Die ZEIT Nr. 53/2016

PREIS DEUTSCHLAND 4,90 €
Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT (verwendetes Gemälde: Anton Raphael Mengs „Hesperus as Personification of the Evening Star“, ca 1765)
101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1
DIEZEIT
15.01.16 09:12
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Das wahre
Geschenk
RELIGIONEN
Die Botschaft der Bibel kann sogar jetzt noch den Menschen Hoffnung geben VON EVELYN FINGER
Politik, Seite 4
Himmlische Ruh?
Wir sehnen uns nach Stille
und fürchten sie doch.
Menschen erzählen von
den lauten und leisen
Momenten ihres Berufs
Chancen, Seite 79–81
Hoffnung schöpfen
Bischof Wolfgang Huber
über das Innehalten.
Dazu sieben Menschen,
die Mut machen
Glauben & Zweifeln, Seite 55/56
Um die Ecke gedacht
Das große
Weihnachtsrätsel
ZEITmagazin, Seite 42
S
Jesus verkörpert eine Möglichkeit des
Friedens, die über das Bisherige hinausgeht
Frieden, wie geht das überhaupt? Damals wie heute
weiß man es nicht so genau und behilft sich damit,
zu sagen, was um des Friedens willen zu unterlassen
sei. Du sollst keine Zivilisten töten, keine Waffen
exportieren, keine Rachegefühle hegen, keine Feind‑
bilder kultivieren. Du sollst nicht, wie Assad, auf
dein eigenes Volk schießen. Du sollst auch nicht, wie
Erdoğan, blind Vergeltung üben.
Was tun? Die Bibel lehrt anhand von Weih‑
nachten, dass Gott barmherzig sei; zu den geist­
lichen Werken der Barmherzigkeit aber gehört es,
die Sünder zurechtzuweisen. Theologen haben
erklärt, wie mit Unfriedensstiftern zu verfahren
sei: »Man muss sie abzubringen versuchen von
ihrem bösen Tun und zur Bekehrung rufen.« Das
sei ein Werk der Barmherzigkeit an ihnen. Frei‑
lich genüge es oft nicht. Zur Liebe gehöre auch,
die unschuldigen Opfer ungerechter Gewalt zu
schützen. »Es wäre eine perverse Verdrehung der
Nächstenliebe, wollte man aus Liebe einfach zu‑
sehen, wie andere abgeschlachtet werden.«
21. Dezember 2016 No 53
101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1
15.01.16 09:11
E
Frieden – wie geht das?
Geboren auf
der Flucht
Eine syrische Familie und
ihre Odyssee nach Europa
www.zeit.de/apps
In eigener Sache: Was richtig
und was falsch bleibt
FEUILLETON
o unwahrscheinlich wie dieses Jahr war
Weihnachten lange nicht mehr. Die
Friedensbotschaft? Ein Märchen aus
Nahost! In Bethlehem wird das Arme­
leute­kind Jesus, das in Wahrheit der
Gottessohn ist, unter wunderbaren Umständen
geboren. »Er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, EwigVater, Friede-Fürst« und ist der Bibel zufolge aus‑
gesandt, »dass des Friedens kein Ende werde«.
Jesus hat, wie man weiß, seine Mis­sion der Ge‑
waltlosigkeit radikal durchgehalten, bis zum Ende
am Kreuz. Was lässt sich aber im Advent 2016,
während auf einem deutschen Weihnachtsmarkt
Menschen sterben und im Nahen Osten des Krie‑
ges kein Ende wird, aus seinem Beispiel lernen?
Passt die märchenhafte Verheißung des bethlehe‑
mitischen Sterns irgendwie zur realen Welt?
Vielleicht so: Schon in der Bibel war das Frie‑
denstiften eine übermenschliche Aufgabe. Alles
fängt ja im Neuen Testament damit an, dass Gott
selber eingreifen muss in den Lauf der Dinge,
und die ganze Weihnachtsgeschichte wird ein­
gebettet in eine Landschaft der Gewalt. König
Herodes beherrscht Judäa als Diktator, der neben‑
bei auch mal eine missliebige Ehefrau beseitigt;
nun lässt er aus Angst vor dem Heiland alle männ­
lichen Kleinkinder Bethlehems ermorden.
Jetzt für Ihr Smartphone!
Der Schock
von Berlin
Warum Kunst die Macht hat,
Menschen zu verändern
ZEIT-Autoren beschreiben,
was sie fürs Leben bereichert hat:
Venedig, Bob Dylan, eine Madonna
aus dem Jahr 1505, ein Fußballtor
von 1973 und so vieles mehr
ZU WEIHNACHTEN
DIE ZEIT im
Taschenformat.
Das Gefühl, durch Zusehen schuldig geworden
zu sein, erklärt vielleicht den zornigen Ton vieler
Zeitungskommentare über Syrien. Gerade vor
Weihnachten fühlt man im Westen, dass auch der
Verzicht auf militärische Gewalt einen Krieg groß
machen kann. Früher pochte Europa auf das
Recht zur Selbstverteidigung und zum gerechten
Krieg im äußersten Notfall. Heute glaubt man:
Kein Krieg kann gerecht sein, weil er stets un‑
schuldige Opfer trifft. Deshalb gibt es das diplo‑
matische, nicht kriegerische Eingreifen, das aber
in Syrien auch jämmerlich gescheitert ist.
Vielleicht könnte eine Weihnachtstugend hel‑
fen: die Hoffnung wider alle Hoffnung. Jesus ver‑
körpert ja eine Möglichkeit des Friedens, die über
das bis dahin Vorstellbare hinausgeht. Der Frie‑
den kommt in Gestalt des Neuen, das erst in der
Rückschau erkannt werden kann. Das heißt: Es
genügt nicht, immer nur aus den schlechten­
Erfahrungen der Vergangenheit heraus zu ent‑
scheiden. Es genügt auch nicht, Flüchtlinge auf‑
zunehmen, aber sich vor der Frage zu drücken,
wie in ihrer Heimat Frieden aktiv zu schaffen sei.
Gerade in Nahost, in den alten biblischen Gegen‑
den Syriens oder Ägyptens, tun neue Antworten
not. Was hilft gegen Diktatoren, die ihr eigenes
Volk bekämpfen? Was hilft gegen Rebellen, die
durch kein Friedensangebot zu beeindrucken sind?
Was hilft gegen Terror, der sich selbst genügt?
Der evangelische Theologe Thomas Klie sagt,
es gebe heute keine apodiktischen ethischen Ma‑
ximen mehr. Das alttestamentliche »Du sollst
nicht töten« halte den Kriegstreiber nicht auf,
und das neutestamentliche »Wer zum Schwert
greift, wird durch das Schwert umkommen« er‑
zeuge weiteren Krieg. Bleibt also die Jesus-­Option:
Liebe deine Feinde? Klie rät, das »lieben« aus dem
Hebräischen zu übersetzen als »erkennen«, »ernst
nehmen« und »angemessen behandeln«.
In Kairo haben sie vorgemacht, wie das geht.
Dort war am dritten Adventssonntag nahe der
koptischen Kathedrale eine Bombe detoniert, die
24 Gottesdienstbesucher tötete. Für orien­ta­li­sche
Christen gehören solche Anschläge längst zum
Advent. Diesmal jedoch standen Ägyptens Chris‑
ten und Muslime zusammen: Wir sind eins! Sie
forderten ein hartes Vorgehen ihrer Regierung
gegen jene, die Zwietracht säen zwischen den
Glaubenden. Das war neu. Nicht nur Einigkeit
demonstrierten sie in Kairo, so wie in Paris nach
dem Attentat auf die Satirezeitschrift C
­ harlie
Hebdo, sondern auch Entschlossenheit, den Frie‑
den nach vorn zu verteidigen. Statt bloß ein I­ deal
zu beschwören, zeigten die Ägypter: Wir glauben
zwar nicht alle an denselben Gott, aber uns ver‑
bindet genug, um den Unfriedensstiftern ent­
gegenzutreten.
Für eine Weihnachtsgeschichte fehlt dem Vor‑
gang das Wunderbare, doch er deutet eine Lösung
an, die man sich auch für Europa wünschen wür‑
de: ein pragmatisches, ideologiefreies Mit­ein­an­
der der Religionen. In Europa haben sich in den
letzten Wochen die Populisten und die Multi­
kultu­ra­lis­ten in­ein­an­der verbissen, beharken sich
Identitäre und Anti-Identitäre. Die einen leugnen
alle interkulturellen Gemeinsamkeiten und be‑
trachten Re­li­gion als etwas unüberwindlich Tren‑
nendes. Die anderen leugnen alle Unterschiede
und halten Religionskonflikte für eine fremden‑
feindliche Erfindung. Doch Frieden entsteht
nicht durch moralische Rechthaberei. Es genügt
nicht, die richtige pazifistische Gesinnung vor
sich herzutragen. Man muss den Frieden erstreiten,
statt ihn nur von anderen zu fordern – sonst bleibt
er eine fromme Floskel.
Es genügt nicht, die richtige pazifistische
Gesinnung vor sich herzutragen
Der Dramatiker Heiner Müller hat einmal gesagt:
Hoffnung ist etwas für Leute, die unzureichend
informiert sind. Man könnte entgegnen: Hoff‑
nungslosigkeit ist etwas für Leute, die zu gut in‑
formiert sind und sich nicht vorstellen können,
dass noch etwas Besseres kommt – der Triumph
der Milde über die Macht, der Klugheit über die
Bosheit, des Kindes über den Krieg.
Da passt die alte Weihnachtsgeschichte doch
in die heutige Welt: Schon zu Zeiten des Jesus von
Nazareth war Frieden nicht der Normalzustand,
sondern ein wahres Wunder, etwas Verletzliches
und Bedrohtes. Deshalb wird der kindliche »Friede-­
Fürst« von den Weisen aus dem Morgenland­
demütig angebetet. »Friede auf Erden« ist ein
Himmelsgeschenk, aber die Menschen müssen
erst lernen, seinen Wert zu ermessen.
Die Geburt des Erlösers an Weihnachten steht
für den Neuanfang, der immer möglich ist. Der
Stern leuchtet in die dunkle Zukunft mit ihren
unbekannten Friedensmöglichkeiten. Man sieht
den Frieden noch nicht. Wie kann man ihn errei‑
chen? Indem man an ihn glaubt.
www.zeit.de/audio
s ist Dienstagmorgen, ein Uhr,
kurz vor Redaktionsschluss. Wir
wissen – zu wenig. Was wir jetzt
auch schreiben, kann in wenigen Stun‑
den schon widerlegt sein. So wie im März
vergangenen Jahres beim Absturz der
Germanwings-Maschine, als wir an
dieser Stelle, ebenfalls kurz vor Andruck
der ZEIT, einen Unfall vermuteten, was
sich als blamabler Fehler herausstellte.
Die weihnachtliche Festausgabe ist
längst fertig. Aber die ursprüngliche
Zeile der Titelgeschichte Ȇberirdisch
schön« klingt nach der Todesfahrt­
eines Sattelschleppers in den Weih‑
nachtsmarkt am Berliner Breitscheid‑
platz wie Hohn. Noch gibt es einen
Rest Hoffnung, es sei vielleicht nur ein
Unfall zweier Unglücksfahrer gewesen,
obwohl zur Stunde mehr für einen be‑
sonders perfiden Anschlag spricht.
Ohnehin ist es unmöglich, die
Schreckensbilder von der Gedächtnis‑
kirche zu sehen, ohne an die Terror­
anschläge dieses Jahres zu denken, zu‑
allererst an die Bluttat auf der Prome­
nade des Anglais in Nizza. Es scheint
so, als ob nun all das eintritt, wovor seit
Jahren gewarnt wird und von dem wir
doch gehofft hatten, es möge nie ge‑
schehen: ein großer Anschlag von isla‑
mistischen Terroristen in Deutschland.
Anders als Polizei, Justiz und Politik
wusste einer allerdings schon nach den
ersten Eilmeldungen, wem die Opfer
in Berlin anzulasten seien. Der Spre‑
cher der AfD Nordrhein-Westfalen
und engste Vertraute von Frauke Petry,
Marcus Pretzell, twitterte: »Es sind
Merkels Tote!« Schamloser kann man
Leid nicht instrumentalisieren.
Pretzells Tweet gibt aber auch einen
Vorgeschmack darauf, was dieses ohne‑
hin nervöse Land an Vergiftung zu er‑
warten hat, sollte sich der Verdacht auf
einen Anschlag bestätigen.
Auch dann und gerade dann jedoch
bleiben die Grundüberzeugungen ei‑
ner freien Gesellschaft richtig. Dass sie
sich von Terroristen nicht die Regeln
des Zusammenlebens diktieren lassen
darf. Und dass sie sich auch nicht da‑
ran hindern lässt, Weihnachten zu fei‑
ern. Das ist kein Zeichen von Fatalis‑
mus, von Gleichgültigkeit eines Lan‑
des, das den Glauben an seine Wehr‑
haftigkeit verloren hat. Der Staat muss
gerade in diesen Zeiten Entschlossen‑
heit zeigen. Ordnung ist in der Bedro‑
hung die Bedingung für den weiteren
Bestand unserer Freiheit.
Wie gesagt, jetzt, am Dienstagmor‑
gen, wissen wir noch zu wenig. Im
Moment bleibt daher nur die Trauer
um die Toten und das Mitgefühl mit
den Hinterbliebenen und Verletzten in
Berlin. Was für ein Schlusspunkt in
diesem so entsetzlichen Jahr! GdL
Alles Aktuelle sehen Sie auf www.zeit.de
Kleine Fotos (v. o.): Paul Zinken/dpa Picture-Alliance;
M. Papadopoulos für DZ; M. Feck für DZ
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
[email protected], [email protected]
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
ABONNENTENSERVICE:
Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
E-Mail: [email protected]
PREISE IM AUSLAND:
DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/
CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/
A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/
B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00
o
N 53
7 1. J A H RG A N G
C 7 4 51 C
53
4 190745
104906