Zum Ableben von Harry Glück (1925-2016) Der Wohnbau für die Große Zahl ist ein gewichtiger Indikator für die soziale und kulturelle Verfasstheit einer Gesellschaft. Wohnbau ist Städtebau und daher eine Kategorie des Politischen. „Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ – in diesem Leitprinzip sah Harry Glück die Grundlage für sein Handeln, jeder humanitären Gesinnung und Ethik. Mit missionarischer Ambition versuchte er, „anderen Menschen eine bessere Wohnsituation zu schaffen, eine bessere Lebensumwelt und damit die Möglichkeit, ein befriedigendes und entwicklungsfähiges Leben zu führen“. Den weiten Horizont und seine klare, präzise Sprache verdankte Harry Glück seiner Arbeit am Theater, wo meist „die großen Themen“ immer wieder neu verhandelt werden, als Absolvent des Max Reinhardt Seminars, als Regisseur und Bühnenbildner, neben dem Architekturstudium in den 50er Jahren, und, ideologisch geschärft, seiner Freundschaft mit Alfred Hrdlicka und Helmut Qualtinger, und nicht zuletzt auch seiner interdisziplinären Zusammenarbeit mit Humanwissenschaftlern. Seine soziale Grundierung jedoch erhielt Harry Glück durch jene Zeit, in die er vor 91 Jahren hineingeboren wurde: Nach dem ersten Weltkrieg erklärte Wiens erster Wohnbaustadtrat angesichts der katastrophalen Wohnverhältnisse der Gründerzeit und nach mehreren Massendemonstrationen, dass künftig nur mehr Einfamilienreihenhäuser gebaut werden dürften. Mit der 1921 gegründeten GESIBA, die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt der Stadt Wien, wurde die auf Unabhängigkeit und Autarkie abzielende Siedlerbewegung um Josef Frank und Adolf Loos aufgefangen und nach dem Bau von etwa 3000 Siedlungshäusern ab 1925, dem Geburtsjahr von Harry Glück, stillgelegt. Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz schrieb 1924 in der Arbeiter Zeitung: „Aus der Zeit der siebziger und achtziger Jahre erinnern wir uns noch der kleinen Häuser mit den großen Höfen, die immerhin der Jugend eine Erholungsstätte boten. Dann kam die Bauperiode der ödesten Zinskasernen, in der der letzte Flecken Boden nutzbar gemacht wurde. Das war die Zeit, in der die Wiener dem Kapitalismus fronen mussten und jeder der eine Wohnung hatte, dem fürchterlichen Zinstag mit Schrecken entgegensah. Jetzt kommt die neue Bauperiode, in der wir nicht mehr kleine Einzelhäuser bauen mit kleinen Höfen, sondern große Anlagen mit Gemeinschaftswohnungen, in denen die Menschen beisammen leben, aber jeder doch seiner Individualität entsprechend, einzeln und abgegrenzt, wohnen kann. Für die allgemeinen Bedürfnisse der Erholung und Beschäftigung wird durch gemeinsame herrliche 1 Parkanlagen, die allen zugutekommen, gesorgt. Wir wollen unsere Jugend nicht zu Individualisten, zu Einzelgängern erziehen, sie soll in Geselligkeit aufwachsen und zu Gemeinschaftsmenschen erzogen werden.“ Mit mehr als der Halbierung der Geschossflächenzahlen und der bebauten Flächen gegenüber jenen der Gründerzeit, konnte dieses zehn Jahre währende politische und humanitäre Programm , bis heute international beachtet als Bauten des Roten Wiens, nachhaltig umgesetzt werden. Roland Rainer setzte nach dem Zweiten Weltkrieg die Bemühungen um lebensgerechtes Wohnen fort. Seine Schriften waren Grundlage für die Mitte der sechziger Jahre abermals aufkommende europaweite Suche nach Alternativen zum Status quo im Wohn- und Städtebau. Der verdichtete Flachbau und - im Gefolge des Rufs nach höheren Dichten – Terrassenhausanlagen waren die geträumten Typologien jener Zeit. In ganz Europa sind in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hervorragende Wohnbauten für die Große Zahl entstanden. Bauten, die wir im besten Sinne als nachhaltig klassifizieren können. Dazu zählen vor allem die Terrassenhausanlagen von Harry Glück im Wien der 70er Jahre. Trotz Rückkehr zu gründerzeitlichen Dichten sind sie bis heute in ihrer Akzeptanz durch die Benutzer und Benutzerinnen unübertroffen. Wie kein anderer Architekt in Europa konnte er diese Typologie in einer derartig hohen qualitativen Dichte und großen Anzahl, meist im Auftrag der GESIBA, realisieren. Sie sind Meilensteine der europäischen Nachkriegsmoderne. Luxus für Alle! Diesen utopisch scheinenden Anspruch, der Harry Glück in seiner Arbeit bis zuletzt antrieb, hat er mit seinen Wohnbauten eingelöst: das gestapelte Einfamilienhaus mit begrünten Terrassen, verkehrsfreie, parkartige Freiräume, Dachterrassen mit Fernblick über die Stadt, mit Schwimmbad und Sonnendeck, für Feste und Feiern. Saunen, Hobbyräume, Nahversorgung, Kindergärten. Die grüne Stadt. Gebaute Kritik am Wohn- und Städtebau bis heute. In seiner Dissertation „Höherwertige Alternativen im Massenwohnbau durch wirtschaftliche Planungs- und Konstruktionskonzepte“ aus dem Jahr 1982 hat er den Nachweis erbracht, dass Besseres nicht teurer sein muss und „die Alternative des gestapelten Einfamilienhauses dem üblichen sozialen Wohnbau deutlich und grundlegend überlegen ist“. Die grüne Stadt, sie ist möglich für die Große Zahl, die nun Zugang erhalten sollte, zu den „Reservaten der Wohlhabenden“, wie es Harry Glück auszudrücken pflegte. 2 Nach Ronald Reagan und Margret Thatcher und vor allem ab dem Fall der Berliner Mauer war dieses Versprechen nicht mehr gesellschaftsfähig. Die von den damals verantwortlichen Wiener Politikern für Stadtplanung und Wohnbau ausgerufenen Schwerpunkte wie „Neue Gründerzeit“ - in Erwartung kommenden Stadtwachstums durch die Ostöffnung, und „Architektur“ - als weitere Säule im Wiener Wohnbau, entfalten bis heute ihre Wirkung. In „Historismus als Neurose“ - eine Kapitelüberschrift in seinem Manuskript „die Möglichkeit einer grünen Stadt“ - befasste sich Harry Glück mit dem Historismus als gesellschaftspolitischem Phänomen und beschrieb ihn im Wesentlichen als eine von Verlustängsten geleitete Gegenstrategie zu Emanzipationsbewegungen der Großen Zahl, und bis heute wirksam. Sein beharrlicher Kampf für „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ scheint jedoch ein Umdenken einzuleiten, betrachtet man die seit der Jahrtausendwende von der Politik postulierten Themen , wie die „neue Siedlerbewegung“, „soziale Nachhaltigkeit“ oder „ Bürgerbeteiligung“. Sinkende Geburtenraten, hohe Gesundheits-, Sozial- und Umweltkosten sowie die Hinwendung zu Protestparteien sind zudem deutliche Signale für die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels nicht nur in der Wohnungsfrage. Jetzt, bald am Scheitelpunkt einer Entwicklung, die die sozialen und kulturellen Errungenschaften der 20er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts radikal in Frage stellt, ist es Zeit für einen neuerlichen Anlauf in Richtung Demokratisierung und Ökologisierung von Architektur und Städtebau. Das zu erwartende große Wachstum in den Städten Europas bietet nun die Chance, die schon Jahrhunderte alte Vision der Grünen Stadt weiterzuentwickeln und in großem Maßstab umzusetzen. Luxus für Alle ist möglich! Harry Glück hat mit seinem Team den Beweis dafür erbracht. Er weckt in uns das Bewusstsein für das Mögliche, und dafür danken wir ihm. Gerhard Steixner 3
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