsatz moderner Antiepileptika oft notwendig ist. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(9): 135–42 DOI: 10.3238/arztebl.2009.0135 E pilepsie galt lange als eine Erkrankung des Säuglings- und Kindesalters beziehungsweise des jungen Menschen. Anhand von epidemiologischen Untersuchungen wurde aber inzwischen deutlich, dass Epilepsien am häufigsten im Alter über 75 Jahre auftreten (1, 2) (Grafik 1). Epilepsien gehören damit zu den Alterserkrankungen und sind nach dem Hirninfarkt und den Demenzerkrankungen die dritthäufigste Krankheitsgruppe des Gehirns im Alter. Die Wahrnehmung von Altersepilepsie in der Öffentlichkeit und bei Mitarbeitern des Gesundheitswesens ist unzureichend (e1). Diese Übersicht soll daher einige wichtige Prinzipien der Diagnostik und Therapie von Altersepilepsien im Unterschied zu Epilepsien bei jungen Patienten aufzeigen. Methodik Für diesen Artikel durchsuchte der Autor die Literaturdatenbank der National Library of Medicine, Bethesda, USA („PubMed“) in einer selektiven Literaturrecherche für den Zeitraum 1949 bis Ende September 2008 nach englischen oder deutschen Artikeln mit den Begriffen „elderly“ und „epilepsy“ im Titel (epilepsy [ti] AND elderly [ti] AND english oder german [la]). Nach diesen Kriterien wurden 102 Arbeiten gefunden, von denen 43 Übersichtsarbeiten und 9 Fallberichte waren. Eine andere Suchstrategie (epilepsy [mh] AND geriatrics [mh] AND english oder german [la]) ergab lediglich 74 Artikel. Einbezogen wurden zudem Artikel aus aktuellen Fachbüchern zu dem Thema (e2, e3). Für diese Übersicht berücksichtigte der Autor nur die Originalberichte mit Daten von größeren Fallserien. Schlüsselwörter: Epilepsie, Geriatrie, neurologische Diagnostik, Diagnosestellung, Fehldiagnose Ausprägung und Anfallsablauf Neurologische Klinik, Mainzer Epilepsie Zentrum, Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Prof. Dr. med. Werhahn Epilepsien im Alter sind fast immer fokale, das heißt symptomatische Epilepsien, obwohl ein erstes Auftreten einer generalisierten Epilepsie selten auch im Alter vorkommen kann (e4). Bei älteren Patienten werden epileptische Anfälle häufig nicht erkannt und als unklare mentale Veränderungen, Verwirrtheit, Synkopen, Gedächtnisstörungen oder Schwindel eingeordnet (3). Eine Episode mit gestörtem Bewusstsein und starrem Blick mit nachfolgenden Minuten anhaltenden Verwirrtseins mag das einzige klinische Zeichen eines epileptischen Anfalls eines alten Patienten sein. Anfallsvorgefühle (Auren) kommen bei jungen Erwachsenen mit fokalen Epilepsien in circa 50 % der Fälle vor (4), sind aber bei älteren Patienten selten (e5). Das Fehlen von Auren erschwert die Einordnung und das frühe Erkennen von epilepti- ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ 135 MEDIZIN Anfall, das häufige Fehlen von motorischen Entäußerungen wie Automatismen und das Fehlen von Auren sind wichtige Gründe, warum epileptische Anfälle bei älteren Patienten häufig nicht erkannt werden. Zudem kann die postiktale Verwirrtheit bei Älteren deutlich länger (Stunden und Tage) dauern (6), was als Demenz oder Hirninfarkt verkannt werden kann. Daher muss bei einem akut verwirrten älteren Patienten ohne strukturelle Veränderungen in der Computertomografie und ohne eine andere plausible Erklärung für kognitive Ausfälle (zum Beispiel Exsikkose, Infekt, Hyperglykämie) an einen epileptischen Anfall oder einen Status nicht konvulsiver Anfälle (12) gedacht werden und ein Elektroenzephalogramm (EEG) durchgeführt werden. GRAFIK 1 Ätiologie Inzidenz von neu aufgetretenen epileptischen Anfällen in Abhängigkeit vom Alter (basierend auf Referenz 2) schen Anfällen. Der generalisierte tonisch-klonische (Grand-mal-)Anfall wird von den meisten Beobachtern als epileptisch erkannt und führt häufig zu der Diagnose einer Epilepsie. Generalisierte tonisch-klonische Anfälle sind aber bei älteren Patienten seltener (26 %) als bei jüngeren (65 %) (5). Der seltenere Übergang in einen generalisierten tonisch-klonischen Ätiologien von Epilepsien im Alter (basierend auf Referenz 1) 136 GRAFIK 2 Jede Erkrankung des ZNS kann zu epileptischen Anfällen führen. Epilepsien im Alter sind Ausdruck einer zugrunde liegenden Erkrankung des Gehirns. Die Ätiologie ist bei Aussagen zur Prognose von großer Bedeutung. Symptomatische Epilepsien im jungen Erwachsenenalter sind zumeist auf geburtstraumatische Veränderungen, Missbildungen oder Anlagestörungen des Gehirns zurückzuführen oder sind Folge einer Enzephalitis, eines ZNS-Traumas oder Hirntumors. Im höheren Erwachsenenalter sind sie zumeist Ausdruck oder Folge zerebrovaskulärer und neurodegenerativer Erkrankungen (Grafik 2). Hirntumoren spielen im Alter eine untergeordnete Rolle und bei einem Drittel der Patienten bleibt die Ätiologie unklar (7). Epidemiologische Untersuchungen an Patienten über 60 Jahre ohne einen Hirninfarkt, ein Trauma oder eine Demenz in der Vorgeschichte haben ergeben, dass das Risiko einer Epilepsie bei 1,1 % liegt. Sie ist damit immer noch etwa doppelt so hoch wie bei jungen Erwachsenen, aber sehr viel niedriger, als wenn diese Risikofaktoren vorhanden sind (8). Zerebrovaskuläre Erkrankungen sind die wichtigste Ursache von Epilepsien im Alter. Populations-basierte epidemiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Hirninfarkt das Risiko für einen epileptischen Anfall um den Faktor 23 und für eine Epilepsie um den Faktor 17 im ersten Jahr nach dem Schlaganfall gegenüber der vergleichbaren Allgemeinbevölkerung erhöht (e6). Hierbei muss man sogenannte Früh-Anfälle, die als akute epileptische Reaktion in den ersten Stunden bis zu zwei Wochen nach dem Infarkt auftreten (e7), von Spät-Anfällen unterscheiden. Tierexperimentelle Daten deuten daraufhin, dass frühe Anfälle nach Hirninfarkt auf eine akute biochemische Dysfunktion zum Beispiel durch Exposition mit dem erregenden Neurotransmitter Glutamat zurückzuführen sind (e8). Frühe Anfälle treten bei 2 bis 8 % der Patienten zumeist in den ersten 24 bis 48 Stunden nach dem Schlaganfall auf (9). Demgegenüber spielen als Ursachen für die epileptischen SpätAnfälle, die zwei Wochen oder später nach dem Hirninfarkt auftreten, chronische Prozesse wie der Wegfall hemmender Einflüsse, Vernarbung und die Bil⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN dung neuer synaptischer Verbindungen eine Rolle (e9). Späte einzelne epileptische Anfälle nach Schlaganfall kommen bei 3 bis 6 % der Patienten vor (9). Von diesen Patienten entwickeln etwa die Hälfte wiederkehrende Anfälle im Sinne einer fokalen Epilepsie zumeist in den ersten drei Jahren nach dem Schlaganfall. Die Häufigkeit von fokalen Epilepsien nach Hirninfarkt liegt mit 2 bis 4 % somit zwei- bis viermal höher als in der Altersgruppe üblich (9). Besonders Patienten mit Spät-Anfällen, die auch Früh-Anfälle hatten, haben ein sehr hohes Risiko für eine fokale Epilepsie (e7). Weitere Prädiktoren für eine Epilepsie nach Schlaganfall sind der Infarkttyp (hämorrhagisch > kardioembolisch > ischämisch bei Arteriosklerose), die Lokalisation (kortikal > subkortikal) und die Schwere des Schlaganfalles nach Klinik und cranieller Computertomografie. Epileptische Anfälle können im Alter aber auch der erste Hinweis auf eine vaskuläre Erkrankung des Gehirns sein. In einer Studie an 4 709 Patienten, die älter als 60 Jahre waren und bei denen keine zerebrovaskuläre Erkrankung, Trauma, Demenz oder Alkoholmissbrauch vorlagen, hatten Patienten mit epileptischen Anfällen ein 2,89fach (95-%-KI: 2,45–3,41) erhöhtes Schlaganfall-Risiko über einen Zeitraum von fünf Jahren gegenüber einer Kontrollgruppe ohne Anfälle (10). Patienten mit dem ersten Anfall nach dem sechzigsten Lebensjahr, sollten daher nach vaskulären Risikofaktoren untersucht werden (Grafik 3). Da bei jedem zweiten über 60-jährigen Patienten eine zerebrovaskuläre Veränderung die Ursache für einen ersten epileptischen Anfall ist, gilt es, das vaskuläre Risikoprofil zu analysieren und den Patienten bis zum Beweis des Gegenteils als „schlaganfallgefährdet“ einzustufen (3). Die Inzidenz von epileptischen Anfällen bei Patienten mit Alzheimer-Demenz nimmt mit zunehmender Erkrankung zu und beträgt kumulativ über sieben Jahre 8 % (11). Die Inzidenz ist bei jungen Alzheimer-Pa- GRAFIK 3 Diagnostisches Vorgehen (Empfehlung des Autors, eingeschränkte Evidenz und fehlende Leitlinien) tienten deutlich höher (50 bis 59 Jahre; 4,3 %) als bei Patienten, die erst im hohen Alter erkranken (> 80 Jahre; 0,55 %). Außer dem Erkrankungsalter sind für eine Epilepsie typische Potenziale in der Elektroenzephalografie (EEG) und die Schwere der Erkrankung weitere Risikofaktoren für Anfälle (11). Epileptische Anfälle stehen aber bei Demenzerkrankungen nicht im Vordergrund und stellen auch kein gravierendes therapeuti- TABELLE 1 Übersicht Therapiestudien (Evidenzklasse I–III) bei Altersepilepsie Ref Jahr Typ n AEDs Dauer (Monate) Retention (%) Zieldosis (mg) Evidenz I–II Brodie 1999 rand.-kontroll. 150 LTG vs. CBZ 6 LTG 71*1 > CBZ 42 LTG 100, CBZ 400 Rowan 2005 rand.-kontroll. 593 GBP vs. LTG vs. CBZ 12 LTG 66*1 > GBP 49* > CBZ 36 LTG 150, GBP 1500, CBZ 600 Saetre 2007 rand.-kontroll. 185 LTG vs. CBZ ret. 12 LTG 73 = CBZ ret. 67 LTG 100, CBZ ret. 400 Evidenz III Nieto-B. 2001 Groselj 2005 Stefan 2008 rand.-kontroll. 49 LTG vs. CBZ 6 LTG 20, CBZ 50 unklar retrospektiv 43 TOP 7 79 TOP 100 offen, prospektiv 107 TOP 9 61 TOP 100 *1 Anzahl verbleibende Patienten bei Ende der Studie, Mischung aus Wirksamkeit und Verträglichkeit CBZ, Carbamazepin; GBP, Gabapentin; LTG, Lamotrigin; TOP, Topiramat rand.-kontroll., randomisiert kontrolliert; vs, versus; CBZ ret., CBZ retard ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ 137 MEDIZIN GRAFIK 4 Therapeutisches Vorgehen (Empfehlung des Autors, eingeschränkte Evidenz und fehlende Leitlinien) sches Problem dar. Wesentlicher ist, dass sie überhaupt erkannt werden. Bei jeder unklaren und transienten Verwirrtheit älterer Menschen muss an eine fokale Epilepsie gedacht, eine detaillierte Fremdanamnese erhoben und ein EEG angefordert werden (12). Therapie Die medikamentöse Behandlung alter Patienten mit Antiepileptika ist kompliziert und erfordert besondere Aufmerksamkeit gegenüber altersbedingten Veränderungen der Pharmakokinetik und der Pharmakodynamik (13). Leitlinien, systematische Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen liegen nicht vor. Es gibt nur drei kontrollierte, randomisierte doppelblind durchgeführte Therapiestudien bei Altersepilepsie der Evidenzklasse I–II (14–16) und eine Reihe von kleineren Studien der Klasse IIa–III (17–22) (Tabelle 1). Daher basieren manche Entscheidungen der AntiepileptikaBehandlung im Alter oft auf der Extrapolation von Erfahrungen und Daten bei jungen Erwachsenen und auf dem Wissen über die allgemeinen Prinzipien der Pharmakotherapie im Alter (e10). In den vorliegenden Studien hat sich gezeigt, dass Lamotrigin und Gabapentin Carbamazepin überlegen sind (14, 15). Dieser Unterschied schwindet aber, wenn langsamer auf eine niedrigere Zieldosis von 400 mg/Tag mit retardiertem Carbamazepin aufdosiert wird (16). In der Wirksamkeit unterschieden sich die getesteten Substanzen nicht, sondern der Unterschied kam vornehmlich durch eine bessere Verträglichkeit zustande. Die Behandlung von Epilepsien im Alter scheint hierbei öfter erfolgreich zu sein, als bei jungen Er- 138 wachsenen (e11). So lag die anfallsfreie Anteil zwei Jahre nach Therapiebeginn bei 622 Patienten in der wohl bekanntesten Therapiestudie über Epilepsie (23) für Patienten im Alter über 65 Jahre bei 62 % für 40-jährige oder jüngere Patienten dagegen nur bei etwa 30%. Dies setzt allerdings voraus, dass die Medikamente vertragen werden und es nicht zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommt. So mussten in der Untersuchung von Mattson et al. (23) etwa 64 % der Patienten über 65 Jahre die Therapie wegen Nebenwirkungen abbrechen, im Vergleich dazu etwa 33 % der jungen Erwachsenen. Eine antikonvulsive Therapie im Alter ist daher bestimmt durch die Suche nach dem am besten verträglichen und am wenigsten metabolisierten Medikament (13, e12) (Grafik 4). Durch erhöhte Medikamenten-Empfindlichkeit, Einschränkung der therapeutischen Breite und erhöhte Wahrscheinlichkeit von medikamentösen Interaktionen können Probleme entstehen. Die wichtigsten pharmakokinetischen Parameter und Interaktionen von Antiepileptika sind in den Tabellen 2–4 dargestellt. Hieraus geht hervor, dass aufgrund der vielzähligen Interaktionen die sogenannten enzyminduzierenden Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital, Primidon) im Alter generell nicht empfohlen werden können (e12, 24). Altersbedingte Veränderungen der Pharmakokinetik spielen bereits bei der Medikamenten-Adsorption eine Rolle, da die Magensekretion, das Blutvolumen und der Blutfluss sowie die Motilität des Gastrointestinaltrakts im Alter reduziert sind. Die Serumkonzentration von Medikamenten wird stark durch die Proteinbindung vor allem an das Serum-Albumin beeinflusst, die im Alter deutlich reduziert ist (e13), sodass der freie Anteil der Medikamente im Serum ansteigt. Dies beeinflusst nicht nur die erwünschten, sondern auch die unerwünschten Wirkungen und ist von besonderer Relevanz bei Antiepileptika mit einer hohen Eiweißbindung wie Valproinsäure, Phenytoin oder Carbamazepin, die daher häufig altersbedingten Veränderungen der Proteinbindung unterliegen (e10). Die wichtigsten altersbedingten physiologischen Veränderungen sind: > die Reduktion der Lebermasse und des Blutflusses und damit des Leberstoffwechsels und > die zunehmende Einschränkung der Nierenfunktion. Die Fähigkeit der Leber, Medikamente zu metabolisieren, hängt von der enzymatischen Kapazität der Leber ab. Der Cytochrom P450-Enzymkomplex, einer der wichtigsten Abbauwege von Medikamenten, nimmt bereits ab dem vierzigsten Lebensjahr um etwa 10 % pro Dekade ab, das heißt bei Patienten im Alter von 70 Jahren ist er um 30 % reduziert (e14). Erschwerend kommt hinzu, dass es für den Leberstoffwechsel keinen klinischen Parameter gibt, mit dem die Leberfunktion genau überwacht werden könnte. Leberenzyme wie die γGT, GOT oder GPT oder die Konzentration des Serumalbumins sind kein Maß für ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN TABELLE 2 Pharmakokinetik, Elimination und Interaktionen von Antiepileptika Medikament Abkürzung Halbwertszeit in Stunden Proteinbindung (%) Haupt-Elimination Enzym-System involviert Wechselwirkung mit AED Carbamazepin CBZ 5–26 75 hepatisch: Oxidation zu Epoxid (65 %) und Glucuronidierung (15 %) CYP3A4 VPA, LTG, TPM, ZNS, LEV (25 %) und Benzodiazepine reduziert Phenobarbital PB 77–128 55 hepatisch: Oxidation und Glucosidation CYP2C9 CBZ, VPA, LTG, TPM, ZNS, LEV (25 %) und Benzodiazepine reduziert Phenytoin DPH 7–42 90 hepatisch: Oxidation in der Leber CYP2C9 CBZ, VPA, LTG, TPM, ZNS, LEV (25 %) und Benzodiazepine reduziert Valproinsäure VPA 9–15 90 hepatisch: Glucuronidation (50 %) und Oxidation UGT2B7 LTG deutlich, CBZEpoxid und PB leicht erhöht; CBZ leicht reduziert Bemerkung Epoxid Metabolit ist aktiv und verursacht häufig Nebenwirkungen Oxidierung durch mitochondriale Oxidasen und CYPs Neue Antiepileptika Gabapentin GBP 5–7 <3 renal Lacosamid LCM 13 < 15 renal (95 %) Lamotrigin LTG 30 55 hepatisch: Glucuronidation (> 65 %) UGT1A4 Levetiracetam LEV 6–8 < 10 renal, (75 %) hepatische Hydrolyse Hydrolase – Oxcarbazepin (MHD aktiver Metabolit) OXC 9 (MHD) 40 (MHD) hepatisch: Glucuronidation (MHD) Aldoketoreduktase DPH 40 % erhöht CYPs (gering) DPH 25 % erhöht Pregabalin PGB 6 98 renal (> 90 %) Topiramat TPM 18–23 15 renal, Oxidation (15 %) Zonisamid ZNS 63 40 renal, Oxidation, Reduktion nicht bekannt 25 % Reduktion VPA Hydrolyse 25 % – CYP3A4 nicht bekannt modifiziert nach Levy et al. in Engel u. Pedley (Hrsg.): Epilepsy – A comprehensive textbook. Lippincott Williams & Wilkins 2008; MHD, Monohydroxy-Derivat, AED, Antiepileptika TABELLE 3 Medikamente, die den Serumspiegel – am ehesten durch Inhibition – von Antiepileptika erhöhen Betroffene Substanz Carbamazepin Lamotrigin Phenobarbital Phenytoin Valproinsäure Interferierende Substanz Antidepressiva Fluoxetin, Fluvoxamin, Nefazodone, Sertralin, Trazodon, Viloxazin antimikrobielle Med. Erythromycin, Clarithromycin, Fluconazol, Isoniazid, Ketoconazol, Metronidazol, Ritonavir, Troleadomycin gemischt Cimetidin, Diltiazem, Quetiapin, Risperidone, Ticlopidin, Verapamil Antidepressiva Sertralin antimikrobielle Med. Chloramphenicol gemischt Dextropropoxyphen Antidepressiva Fluoxetin, Fluvoxamin, Imipramin, Sertralin, Trazodone, Viloxazin antimikrobielle Med. Chloramphenicol, Fluconazol, Isoniazid, Miconazol, Sulfaphenazol antineoplastische Med. Doxyfluridin, Fluorouracil, Tamoxifen, Tegafur, UFT gemischt Allopurinol, Amiodaron, Azapropazon, Cimetidin, Chlorpheniramin, Dextropropoxyphen, Diltiazem, Disulfiram, Omeprazol, Phenylbutazon, Sulfinpyrazon, Tacrolimus, Ticlopidin, Tolbutamid Antidepressiva Sertralin antimikrobielle Med. Isoniazid gemischt Cimetidin nur in der Literatur beschriebene Effekte, modifiziert nach Perucca E. Br J Clin Pharmacol 2005 ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ 139 MEDIZIN TABELLE 4 Medikamente, deren Serum-Konzentration durch enzyminduzierende Antiepileptika (CBZ, PB, DPH und PRM*1) reduziert wird Antidepressiva Amitriptylin, Bupropion, Citalopram, Clomipramin, Desipramin, Desmethylclomipramin, Doxepin, Imipramin, Mianserin, Mirtazapin, Nefazodon, Nortriptylin, Poroxetin, Protriptylin antimikrobielle Med. Albendazol, Doxycyclin, Griseofulvin, Indinavir, Itraconazol, Metronidazol, Praziquantel antineoplastische Med. 9-Aminocampthotecin, Busulfan, Cyclophosphamid, Etoposid, Iosfamid, Irinotecan, Methotrexat, Nitroureas, Paclitaxel, Procarbazin, Tamoxifen, Teniposid, Thiotepa, Vinca Alkaloide Antipsychotika Chlorpromazin, Clozapin, Haloperidol, Mesoridazin, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon Benzodiazepine Alprazolam, Clobazam, Clonazepam, Desmethyldiazepam, Diazepam, Midazolam kardiovaskuläre Med. Alprenolol, Amiodaron, Atorvastatin, Dicoumarol, Digoxin, Disopyramid, Felodipin, Metoprolol, Mexiletine, Nifedipin, Nimodipin, Nisoldipin, Propranolol, Quinidin, Simvastatin, Verapamil (oral), Phenprocoumon Immunsuppressiva Cyclosporin A, Sirolimus, Tacrolimus Steroide Cortisol, Dexamethason, Hydrocortison, Methylprednisolon, Prednison, Prednisolon, orale Kontrazeptiva (auch mit Oxcarbazepin, Topiramat > 200 mg/Tag) gemischt Fentanyl, Methadon, Metyrapone, Misonidazol, Paracetamol, Pethidin, Theophyllin, Thyroxin, Vecuronium *1 CBZ, Carbamazepin; PB, Phenobarbital; DPH, Phenytoin; PRM, Primidon nur in der Literatur beschriebene Effekte, modifiziert nach Perucca Br J Clin Pharmacol 2005 TABELLE 5 Die Häufigkeit (in %, gerundet) der wichtigsten Nebenwirkungen von Antiepileptika*1 Carbamazepin*2*7 Gabapentin*2*7 Lamotrigin*2*7 Levetiracetam*3 Oxcarbazepin*4 Topiramat*5*7 Valproinsäure*6 Doppelbilder affektive Störungen Gangstörung/Ataxie kognitiv Kopfschmerzen Müdigkeit Nystagmus Schwindel Tremor Paraesthesien 8 33 25 29 18 51 14 32 17 8 27 29 30 15 46 14 28 22 7 30 28 23 19 40 14 27 25 – – 6 – – 14 17 – 11 – – 15 – – 19 20 30 8 – – 10 10 3–5 13 13 16 6 – 6 31 27 8 25 25 – gastrointestinal Gewichtsverlust Gewichtszunahme Haarausfall Impotenz Ödeme Hyponatriämie 32 – – (> 8 kg) – 8 9 11 24 – 11 (> 8 kg) – 9 20 – 34 – – (> 8 kg) – – 10 7 – – – – – – – – – 13 – – – 22 – 5 – – – – – 12–16 14 – – – 10 – 5 – – – – 13 3 – – – – – Kategorie Typ neurotoxisch systemisch idiosynkratisch Exanthem Infektion 13 13 48 *1 NW > als 5 % bei AEDs mit Monotherapie Zulassung; *2 Rowan et al. Neurology 2005; *3 V. Biton in Levy, Mattson, Meldrum. Perucca „Antiepileptic drugs“ 5. Ausgabe; *4 G. Krämer in Levy, Mattson, Meldrum. Perucca „Antiepileptic drugs“ 5. Ausgabe; *5 Ramsay et al. Epilepsia 2008; *6 Genton und Gelisse in Levy, Mattson, Meldrum. Perucca „Antiepileptic drugs“ 5. Ausgabe; *7 basierend auf Daten von älteren Patienten 140 ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN die Fähigkeit der Leber zur Verstoffwechslung von Medikamenten (e15). Die Nierengröße und -funktion gehen im Alter ebenfalls zurück (e16). Im Gegensatz zur Leberfunktion ist aber die Nierenfunktion laborchemisch messbar. Aus diesem Grunde sind Medikamente, die renal eliminiert werden, im Alter von Vorteil, da man die Dosis der Nierenfunktion angepassen kann. Dosierung: „Start slow, aim low“ Ältere Patienten sind empfindlicher gegenüber den zentralen und systemischen Nebenwirkungen der Antiepileptka (Tabelle 5), insbesondere kognitiven Nebenwirkungen (e17), was zum Teil mit den oben erwähnten pharmakokinetischen Veränderungen zusammenhängt. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kamen auch die doppelblinden Vergleichsstudien bei Patienten über 65 Jahre, die Carbamazepin gegen Lamotrigin beziehungsweise Gabapentin testeten (14, 16). Alle Medikamente hatten eine vergleichbare Wirksamkeit. Als kombiniertes Maß für die Wirksamkeit und Verträglichkeit diente die Retentionsrate etwa ein Jahr nach Therapiebeginn, das heißt die Anzahl, der in der Studie verbleibenden Patienten. Carbamazepin retard (Zieldosis 400 mg/Tag; 67 %) und Lamotrigin (100 mg/Tag; 73%) unterschieden sich in der Retentionsrate nicht signifikant, während Gabapentin mit 49 % signifikant niedriger lag (14, 16). Wurde allerdings nicht retardiertes Carbamazepin in einer etwas höheren Dosis gegeben (600 mg/Tag), war die Verträglichkeit deutlich schlechter und nur noch 35,5 % der Patienten beendeten die Studie nach einem Jahr (14). Für andere Antiepileptika liegen noch keine kontrollierten Studien vor. Als probate Alternative zu Carbamazepin sollte im Alter an die Valproinsäure gedacht werden (e18), eine lang bekannte Substanz, die in vielen Darreichungsformen angeboten wird und auch bei fokalen Epilepsien wirksam ist. Obwohl das Risiko eines Parkinson-Syndroms mit kognitivem Abbau bei Valproinsäure auf etwa 2 % geschätzt wird (e19) und im Alter häufiger zu sein scheint, ist fehlende Müdigkeit und Verlangsamung und die fehlende Enzyminduktion in der Leber im Alter von Vorteil gegenüber Carbamazepin. Erwähnenswert ist wegen des günstigen Nebenwirkungsprofils und der Pharmakokinetik auch Levetiracetam (21), das auch von Epileptologen empfohlen wird (25). Kontrollierte Studienergebnisse bei älteren Patienten liegen aber für beide Substanzen nicht vor. In einer Studie mit 73 älteren Patienten waren Nebenwirkungen und eine gute Anfallskontrolle in der Mehrzahl der Patienten mit Serum-Carbamazepin- oder -Valproinsäure-Konzentrationen verbunden, die entweder an der unteren Grenze oder weit unterhalb des sogenannten therapeutischen Bereiches lagen (e20). Generell kann daher empfohlen werden, bei Eindosierung von Antiepileptika im Alter (> 70 Jahre) etwa die Hälfte der Dosierung des jungen Erwachsenen als initiale Zieldosis zu definieren und, wenn möglich, halb so schnell aufzudosieren (e21). ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ Fazit Fokale Epilepsien kommen im Alter am häufigsten vor. Der Wissensstand und die derzeit zur Verfügung stehenden Studien können aber viele Fragen des Alltags nicht beantworten, weil Studien speziell mit älteren Patienten fehlen. Da epileptische Anfälle im Alter diskreter ablaufen und häufig übersehen werden, ist insbesondere bei Älteren eine sichere Diagnose basierend auf einer verlässlichen Fremdanamnese oder hinreichend EEG- und/oder Video-EEG-Daten von großer Bedeutung. Während der nächsten Jahre müssen erhebliche Anstrengungen gemacht werden, um den Verlauf von Epilepsien und ihre optimale Behandlung in diesem rasch wachsenden Teil der Bevölkerung besser zu verstehen, bevor ab etwa dem Jahre 2020 jeder zweite Mensch in Deutschland über 50 und etwa sieben Prozent der Bevölkerung 80 Jahre oder älter sein wird. Klinische Kernaussagen > Verglichen mit allen Altersgruppen treten epileptische Anfälle in der Gruppe der über 70-Jährigen am häufigsten auf. > Das klinische Erscheinungsbild epileptischer Anfälle im Alter unterscheidet sich von dem bei jüngeren Patienten: Auren und generalisierte tonisch-klonische Anfälle sind seltener, der Status epilepticus tritt häufiger auf. > Epileptische Anfälle im Alter entgehen oft der Aufmerksamkeit: zur Differenzialdiagnostik sollten häufiger Langzeitableitungen von EEG und EKG eingesetzt werden. > Ein erster epileptischer Anfall im Alter über 60 Jahre sollte vor allen anderen Ätiologien als möglicher Hinweis auf eine zerebrovaskuläre Erkrankung gedeutet werden. > In der antiepileptischen Therapie sollten im Vergleich zu jungen Erwachsenen die Standardzieldosen halbiert und die Eindosierung halb so schnell durchgeführt werden, um Nebenwirkungen zu vermeiden. Interessenkonflikt Der Autor hat Vortragshonorare von UCB, Pfizer, Sanofi-Aventis sowie Studienunterstützung (Step-one) von UCB erhalten. Außerdem gibt er AutorenHonorare von Sanofi-Aventis und UCB an sowie eine Tätigkeit im Advisory Board bei Pfizer und UCB. Manuskriptdaten eingereicht: 2. 7. 2008, revidierte Fassung angenommen: 24. 11. 2008 LITERATUR 1. Hauser WA, Annegers JF, Kurland LT: Incidence of epilepsy and unprovoked seizures in Rochester, Minnesota: 1935–1984. Epilepsia 1993; 34: 453–68. 2. Olafsson E, Ludvigsson P, Gudmundsson G, Hesdorffer D, Kjartansson O, Hauser WA: Incidence of unprovoked seizures and epilepsy in Iceland and assessment of the epilepsy syndrome classification: a prospective study. Lancet Neurol 2005; 4: 627–34. 3. Ramsay RE, Rowan AJ, Pryor FM: Special considerations in treating the elderly patient with epilepsy. Neurology 2004; 62: 24–9. 141 MEDIZIN 4. 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Werhahn Oberarzt, Leiter Epileptologie Neurologische Universitätsklinik Langenbeckstraße 1 55131 Mainz E-Mail: [email protected] SUMMARY Epilepsy in the Elderly Background: Epilepsy is the third most common disease affecting the brain in the elderly. Current demographic trends will lead to an increased prevalence of epilepsy in the general population. Method: A selective literature search revealed 102 relevant publications as of September 2008, 50 of which were original articles. Results: The level of evidence was found to be very low. No guidelines, systematic reviews or meta-analyses are available, and there have been only three randomized, double-blind trials of treatment for epilepsy in the elderly. The seizures often escape clinical attention, because premonitory symptoms (aura) and secondary generalization into tonic-clonic seizures are both rarer in older patients. On the other hand, sudden loss of consciousness from various causes becomes more common with increasing age, presenting a challenge in differential diagnosis. Treatment is often more complex because of comorbidities and multiple other drugs, and requires a cautious approach. Drug interactions, in particular, require special attention. On the positive side, epileptic seizures in the elderly seem to be more easily controlled by medications than they are in young adults. Conclusions: Epilepsy is often more difficult to recognize in old age. The treatment is hampered by side effects and drug interactions. Thus, certainty about the diagnosis is indispensable, and the treatment often requires the use of newer-generation antiepileptic drugs. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(9): 135–42 DOI: 10.3238/arztebl.2009.0135 Key words: epilepsy, geriatrics, neurological diagnosis, diagnostic testing, misdiagnosis @ Mit „e“ gekennzeichnete Literatur: www.aerzteblatt.de/lit0909 The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 9⏐ ⏐ 27. Februar 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZIN ÜBERSICHTSARBEIT Altersepilepsie Konrad J. Werhahn eLITERATUR e1. Blaeser-Kiel G: Altersepilepsien: Fehldiagnosen wegen unvertrauter Anfallsabläufe. Dtsch Arztebl 2007; 104: A 2325. e2. Ramsay RE, Cloyd JC, Kelly KM, Leppik IE, Perucca E: The neurobiology of epilepsy and aging. San Diego: Academic Press 2007. e3. Rowan AJ, Ramsay RE: Seizures and epilepsy in the elderly. Boston: Butterworth-Heinemann 1997. e4. Fernandez-Torre JL, Rebollo M: Typical absence status epilepticus as late presentation of idiopathic generalised epilepsy in an elderly patient. Seizure 2008; 18: 82–3. e5. 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