Olga, ein Kind aus Tschernobyl

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Olga, ein Kind aus Tschernobyl
Aus drei Wochen wird eine Bindung fürs Leben
Von Lothar Nickels
Sendung: Freitag, 16. Dezember 2016, 10.05 Uhr
Redaktion: Rudolf Linßen
Regie: Lothar Nickels
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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OLGA, EIN KIND AUS TSCHERNOBYL
Autor
Das war schön. Weil es hat mich echt auch wirklich beeindruckt, wie die Olga, wie sie
sie die Beiden wohl mag. Und wie schön diese Zeit auch für sie gewesen sein muss
als Kind hier. Genau. Ich habe mir das aufgeschrieben, was sie damals gesagt hat.
Marlies K.
Aha!
Günther K.
Ja, die Ola sagt immer:
Ihr seid meine Eltern.
Marlies K.
Meine zweiten Eltern.
Günther K.
Meine zweiten, ja.
Autor
Da hat sie gesagt:
”Wenn ich über diese Familie spreche...
Olga
Wenn ich über diese Familie spreche, dann bekomme ich viele Emotionen, weil sie
jetzt wie die zweiten Eltern für mich geworden. Das ist eine Liebe, die mit den Tränen
und also totalen Dankbarkeit kommt. Und wenn diese Familie mich hört, also Familie
Kilian, dann möchte ich mal sagen: Ich liebe sie und bin sehr dankbar!”
Autor
... und ich bin sehr dankbar!
Marlies K.
Das sagt sie uns auch so oft. Immer am Telefon. Ich liebe Euch. Und so und so viele
Küsse schickt sie uns. Und, ja, also immer ganz, ganz liebevoll eben, so.
Erzähler
Ich bin hier bei Günther und Marlies K. zuhause. Und erzähle ihnen gerade von
einem Hörfunkbeitrag, den ich vor ungefähr einem Jahr gemacht habe. Da ging's um
Kinder aus der Ukraine, die für ein paar Wochen nach Deutschland zur Erholung
gekommen sind. Genauer gesagt in die Eifel. Und bei meinen Interviews für diesen
Beitrag, da habe ich Olga getroffen. Sie war damals als Begleitperson für die Kinder
mit dabei.
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In der Zwischenzeit ist – wie gesagt – etwa ein Jahr vergangen und ich habe Olga
wiedergetroffen. Denn wieder ist sie mit einer Gruppe von Kindern aus der Ukraine
nach Deutschland gekommen. Und wieder bleiben sie für drei Wochen.
Heute steht ein Tagesausflug nach Trier auf dem Programm. Da treffe ich die
Gruppe. Und während wir so durch die Stadt laufen, erzählt Olga mir ihre
Geschichte.
Olga
Ich bin nach Deutschland als ein Tschernobylkind gekommen. Da war ich in einer
deutschen Familie. Wir haben einander sehr gut verstanden. Und dann haben sie
mich mehrmals nach Deutschland eingeladen. Sie sind ein Teil meiner Familie
geworden. Sie sind jetzt für mich wie die zweiten Eltern. Wir haben uns geholfen.
Und, ja, ich bin sehr dankbar, weil sie mich erzogen haben.
Marlies K.
Ja, wir haben immer gesagt, sie soll fleißig lernen in der Schule und so. Und dann
wollte sie auch Deutsch wählen. Da sagte ich schon, vielleicht kommst Du denn,
wenn Du erwachsen bist, auch mal als Betreuerin hierher und so. Und das hat sie
wahrscheinlich wahr gemacht. Sie ist ja Deutschlehrerin. Hat ja denn studiert.
Olga
Sie haben immer erklärt, also warum sieht so gut aus? Was muss man dafür
machen? Wie haben sie früher gelebt? Und was haben sie dafür gemacht, um so
was zu haben? Ja. Und ich konnte gar nicht mit der Gabel oder dem Messer essen.
Da haben sie mir das alles gezeigt.
Autor
Echt? Wie? Habt ihr mit den Händen gegessen früher, oder...?
Olga
Nee, nee. Doch, aber mit dem Messer haben wir selten gegessen. Ja, das haben wir
alles hier gelernt.
Autor
Und wie alt warst du da?
Olga
Ich glaube, das war elf oder zwölf Jahre alt.
Erzähler
Na, das mit dem Alter, das stimmt jetzt nicht so ganz. Olga war sogar noch jünger,
als sie zum ersten Mal nach Deutschland gekommen ist. Ich weiß das so genau, weil
Günther und Marlies K. mir das erzählt haben.
Günther K.
Und wie das dann ebenso geht mit kleinen Kindern. Die waren ja… Wie alt waren
die?
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Marlies K.
Acht.
Günther K.
Acht. Das ist ja noch nicht viel als Mensch. Acht Jahre.
Autor
Acht Jahre waren die alt?
Marlies K.
Acht Jahre, ja.
Erzähler
Die beiden sind nämlich die Gasteltern, die Olga damals als sogenanntes
Tschernobyl-Kind bei sich aufgenommen haben.
Klingt schon komisch:
Tschernobyl-Kind. Das fand ich damals schon immer, Ende der achtziger Jahre. Als
dieser Begriff plötzlich in aller Munde war. Ganz großes Thema. Überall. Und dann
irgendwann war nichts mehr davon zu hören. Dann hatte sich das Thema
anscheinend erledigt. Aus den Tschernobyl-Kindern wurden ja auch in den meisten
Fällen Tschernobyl-Erwachsene. Die Welt war dann wohl doch nicht aus den Fugen
geraten. Also: Irgendwie nochmal Glück gehabt!
Günther und Marlies K. hat die Tschernobyl-Geschichte jedenfalls deutlich länger als
die ansonsten medial übliche Halbwertzeit beschäftigt. Die beiden leben in der Nähe
von Düsseldorf und sind mittlerweile so Mitte bis Ende siebzig.
Autor
Wie haben Sie das denn gemacht mit der Sprache?
Günther K.
Ach so, ich komme aus der DDR. Und habe da in der Schule ein wenig Russisch
gelernt. Und das hat uns dann eigentlich geholfen. Ein bisschen. Denn die, die haben
ja auch Russisch gesprochen. Nicht nur Ukrainisch. Und mich konnten sie dann
schon so ein bisschen verstehen. Und dann kam ja auch immer dann so ein Betreuer
dazu. Und mit denen haben wir uns verständigt. Und das ging aber auch nachher.
Nicht?
Marlies K.
Ja, wir haben auch einen Zettel bekommen. Und da standen...
Erzähler
Olga kann bei unserem Treffen nicht dabei sein. Als ich Günther und Marlies K.
besuche, sind sie und ihr Sohn schon seit einigen Wochen wieder zuhause in der
Ukraine. In Kiew. Für ein gemeinsames Gespräch war leider keine Zeit. Denn als
Betreuerin muss Olga nun mal ständig auf Abruf zur Stelle sein. Falls es irgendwie
Schwierigkeiten gibt zwischen den Kindern und den Gasteltern. Die sind meistens
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sprachlicher Natur. Olga muss dann telefonieren oder auch zu den Familien
hinfahren und vermitteln, also übersetzen. Und außerdem hat sie ja auch noch ihren
neunjährigen Sohn Dima dabei. Der braucht schließlich auch mal Zuwendung von
seiner Mutter. Ja, da bleibt dann nicht mehr viel Freizeit. Und das bekommen
mittlerweile auch die Kilians immer wieder zu spüren.
Marlies K.
Jetzt dieses Jahr in Prüm waren wir mal kurz da. Haben sie besucht. Hat unser Sohn
uns hingefahren. Wir haben sie praktisch immer jedes Jahr einmal wenn sie hier in
der Nähe war besucht.
Autor
Und wie waren die Treffen dann? Sie haben ja dann nicht so viel Zeit.
Marlies K.
Nee. Nee. Weil Ola ja auch angebunden ist. Mit Ausflügen und sowas alles. Man hat
sich mal wieder gesehen und hat sich eben gefreut, so. Mal in den Arm genommen
und gedrückt.
Olga
Einmal hat die Frau aus der Organisation angerufen, also aus dieser Organisation,
wo ich auch als Kind nach Deutschland gefahren bin. Und da sie hat gesagt: Kannst
Du mir mal helfen? Würdest Du gerne mit den Kindern wieder nach Deutschland?
Aber schon als eine Begleiterin kommen. Ich habe gesagt okay, ich bin gar nicht
dagegen, wäre ich das gerne machen. Und versuche Kindern auch also zeigen und
erklären und aufmerksam machen auf die Dinge, die in der Zukunft dann wichtig
werden können für diese Kinder. Weil also, die Kinder, sie sind doch klein. In der
Gruppe sind die Kinder neun, zehn Jahre alt. Und natürlich verstehen sie sehr viele
ernste Sachen nicht. Also schöne Bilder, Süßigkeiten, Eis oder Spielplätze gefallen
ihnen sehr. Und mehr. Aber wenn man mit diesen Kindern spricht und aufmerksam
macht auf diese Dinge, dann ist es gut. Ich stelle Fragen: Schaut mal! Ist hier alles
sauber und ordentlich? Ja! Warum? Wie glaubt Ihr? Naja, dann überlegen sie.
Wahrscheinlich muss man mehr arbeiten. Ja sicher. Und schaut mal, also, wie sieht
alles so fast neu aus. Können sie mit unserem Haus vergleichen? Nein! Warum? Oh,
sie sparen alle. Sie zählen alles. Sie gehen mit den Sachen ganz ordentlich um. So
etwas existiert bei uns in der Ukraine natürlich nicht.
Autor
Wie unterscheidet sich das denn?
Olga
Naja, mentalisch sind wir ganz anders.
Autor
Du meinst also von der Einstellung her.
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Olga
Von der Einstellung, ja. Wir nehmen das Leben ganz anders. Die Lebensweise ist
anders. In manchen Dingen sind wir nicht so sparsam. In anderen Dingen sind wir
nicht so ordentlich. Aber offener, ich würde sagen.
Autor
Offener?
Olga
Offener, ja. In den menschlichen Beziehungen.
Autor
Aha...
Olga
Aber das ist nicht im schlechten Sinne. Du kannst einfach draußen gehen auf der
Straße und du kannst mit jemandem mal ganz einfach sprechen, helfen. Sowas. Und
über etwas erzählen, was niemand eigentlich hören muss oder sowas. Ja. In
Deutschland kann man das kaum vorstellen.
Autor
Das ist Dir aufgefallen?
Olga
Ja.
Autor
Man wusste ja gar nicht so genau, was da los ist. Es war ja total schwierig. Und es
war… Es ist ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen. Und man hat davon gesprochen,
dass Radioaktivität...
Ich kenne das aus den Nachrichten, aus dem Fernsehen, es gab Meldungen, dass
da dieses Atomkraftwerk... der Reaktor sei explodiert […]
Es gibt überhaupt keine Gefahr für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland
oder in anderen Ländern. Das Ausmaß der Havarie ist von begrenztem Charakter.
Gemüse gründlich waschen. Das ist der Ratschlag für die Verbraucher in Polen. An
alle Kleinkinder wurde Jod verteilt. Denn Polen ist das Land mit der höchsten
Strahlenbelastung.
Herr Minister, ist eine Gefährdung der Bevölkerung in der Bundesrepublik
auszuschließen?
Ja, absolut auszuschließen!
Das ist halt alles so weit weg, aber Du hast ja da gewohnt. Wie weit war das von Dir
entfernt?
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Olga
Also, ich ich war ein Jahr. Und ich war gerade in Tschernobyl geboren, also in der
Stadt. Meine Eltern waren sehr jung. Sie haben gerade eine Wohnung da
bekommen. Mein Vater hat dort gearbeitet. Aber er hat Glück gehabt. Also, er war
diese Woche in Urlaub und er sollte zu seiner Mutti fahren. Sonst würde mein Vater
auch tot. Ja, die Eltern, sie haben alles verloren. Sie haben alles da gelassen und
sind nach Kiew gezogen. Aber sie vermissen bis heute diese Stadt, diese Wohnung
und sie vermissen das bis heute sehr. Und das Leben war ein bisschen so zerstört,
ich würde sagen. Und es war kompliziert weiterzuleben, weil sie alles von Anfang an
beginnen sollten. Und, naja, mit der Gesundheit geht es allen Menschen, die aus
Tschernobyl gekommen sind, auch nicht so richtig gut. Und man untersucht uns
jedes Jahr. Also, man forscht, wie es weiter mit uns geht. Welche Krankheiten
konnten wir potenziell haben. Oder haben. So, ob es mit Tschernobyl verbunden ist
oder nicht. Also, sie machen Statistik bis heute. Einmal pro Jahr bin ich untersucht
und mein Kind auch. Weil mein Kind von einem Tschernobylmensch geboren ist. Ja.
Autor
Und dann frage ich mich:
Wie ist das denn für Sie beide gewesen, als Sie wussten, Sie nehmen zwei Kinder
hier auf bei sich, die aus dieser Gegend kommen. Haben Sie sich Gedanken darüber
gemacht, ob Sie sich da vielleicht gesundheitlich gefährden oder so?
Günther K.
Nee…
Marlies K.
Nein, gar nicht. War nur der Gedanke, dass man den Kindern einen schönen
Aufenthalt oder eine bessere Luft und sowas ähnliches…
Günther K.
Die Kinder haben uns leid getan. Wir uns nicht. Wir hatten ja Gott sei Dank… Wir
waren gerade in Urlaub, wie das in Tschernobyl passiert ist, nicht?
Marlies K.
Wir waren doch in Jugoslawien oder irgendwie. Da haben sie schon gesagt, ob man
überhaupt noch Salat und sowas essen kann. Weil das alles verstrahlt ist und so.
Aber es war ja nicht bis hierher. Hat man wenigstens Nix von gehört.
Autor
Haben Bekannte oder Nachbarn sie darauf angesprochen, ob das denn nicht
gefährlich sei?
Marlies K.
Nein. Meine Mutter hat nur mal gesagt. Damals sagt sie, ist ja doch eigenartig: Mein
Vater ist im Krieg geblieben. In Russland. Und Du nimmst heute so Kinder auf, sagt
sie. Aber, was sie auch gut fand, so. Aber der Vergleich jetzt wieder. Sagt sie, in
Russland ist der Vater geblieben und Du nimmst jetzt solche Kinder auf.
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Autor
Das fand sie aber gut.
Marlies K.
Ja! Ja.
Autor
Ist doch schön.
Marlies K.
Natürlich. Schön.
Erzähler
In Trier scheint die Sonne. Es ist ein herrlicher Tag. Gerade eben kommen wir alle
vom Mittagessen beim Chinesen. Und jetzt geht's durch die Fußgängerzone
Richtung Porta Nigra. Das Wahrzeichen der Stadt. Und Olga hat ständig alle Kinder
im Blick. Bei neun quirligen, kleinen Wesen eine Aufgabe, für die zwei Augen
eindeutig zu wenig sind. Und deshalb sind auch noch zwei weitere Begleiter heute
mit Olga unterwegs. Dazu aber später mehr...
Autor
Wie lange seid Ihr denn jetzt schon hier in Deutschland?
Olga
Zwei Wochen. Wir sind hier zwei Wochen.
Autor
Und heute ist Mittwoch?
Olga
Ja, heute ist Mittwoch. Am Samstag fahren wir schon weg. Also wir werden am
Sonntag schon in der Ukraine, ja.
Autor
Da ging die Zeit sehr schnell rum?
Olga
Oh, ja, das haben wir schon gar nicht bemerkt. Die Zeit fliegt einfach. Heute sind wir
in Trier. Wir bummeln durch die Stadt, sehen Sehenswürdigkeiten, ja. Das hat alles
den Kindern sehr gefallen. Und die Kaiserthermen haben wir besucht. Ein bisschen
Geschichte haben wir gelesen. Ich habe mal übersetzt, erzählt...
Autor
Verstehen die Kinder auch Deutsch?
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Olga
Nein, die Kinder verstehen Deutsch nicht. Nur kurze Phrasen, die einfach sind:
"Guten Tag. Was möchtest Du? Wie geht es dir?" Das schaffen sie schon. Aber bald
wahrscheinlich einige Deutsch fleißiger lernen. Das ist eine sehr gute Motivation. Die
Kinder sehen, wie die Menschen hier in Deutschland leben, wie sie arbeiten, wie sie
miteinander umgehen, weil das ganz anders als bei uns ist.
Autor
Und jetzt sind wir auf dem Weg zur Porta Nigra?
Olga
Ja, jetzt werden wir das auch anschauen. Ja, und einige spielen Klavier. Dann
genießen sie Musik natürlich.
Autor
Wir gehen jetzt mal den anderen hinterher, sonst laufen die weg.
Siegfried W.
Kommt herbei! Davai, davai! Jetzt darfst du ihnen etwas erzählen! Kommt mal zu
Olga!
Erzähler
Das ist Siegfried W., Pastor im Ruhestand. Und einer der beiden vorhin erwähnten
zusätzlichen Begleiter beim heutigen Ausflug. Olga und ihr Sohn wohnen jedes Jahr
während des dreiwöchigen Aufenthaltes bei ihm zuhause. Und zwar in der Eifel, ganz
in der Nähe von Prüm. Jetzt schon zum dritten Mal übrigens.
Olga
[liest auf ukrainisch aus Porta Nigra-Broschüre]
Erzähler
Während Olga den Kindern auf Ukrainisch etwas über das große schwarze Tor
vorliest, will ich von Siegfried W. wissen, wie es kommt, dass er sich gerade für die
Kinder aus der Ukraine so intensiv engagiert.
Autor
[… ein paar Takte reden.] Erzählen Sie das mal, wie sich das genau verhält.
Siegfried W.
Als die Tschernobylgeschichte geschehen ist, habe ich Kontakt zu einer Organisation
in Kiew bekommen, die sich Barvinok nennt.
Erzähler
…das ist eine ukrainische Kinder-Hilfsorganisation…
Siegfried W.
Und die wollten gerne die Kinder hier nach Deutschland zur Erholung bringen. Und
bei meinem ersten Besuch in Kiew haben die Ärzte mir erzählt, wenn die Kinder hier
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mal aus dieser verstrahlten Luft herauskommen und Lebensmittel essen, die
unverstrahlt sind, dass das ihre Widerstandsfähigkeit erheblich stärken würde. Und
sie dadurch, ja, hoffentlich ein wenig länger leben. Und so hat man dann jedes Jahr
Kinder, erst in Gruppen und dann nachher in Familien verteilt: in Heilgenhaus, in
Dormagen, Düsseldorf, usw. eingeladen. Und damals war die Katastrophe noch in
aller Munde und in allen Auge. Und da haben wir sehr viele Familien gehabt, die sich
dafür engagiert haben, die Kinder denn aufzunehmen und die mal drei Wochen zu
begleiten.
Marlies K.
Wir haben das in der Zeitung gelesen, dass Gasteltern gesucht würden für
Tschernobyl-Kinder. Und da unsere Söhne beide schon erwachsen war und außer
Haus, habe ich gesagt: Ich möchte mal ein kleines Mädchen haben. Ja. Und dann
kam die Leiterin, die Frau Meckel, glaube ich, und hat sich alles angeguckt so. Und
sagte sie: Wäre ja schön, wenn wir zwei nehmen würden. Eben wegen der Sprache.
Weil sie kein Deutsch sprechen die Kinder. Ja, und so haben wir halt zwei Mädchen
genommen. Das war dann eben Olga oder Ola und Sascha.
Günther K.
Aber die war total verzogen. Das erste, die haben jeder einen Brief mitgebracht. Und
bei der stand unten drunter dann: ”Entschuldigen Sie ihre Erziehung.” Also, die war
so total verwöhnt. Und wenn der was nicht passte, dann schmiss die sich unter die
Couch und fing an zu schreien. Und dann ging Olga immer hin und hat sie wieder
rausgeholt. Und sagte: ”Komm doch raus. Das können wir hier nicht machen.”
Autor
Können Sie sich noch daran erinnern, wie das gewesen ist, als die Olga zum ersten
Mal hier angekommen ist. Die erste Begegnung. Können Sie sich daran noch
erinnern? Wissen Sie das noch, wie das war?
Marlies K.
Ja. Sicher, man war ja gespannt. Wir waren zeitig in Hochdahl war das damals, wo
die Kinder ankommen sollten. Und dann ist man ja auch gespannt, welche Kinder
sind das. Und so. Wie sehen sie aus? Und sowas alles. Ja. Und war aber eigentlich
schon eigentlich herzlich. Keiner hat geweint oder sowas. Ist ja dann auch eine
Umstellung für so kleine Kinder. Ja, so weit entfernt. Und bei fremden Leuten dann.
Aber wie gesagt, wir haben auch immer nur Marlis und Günther gesagt. Nicht Tante,
Onkel oder sonstiges eben. Nee, das hat ganz gut geklappt.
Autor
...Deine erste Deutschlandfahrt?
Olga
Ich hatte riesengroße Angst, ja. Erstens ich konnte gar nichts verstehen. Ich war
klein. Ich war ohne Eltern. Am Anfang wollte ich ein bisschen weinen. Ich vermisse
meine Heimat. Aber dann ging alles so leicht und wir konnten einander ganz schnell
verstehen. Ich weiß nicht wie, weil ich gar kein Deutsch gesprochen habe. Und die
waren wirklich sehr nett zu uns, zu den Kindern. Und, ja, das ging irgendwie alles so
einfach. Und Gefühl war so, als ob ich diese Menschen einfach ewig kenne.
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Siegfried W.
Jetzt gehen wir ab zum Schiff. Machen wir noch eine Schifffahrt. Ich glaube, das
Wetter hält sich. Dann wollen wir denen noch die Mosel ein bisschen um die Nase
wehen lassen. Jo? Einverstanden? So, dann zischen wir los...
Erzähler
Aber da sind wir jetzt erstmal noch ein Stückchen zu Fuß unterwegs. Deshalb nutze
ich die Zeit, um mit dem Dritten im Bunde ein bisschen zu plaudern. Das ist Reinhold
B. Ebenfalls Begleiter beim heutigen Ausflug. Ebenfalls Ruheständler. Und ebenfalls
aus der Nähe von Prüm.
Reinhold B.
Ja, und zwar bin ich vor zwei Jahren drauf aufmerksam geworden auf die ganze
Geschichte. Da war Pfarrer W. mit einer Gruppe in Weinsheim. Da war
Feuerwehrfest. Da gab es dann also Feuerwehrvorführungen. Und, und, und... Und
da ist die Gruppe auch aufgetreten und hat gesungen. Und dann habe ich mal
gefragt: "Naja, woher kommen die denn?" Und, und, und... Da wurde mir das dann
erzählt. Und dann habe ich gesagt: "Naja gut, Du hast keine Enkelkinder. Könntest
Du Dich hier auch ein bisschen betätigen." So bin ich eben dazu gekommen. Und im
Jahr darauf haben wir uns gemeldet und dann hatten wir den kleinen Andre – mit der
roten Mütze da vorne – und seine Schwester voriges Jahr bei uns zu Gast. Und das
haben wir dann dieses Jahr wiederholt. Aber dieses Mal ist halt der Andre alleine
gekommen, weil seine Schwester jetzt nach einem USA-Aufenthalt, weil sie ein
Stipendium da hatte... kam er also, wie gesagt, dieses Jahr alleine. Und es war auch
ganz gut für ihn. Jetzt ist er gezwungen, auch deutsch zu reden und zu lernen. Weil
vorher hatte er immer seine Schwester vorgeschoben.
Autor
Wie verständigen sie sich denn dann im Alltag?
Reinhold B.
Mit Händen und Füßen. Andre versteht einiges. Er spricht nur sehr wenig, aber er
versteht eigentlich viel. Und Olga hat uns auch so eine Übersetzung gegeben mit
den wichtigsten Begriffen und Wörtern...
Marlies K.
Ja, wir haben auch einen Zettel bekommen. Und da standen die wichtigsten Sachen
drauf. Wie Brot und Essen und Schlafen. Was man dann immer nachgucken konnte,
so.
Reinhold B.
...so dass wir uns da weiterhelfen können. Und im Zweifelsfalle, wenn also die
Kommunikation gar nicht funktioniert, dann gehen wir eben an den Computer und
holen uns die Übersetzung Ukrainisch-Deutsch. Dann schreibe ich das. Und dann
liest er das. Und dann sagt er mir ja oder nein. Das funktioniert also.
11
Autor
Und wenn auch das nicht funktionieren sollte?
Reinhold B.
Ja, dann hätten wir immer noch Olga in der Hinterhand.
Günther K.
So, wie jetzt die Olla, die Betreuung von Prüm gemacht hat. So kamen ja da auch
welche, die dabei waren. Und mit denen haben wir uns verständigt. Und das ging
aber auch nachher.
Reinhold B.
Wir brauchten bis jetzt noch kaum Gebrauch davon zu machen. Aber in anderen
Familien war es ein bisschen anders. Andre kannte uns natürlich von dem vorigen
Jahr schon und ist doch gerne wiedergekommen. Und er ist natürlich auch bei uns
bei einem Rentnerpaar, die keine Kinder mehr im Haus haben usw., auf der einen
Seite auf sich alleine gestellt. Auf der anderen Seite dreht sich natürlich jetzt alles um
Andre in den drei Wochen. Wenn Andre "Piep" macht, dann wird der Wunsch erfüllt
halt. Ja. So ist es halt, ja.
Marlies K.
Ich habe sie auch nie verwöhnt so, die Kinder. Manche sagten schon: "Geht Ihr dahin
und dahin?" Ich sag: "Das ist einfach zu viel für die Kinder." Ich sage: "Die kommen
aus einer armen Welt. Und man kann sie nicht hier…" Damals war in Düsseldorf das
Karschhaus so groß. Sowas wie KaDeWe in Berlin. Ich sage: "Was soll ich mit den
Kindern da?" Ich sage: "Die können sich sowas nie erlauben und so, ne."
Erzähler
Mittlerweile sind wir am Moselufer angekommen. Siegfried W. kauft noch eben die
Tickets für die ganze Mannschaft.
Autor
Jetzt geht es gleich los!
Olga
Ja, wir sind schon aufgeregt und möchten rein. Auf das Schiff.
(Olga spricht mit den Kindern)
Erzähler
Und dann können wir endlich an Bord gehen.
Olga
Alle sind da, ich habe schon gezählt. Die Küken sind schon da.
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Erzähler
Denn von den Küken darf keins verloren gehen. Klar! Und damit Olga das auch bloß
nicht vergisst, haben die Eltern ihr eine ganz besondere Erinnerungshilfe mit auf den
Weg gegeben:
Olga
Ja, sie haben eine Notarliste gemacht, dass ich verantwortlich bin und wenn es mit
dem Kind etwas passiert, dann gehe ich ins Gefängnis.
Autor
Ehrlich jetzt?
Olga
Ja.
Autor
Du machst jetzt Quatsch?
Olga
Warum? Nein!
Erzähler
"Ganz schön mutig, die Olga", denke ich mir. Und habe ich dann doch auch
überhaupt keinen mehr Zweifel daran, dass das stimmt, was sie mir da erzählt.
Siegfried W.
Ha, schön...
Autor
Und das ist jetzt das wievielte Jahr, dass Du das machst?
Olga
Wie lange fahre ich mit den Kindern? Das ist schon das dritte Jahr. Ja.
Autor
Und Du bist auch im wirklichen Leben Lehrerin?
Olga
Ja, für die Grundschule, ja.
Autor
Dann sind die Kinder ja auch ungefähr so alt wie die hier?
Olga
Ja.
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Autor
Sind da auch Schüler von Dir mit dabei?
Olga
Nein. Nein, ich arbeite in einer Privatschule. Und diese Kinder...
Marlies K.
Und dann hat man ihr die Stelle angeboten als Lehrerin. Aber man war sich nicht
sicher, weil sie ja paar Jahre ausgesetzt hat. Und wie sie denn wieder angefangen
hat und dann kamen die Mütter von den Kindern an und haben gesagt, was sie mit
den Kindern macht? Sie gingen ja so gerne zur Schule. Was vorher gar nicht der Fall
gewesen ist. Und jetzt steht sie als tolle Lehrerin da. Weil die anderen Lehrpersonen
gucken, wie sie unterrichtet. Und was sie macht.
Olga
Reinhold hat meine Schule gesehen. Ich habe ich ihm per Skype gezeigt.
Reinhold B.
Ja, allerdings. Ich hatte den Eindruck, dass es eine sehr moderne Schule ist.
Olga
Ja, das ist die beste Schule.
Reinhold B.
Ja, mit allem eigentlich ausgestattet, was man sich hier auch zum Teil wünscht
glaube ich. Also ich kenne Schulen hier, die nicht so ausgestattet sind, wie die, in der
sie beschäftigt ist.
Olga
Aber das ist auch das zweite Glück in meinem Leben.
Autor
Das zweite Glück.
Olga
Ja, nicht alle können so eine Stelle in solch einer Schule bekommen.
Erzähler
Das bezeichnet Olga also als ihr zweites Glück. Und jetzt im Nachhinein frage ich
mich, was denn dann das eigentliche, also das erste Glück, für sie ist.
Olga
Eigentlich ich hatte Glück im Leben gehabt, dass ich nach Deutschland gekommen
bin, dass ich diese Leute kennen gelernt habe und einfach Deutschland, weil mein
Leben ganz anders geworden ist. Und würde ich sowas nicht erleben, würde ich
absolut ein anderer Mensch werden. Und ich bin meinem Schicksal dankbar, dass
ich so etwas in meinem Leben hatte.
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