PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT (verwendetes Gemälde: Anton Raphael Mengs „Hesperus as Personification of the Evening Star“, ca 1765) 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT 15.01.16 09:12 WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R Das wahre Geschenk RELIGIONEN Die Botschaft der Bibel kann sogar jetzt noch den Menschen Hoffnung geben VON EVELYN FINGER Politik, Seite 4 Himmlische Ruh? Wir sehnen uns nach Stille und fürchten sie doch. Menschen erzählen von den lauten und leisen Momenten ihres Berufs Chancen, Seite 79–81 Hoffnung schöpfen Bischof Wolfgang Huber über das Innehalten. Dazu sieben Menschen, die Mut machen Glauben & Zweifeln, Seite 55/56 Um die Ecke gedacht Das große Weihnachtsrätsel ZEITmagazin, Seite 42 S Jesus verkörpert eine Möglichkeit des Friedens, die über das Bisherige hinausgeht Frieden, wie geht das überhaupt? Damals wie heute weiß man es nicht so genau und behilft sich damit, zu sagen, was um des Friedens willen zu unterlassen sei. Du sollst keine Zivilisten töten, keine Waffen exportieren, keine Rachegefühle hegen, keine Feind‑ bilder kultivieren. Du sollst nicht, wie Assad, auf dein eigenes Volk schießen. Du sollst auch nicht, wie Erdoğan, blind Vergeltung üben. Was tun? Die Bibel lehrt anhand von Weih‑ nachten, dass Gott barmherzig sei; zu den geist lichen Werken der Barmherzigkeit aber gehört es, die Sünder zurechtzuweisen. Theologen haben erklärt, wie mit Unfriedensstiftern zu verfahren sei: »Man muss sie abzubringen versuchen von ihrem bösen Tun und zur Bekehrung rufen.« Das sei ein Werk der Barmherzigkeit an ihnen. Frei‑ lich genüge es oft nicht. Zur Liebe gehöre auch, die unschuldigen Opfer ungerechter Gewalt zu schützen. »Es wäre eine perverse Verdrehung der Nächstenliebe, wollte man aus Liebe einfach zu‑ sehen, wie andere abgeschlachtet werden.« 21. Dezember 2016 No 53 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 15.01.16 09:11 E Frieden – wie geht das? Geboren auf der Flucht Eine syrische Familie und ihre Odyssee nach Europa www.zeit.de/apps In eigener Sache: Was richtig und was falsch bleibt FEUILLETON o unwahrscheinlich wie dieses Jahr war Weihnachten lange nicht mehr. Die Friedensbotschaft? Ein Märchen aus Nahost! In Bethlehem wird das Arme leutekind Jesus, das in Wahrheit der Gottessohn ist, unter wunderbaren Umständen geboren. »Er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, EwigVater, Friede-Fürst« und ist der Bibel zufolge aus‑ gesandt, »dass des Friedens kein Ende werde«. Jesus hat, wie man weiß, seine Mission der Ge‑ waltlosigkeit radikal durchgehalten, bis zum Ende am Kreuz. Was lässt sich aber im Advent 2016, während auf einem deutschen Weihnachtsmarkt Menschen sterben und im Nahen Osten des Krie‑ ges kein Ende wird, aus seinem Beispiel lernen? Passt die märchenhafte Verheißung des bethlehe‑ mitischen Sterns irgendwie zur realen Welt? Vielleicht so: Schon in der Bibel war das Frie‑ denstiften eine übermenschliche Aufgabe. Alles fängt ja im Neuen Testament damit an, dass Gott selber eingreifen muss in den Lauf der Dinge, und die ganze Weihnachtsgeschichte wird ein gebettet in eine Landschaft der Gewalt. König Herodes beherrscht Judäa als Diktator, der neben‑ bei auch mal eine missliebige Ehefrau beseitigt; nun lässt er aus Angst vor dem Heiland alle männ lichen Kleinkinder Bethlehems ermorden. Jetzt für Ihr Smartphone! Der Schock von Berlin Warum Kunst die Macht hat, Menschen zu verändern ZEIT-Autoren beschreiben, was sie fürs Leben bereichert hat: Venedig, Bob Dylan, eine Madonna aus dem Jahr 1505, ein Fußballtor von 1973 und so vieles mehr ZU WEIHNACHTEN DIE ZEIT im Taschenformat. Das Gefühl, durch Zusehen schuldig geworden zu sein, erklärt vielleicht den zornigen Ton vieler Zeitungskommentare über Syrien. Gerade vor Weihnachten fühlt man im Westen, dass auch der Verzicht auf militärische Gewalt einen Krieg groß machen kann. Früher pochte Europa auf das Recht zur Selbstverteidigung und zum gerechten Krieg im äußersten Notfall. Heute glaubt man: Kein Krieg kann gerecht sein, weil er stets un‑ schuldige Opfer trifft. Deshalb gibt es das diplo‑ matische, nicht kriegerische Eingreifen, das aber in Syrien auch jämmerlich gescheitert ist. Vielleicht könnte eine Weihnachtstugend hel‑ fen: die Hoffnung wider alle Hoffnung. Jesus ver‑ körpert ja eine Möglichkeit des Friedens, die über das bis dahin Vorstellbare hinausgeht. Der Frie‑ den kommt in Gestalt des Neuen, das erst in der Rückschau erkannt werden kann. Das heißt: Es genügt nicht, immer nur aus den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit heraus zu ent‑ scheiden. Es genügt auch nicht, Flüchtlinge auf‑ zunehmen, aber sich vor der Frage zu drücken, wie in ihrer Heimat Frieden aktiv zu schaffen sei. Gerade in Nahost, in den alten biblischen Gegen‑ den Syriens oder Ägyptens, tun neue Antworten not. Was hilft gegen Diktatoren, die ihr eigenes Volk bekämpfen? Was hilft gegen Rebellen, die durch kein Friedensangebot zu beeindrucken sind? Was hilft gegen Terror, der sich selbst genügt? Der evangelische Theologe Thomas Klie sagt, es gebe heute keine apodiktischen ethischen Ma‑ ximen mehr. Das alttestamentliche »Du sollst nicht töten« halte den Kriegstreiber nicht auf, und das neutestamentliche »Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen« er‑ zeuge weiteren Krieg. Bleibt also die Jesus-Option: Liebe deine Feinde? Klie rät, das »lieben« aus dem Hebräischen zu übersetzen als »erkennen«, »ernst nehmen« und »angemessen behandeln«. In Kairo haben sie vorgemacht, wie das geht. Dort war am dritten Adventssonntag nahe der koptischen Kathedrale eine Bombe detoniert, die 24 Gottesdienstbesucher tötete. Für orientalische Christen gehören solche Anschläge längst zum Advent. Diesmal jedoch standen Ägyptens Chris‑ ten und Muslime zusammen: Wir sind eins! Sie forderten ein hartes Vorgehen ihrer Regierung gegen jene, die Zwietracht säen zwischen den Glaubenden. Das war neu. Nicht nur Einigkeit demonstrierten sie in Kairo, so wie in Paris nach dem Attentat auf die Satirezeitschrift C harlie Hebdo, sondern auch Entschlossenheit, den Frie‑ den nach vorn zu verteidigen. Statt bloß ein I deal zu beschwören, zeigten die Ägypter: Wir glauben zwar nicht alle an denselben Gott, aber uns ver‑ bindet genug, um den Unfriedensstiftern ent gegenzutreten. Für eine Weihnachtsgeschichte fehlt dem Vor‑ gang das Wunderbare, doch er deutet eine Lösung an, die man sich auch für Europa wünschen wür‑ de: ein pragmatisches, ideologiefreies Miteinan der der Religionen. In Europa haben sich in den letzten Wochen die Populisten und die Multi kulturalisten ineinander verbissen, beharken sich Identitäre und Anti-Identitäre. Die einen leugnen alle interkulturellen Gemeinsamkeiten und be‑ trachten Religion als etwas unüberwindlich Tren‑ nendes. Die anderen leugnen alle Unterschiede und halten Religionskonflikte für eine fremden‑ feindliche Erfindung. Doch Frieden entsteht nicht durch moralische Rechthaberei. Es genügt nicht, die richtige pazifistische Gesinnung vor sich herzutragen. Man muss den Frieden erstreiten, statt ihn nur von anderen zu fordern – sonst bleibt er eine fromme Floskel. Es genügt nicht, die richtige pazifistische Gesinnung vor sich herzutragen Der Dramatiker Heiner Müller hat einmal gesagt: Hoffnung ist etwas für Leute, die unzureichend informiert sind. Man könnte entgegnen: Hoff‑ nungslosigkeit ist etwas für Leute, die zu gut in‑ formiert sind und sich nicht vorstellen können, dass noch etwas Besseres kommt – der Triumph der Milde über die Macht, der Klugheit über die Bosheit, des Kindes über den Krieg. Da passt die alte Weihnachtsgeschichte doch in die heutige Welt: Schon zu Zeiten des Jesus von Nazareth war Frieden nicht der Normalzustand, sondern ein wahres Wunder, etwas Verletzliches und Bedrohtes. Deshalb wird der kindliche »Friede- Fürst« von den Weisen aus dem Morgenland demütig angebetet. »Friede auf Erden« ist ein Himmelsgeschenk, aber die Menschen müssen erst lernen, seinen Wert zu ermessen. Die Geburt des Erlösers an Weihnachten steht für den Neuanfang, der immer möglich ist. Der Stern leuchtet in die dunkle Zukunft mit ihren unbekannten Friedensmöglichkeiten. Man sieht den Frieden noch nicht. Wie kann man ihn errei‑ chen? Indem man an ihn glaubt. www.zeit.de/audio s ist Dienstagmorgen, ein Uhr, kurz vor Redaktionsschluss. Wir wissen – zu wenig. Was wir jetzt auch schreiben, kann in wenigen Stun‑ den schon widerlegt sein. So wie im März vergangenen Jahres beim Absturz der Germanwings-Maschine, als wir an dieser Stelle, ebenfalls kurz vor Andruck der ZEIT, einen Unfall vermuteten, was sich als blamabler Fehler herausstellte. Die weihnachtliche Festausgabe ist längst fertig. Aber die ursprüngliche Zeile der Titelgeschichte »Überirdisch schön« klingt nach der Todesfahrt eines Sattelschleppers in den Weih‑ nachtsmarkt am Berliner Breitscheid‑ platz wie Hohn. Noch gibt es einen Rest Hoffnung, es sei vielleicht nur ein Unfall zweier Unglücksfahrer gewesen, obwohl zur Stunde mehr für einen be‑ sonders perfiden Anschlag spricht. Ohnehin ist es unmöglich, die Schreckensbilder von der Gedächtnis‑ kirche zu sehen, ohne an die Terror anschläge dieses Jahres zu denken, zu‑ allererst an die Bluttat auf der Prome nade des Anglais in Nizza. Es scheint so, als ob nun all das eintritt, wovor seit Jahren gewarnt wird und von dem wir doch gehofft hatten, es möge nie ge‑ schehen: ein großer Anschlag von isla‑ mistischen Terroristen in Deutschland. Anders als Polizei, Justiz und Politik wusste einer allerdings schon nach den ersten Eilmeldungen, wem die Opfer in Berlin anzulasten seien. Der Spre‑ cher der AfD Nordrhein-Westfalen und engste Vertraute von Frauke Petry, Marcus Pretzell, twitterte: »Es sind Merkels Tote!« Schamloser kann man Leid nicht instrumentalisieren. Pretzells Tweet gibt aber auch einen Vorgeschmack darauf, was dieses ohne‑ hin nervöse Land an Vergiftung zu er‑ warten hat, sollte sich der Verdacht auf einen Anschlag bestätigen. Auch dann und gerade dann jedoch bleiben die Grundüberzeugungen ei‑ ner freien Gesellschaft richtig. Dass sie sich von Terroristen nicht die Regeln des Zusammenlebens diktieren lassen darf. Und dass sie sich auch nicht da‑ ran hindern lässt, Weihnachten zu fei‑ ern. Das ist kein Zeichen von Fatalis‑ mus, von Gleichgültigkeit eines Lan‑ des, das den Glauben an seine Wehr‑ haftigkeit verloren hat. Der Staat muss gerade in diesen Zeiten Entschlossen‑ heit zeigen. Ordnung ist in der Bedro‑ hung die Bedingung für den weiteren Bestand unserer Freiheit. Wie gesagt, jetzt, am Dienstagmor‑ gen, wissen wir noch zu wenig. Im Moment bleibt daher nur die Trauer um die Toten und das Mitgefühl mit den Hinterbliebenen und Verletzten in Berlin. Was für ein Schlusspunkt in diesem so entsetzlichen Jahr! GdL Alles Aktuelle sehen Sie auf www.zeit.de Kleine Fotos (v. o.): Paul Zinken/dpa Picture-Alliance; M. Papadopoulos für DZ; M. Feck für DZ Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. 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