Die leere Krippe Dieses Bild zeigt ein Fenster, eines von vielen einzelnen Motivfenstern aus der schönen, modernen evangelischen Kirche in Gammelsbach. Der lange Zeit in Darmstadt lebende Künstler Bruno Müller-Linow (1909-1997) hat es für das 1964 erbaute Gotteshaus geschaffen. Dargestellt ist darauf der Stall von Bethlehem. Wir erkennen links oben im Hintergrund zum Beispiel den Esel, der, auch wenn er in der Bibel gar nicht vorkommt, zur Weihnachtsgeschichte mittlerweile einfach dazugehört. Von seinem Mitgeschöpf, dem Ochsen, können wir zumindest zwei Hörner, rechts oben, erahnen. Den Vordergrund und buchstäblich Mittelpunkt bildet natürlich die Krippe. Besonders gefällt mir, wie bedeutungsvoll sie leuchtet, gleichsam warm strahlt. Aber, bemerkenswert: Sie ist leer. Das hat mich zunächst gewundert. Warum stellt der Künstler diese Krippe leer dar, wo doch sonst in dieser Szenerie gerade das Jesuskind als Mittelpunkt dazugehört? Wo es doch an Weihnachten um die Geburt Jesu geht, über die wir uns, alle Jahre wieder, freuen. Und dann fehlt gerade er? Als ich wieder und wieder dieses Fenster betrachtet habe, wurde mir dann aber klar, dass die leere Krippe tatsächlich mehr aussagt. Denn dass ein Baby darin lag, jenes eine, für die Welt so besondere Kind, das ist ja schon etwa zweitausend Jahre her. Und wenn wir heute eine Figur in die Weihnachtskrippe legen, dann um an das wunderbare Geschehen damals in Bethlehem zu erinnern. Aber dabei bleibt es dann auch. Die leere Krippe hingegen zeigt ganz deutlich, dass Jesus zwar in ihr zur Welt kam, aber längst aus ihr hinaus und in die Welt hinein gegangen ist: um den Menschen von Gott zu erzählen, um sie zu lehren, zu mahnen, zu heilen; um sie zu trösten, zu stärken und zu segnen. Er hat all das getan, wovon uns das Neue Testament berichtet. Wie eine Vorausdeutung seines Lebensweges erkennen wir bei ganz genauem Hinsehen im Hintergrund des Stalles sogar ein grünes (Farbe der Hoffnung!) Kreuz. Sodann: Die Welt sehnt sich, vielleicht in unseren Tagen ganz besonders, nach Erlösung. Wenn wir um uns sehen, nach Syrien und in den Irak, in die Fluten des Mittelmeeres, wenn wir an ungezählte Menschen auf der Flucht denken, an die Ausbeutung der Erde und die Verbrechen an der Schöpfung, und wenn wir sehen, wie in vielen Ländern derzeit die Mächtigen tun, was sie wollen, ohne dass ihnen jemand Einhalt gebieten könnte – wie sehr wäre da zu wünschen, dass ein Machthaber kommt, der zwar sanft und liebend, aber unendlich machtvoll für Frieden und Gerechtigkeit sorgt, was wir Menschen offenbar nicht schaffen. Die leere Krippe ist vorbereitet – und steht damit für die Hoffnung auf die Wiederkehr Jesu, mitten hinein in die leidende, verwundete Welt. Und schließlich, ein drittes: Leer und vorbereitet ist auch die Krippe in mir, auch daran erinnert mich dieses Fenster von Bruno Müller-Linow. Damit Jesus auch hier einen Platz findet. Er nimmt gerne überall dort Wohnung, wo Menschen ihn aufnehmen. „Denn sie hatten sonst keinen Platz in der Herberge“, heißt es im Lukasevangelium; damit war der Stall gemeint. Ich würde ergänzen: Jesus hat sonst heute keinen Platz in der Welt, wenn nicht in den einzelnen Menschen. Alle Jahre wieder neu die leere Krippe im eigenen Herzen aufstellen – so verstehe ich Weihnachten. Bernhard Bergmann
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