„Natürlich kann ich Kühe melken“

Weihnachten, 24./25./26. Dezember 2016, Nr. 298 DEFGH
HF2
SZ: Signor Ancelotti, kann es sein, dass Sie
sich langsam wieder an Ihre Heimat in der
Emilia Romagna heranpirschen? Von
allen Karrierestationen der letzten sieben
Jahre liegt München am nächsten.
Carlo Ancelotti: Das stimmt! Ich kann endlich wieder mit dem Auto nach Hause fahren. Erst kürzlich war ich noch bei meiner
Schwester, die in der Nähe von Modena
lebt. Meine Eltern sind leider gestorben,
deshalb ist in meinem Heimatort Reggiolo
niemand mehr. Aber Modena liegt ja nicht
weit davon entfernt. Die Autofahrt von
München führt durch eine wunderbare Gebirgslandschaft, die ich jedes Mal sehr genieße.
Bis Sie schließlich in der heimatlichen
Ebene ankommen.
Nebel im Winter, schwülwarmes Wetter im
Sommer. Es ist eigentlich immer sehr
feucht, ein schwer erträgliches Klima.
Sie sind als Bauernsohn in Reggiolo aufgewachsen. Ihr Vater hielt Kühe. Haben Sie
eigentlich Melken gelernt?
Natürlich! Ich war regelmäßig damit betraut, aber nicht frühmorgens, sondern
erst mit der Abendschicht. Wir hatten zehn
Milchkühe im Stall. Die Milch verkaufte
mein Vater an die lokale Kooperative für
Parmesan-Käse. Wenn ich jetzt daran den-
„Wer kocht? Na, ich!
Unser Weihnachtsmenü ist
nicht sehr kompliziert.
Als Hauptgang gibt’s Bollito.“
ke, überkommt mich die Nostalgie. Meine
Familie kannte keinen Stress. Sicher, die
Eltern arbeiteten hart und mussten sehr
früh aufstehen. Geld hatten wir auch nicht
viel. Aber es fehlte uns an nichts. Ich hatte
wirklich eine sorglose Kindheit.
Welche Tiere gab es noch auf dem Hof?
Ein einziges Schwein. Das wurde in der
Weihnachtszeit bei uns zu Hause
geschlachtet. Ein Fest! Da wurden Würste
gemacht, die Salamis baumelten dann
zum Trocknen direkt über meinem Bett.
Sie schliefen umhüllt vom Duft der
Salami?
Na ja, die rochen nicht von Anfang an gut.
Gut Ding muss Weile haben!
Werden Sie auch diese Weihnachten in der
Emilia Romagna sein?
Nein, ich feiere mit meiner kanadischen
Frau in Vancouver. Ihre spanischen Eltern
sind auch dabei. Ich werde einen Weihnachtsbaum aufstellen, wie früher. Nur
auf die Krippe muss ich leider verzichten,
denn sie richtig aufzubauen, mit allen Figuren und der aus Krippenpapier geformten
Landschaft wie in Italien, ist zu zeitaufwendig. Aber die Küche wird italienisch sein!
Wer kocht?
Na, ich! Unser Weihnachtsmenü ist nicht
sehr kompliziert. Es gibt Tortellini in
Fleischbrühe, die ich selber mache. Die Tortellini kaufe ich aber. In Vancouver gibt es
tatsächlich ganz gute frische Pasta. Den
Hauptgang übernehme ich wieder ganz:
Bollito, gekochtes Fleisch. Und zum
Schluss natürlich Panettone, den klassischen italienischen Weihnachtskuchen.
Die Tradition wird hoch gehalten!
Weihnachten ist längst auch ein Fest des
Konsums. Sie sind ohne viel Geld aufgewachsen. Welches Verhältnis haben Sie
heute zum Materiellen?
Ich arbeite jedenfalls nicht des Geldes wegen. Aber es hat Momente in meinem Leben gegeben, als Geld wirklich wichtig für
mich war. Weil ich keines hatte. Was das
für ein Gefühl war, das erste Gehalt zu bekommen, daran kann ich mich gut erinnern. Aber heute? Die Verhandlungen über
mein Salär laufen immer sehr entspannt.
Sie sind Jahrgang 1959, in Ihrer Kindheit
war Italien noch ein stark landwirtschaftlich geprägtes Land. Gibt es jene italienische Provinz noch, in der Sie aufgewachsen sind?
Heute gibt es weniger Kleinbauern und
noch weniger junge Leute, die die Höfe von
ihren Eltern übernehmen. Die Jungen
gehen weg. Das Problem ist, dass dadurch
bestimmte Kulturtechniken und Berufe
verschwinden. Der Käsemacher! Wer früher den Parmigiano Reggiano, den weltberühmten Parmesankäse herstellte, war an-
„Natürlich
kann ich
Kühe melken“
FOTOS: J. SUPER/THE INDEPENDENT; A. SCHELLNEGGER; A. PALMA/LAIF; G. NITSCHKE/BRAUER; F. GULOTTA/ACTIONPRESS; IMAGO (6); PANINI (2)
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gesehen und hatte ein gutes Einkommen.
Heute ist das leider nicht mehr so.
Als Fußballer sind Sie Italien stets verbunden geblieben. Sie spielten in Parma,
später beim AS Rom und schließlich beim
AC Mailand. In Rom hatten Sie aber schon
einen ausländischen Trainer, den Schweden Niels Liedholm.
Wir nannten ihn „Baron“, wegen seiner
feinen Manieren. Liedholm war mit einer
echten italienischen Gräfin verheiratet
und Besitzer eines Weingutes im Piemont.
An ihm war nicht mehr viel Schwedisches,
außer vielleicht seinem trockenen Humor
und der Gemütsruhe, die einer hat, der aus
einem derart großen und leeren Land
kommt. Liedholm vertrat die Auffassung,
dass Fußball von allen unwichtigen Dingen die wichtigste sei. Und ich glaube, er
hatte recht. Der Fußball mag viele Menschen beschäftigen, aber er bleibt am Ende
doch ein Spiel. Manchmal nimmt man den
Fußball zu wichtig, als ginge es um Leben
und Tod, als wäre so ein Spiel wie eine
Schlacht. Das finde ich übertrieben.
In Mailand fiel der Liedholm-Zögling
Ancelotti in die Hände von Arrigo Sacchi.
Da hatten Sie dann allerdings einen Trainer, für den es nichts Wichtigeres als Fußball gab. Sacchi war von Taktik besessen.
Das war schon ein Unterschied zum alten
Baron. Sacchi war ja viel innovativer. Er hat
den italienischen Fußball revolutioniert,
die italienische Mentalität umgekrempelt.
Mit ihm wurde das Spiel offensiver, organisierter, spektakulärer. Beim Training wurde man ganz anders gefordert. Am Anfang
war das für alle ein Schock, besonders für
uns Spieler.
„Ich habe nicht daran
gedacht, dass es ein Problem
sein könnte, auf Pep Guardiola
zu folgen. Im Gegenteil.“
Als Assistent von Sacchi bei der Nationalelf starteten Sie mit 33 Jahren selbst eine
erfolgreiche Trainer-Laufbahn. Und erarbeiteten sich einen Ruf nicht zuletzt mit Ihrer Anpassungsfähigkeit. Was sicher nützlich war, weil Sie in Ihrer Karriere oft auf
starke Trainer-Kollegen folgten: bei Real
Carlo Ancelotti, Bauernsohn
aus der Emilia Romagna, ist heute
einer der erfolgreichsten
Fußballtrainer der Welt.
Ein Gespräch über den
langen Weg zum FC Bayern –
und Salamis überm Kinderbett
interview: birgit schönau
u n d c l au d i o c at u o g n o
Madrid auf José Mourinho, beim FC Bayern auf Pep Guardiola. . .
Das ist ja nur positiv. Bei Real habe ich ein
Team mit einem starken Charakter vorgefunden, auch mit einem hervorragenden
Mannschaftsgeist. Hier beim FC Bayern habe ich eine bestens organisierte Mannschaft vorgefunden, die den Ballbesitz beherrscht und technisch bestechend ist. Ich
bringe immer auch meine eigenen Ideen
mit, wir alle versuchen, einen Stempel aufzudrücken. Aber dabei müssen wir die Vergangenheit berücksichtigen. Und auch die
Geschichte des Klubs, seine Eigenheiten.
In Madrid mussten Sie als Nachfolger des
herrischen Mourinho wahrscheinlich nur
die Fenster weit öffnen und einen neuen
Geist hereinwehen lassen. . .
Die Mannschaft hatte ein schwieriges Jahr
hinter sich, da ist es leicht, Neuerungen einzuführen. Bei den Bayern, die auch in den
vergangenen Jahren sehr erfolgreich waren, ist das komplizierter. Hier brauche ich
ein wenig Zeit für Veränderungen.
Haben Sie eigentlich vorab darüber nachgedacht, wie speziell es sein könnte, auf
Pep Guardiola zu folgen? Sie sind der erste nicht-spanische Trainer, der von ihm
ein Team übernommen hat.
Nein, daran habe ich nicht gedacht. Mir
war nur bewusst, dass die Bayern sehr
stark sind, hervorragend aufgestellt. Aber
ehrlich gesagt ist mir nicht in den Sinn gekommen, dass das ein Problem für mich
sein könnte. Im Gegenteil. Dass meine
Spieler Guardiolas System verinnerlicht
haben, ist doch ein Vorteil für mich.
Wie oft sagen Ihnen die Spieler: Letztes
Jahr haben wir das aber anders gemacht?
Ich muss ihnen halt meinen Standpunkt erklären. Bei Spielern dieser Qualität muss
ein Trainer überzeugend sein.
Sie haben in den ersten Monaten bei
Bayern fast stoisch auf ein 4-3-3-System
gesetzt, wie Sie es auch in Madrid spielen
ließen. Obwohl sich die Elf damit schwer
getan hat. Neuerdings lassen Sie 4-2-3-1
spielen, das alte Guardiola-System. Die
Spieler wirken geradezu erleichtert.
Das Spielsystem ist nicht so wichtig für
mich. Erfolgreich ist nicht das System, sondern dessen Anwendung. Wenn meine
Spieler lieber 4-2-3-1 spielen als 4-3-3,
dann sollen sie das tun. Für mich sind andere Dinge wichtig. Rhythmus, Spielintensität, Kombinationssicherheit, Organisati-
on. Das kann man in allen Systemen immer noch verbessern.
Sie sind dafür bekannt, dass Sie Ihren
Spielern nicht Ideen aufzwingen, sondern
sie davon überzeugen wollen. War es in
diesem Fall aber nicht umgekehrt? Dass
etwa Philipp Lahm zu Ihnen kam, um Sie
vom alten System zu überzeugen?
Ancelottis Markenzeichen,
schon beim AS Rom:
die große Augenbraue.
Auch als Panini-Model.
„Wir Italiener sind so:
Probleme spornen uns an.
Nur in der Organisation
des Alltags hapert es.“
Nein, nein. Es war so, dass wir beim Training verschiedene Formationen ausprobieren. Ein 4-3-3 verschafft uns Vorteile beim
Ballbesitz, das 4-2-3-1 ist nützlicher für
die Vertikalisierung des Spiels. Es kommt
auf die Partie an, auf den Gegner.
Stimmt es, dass Sie von einigen Spielern
denken, die bräuchten eigentlich gar keinen Trainer mehr?
Natürlich gibt es einige, die derart viel Erfahrung haben und das Spiel so gut verstehen, dass man ihnen nicht mehr so viel beibringen kann wie anderen. Bei den Bayern
wären das aus meiner Sicht Lahm, Müller
und Alonso.
Auf der anderen Seite sind Sie ein SpielerErfinder. Eines Ihrer Produkte heißt
Andrea Pirlo. Sie haben ihn entdeckt und
ihm jene Rolle als Spielmacher zugewiesen, mit der er weltbekannt wurde.
Pirlo hatte in Brescia als hängende Spitze
angefangen, natürlich war er auch auf dieser Position sehr gut. Aber beim AC Mailand, wo ich ihn traf, waren andere Dinge
gefragt. Unser Spiel sollte offensiv sein,
spektakulär, darauf legte der Klubeigner
Silvio Berlusconi großen Wert. Ich habe Pirlo also etwas weiter nach hinten verlagert,
damit er nicht nur die Angreifer bediente,
sondern als Architekt unseres Spiels fungierte. Und damit schrieb er dann tatsächlich Fußballgeschichte.
Sie berufen sich gern auf einen Satz des
griechischen Philosophen Platon: Die Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung.
Was bedeutet das für Sie konkret?
Manchmal ist es die Notwendigkeit, sind
es die Probleme, die dich aktiv werden las-
Carlo Ancelotti (linkes
Bild, ganz links) war als
Spieler beim AC Mailand
ein gelehriger Schüler des
großen Trainers Arrigo
Sacchi, mit dem er auch
den Europapokal der Landesmeister gewann (rechtes Bild, ganz rechts).
Zuvor prägte Ancelotti das
Mittelfeld des AS Rom
(mittleres Bild).
sen, dich kreativ machen. Wir Italiener verkörpern doch genau diese Philosophie, unsere Schwierigkeiten stacheln uns an. Bei
der Lösung schier überwältigender Probleme werden wir richtig kreativ. Nur in der
Alltags-Organisation hapert es. Wir Europäer haben halt verschiedene Eigenschaften. Darf ich dazu einen Witz erzählen?
Bitte sehr!
Ich fürchte, der ist schon ziemlich alt. Also:
Das Paradies ist dort, wo die Polizisten
Engländer sind, die Köche Franzosen, die
Auto-Mechaniker Deutsche, die Liebhaber
Italiener, und die Schweizer organisieren
alles. Die Hölle ist da, wo die Köche Engländer sind, die Polizisten Deutsche, die AutoMechaniker Franzosen, die Liebhaber
Schweizer, und die Italiener organisieren
das alles.
Können Sie uns sagen, wo in Europa zurzeit der modernste Fußball gespielt wird?
Nein.
Gibt es den modernen Fußball am Ende
gar nicht?
Es gibt den Fußball. Und was heute gespielt wird, ist dann wohl modern. Für
mich ist das Hauptmerkmal des modernen
Fußballs, dass vor allem sehr viel gespielt
wird. Es gibt schlicht zu viele Spiele, und
das beeinträchtigt zwangsläufig die Qualität. Sicher, die Mannschaften sind heute
im Schnitt besser aufgestellt und organisiert. Sacchis AC Mailand galt damals als
einmalig, aber wenn ich mir heute alte Spiele anschaue, dann sehe ich, dass wir doch
noch sehr viel Platz gebraucht haben. Heute sind die Räume viel enger, es wird intensiver gespielt. Der Fußball geht mit der
Zeit. Aber die Fixierung auf Statistiken
und technische Daten kann ich nicht so
ganz nachvollziehen. Ich halte das nicht
für so wichtig.
Der Fußball verändert sich, vor allem
aber die Fußballer. Biografien wie Ihre,
der Aufstieg des Bauernsohnes oder Arbeiterkindes zum Fußballstar, waren in
Ihrer Generation verbreitet. Heute sind
zumindest in Europa solche Aufstiegsgeschichten seltener. Wird der Fußball bürgerlicher?
In unseren Gesellschaften gibt es generell
mehr Wohlstand als vor 50 Jahren. Und die
großen Stars verdienen sehr viel mehr
Geld als früher. In meinen Augen ist deshalb die Familie nach wie vor sehr wichtig.
Ein 20-Jähriger, der so viel verdient und so
DEFGH Nr. 298, Weihnachten, 24./25./26. Dezember 2016
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SPORT 39
Mia san Carlo: Ancelotti
kennt bereits alles, was in
München wichtig ist – die
Arena, Alfons Schuhbeck,
das Oktoberfest (mit Frau
Mariann) und Philipp
Lahm (im Uhrzeigersinn).
Der Trainer
Carlo Ancelotti begann seine
Trainerkarriere 1992 als Assistent der italienischen Nationalelf unter Arrigo Sacchi. Seinen
ersten Vertrag als Cheftrainer
unterschrieb er 1995 beim
Zweitligisten AC Reggiana, wo
ihm gleich der Aufstieg in die
Serie A gelang. Nach nur einem
Jahr wechselte er zum AC Parma, später übernahm er Juventus Turin, den AC Mailand, den
FC Chelsea, Paris St. Germain,
Real Madrid und den FC Bayern. Ancelotti gewann mit dem
AC Mailand zweimal die Champions League (2003, 2007), mit
Real Madrid einmal (2014).
Der Spieler
Mit 17 Jahren begann Carlo Ancelotti seine Karriere beim
Zweitligisten AC Parma. Nach
drei Jahren wechselte er zum
AS Rom, wo er in acht Jahren
einmal Meister wurde und viermal den Pokal gewann. Von
1987 bis 1992 spielte Ancelotti
dann für den AC Mailand und
gehörte unter Arrigo Sacchi
zum legendären Team um Franco Baresi, Paolo Maldini, Ruud
Gullit, Frank Rjikaard und Marco van Basten. Dieses Team gewann in zwei Jahren sechs Titel, darunter zweimal den Landesmeister-Pokal. Ancelotti bestritt 26 Länderspiele.
im Rampenlicht steht, braucht Unterstützung, wenn er nicht den Kopf verlieren
will. Heutzutage haben viele anstelle der
Familie ihre Agenten. Aber ein Agent kann
die Familie nicht ersetzen.
Sie selbst scheinen für Ihre Spieler mindestens so wichtig zu sein wie ein Familienmitglied. Zlatan Ibrahimovic hat mal
über Sie gesagt: „Für einen Coach, der uns
so viel Freiraum gewährt, würden wir
Spieler alles tun. Sogar töten.“ Das war bislang noch nicht nötig, oder?
„Früher haben wir Tischtennis
gespielt und viel geredet.
Heute umgibt die Spieler die
Einsamkeit des Smartphones.“
Nein. Es stimmt, ich möchte ein gutes Verhältnis zu meinen Spielern haben. Viele
verwechseln das mit Nachgiebigkeit. Das
ist nicht ganz richtig. Disziplin, Einhaltung
von Regeln und Respekt sind mir wichtig.
Ich bin da nicht obsessiv, aber durchaus
durchsetzungsfähig. Ansonsten versuche
ich, mit allen zu reden und, was noch wichtiger ist, allen zuzuhören. Auf Augenhöhe.
Ich würde zum Beispiel niemals auf meinen Zeitplänen bestehen. Wenn die Spieler
lieber nachmittags trainieren wollen als
vormittags – warum denn nicht?
Wie abgeschottet leben Fußballspieler
heute?
Abgeschottet? Sie stehen ständig mit der
ganzen Welt in Kontakt, jedenfalls vordergründig. Durch die sozialen Medien ist die
Arbeit für einen Trainer schwierig geworden. Es gibt da dieses Phänomen, das ich
„die Einsamkeit des Smartphones“ nenne.
Die Spieler isolieren sich damit. Deshalb
vermeide ich inzwischen längere Trainingslager oder Klausur-Einheiten. Wenn
die Spieler zu Hause sind, müssen sie mit
ihren Frauen und Kindern reden. In Klausur hängen manche drei Stunden am Bildschirm. Als ich noch Fußballer war, gab es
im Trainingslager den intensivsten Austausch. Wir spielten Karten, Tischfußball,
Tischtennis, vor allem redeten wir miteinander. Jetzt wird fast nur noch beim gemeinsamen Essen geredet.
Was interessiert Sie außer Fußball?
Das Kino.
Lieblingsfilme?
„Der Pate“ und „Die durch die Hölle gehen“. Außerdem mag ich das italienische
Kino. „Das Leben ist schön“ von Roberto
Benigni oder „La Grande Bellezza“ von Paolo Sorrentino sind Meisterwerke.
Dazu hören Sie wahrscheinlich die Musik
von Bob Dylan . . .
Nicht ganz. Ich bevorzuge Elton John.
Elton John? Das schreiben wir aber lieber
nicht.
Warum denn nicht? Ich höre auch die italienischen Liedermacher. Antonello Venditti,
Claudio Baglioni, die sind im Ausland aber
nicht so bekannt.
Täuscht der Eindruck, dass von Fußballern zunehmend auch schauspielerische
Fähigkeiten verlangt werden? Die großen
Stars der Fußballshow spielen ihre Rollen, Zlatan Ibrahimovic ist der Schurke,
Cristiano Ronaldo gibt die Diva. . .
Es gibt den Ibrahimovic und den Ronaldo
auf dem Platz, und dann gibt es diese Männer als Personen. Das eine hat mit dem anderen nicht viel zu tun. Seitdem Fernsehkameras jede Bewegung, jedes Mienenspiel
auf dem Platz einfangen, sind Fußballer in
der Tat wie Schauspieler. Früher hat man
Fußball einmal in der Woche gesehen, im
Stadion. Heute sieht man die Akteure des
Weltfußballs dauernd im Fernsehen. Hinzu kommen die sozialen Netzwerke. Wissen Sie, wie viele Follower Cristiano Ronaldo auf Twitter hat? Fast 50 Millionen!
Wird der Fußball noch wichtiger, noch
mächtiger werden – oder hat er seinen
Zenit bald überschritten?
Ich glaube, dass es mit dem Wachstum
noch eine ganze Weile weitergehen wird.
Aber die wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigen schon jetzt die Qualität, weil wir
eben immer öfter auf den Platz müssen. Da
besteht mittelfristig das Risiko, dass bei
sinkender Qualität auch das Interesse
nachlässt. Der Fußball könnte sich sozusagen selber fressen. Er wird zu sehr ausgepresst. Weniger Spiele, mehr Qualität, da
müssen wir hin.
Bei der WM 2026 sollen 48 Mannschaften
dabei sein. Fifa-Präsident Gianni Infantino will damit kleinere Teams stärken.
Bei der letzten Europameisterschaft gab es
bereits zu viele Mannschaften, zu viele
Spiele und zu wenig Sehenswertes. Es ist
klar, dass die Fifa die ganze Welt am Tur-
nier beteiligen will. Aber es besteht doch
das Risiko, dass ein Großteil der Spiele
ziemlich uninteressant wird.
In Ihrem Heimatland Italien kann man
gerade beobachten, wie viele Traditionsklubs in den unteren Ligen Pleite gehen,
während die Großen von internationalen
Investoren übernommen werden. Welchen Eindruck macht es auf Sie, dass in
der alten Fußballmetropole Mailand die
Klubs Inter und Milan von Chinesen aufgekauft werden?
Ein bisschen seltsam fühlt es sich schon
an. Bisher gehörte der italienische Fußball
den einheimischen Industriebossen. Der
AC Mailand seit 30 Jahren Silvio Berlusconi, Inter Mailand dem Erdölmagnaten
Moratti, Juventus Turin der Fiat-Dynastie
Agnelli. Die haben zwar alle sehr viel Geld
in ihre Klubs gesteckt, aber fast ausnahmslos in Spieler. Sie haben es versäumt, in
Stadien zu investieren – mit Ausnahme
von Juventus Turin. Mit dem Ergebnis,
dass Juve konkurrenzfähig geblieben ist
und weiter den Agnellis gehören wird. Die
anderen sind auf die ausländischen Investoren angewiesen.
Und auch deshalb hinkt der früher so erfolgreiche italienische Fußball der internationalen Konkurrenz heute hinterher?
Die Stadionfrage ist schon sehr zentral. Viele Klubs sind da auch an der italienischen
Bürokratie gescheitert. Bedenken Sie, dass
Italien seine Stadien zuletzt für die WM
1990 renoviert hat. Vor 26 Jahren! In der
Seine erfolgreichsten
Jahre: beim AC Mailand.
Der skeptische PaniniBlick bleibt der gleiche.
„Uli Hoeneß ist so, wie
ich ihn mir vorgestellt habe.
Es gibt in dieser Branche
kaum Überraschungen.“
Bundesliga ist mir gleich aufgefallen: Die
Stadien sind wunderbar! Auch die kleineren Klubs haben schöne Arenen, die komfortabel für das Publikum sind. Und vor
allem gibt es hier keine Gewalt. Das hängt
alles miteinander zusammen.
Sie haben sowohl für die alten Fußballpatriarchen vom Schlag eines Berlusconi
oder Florentino Pérez in Madrid gearbeitet als auch für die neuen Herren wie
Roman Abramowitsch beim FC Chelsea
Der lässige Onkel: Carlo
Ancelotti hat mit den Größten der Großen zusammengearbeitet – und sie
schwärmen alle bis heute
von ihm. Von links: Cristiano Ronaldo, Zlatan Ibrahimovic und Andrea Pirlo.
und die Scheichs von Katar bei Paris SaintGermain. Worin besteht der Unterschied?
Roman Abramowitsch und Nasser AlKhelaifi, der junge Präsident von Paris
St. Germain, waren ebenso präsent wie die
alteingesessenen Patriarchen. Es gibt da
keinen großen Unterschied. Das Problem
ist eher, dass ein Fußballklub nicht so funktioniert wie ein normales Unternehmen.
Wer einen Klub übernimmt und diesen
dann von seinem Management schlicht als
weiteres Element einer Unternehmensgruppe verwalten lässt, der geht schon ein
großes Risiko ein.
Weil es im Fußball mehr Unwägbarkeiten
gibt?
Wenn eine Firma ein gutes Auto herstellt,
wird sie es wohl verkaufen. Im Fußball können hervorragende Profis wunderbar spielen, müssen aber deshalb noch lange nicht
gewinnen. 80 Prozent Ballbesitz – und du
verlierst trotzdem! Ich habe meine Zweifel,
dass die großen Wirtschaftsführer das
wirklich verstehen und akzeptieren können. Beim FC Bayern habe ich jetzt zum ersten Mal ehemalige Spieler als Chefs. Die
verstehen das ganz bestimmt.
Aber wenn in diesem Klub etwas niemals
akzeptiert wird, dann sind das doch Niederlagen! Als Sie kürzlich nacheinander
in der Bundesliga in Dortmund und in der
Champions League in Rostow verloren
haben, da dürften auch die ehemaligen
Spieler und heutigen Chefs Karl-Heinz
Rummenigge und Uli Hoeneß ziemlich
nervös geworden sein. . .
Nein. Gerade in solchen Momenten, wenn
es mal nicht so läuft, sieht man den Unterschied zwischen einem Präsidenten, der
immer Rendite erwartet, und einem Chef,
der selbst Spieler war.
Sie meinen, den Chef Uli Hoeneß kann
man dann im Zweifel immer noch mit einer guten Flasche Rotwein besänftigen?
Ich meine, natürlich haben wir genau analysiert, wie es zu diesen Niederlagen kommen konnte. Aber ohne Dramen und ohne
große Diskussionen.
Wie viel hatten Sie denn schon mit
Hoeneß zu tun?
Ich habe ihn erst ein paar Mal gesehen. Hoeneß ist genauso herzlich und geradeaus,
wie ich ihn mir vorgestellt habe. Wissen
Sie, es gibt in unserer Branche kaum Überraschungen. Man kennt sich untereinander, und natürlich sprechen alle über alle.
Was mich wirklich überrascht, ist, wie sehr
der FC Bayern von seinen Fans geliebt
wird. Man konnte das auf der letzten Jahreshauptversammlung beobachten, als
Hoeneß wieder zum Präsidenten gewählt
wurde. In Madrid spielen sich auf der Vollversammlung immer große Auseinandersetzungen ab. Da werden unangenehme
Fragen gestellt, da prallen richtige Fraktionen aufeinander. Hier, beim FC Bayern,
herrschte Einigkeit. Es war ein großes Fest.
„Vielleicht ist es von Vorteil,
dass mein Deutsch noch
nicht so gut ist. Da bekomme
ich Kritik nicht so mit.“
Das war auch schon mal anders, meistens
in den Jahren, in denen der Klub seinen
Fans keine Pokale präsentieren konnte.
Pep Guardiola ist in seinen drei Jahren
beim FC Bayern drei Mal Meister geworden. Sie haben in all den Jahren als Trainer drei Mal die Champions League gewonnen – aber auch erst drei nationale
Meistertitel. Die Quote muss in München
zwingend besser werden – diesen Erfolgsdruck verspüren Sie, oder?
Erfolgsdruck gibt es überall. Oder haben
Sie keinen Druck?
Druck? Wir? Hmm. Müssen wir darauf
antworten?
Mir gefällt meine Arbeit. Vielleicht ist es
auch von Vorteil, dass mein Deutsch noch
nicht so gut ist. Deshalb bekomme ich Kritik von außen im Moment nicht so mit.
Und die Kritik von innen. . .
Glauben Sie mir, intern sind wir alle ganz
ruhig geblieben.
Sie fühlen sich also wohl. Ist München
wirklich die nördlichste Stadt Italiens?
Mich erinnert es eher an Vancouver. So
ruhig und freundlich. Ordnung, Sauberkeit und eine fantastische Umgebung.
Aber die Mentalität der Leute hier, das ist
wirklich schon fast Norditalien.
Immer wieder sind Sie für den Posten als
italienischer Nationaltrainer im Gespräch. Lockt Sie nicht insgeheim die alte
Heimat und ihre Squadra Azzurra?
Entschiedenes Nein. Ich möchte nämlich
noch lange jeden Tag trainieren.