"Essai sur les moeurs" / Hanno Seier. - 1. Aufl.

B
KULTURWISSENSCHAFTEN
BA
PHILOSOPHIE; WELTANSCHAUUNG
Personale Informationsmittel
VOLTAIRE
Essai sur les moeurs
Geschichtsphilosophie
16-4
Das Geschichtsdenken Voltaires im "Essai sur les moeurs"
/ Hanno Seier. - 1. Aufl. - [Hannover] : Wehrhahn, 2015. - 143
S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 978-3-86525-475-7 : EUR 16.00
[#4540]
Der französische Schriftsteller und Philosophe Voltaire ist in vielfacher Hinsicht mit Deutschland verbunden.1 Angesichts des Umstandes, daß sich die
deutschsprachige Literatur zu Voltaire aber doch stark in Grenzen hält,2
während mit den Publikationen der Voltaire Foundation wichtige Grundlagen
für die künftige Beschäftigung mit dem französischen Philosophen und
Schriftsteller gelegt werden, ist es erfreulich, daß der Wehrhahn-Verlag diese Schrift Hanno Seiers vorlegt, in der das Geschichtsdenken Voltaires am
Beispiel der mehrbändigen Schrift Essai sur le moeurs analysiert wird. An1
Siehe neben der älteren Arbeit Voltaire in Berlin : zur Geschichte der bei G. C.
Walther veröffentlichten Werke Voltaires / Martin Fontius. - Berlin : Rütten und
Loening, 1966. - 257 S. - (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft ; 24) und dem
Sammelband Voltaire und Deutschland : Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der französischen Aufklärung / Internationales Kolloquium der Universität
Mannheim zum 200. Todestag Voltaires. Peter Brockmeier ... (Hrsg.). Mit einem
Geleitw. von Alfred Großer. - Stuttgart : Metzler, 1979. - XL, 536 S. - ISBN 3-47600401-5 - Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/790776839/04 auch "Pardon, mon
cher Voltaire ..." : drei Essays zu Voltaire in Deutschland / Lessing-Akademie,
Wolfenbüttel. Ernst Hinrichs; Roland Krebs; Ute van Runset. - Göttingen : Wallstein-Verlag, 1996. -126 S. : Ill. - (Kleine Schriften zur Aufklärung ; 5). - ISBN 389244-084-0.
2
Nach den früheren Arbeiten vor allem von Jürgen von Stackelberg, so etwa Über
Voltaire / Jürgen von Stackelberg. - München : Fink, 1998. - 217 S. - ISBN 37705-3307-0 oder Voltaire / Jürgen von Stackelberg. - Orig.-Ausg. - München :
Beck, 2006. - 128 S. ; 18 cm. - (Beck'sche Reihe ; 2402 : C. H. Beck Wissen). ISBN 978-3-406-53602-1 - ISBN 3-406-53602-6 : EUR 7.90 [8984] siehe jetzt immerhin Der maskierte Voltaire : verdeckte Schreibarten und Textstrategien des
Aufklärers / Cornelia Klettke; Cordula Wöbbeking. - Berlin : Frank & Timme, 2015.
- 175 S. : Ill., graph. Darst., Kt. ; 21 cm. - (Sanssouci - Forschungen zur Romanistik ; 7). - 978-3-7329-0139-5 EUR 34.80. - Inhaltsverzeichnis: http://dnb.info/1068718803/04
dere historische Schriften, mit denen Voltaire teils großen Erfolg hatte, bleiben unberücksichtigt, ebenso wie die recht zahlreichen Einträge zu histoire
in den Questions sur l'encyclopédie (im siebten Band).
Voltaire war wohl derjenige, auf den der Begriff der Geschichtsphilosophie
zurückgeht, was ihm schon von daher eine wichtige Position in der Begriffsgeschichte gibt.3 Er war aber auch ein Pionier der aufklärerisch-kritischen
Geschichtsschreibung und gehört damit in die Geschichte des “wissenschaftlichen Erzählens” im weiteren Sinne, das im 18. Jahrhundert mit Zeitgenossen wie Edward Gibbon eine Blüte erlebte.4
Seier, der sein Buch5 dem Andenken Günter Lottes widmet, führt in seiner
Einleitung in die Begriffe des Geschichtsdenkens, der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsphilosophie ein und greift aktuellere Diskussionen
um das Verhältnis dieser Konzeptionen zueinander auf. Zumindest probeweise sollte die strikte Trennung von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft angezweifelt werden, wofür sicher einiges spricht (S.
20).6 Voltaire wird sodann in das Geschichtsdenken der Aufklärung eingeordnet, wobei etwa die klassische Gegenüberstellung der Betrachtungsweisen Voltaires und Bossuets erwähnt wird (S. 27), die Rolle Pierre Bayle für
die historische Kritik in Erinnerung gerufen wird, zugleich aber auch Bayle
selbst als eine Art Nullpunkt bestimmt wird, weil er selbst aus seiner kritischen Haltung keine Optionen für eine neue Art der Geschichtsschreibung
entwickelte. Andere Einflüsse dürften etwa von Lord Bolingbroke ausgegangen sein, wobei man wohl noch berücksichtigen sollte, daß Voltaire,
lange bevor Bolingbrokes einschlägige Schrift zur Geschichtsschreibung
(Letters on the study and use of history) erschien, mit deren Autor persönlich bekannt war.
Votlaires Geschichtsdarstellung im Essai wird von Seier auf ihre programmatische und methodische Dimension untersucht, denn deklarierte Absich3
Vgl. auch Philosophie der Geschichte : von der Antike zur Gegenwart / Alexander Demandt. - Köln [u.a.] : Böhlau, 2011. - 438 S. ; 24 cm. - ISBN 978-3-41220757-1 : EUR 34.90 [#2343]. - Rez.: IFB 12-1
http://ifb.bsz-bw.de/bsz345705831rez-1.pdf
4
Siehe etwa Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert : Geschichte,
Enzyklopädik, Literatur / hrsg. von Veit Elm. - Berlin : Akademie-Verlag, 2010. 226 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 978-3-05-004934-2 : EUR 49.80 [#1396]. - Rez.: IFB
11-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz327455683rez-1.pdf - Vgl. auch
Edward Gibbon im deutschen Sprachraum : Bausteine einer Rezeptionsgeschichte / hrsg. von Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel. - Heidelberg : Winter,
2015. - 409 S. : Ill. ; 24 cm. - (Germanisch-romanische Monatsschrift : Beiheft ;
66). - ISBN 978-3-8253-6374-1 : EUR 45.00. - Inhaltsverzeichnis:
http://d-nb.info/1058131257/04
5
Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1078382298/04
6
Vgl. zur Aktualität und Unhintergehbarkeit geschichtsphilosophischer Fragen
auch den auf einer Ringvorlesung basierenden Sammelband Von Platon bis Fukuyama : biologistische und zyklische Konzepte in der Geschichtsphilosophie der
Antike und des Abendlandes / David Engels (Hg.). - Bruxelles : Éditions Latomus,
2015. - 336 S. ; 25 cm. - (Collection Latomus ; 349). - ISBN 978-90-429-3274-6 :
EUR 52.00 [#4434]. - Eine Rezension in IFB ist vorgesehen.
ten und tatsächliche Durchführung können divergieren, hänge auch teilweise von Faktoren ab, die man nur bedingt kontrollieren kann. Darstellungsmethodisch besteht ja nicht zuletzt das Problem jeder Universalgeschichte
darin, daß sie nicht von bestimmten Räumen abstrahieren kann, deren Geschichte dann aber meist in parallelen Kapiteln zu der anderer Räume
(Staaten) erzählt werden muß. Voltaire kann daher nicht auf eine durchgängig lineare Darstellung zurückgreifen, sondern stellt Schauplätze nebeneinander, wobei dann auch hier zu konstatieren ist, daß die Kapitel dazu nicht
wirklich Geschichtsschreibung bieten, sondern „eine allgemeine Kulturbeschreibung mit historischen Erklärungen“ (S. 77).
Voltaires Kritik an einer Art Geschichtstheologie wie bei Bossuet steht dieser in gewissem Sinne insofern nahe, als Bossuet noch ein klarer Bezugspunkt ist, aber eben die Art, wie dieser die Geschichte zu harmonisieren
trachtete, für Voltaire nicht mehr akzeptabel war. Voltaires religionskritische
Haltung führt ihn manchmal zu konträren Auffassungen auch da, wo sie
nicht so plausibel sind, doch ist seine Geschichte vor allem deshalb interessant, weil sie den Versuch unternimmt, auf dem damaligen Kenntnisstand
auch über die biblisch-griechisch-römische Geschichte hinaus einen universalhistorischen Blick zu entwickeln. Seier zeigt, wie das je nach Quellendichte und -zugang sowie geographischer Entfernung zu methodischen
Schwierigkeiten führen kann. Am Beispiel Chinas, das ausführlicher berücksichtigt wird, kann man sehen, inwiefern Voltaire auch notgedrungen Perspektiven der von ihm genutzten jesuitischen Quellen oder Darstellungen
übernimmt. Seine Darstellung von Konfuzius steht dabei im Dienste seiner
eigenen religionsphilosophischen Stoßrichtung, die sich vom Christentum
distanziert zugunsten einer Art natürlichen Religion und natürlichen Moral,
deren Unabhängigkeit vom christlichen Offenbarungsdenken sich eben besonders trefflich an einer Zivilisation jenseits des biblischen Rahmens zeigt
(S. 85).
Weitere Abschnitte befassen sich mit dem Fortschritt, der deswegen als Kategorie wichtig ist, weil er in einer gewissen Spannung zu anthropologischen
Grundannahmen über eine unveränderliche Menschennatur steht. Indem
Voltaire sich als Fortschrittstheoretiker erweist, wird bei ihm der Begriff der
menschlichen Natur dynamisch (S. 101), und auch wenn Voltaire in seiner
kulturgeschichtlichen Perspektive eine recht komplexe Einbeziehung des
Verhältnisses von menschlicher Vervollkommnung und historischen Rahmenbedingungen praktiziert, gibt es bei ihm noch keine „Reflexion der eigenen Zeit und des eigenen Standpunktes“ (S. 136).
Kritisch ist anzumerken, daß der Verfasser die französische Ausgabe der
behandelten Schrift im Literaturverzeichnis gar nicht erwähnt (sondern nur
in der Tabelle zur Kapitelzählweise S. 138) und auch sonst keinerlei französische Forschungsliteratur angibt. Ebenso hätte bei den Nachschlagewerken selbstverständlich das grundlegende Werk zu Voltaire Erwähnung verdient.7
7
Dictionnaire général de Voltaire / publ. sous la direction de Raymond Trousson
et Jeroom Vercruysse. - Paris : Champion, 2003. - XII, 1256 S. ; 24 cm. - (Dictionnaires & références ; 8). - ISBN 2-7453-0765-7 : EUR 160.00 [7870]
Till Kinzel
QUELLE
Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und
Wissenschaft
http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/
http://informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=8106