SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Olga, ein Kind aus Tschernobyl Aus drei Wochen wird eine Bindung fürs Leben Von Lothar Nickels Sendung: Freitag, 16. Dezember 2016, 10.05 Uhr Redaktion: Rudolf Linßen Regie: Lothar Nickels Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Das ist eine Liebe, die mit den Tränen und also totalen Dankbarkeit kommt. Und wenn diese Familie mich hört, also Familie Kilian, dann möchte ich mal sagen: Ich liebe sie und bin sehr dankbar!” Autor ... und ich bin sehr dankbar! Marlies K. Das sagt sie uns auch so oft. Immer am Telefon. Ich liebe Euch. Und so und so viele Küsse schickt sie uns. Und, ja, also immer ganz, ganz liebevoll eben, so. Erzähler Ich bin hier bei Günther und Marlies K. zuhause. Und erzähle ihnen gerade von einem Hörfunkbeitrag, den ich vor ungefähr einem Jahr gemacht habe. Da ging's um Kinder aus der Ukraine, die für ein paar Wochen nach Deutschland zur Erholung gekommen sind. Genauer gesagt in die Eifel. Und bei meinen Interviews für diesen Beitrag, da habe ich Olga getroffen. Sie war damals als Begleitperson für die Kinder mit dabei. 2 In der Zwischenzeit ist – wie gesagt – etwa ein Jahr vergangen und ich habe Olga wiedergetroffen. Denn wieder ist sie mit einer Gruppe von Kindern aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Und wieder bleiben sie für drei Wochen. Heute steht ein Tagesausflug nach Trier auf dem Programm. Da treffe ich die Gruppe. Und während wir so durch die Stadt laufen, erzählt Olga mir ihre Geschichte. Olga Ich bin nach Deutschland als ein Tschernobylkind gekommen. Da war ich in einer deutschen Familie. Wir haben einander sehr gut verstanden. Und dann haben sie mich mehrmals nach Deutschland eingeladen. Sie sind ein Teil meiner Familie geworden. Sie sind jetzt für mich wie die zweiten Eltern. Wir haben uns geholfen. Und, ja, ich bin sehr dankbar, weil sie mich erzogen haben. Marlies K. Ja, wir haben immer gesagt, sie soll fleißig lernen in der Schule und so. Und dann wollte sie auch Deutsch wählen. Da sagte ich schon, vielleicht kommst Du denn, wenn Du erwachsen bist, auch mal als Betreuerin hierher und so. Und das hat sie wahrscheinlich wahr gemacht. Sie ist ja Deutschlehrerin. Hat ja denn studiert. Olga Sie haben immer erklärt, also warum sieht so gut aus? Was muss man dafür machen? Wie haben sie früher gelebt? Und was haben sie dafür gemacht, um so was zu haben? Ja. Und ich konnte gar nicht mit der Gabel oder dem Messer essen. Da haben sie mir das alles gezeigt. Autor Echt? Wie? Habt ihr mit den Händen gegessen früher, oder...? Olga Nee, nee. Doch, aber mit dem Messer haben wir selten gegessen. Ja, das haben wir alles hier gelernt. Autor Und wie alt warst du da? Olga Ich glaube, das war elf oder zwölf Jahre alt. Erzähler Na, das mit dem Alter, das stimmt jetzt nicht so ganz. Olga war sogar noch jünger, als sie zum ersten Mal nach Deutschland gekommen ist. Ich weiß das so genau, weil Günther und Marlies K. mir das erzählt haben. Günther K. Und wie das dann ebenso geht mit kleinen Kindern. Die waren ja… Wie alt waren die? 3 Marlies K. Acht. Günther K. Acht. Das ist ja noch nicht viel als Mensch. Acht Jahre. Autor Acht Jahre waren die alt? Marlies K. Acht Jahre, ja. Erzähler Die beiden sind nämlich die Gasteltern, die Olga damals als sogenanntes Tschernobyl-Kind bei sich aufgenommen haben. Klingt schon komisch: Tschernobyl-Kind. Das fand ich damals schon immer, Ende der achtziger Jahre. Als dieser Begriff plötzlich in aller Munde war. Ganz großes Thema. Überall. Und dann irgendwann war nichts mehr davon zu hören. Dann hatte sich das Thema anscheinend erledigt. Aus den Tschernobyl-Kindern wurden ja auch in den meisten Fällen Tschernobyl-Erwachsene. Die Welt war dann wohl doch nicht aus den Fugen geraten. Also: Irgendwie nochmal Glück gehabt! Günther und Marlies K. hat die Tschernobyl-Geschichte jedenfalls deutlich länger als die ansonsten medial übliche Halbwertzeit beschäftigt. Die beiden leben in der Nähe von Düsseldorf und sind mittlerweile so Mitte bis Ende siebzig. Autor Wie haben Sie das denn gemacht mit der Sprache? Günther K. Ach so, ich komme aus der DDR. Und habe da in der Schule ein wenig Russisch gelernt. Und das hat uns dann eigentlich geholfen. Ein bisschen. Denn die, die haben ja auch Russisch gesprochen. Nicht nur Ukrainisch. Und mich konnten sie dann schon so ein bisschen verstehen. Und dann kam ja auch immer dann so ein Betreuer dazu. Und mit denen haben wir uns verständigt. Und das ging aber auch nachher. Nicht? Marlies K. Ja, wir haben auch einen Zettel bekommen. Und da standen... Erzähler Olga kann bei unserem Treffen nicht dabei sein. Als ich Günther und Marlies K. besuche, sind sie und ihr Sohn schon seit einigen Wochen wieder zuhause in der Ukraine. In Kiew. Für ein gemeinsames Gespräch war leider keine Zeit. Denn als Betreuerin muss Olga nun mal ständig auf Abruf zur Stelle sein. Falls es irgendwie Schwierigkeiten gibt zwischen den Kindern und den Gasteltern. Die sind meistens 4 sprachlicher Natur. Olga muss dann telefonieren oder auch zu den Familien hinfahren und vermitteln, also übersetzen. Und außerdem hat sie ja auch noch ihren neunjährigen Sohn Dima dabei. Der braucht schließlich auch mal Zuwendung von seiner Mutter. Ja, da bleibt dann nicht mehr viel Freizeit. Und das bekommen mittlerweile auch die Kilians immer wieder zu spüren. Marlies K. Jetzt dieses Jahr in Prüm waren wir mal kurz da. Haben sie besucht. Hat unser Sohn uns hingefahren. Wir haben sie praktisch immer jedes Jahr einmal wenn sie hier in der Nähe war besucht. Autor Und wie waren die Treffen dann? Sie haben ja dann nicht so viel Zeit. Marlies K. Nee. Nee. Weil Ola ja auch angebunden ist. Mit Ausflügen und sowas alles. Man hat sich mal wieder gesehen und hat sich eben gefreut, so. Mal in den Arm genommen und gedrückt. Olga Einmal hat die Frau aus der Organisation angerufen, also aus dieser Organisation, wo ich auch als Kind nach Deutschland gefahren bin. Und da sie hat gesagt: Kannst Du mir mal helfen? Würdest Du gerne mit den Kindern wieder nach Deutschland? Aber schon als eine Begleiterin kommen. Ich habe gesagt okay, ich bin gar nicht dagegen, wäre ich das gerne machen. Und versuche Kindern auch also zeigen und erklären und aufmerksam machen auf die Dinge, die in der Zukunft dann wichtig werden können für diese Kinder. Weil also, die Kinder, sie sind doch klein. In der Gruppe sind die Kinder neun, zehn Jahre alt. Und natürlich verstehen sie sehr viele ernste Sachen nicht. Also schöne Bilder, Süßigkeiten, Eis oder Spielplätze gefallen ihnen sehr. Und mehr. Aber wenn man mit diesen Kindern spricht und aufmerksam macht auf diese Dinge, dann ist es gut. Ich stelle Fragen: Schaut mal! Ist hier alles sauber und ordentlich? Ja! Warum? Wie glaubt Ihr? Naja, dann überlegen sie. Wahrscheinlich muss man mehr arbeiten. Ja sicher. Und schaut mal, also, wie sieht alles so fast neu aus. Können sie mit unserem Haus vergleichen? Nein! Warum? Oh, sie sparen alle. Sie zählen alles. Sie gehen mit den Sachen ganz ordentlich um. So etwas existiert bei uns in der Ukraine natürlich nicht. Autor Wie unterscheidet sich das denn? Olga Naja, mentalisch sind wir ganz anders. Autor Du meinst also von der Einstellung her. 5 Olga Von der Einstellung, ja. Wir nehmen das Leben ganz anders. Die Lebensweise ist anders. In manchen Dingen sind wir nicht so sparsam. In anderen Dingen sind wir nicht so ordentlich. Aber offener, ich würde sagen. Autor Offener? Olga Offener, ja. In den menschlichen Beziehungen. Autor Aha... Olga Aber das ist nicht im schlechten Sinne. Du kannst einfach draußen gehen auf der Straße und du kannst mit jemandem mal ganz einfach sprechen, helfen. Sowas. Und über etwas erzählen, was niemand eigentlich hören muss oder sowas. Ja. In Deutschland kann man das kaum vorstellen. Autor Das ist Dir aufgefallen? Olga Ja. Autor Man wusste ja gar nicht so genau, was da los ist. Es war ja total schwierig. Und es war… Es ist ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen. Und man hat davon gesprochen, dass Radioaktivität... Ich kenne das aus den Nachrichten, aus dem Fernsehen, es gab Meldungen, dass da dieses Atomkraftwerk... der Reaktor sei explodiert […] Es gibt überhaupt keine Gefahr für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland oder in anderen Ländern. Das Ausmaß der Havarie ist von begrenztem Charakter. Gemüse gründlich waschen. Das ist der Ratschlag für die Verbraucher in Polen. An alle Kleinkinder wurde Jod verteilt. Denn Polen ist das Land mit der höchsten Strahlenbelastung. Herr Minister, ist eine Gefährdung der Bevölkerung in der Bundesrepublik auszuschließen? Ja, absolut auszuschließen! Das ist halt alles so weit weg, aber Du hast ja da gewohnt. Wie weit war das von Dir entfernt? 6 Olga Also, ich ich war ein Jahr. Und ich war gerade in Tschernobyl geboren, also in der Stadt. Meine Eltern waren sehr jung. Sie haben gerade eine Wohnung da bekommen. Mein Vater hat dort gearbeitet. Aber er hat Glück gehabt. Also, er war diese Woche in Urlaub und er sollte zu seiner Mutti fahren. Sonst würde mein Vater auch tot. Ja, die Eltern, sie haben alles verloren. Sie haben alles da gelassen und sind nach Kiew gezogen. Aber sie vermissen bis heute diese Stadt, diese Wohnung und sie vermissen das bis heute sehr. Und das Leben war ein bisschen so zerstört, ich würde sagen. Und es war kompliziert weiterzuleben, weil sie alles von Anfang an beginnen sollten. Und, naja, mit der Gesundheit geht es allen Menschen, die aus Tschernobyl gekommen sind, auch nicht so richtig gut. Und man untersucht uns jedes Jahr. Also, man forscht, wie es weiter mit uns geht. Welche Krankheiten konnten wir potenziell haben. Oder haben. So, ob es mit Tschernobyl verbunden ist oder nicht. Also, sie machen Statistik bis heute. Einmal pro Jahr bin ich untersucht und mein Kind auch. Weil mein Kind von einem Tschernobylmensch geboren ist. Ja. Autor Und dann frage ich mich: Wie ist das denn für Sie beide gewesen, als Sie wussten, Sie nehmen zwei Kinder hier auf bei sich, die aus dieser Gegend kommen. Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, ob Sie sich da vielleicht gesundheitlich gefährden oder so? Günther K. Nee… Marlies K. Nein, gar nicht. War nur der Gedanke, dass man den Kindern einen schönen Aufenthalt oder eine bessere Luft und sowas ähnliches… Günther K. Die Kinder haben uns leid getan. Wir uns nicht. Wir hatten ja Gott sei Dank… Wir waren gerade in Urlaub, wie das in Tschernobyl passiert ist, nicht? Marlies K. Wir waren doch in Jugoslawien oder irgendwie. Da haben sie schon gesagt, ob man überhaupt noch Salat und sowas essen kann. Weil das alles verstrahlt ist und so. Aber es war ja nicht bis hierher. Hat man wenigstens Nix von gehört. Autor Haben Bekannte oder Nachbarn sie darauf angesprochen, ob das denn nicht gefährlich sei? Marlies K. Nein. Meine Mutter hat nur mal gesagt. Damals sagt sie, ist ja doch eigenartig: Mein Vater ist im Krieg geblieben. In Russland. Und Du nimmst heute so Kinder auf, sagt sie. Aber, was sie auch gut fand, so. Aber der Vergleich jetzt wieder. Sagt sie, in Russland ist der Vater geblieben und Du nimmst jetzt solche Kinder auf. 7 Autor Das fand sie aber gut. Marlies K. Ja! Ja. Autor Ist doch schön. Marlies K. Natürlich. Schön. Erzähler In Trier scheint die Sonne. Es ist ein herrlicher Tag. Gerade eben kommen wir alle vom Mittagessen beim Chinesen. Und jetzt geht's durch die Fußgängerzone Richtung Porta Nigra. Das Wahrzeichen der Stadt. Und Olga hat ständig alle Kinder im Blick. Bei neun quirligen, kleinen Wesen eine Aufgabe, für die zwei Augen eindeutig zu wenig sind. Und deshalb sind auch noch zwei weitere Begleiter heute mit Olga unterwegs. Dazu aber später mehr... Autor Wie lange seid Ihr denn jetzt schon hier in Deutschland? Olga Zwei Wochen. Wir sind hier zwei Wochen. Autor Und heute ist Mittwoch? Olga Ja, heute ist Mittwoch. Am Samstag fahren wir schon weg. Also wir werden am Sonntag schon in der Ukraine, ja. Autor Da ging die Zeit sehr schnell rum? Olga Oh, ja, das haben wir schon gar nicht bemerkt. Die Zeit fliegt einfach. Heute sind wir in Trier. Wir bummeln durch die Stadt, sehen Sehenswürdigkeiten, ja. Das hat alles den Kindern sehr gefallen. Und die Kaiserthermen haben wir besucht. Ein bisschen Geschichte haben wir gelesen. Ich habe mal übersetzt, erzählt... Autor Verstehen die Kinder auch Deutsch? 8 Olga Nein, die Kinder verstehen Deutsch nicht. Nur kurze Phrasen, die einfach sind: "Guten Tag. Was möchtest Du? Wie geht es dir?" Das schaffen sie schon. Aber bald wahrscheinlich einige Deutsch fleißiger lernen. Das ist eine sehr gute Motivation. Die Kinder sehen, wie die Menschen hier in Deutschland leben, wie sie arbeiten, wie sie miteinander umgehen, weil das ganz anders als bei uns ist. Autor Und jetzt sind wir auf dem Weg zur Porta Nigra? Olga Ja, jetzt werden wir das auch anschauen. Ja, und einige spielen Klavier. Dann genießen sie Musik natürlich. Autor Wir gehen jetzt mal den anderen hinterher, sonst laufen die weg. Siegfried W. Kommt herbei! Davai, davai! Jetzt darfst du ihnen etwas erzählen! Kommt mal zu Olga! Erzähler Das ist Siegfried W., Pastor im Ruhestand. Und einer der beiden vorhin erwähnten zusätzlichen Begleiter beim heutigen Ausflug. Olga und ihr Sohn wohnen jedes Jahr während des dreiwöchigen Aufenthaltes bei ihm zuhause. Und zwar in der Eifel, ganz in der Nähe von Prüm. Jetzt schon zum dritten Mal übrigens. Olga [liest auf ukrainisch aus Porta Nigra-Broschüre] Erzähler Während Olga den Kindern auf Ukrainisch etwas über das große schwarze Tor vorliest, will ich von Siegfried W. wissen, wie es kommt, dass er sich gerade für die Kinder aus der Ukraine so intensiv engagiert. Autor [… ein paar Takte reden.] Erzählen Sie das mal, wie sich das genau verhält. Siegfried W. Als die Tschernobylgeschichte geschehen ist, habe ich Kontakt zu einer Organisation in Kiew bekommen, die sich Barvinok nennt. Erzähler …das ist eine ukrainische Kinder-Hilfsorganisation… Siegfried W. Und die wollten gerne die Kinder hier nach Deutschland zur Erholung bringen. Und bei meinem ersten Besuch in Kiew haben die Ärzte mir erzählt, wenn die Kinder hier 9 mal aus dieser verstrahlten Luft herauskommen und Lebensmittel essen, die unverstrahlt sind, dass das ihre Widerstandsfähigkeit erheblich stärken würde. Und sie dadurch, ja, hoffentlich ein wenig länger leben. Und so hat man dann jedes Jahr Kinder, erst in Gruppen und dann nachher in Familien verteilt: in Heilgenhaus, in Dormagen, Düsseldorf, usw. eingeladen. Und damals war die Katastrophe noch in aller Munde und in allen Auge. Und da haben wir sehr viele Familien gehabt, die sich dafür engagiert haben, die Kinder denn aufzunehmen und die mal drei Wochen zu begleiten. Marlies K. Wir haben das in der Zeitung gelesen, dass Gasteltern gesucht würden für Tschernobyl-Kinder. Und da unsere Söhne beide schon erwachsen war und außer Haus, habe ich gesagt: Ich möchte mal ein kleines Mädchen haben. Ja. Und dann kam die Leiterin, die Frau Meckel, glaube ich, und hat sich alles angeguckt so. Und sagte sie: Wäre ja schön, wenn wir zwei nehmen würden. Eben wegen der Sprache. Weil sie kein Deutsch sprechen die Kinder. Ja, und so haben wir halt zwei Mädchen genommen. Das war dann eben Olga oder Ola und Sascha. Günther K. Aber die war total verzogen. Das erste, die haben jeder einen Brief mitgebracht. Und bei der stand unten drunter dann: ”Entschuldigen Sie ihre Erziehung.” Also, die war so total verwöhnt. Und wenn der was nicht passte, dann schmiss die sich unter die Couch und fing an zu schreien. Und dann ging Olga immer hin und hat sie wieder rausgeholt. Und sagte: ”Komm doch raus. Das können wir hier nicht machen.” Autor Können Sie sich noch daran erinnern, wie das gewesen ist, als die Olga zum ersten Mal hier angekommen ist. Die erste Begegnung. Können Sie sich daran noch erinnern? Wissen Sie das noch, wie das war? Marlies K. Ja. Sicher, man war ja gespannt. Wir waren zeitig in Hochdahl war das damals, wo die Kinder ankommen sollten. Und dann ist man ja auch gespannt, welche Kinder sind das. Und so. Wie sehen sie aus? Und sowas alles. Ja. Und war aber eigentlich schon eigentlich herzlich. Keiner hat geweint oder sowas. Ist ja dann auch eine Umstellung für so kleine Kinder. Ja, so weit entfernt. Und bei fremden Leuten dann. Aber wie gesagt, wir haben auch immer nur Marlis und Günther gesagt. Nicht Tante, Onkel oder sonstiges eben. Nee, das hat ganz gut geklappt. Autor ...Deine erste Deutschlandfahrt? Olga Ich hatte riesengroße Angst, ja. Erstens ich konnte gar nichts verstehen. Ich war klein. Ich war ohne Eltern. Am Anfang wollte ich ein bisschen weinen. Ich vermisse meine Heimat. Aber dann ging alles so leicht und wir konnten einander ganz schnell verstehen. Ich weiß nicht wie, weil ich gar kein Deutsch gesprochen habe. Und die waren wirklich sehr nett zu uns, zu den Kindern. Und, ja, das ging irgendwie alles so einfach. Und Gefühl war so, als ob ich diese Menschen einfach ewig kenne. 10 Siegfried W. Jetzt gehen wir ab zum Schiff. Machen wir noch eine Schifffahrt. Ich glaube, das Wetter hält sich. Dann wollen wir denen noch die Mosel ein bisschen um die Nase wehen lassen. Jo? Einverstanden? So, dann zischen wir los... Erzähler Aber da sind wir jetzt erstmal noch ein Stückchen zu Fuß unterwegs. Deshalb nutze ich die Zeit, um mit dem Dritten im Bunde ein bisschen zu plaudern. Das ist Reinhold B. Ebenfalls Begleiter beim heutigen Ausflug. Ebenfalls Ruheständler. Und ebenfalls aus der Nähe von Prüm. Reinhold B. Ja, und zwar bin ich vor zwei Jahren drauf aufmerksam geworden auf die ganze Geschichte. Da war Pfarrer W. mit einer Gruppe in Weinsheim. Da war Feuerwehrfest. Da gab es dann also Feuerwehrvorführungen. Und, und, und... Und da ist die Gruppe auch aufgetreten und hat gesungen. Und dann habe ich mal gefragt: "Naja, woher kommen die denn?" Und, und, und... Da wurde mir das dann erzählt. Und dann habe ich gesagt: "Naja gut, Du hast keine Enkelkinder. Könntest Du Dich hier auch ein bisschen betätigen." So bin ich eben dazu gekommen. Und im Jahr darauf haben wir uns gemeldet und dann hatten wir den kleinen Andre – mit der roten Mütze da vorne – und seine Schwester voriges Jahr bei uns zu Gast. Und das haben wir dann dieses Jahr wiederholt. Aber dieses Mal ist halt der Andre alleine gekommen, weil seine Schwester jetzt nach einem USA-Aufenthalt, weil sie ein Stipendium da hatte... kam er also, wie gesagt, dieses Jahr alleine. Und es war auch ganz gut für ihn. Jetzt ist er gezwungen, auch deutsch zu reden und zu lernen. Weil vorher hatte er immer seine Schwester vorgeschoben. Autor Wie verständigen sie sich denn dann im Alltag? Reinhold B. Mit Händen und Füßen. Andre versteht einiges. Er spricht nur sehr wenig, aber er versteht eigentlich viel. Und Olga hat uns auch so eine Übersetzung gegeben mit den wichtigsten Begriffen und Wörtern... Marlies K. Ja, wir haben auch einen Zettel bekommen. Und da standen die wichtigsten Sachen drauf. Wie Brot und Essen und Schlafen. Was man dann immer nachgucken konnte, so. Reinhold B. ...so dass wir uns da weiterhelfen können. Und im Zweifelsfalle, wenn also die Kommunikation gar nicht funktioniert, dann gehen wir eben an den Computer und holen uns die Übersetzung Ukrainisch-Deutsch. Dann schreibe ich das. Und dann liest er das. Und dann sagt er mir ja oder nein. Das funktioniert also. 11 Autor Und wenn auch das nicht funktionieren sollte? Reinhold B. Ja, dann hätten wir immer noch Olga in der Hinterhand. Günther K. So, wie jetzt die Olla, die Betreuung von Prüm gemacht hat. So kamen ja da auch welche, die dabei waren. Und mit denen haben wir uns verständigt. Und das ging aber auch nachher. Reinhold B. Wir brauchten bis jetzt noch kaum Gebrauch davon zu machen. Aber in anderen Familien war es ein bisschen anders. Andre kannte uns natürlich von dem vorigen Jahr schon und ist doch gerne wiedergekommen. Und er ist natürlich auch bei uns bei einem Rentnerpaar, die keine Kinder mehr im Haus haben usw., auf der einen Seite auf sich alleine gestellt. Auf der anderen Seite dreht sich natürlich jetzt alles um Andre in den drei Wochen. Wenn Andre "Piep" macht, dann wird der Wunsch erfüllt halt. Ja. So ist es halt, ja. Marlies K. Ich habe sie auch nie verwöhnt so, die Kinder. Manche sagten schon: "Geht Ihr dahin und dahin?" Ich sag: "Das ist einfach zu viel für die Kinder." Ich sage: "Die kommen aus einer armen Welt. Und man kann sie nicht hier…" Damals war in Düsseldorf das Karschhaus so groß. Sowas wie KaDeWe in Berlin. Ich sage: "Was soll ich mit den Kindern da?" Ich sage: "Die können sich sowas nie erlauben und so, ne." Erzähler Mittlerweile sind wir am Moselufer angekommen. Siegfried W. kauft noch eben die Tickets für die ganze Mannschaft. Autor Jetzt geht es gleich los! Olga Ja, wir sind schon aufgeregt und möchten rein. Auf das Schiff. (Olga spricht mit den Kindern) Erzähler Und dann können wir endlich an Bord gehen. Olga Alle sind da, ich habe schon gezählt. Die Küken sind schon da. 12 Erzähler Denn von den Küken darf keins verloren gehen. Klar! Und damit Olga das auch bloß nicht vergisst, haben die Eltern ihr eine ganz besondere Erinnerungshilfe mit auf den Weg gegeben: Olga Ja, sie haben eine Notarliste gemacht, dass ich verantwortlich bin und wenn es mit dem Kind etwas passiert, dann gehe ich ins Gefängnis. Autor Ehrlich jetzt? Olga Ja. Autor Du machst jetzt Quatsch? Olga Warum? Nein! Erzähler "Ganz schön mutig, die Olga", denke ich mir. Und habe ich dann doch auch überhaupt keinen mehr Zweifel daran, dass das stimmt, was sie mir da erzählt. Siegfried W. Ha, schön... Autor Und das ist jetzt das wievielte Jahr, dass Du das machst? Olga Wie lange fahre ich mit den Kindern? Das ist schon das dritte Jahr. Ja. Autor Und Du bist auch im wirklichen Leben Lehrerin? Olga Ja, für die Grundschule, ja. Autor Dann sind die Kinder ja auch ungefähr so alt wie die hier? Olga Ja. 13 Autor Sind da auch Schüler von Dir mit dabei? Olga Nein. Nein, ich arbeite in einer Privatschule. Und diese Kinder... Marlies K. Und dann hat man ihr die Stelle angeboten als Lehrerin. Aber man war sich nicht sicher, weil sie ja paar Jahre ausgesetzt hat. Und wie sie denn wieder angefangen hat und dann kamen die Mütter von den Kindern an und haben gesagt, was sie mit den Kindern macht? Sie gingen ja so gerne zur Schule. Was vorher gar nicht der Fall gewesen ist. Und jetzt steht sie als tolle Lehrerin da. Weil die anderen Lehrpersonen gucken, wie sie unterrichtet. Und was sie macht. Olga Reinhold hat meine Schule gesehen. Ich habe ich ihm per Skype gezeigt. Reinhold B. Ja, allerdings. Ich hatte den Eindruck, dass es eine sehr moderne Schule ist. Olga Ja, das ist die beste Schule. Reinhold B. Ja, mit allem eigentlich ausgestattet, was man sich hier auch zum Teil wünscht glaube ich. Also ich kenne Schulen hier, die nicht so ausgestattet sind, wie die, in der sie beschäftigt ist. Olga Aber das ist auch das zweite Glück in meinem Leben. Autor Das zweite Glück. Olga Ja, nicht alle können so eine Stelle in solch einer Schule bekommen. Erzähler Das bezeichnet Olga also als ihr zweites Glück. Und jetzt im Nachhinein frage ich mich, was denn dann das eigentliche, also das erste Glück, für sie ist. Olga Eigentlich ich hatte Glück im Leben gehabt, dass ich nach Deutschland gekommen bin, dass ich diese Leute kennen gelernt habe und einfach Deutschland, weil mein Leben ganz anders geworden ist. Und würde ich sowas nicht erleben, würde ich absolut ein anderer Mensch werden. Und ich bin meinem Schicksal dankbar, dass ich so etwas in meinem Leben hatte. 14
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