Interview - Folkwang Universität der Künste

Interview mit Prof. Oliver Leo Schmidt zur Lehr- und
Lerninnovation „Plattform Dirigieren“
„Bewegung - Geste - Wirkung“ sind ein zentraler Schwerpunkt im Fach Dirigieren an der
Folkwang Universität der Künste. In einem neuen Verfahren eines videogestützten Lernens soll
der Bereich der Körperarbeit und des Körperbewusstseins, der Koordination und der gestischen
Darstellung von Musik methodisch erweitert werden. Mit Hilfe von breitgefächerten
Videosequenzen werden - parallel zur Präsenzlehre - die Lernerfahrungen aus dem Unterricht
über eine digitale Plattform zugänglich gemacht und mit dem eigenen Üben zu Hause
verbunden. Dies bildhaft-vertiefende Verfahren steht auch unter der Vorgabe, die Handlungsund Selbstkompetenz der Studierenden zu fördern.
In einem traditionell-konservativ gelehrten Fach wie Dirigieren bedeutet die Entwicklung
dieses neuartigen digitalen Lernverfahrens mit Video-Bausteinen ein unterrichtliches Novum
an einer Musikhochschule. Kommunikation & Medien sprach mit Prof. Oliver Leo Schmidt über
seine Idee und das vom Stifterverband und Wissenschaftsministerium NRW mit 33.000 Euro
dotierte Fellowship.
_Was liegt Ihnen bei einer digitalen „Plattform Dirigieren“ mit einem neuartigen
Video-Lernverfahren besonders am Herzen?
Schmidt: Der Unterricht im Fach Dirigieren ist mehr als nur ein Prozess von Vormachen und
Nachmachen. Ich habe mich gefragt, was „Imitation“ bedeutet, wenn es um
Eigenwahrnehmung und Selbstlernen – auch zu Hause – geht. Wirklich nicht einfach. Denn die
Frage bezieht sich auf das, was „Lernen mit dem Körper“ bedeutet und wie Prozesse in Gang
kommen und wie dieses Erlernte nach außen tritt, um Wirkung und Einfluss auf den Klang von
MusikerInnen zu haben. Kann ich das überhaupt als Lehrer vermitteln? Gibt es noch andere
Methoden? Lernen ist ja bei jedem Studierenden anders. Gut so, denn wir sind einzigartig.
Schlecht so, denn es gibt keine Patentrezepte.
_Aber die Erstellung von Videosequenzen zum Thema Dirigieren, Körpersprache und
Gestik hat doch eher etwas von „Rezept“?
S: Ja, das ist richtig. Das bildgebende Darstellungsverfahren von Bewegung, Geste und
Wirkung ist genormt, ähnlich wie eine CD-Aufnahme. Interaktion findet dort nicht unmittelbar
statt, wie wir es vom - ich sage mal - „konservativen“, lebendigen Lernen aus dem konkreten
Unterricht kennen. Wenn wir also Studierende beim Proben vor einem Ensemble oder
Orchester filmen, dann lässt das lediglich Rückschlüsse zu auf deren Wirkung, künstlerische
Ausstrahlung und dirigiertechnische Bedingungen. Und da sind wir auch schon wieder beim
Lernen und beim „Erkenne dich selbst“. Für manche ist das hart, sich selbst zu sehen. Und
wenn ich meine eigenen Aufzeichnungen sehe, mein Gott, ich kann nachts nicht mehr
schlafen. Mein Dirigieren betrachte ich dann als einen „einzigen Fehler“. Ich tröste mich und
sage: „Vielleicht passiert am Abend doch mehr als ich gerade sehe und höre. Hoffen wir’s.“
_Sind das nur Aufzeichnungen von Proben, die Sie auf Ihre digitale Plattform
Dirigieren stellen?
S: Oh nein, nicht nur das. Das wäre zu einfach, obschon man in der Besprechung dieser Videos
sehr viel lernen kann. Vor Jahren schon fragte mich eine technikaffine Studentin aus dem
Studiengang von Werner Schepp Singen mit Kindern und Jugendlichen, ob sie die
Bewegungssequenz zu einem musikalischen Problem in Strawinskys „Geschichte vom
Soldaten“ einmal mit ihrem iPad aufzeichnen könne, um zu Hause zu üben.
Das war der erste Anstoß. Er kam also aus Korea. Und es hat der jungen Frau tatsächlich
geholfen, obschon sie nicht meine langen Arme hatte und eine komplett andere
Gesichtsgestik. Darstellung von innen, Körperspannung, Beseelung lässt sich nicht über Video
erlernen, vielleicht andere dirigentisch-technische Parameter. Und darauf kam es mir an. Und
das gilt es jetzt noch weiter zu spezifizieren, wenn wir nun bestimmte Musikbeispiele, teilweise
mit mir als Dirigenten oder auch Studierenden, für zu Hause aufzeichnen.
_Und das nannten Sie bei Ihrer Bewerbung um die Fördermittel „Handlungs- und
Selbstkompetenz bei den Studierenden fördern“?
S: Ja, das klingt etwas hochtrabend. Ich bin Praktiker genug, um zu wissen, wie schwierig es
ist, jemanden beim Selbstlernen zu unterstützen. Am besten geht es über Begeisterung und
Liebe zur Sache. Methodik ist gut, Leidenschaft ist alles.
Aber wissen Sie, man vergisst doch eben so vieles aus dem Unterricht. Die Erinnerung und
Vergegenwärtigung von Phasen des Lernens sind ein weites Feld im Hochschulalltag. Und
vielleicht können bestimmte Bildverfahren beim „Erinnern“ helfen. Wenn Sie sehen, was die
Studierenden des Studiengangs Lehramt zum Beispiel alles hier leisten müssen - neben ihrem
zweiten Schulfach - und wie sie hier durch ein teils „unsinnig“ lernmodularisiertes Studium
getrieben werden, dann könnte das zumindest ein kleiner Beitrag sein für „erinnertes Lernen
zu Hause“. „Getrieben“ ist tatsächlich ein gutes Wort. Konzentration auf Wesentliches,
Vergegenwärtigen, Ruhe, „Besinnung". Das wäre dringend geboten.
_Wie sehen denn die Videosequenzen konkret aus?
S: Wir zeichnen Unterrichtsabschnitte teils direkt auf oder Übungen, die wir im Unterricht
entwickelt haben und geben sie den Studierenden auf eine digitale Plattform, um mit diesen
dann als Erinnerungshilfe zu Hause üben zu können. Vieles was man an Dirigierbewegungen
sieht, hat man häufig nicht gespürt. Das höre ich immer wieder, und den Satz: „Ich dachte, ich
hätte …“. „Ich dachte, ich hätte die Bewegung übertrieben. Aber das war ja gar nichts. Da
kommt nichts rüber.“ Den Satz finden Sie bei allen, die sich mit Dirigieren beschäftigen. Und
schon kommt etwas in Gang. Das nennt man lernen. Und wenn nun ein Schulmusiker
frustriert die Arme hängen läßt ob seines Daseins als Musiker und überhaupt, dann sage ich
ihm: „Jung, dat haste jut gemacht. Sorge dich nicht, denn ab hier fängt die Kunst nun an.“
Introspektion heißt häufig „nicht mehr getäuscht sein“. Und ein Video ist gnadenlos. Vor allem,
wenn man es bespricht. Vielleicht werden einige auch wieder daran erinnert, daß sie an einer
Kunsthochschule sind. Aber nur als eine kleine, spitze Nebenbemerkung.
_Können Sie perspektivisch erläutern, wohin es mit Ihrem Lernvorhaben gehen soll? Es
klingt ja alles sehr innovativ.
S: Für das Fach Orchester- und Ensembleleitung ist das tatsächlich neu. Folkwang steht ja
auch für „Neu“. Zumindest in einigen wichtigen Bereichen. Ob Innovativ, das entscheiden wir
später. Es gibt zumindest neue Blickpunkte auf ein Fach, welches - seit 150 Jahren schon konservativ, also ohne Strom und Technik, gelehrt wird. Viele Kolleginnen und Kollegen
arbeiten auch mit Video, aber vielleicht nicht so punktuell-exemplarisch, was Unterrichtspläne
und Zeitvorgaben und konkrete Spezifika von Fachproblemen angeht. Auch weiß ich, dass viele
den Mehraufwand scheuen. Es gibt ja genug anderes hier zu tun.
Wir haben nun ein Jahr Zeit, eine digitale Plattform zu entwickeln. Sie steht dann den
Studierenden mit einem individuellen Zugang zum Hochschulserver zur Verfügung. Es gibt
noch weitere Bausteine dafür, die ich aber aus Zeitgründen nicht weiter erläutern kann.
Dann soll ich bei den Studierenden eine Umfrage starten und sie konkret befragen, ob dieses
„Dirigier-Aspirin“ wirkt oder nicht. Und meine Aufgabe wird sein, die positiven Aspekte und
Nebenwirkungen des Lehr- und Lernvorhabens auch anderen Kolleginnen und Kollegen
weiterzuvermitteln. Vielleicht ergeben sich weitere Synergieeffekte. Ich denke da konkret an
Chorleitung und Körperarbeit/Rhythmik.
Aber wie so häufig: wir wissen nicht, wohin der Weg geht, wenn alles noch offen ist. Gut so.
Vielleicht finden wir etwas ganz anderes heraus, was wir nicht gesucht haben. Das ist doch
spannend, oder nicht? Auf jeden Fall freue ich mich über die Möglichkeit der Unterstützung
durch das Ministerium und den Deutschen Stifterverband.
_Vielen Dank, lieber Herr Prof. Schmidt, für das Gespräch.
Kommunikation & Medien / 19. Dezember 2016