Vorlesung im Wintersemester 2016/17

Materialien zur Vorlesung „Zugänge zur modernen Kunst“
Ich wünsche allen Hörerinnen und Hörern friedliche Feiertage und ein gesundes neues
Jahr. Wir sehen uns wieder am 12. Januar 2017.
Ulf Schwänke
Gesellschaftliche und politische Funktion von Kunst
„Es ist die Pflicht des Künstlers – entsprechend seinem Können und seinem Temperament –
ein Bild der Gesellschaft zu ermöglichen, in der wir leben. Dabei muss er sich gedanklich sehr
vertiefen und eine starke Beobachtungsgabe zeigen.“ (Hamilton, S. 74)
Delacroix notierte in seinem Tagebuch, „dass jeder Fortschritt notwendigermaßen nicht zu
einem weiteren Fortschritt führen muss, sondern schließlich zu einer Negation des
Fortschritts, der Rückkehr zum Ausgangspunkt“ (zit. nach Gombrich 2002, S. 86).
Politische Kunst „ist engagiert. Sie fordert, Stellung zu beziehen, und sie entsteht aus einem
spezifischen und kritischen Blick auf die Gesellschaft. Unter den gegebenen Verhältnissen
kann sie nicht anders, als zu provozieren. Sie sucht Ärger und will ein Ärgernis sein. Ihre
Mittel sind nicht subtil, sondern eher grob.“ (Hüppauf in Staeck/Volland, S. 5 f.)
„Da … fiktionalen Werken der anwendbare Kontext fehlt, hat der Leser (der Betrachter)
weniger Anhaltspunkte, um zu entscheiden, was genau gemeint ist. Daher können
Begrifflichkeiten, Ereignisse und Figuren unterschiedlich verstanden werden.“ (Eagleton 2016,
S. 147)
„Die von Benjamin hautnah erlebte faschistische Instrumentalisierung von Begriffen wie
Schöpfertum, Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis, die stets an die Einmaligkeit und
Aura des Kunstwerks geknüpft waren und … nun durch die neuen Reproduktionstechniken …
obsolet geworden waren, ließ ihn auf die politische Bedeutung einer antiauratischen Kunst
aufmerksam werden. Mit Erfolg betrieb der Faschismus die Ästhetisierung und Auratisierung
des politischen Lebens. So konnte selbst der Krieg zum Kunstwerk (und damit zur heiligen
Aufgabe) und die Vernichtung, auch die eigene, zu einem ästhetischen Genuss ersten Ranges
erklärt werden … es lebe die Kunst, mag auch die Welt zu Grunde gehen – l’art pour l’art in
höchster Vollendung.“ (Hauskeller, Seite 71 f.)
Die Werke behalten zwar die Aura großer (weil sehr teurer) Kunst, „haben aber auf einmal
eine Bedeutung oder Funktion, die ausschließlich den Interessen der Besitzer entspringt …
Dies gilt für die meisten Formen abstrakter Malerei. Mit ihr sind in der Moderne oft große
weltanschauliche Ideen und gesellschaftspolitische Ambitionen verknüpft, von denen sich
jedoch meist nicht mehr viel ahnen lässt, sobald man die Werke losgelöst von Texten,
Manifesten und ursprünglichen Präsentationssituation betrachtet.“ (Ullrich 2016, Seite 92)
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Mit dem Wechsel der modernen Künstler vom Auftragnehmer zum
Ausstellungskünstler oder Unternehmer finden sich zunehmend gesellschaftliche und
politische Themen in der Kunst.
Jedes Kunstwerk kann daraufhin betrachtet werden, ob es die gesellschaftliche
Wirklichkeit darstellt (wie wir eingangs mit Hamilton gesagt haben). Diese
Darstellung kann versteckt, ja sogar nahezu unsichtbar sein. Sie muss nicht vom
Künstler intendiert sein, sondern kann dem Kunstwerk auch vom Betrachter
zugeschrieben werden; dazu bedarf es aber sichtbarer Hinweise in dem Kunstwerk.
Auch Kunstwerke, die zunächst als l‘art pour l’art wahrgenommen werden, können
eine politische Dimension besitzen und sei es die, dass sie sich einer
gesellschaftlichen oder politischen Deutung versperren. (Evtl. Hinweis auf die 3
Lebensaufgaben.)
Politisch leicht zuzuordnende Kunstwerke (sozialistischer Realismus, faschistische
Heldenbilder, manche Graffiti) fordern selten zu einer vertieften Beschäftigung
heraus. Eine dick aufgetragene Botschaft erhöht nicht den künstlerischen Wert.
Rätselhafte, schwer deutbare Kunstwerke lassen uns dagegen nachdenken und
werden der Komplexität unserer Wirklichkeit eher gerecht.
Kunstwerke, die sich der Deutung so gut wie ganz entziehen, laufen andererseits
Gefahr, für beliebige politische Zwecke eingespannt zu werden. So ist umstritten, ob
z.B. die abstrakte Malerei in der Zeit des kalten Krieges als Ausdruck westlicher
Freiheit zu verstehen ist.
Wenn ein Kunstwerk eine politische Deutung offen nahezulegen scheint, sollte der
Betrachter genau hinsehen – verbergen sich in dem Werk Hinweise, die ein vertieftes
Verständnis fordern oder bleibt es bei dem ersten Eindruck einer flachen
Darstellung? Bei Entdecken verborgener Hinweise sind wir uns bewusst, dass unsere
Sichtweise nicht die des Künstlers sein muss.
Zwang zur Innovation
Ursachen/Missverständnisse:
1. Die Suche nach Originalität – auch wenn den meisten Menschen klar war, dass nicht
jeder ein Genie ist.
2. Die Angst, als unzeitgemäß zu gelten, schuf den Druck auf die Künstler, mit der Mode zu
gehen.
3. Der Schock des Impressionismus weckte den Verdacht: Wenn sich damals so viele
Menschen geirrt haben, dann irren wir uns bei der Ablehnung von Gegenwartskunst
vielleicht auch. Wer nicht als Philister dastehen will, lobt dann vielleicht des Kaisers neue
Kleider.
4. Was vom Publikum abgelehnt wird, muss gute Kunst sein.
5. Was heute etwas gilt, war in der Entstehungszeit neu.
„Für einige Kritiker ist die Originalität eines Werkes ausschlaggebend.. Denkt man jedoch
einen Augenblick über diesen Ansatz nach, kommen Zweifel auf. Denn nicht alles, was neu ist,
ist auch wertvoll. Chemiewaffen etwa sind eine relativ neue Erfindung, aber die wenigsten
Menschen freuen sich darüber… Autoren des 18. Jahrhunderts wie … Fielding und Samuel
Johnson standen der Originalität kritisch gegenüber. Sie hielten sie für eine … launenhafte
Marotte... Innovation (war) streng genommen unmöglich. Es konnte keine neuen
moralischen Wahrheiten geben… Nichts, was irgendein Genie mit wirren Blick mitten in der
Nacht einer plötzlichen Eingebung folgend niederschrieb, vermochte die althergebrachte
Weisheit der Menschheit aufzuwiegen…Aufgabe der Kunst war es, uns mit lebhaften
Abbildern dessen zu versorgen, was wir bereits kannten… Wandel wurde skeptisch beäugt…
(Erst) für die Romantiker sind die Menschen schöpferische Wesen, die sich mit unermüdlicher
Kraft daran machen, ihre Welt zu verändern. Die Realität ist daher dynamisch und nicht
statisch, und Wandel wird eher freudig begrüßt als gefürchtet… Nach romantischer
Auffassung sind die am meisten bewunderten Kunstwerke diejenigen, die über Traditionen
und Konventionen hinausgehen… Jedes Kunstwerk ist eine wundervolle neue Kreation… Wie
der Allmächtige schafft der Künstler sein Werk aus dem Nichts. Allein die Imagination belebt
das Kunstwerk, und sie ist etwas, das aus dem Bereich des Möglichen schöpft, anstatt nur
tatsächlich Existierendes abzubilden. Die Imagination ist in der Lage, Dinge hervorzubringen,
die noch nie da waren… Der Dichter mag in der Lage sein, den göttlichen Schöpfungsakt
nachzuahmen, aber das tut er aus seiner eigenen zeitlichen Begrenztheit heraus. Jedenfalls
stimmt diese Theorie nicht mit dem überein, was Autoren tatsächlich tun. Kein Kunstwerk
kommt aus dem Nichts“. (Eagleton, S. 208 - 211)
„Das moderne Kunstwerk rebelliert gegen eine Welt, in der alles standardisiert oder
vorgegeben ist und von Stereotypen geprägt zu sein scheint… Moderne Kunst zielt darauf ab,
dass wir die Welt mit anderen Augen sehen – sie will unsere routinemäßige Wahrnehmung
durchbrechen und eben nicht verstärken… Wäre jedoch ein Kunstwerk absolut neu, wären wir
kaum der Lage, es als solches zu erkennen… Will ein Werk als Kunst erkennbar sein, muss es
irgendeine Verbindung zu den Kategorien haben, in die wir Kunst einteilen, selbst wenn es
darauf hinausläuft, dass bestehende Kategorien bis zur Unkenntlichkeit verfremdet werden.
Selbst ein revolutionäres Kunstwerk kann nur deshalb als solches gesehen werden, weil es auf
das verweist, was es revolutioniert hat… Mit der Postmoderne schließlich flaut der Hunger
nach Neuartigkeit allmählich ab. Postmoderne Theorien bewerten einen Begriff wie
‚Originalität‘ nicht mehr so hoch. Sie haben die Revolutionen hinter sich gelassen. Stattdessen
umschließen diese Theorie eine Welt, in der alles eine recyelte, übertragene, parodierte oder
abgeleitete Version von etwas anderem darstellt.“ (ebd., S.212 - 214)
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Wir können uns fragen, ob wir uns einem Zeitgeschmack anpassen wollen, der immer
auf der Suche nach dem Neuen, dem noch Moderneren, dem Ausgefallenen ist oder
ob wir lieber nach Qualität suchen und ggf. in Kauf nehmen, selbst als unmodern zu
gelten.
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Wir sollten offen sein für alles Neue, aber wir müssen es nicht zwingend für das Beste
halten. Stattdessen können wir uns freuen, wenn wir in neuen oder älteren
Kunstwerken etwas Interessantes entdecken, das uns anspricht, in das wir uns
vertiefen können.
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Wir sollten über ein gewisses Maß an Skepsis verfügen und überlegen, ob wir einem
Künstler, der eine Masche gefunden hat, in eine Art Sackgasse hinein folgen wollen.
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Wir sollten uns mitunter selbstkritisch prüfen, ob wir für das Werbeargument „Jetzt
neu“ empfänglich sind.
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Statt zu fragen: „Was ist daran neu oder anders?“, können wir fragen: „Was bewegt
uns an dem Kunstwerk? Was beeindruckt uns? Inwiefern ist es geeignet, unsere Sicht
der heutigen und der zukünftigen Welt zu beeinflussen?
Literatur
Buderer, Hans-Jürgen (1994): Neue Sachlichkeit. München (Prestel).
Eagleton, Terry (2016): Literatur lesen. Eine Einladung. Stuttgart (Reclam).
Gillen, Eckhart (2009): Feindliche Brüder? Der kalte Krieg und die deutsche Kunst 19945 – 1990.
Berlin (Nicolai).
Gombrich, Ernst (2002): Kunst und Fortschritt. Köln (Dumont).
Hamilton, George (1969): Manet and His Critics. London (New Haven).
Hauskeller, Michael (2013): Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. 10. Aufl.
München (Beck).
Staeck, Klaus/Volland, Ernst (2012): Kunst und Politik. Politische Arbeiten aus vier Jahrzehnten.
Wetzlar (Büchse der Pandora).