Wie kam die Reformation nach Göttingen?

Wie kam die Reformation nach Göttingen?
Mit einem Lutherlied, auf der Groner Straße gesungen von rebellierenden
Bürgern am 24. August 1529, dem Bartholomäus-Tag, begann die Reformation in Göttingen. Immer wieder sangen sie den (in Einblattdrucken,
Flugschriften und Gesangbuchform verbreiteten) Luther-Choral: Aus tieffer not schrey ich zu dir/ herr Gott, erhör mein ruffen./ Dein gnedig oren
ker zu mir/ vnd meyner bit sye offen./ Den so du wilt das sehen an/ wie
manche sund ich hab getan./ Wer kan herr für dir bleiben…Wie kam es
dazu? Wie war das zu verstehen?
1529 grassierte in Göttingen eine Infektionskrankheit (die „Englische
Schweißkrankheit“), die, mit vielfach tödlicher Wirkung, allgemeine Panik auslöste. Woraufhin am Tag des Schutzpatrons der Seuchen- und Nervenkranken St. Bartholomäus eine große Buß-Prozession aller Geistlichen
und Mönche, des Rates und der gesamten Bürgerschaft stattfand – von der
Johanniskirche an mit feierlich zelebrierten Zwischenstationen in sämtlichen Kirchen und Kapellen der Stadt bis hin zur Bartholomäuskapelle
außerhalb der Stadt (an der heutigen Weender Landstraße). Die da mit
Lutherliedern gegen die Bartholomäus-Prozession – gegen Heiligenkult,
städtisch-klerikalen Pomp, etablierte Erlösungsmentalität – auf der Groner
Straße protestierten: das waren städtische Neubürger, die der Göttinger
Rat in drohender Wirtschaftskrise seit 1476 aus den Niederlanden, Westfalen und dem Rheinland berufen und in der Düsteren Straße angesiedelt hatte – die Neuen Wollenweber. Nicht nur repräsentieren sie, obwohl
als ‚Fremde‘ (anders als Handwerker-Gilden, z.B. die Alten Wollenweber)
ratspolitisch ausgegrenzt, mit ihrer Produktion hochbegehrter farbiger
Tuche die städtisch zukunftsweisende „Wirtschaftsbranche“; theologisch
wohlvertraut sind sie auch mit Luthers Schriften, Liedern und (bisheriger)
Bibelübersetzung: Ihr reformatorischer Protest ist ein zugleich politischsozialer. Mit dem Doppelergebnis schließlich, dass der Rat, kollektivem
Druck zunehmend reformatorisch engagierter Öffentlichkeit nachgebend,
endlich bereit ist, die Einführung der Reformation wie ebenso eine – politische Defizite korrigierende – Verfassungsreform zu beschließen (Rezeß
vom 18. Nov. 1529). Dazu der Göttinger Chronist Franz Lubecus (15331599): Dies ist der Anfang des Evangelii.
Groner Straße 1529: Die Neuen Wollenweber empfangen die Bartolomäus-Prozession mit dem Lutherlied
Aus tiefer Not…; im Hintergrund: Fortschaffung eines Schweißkrankheit-Toten in schwarzem Sarg (Glasmalerei 1901, Kirchenfenster St. Jaobikirche Göttingen (Ausschnitt))
Fast überschlagen sich die Ereignisse: Volksmassen solidarisieren sich,
und mehrmals im Oktober 1529 predigt, trotz Ratsverbot, der evangelische Geistliche Friedrich Hüventhal (einst Dominikanermönch) auf dem
Marktplatz; Subversive Bürger hören dessen Predigten heimlich auch
außerhalb der Stadt (auf dem St.Jürgens-Kirchhof vor dem Albani-Tor);
Luthers Aus tiefer Not schrei ich zu dir (nach Psalm 130; Erfurter Enchiridion 1524) – Göttinger Kirchenordnung (mit Luther-Vorrede; Wittenberg 1531) – L.Cranach d.Ä.: Luther-Porträt (1528)
den ersten regulären Gottdesdienst in Göttingen hält er am 24. Okt. 1520
(wider den Willen der Paulinermüniche) in der Paulinerkirche. Dem wegen übler Kanzelpolemik jedoch (und dem altgläubigen Territioralherrn
Herzog Erich I. von Calenberg-Göttingen zuliebe) vom Rat bald schon aus
Göttingen ausgewiesenen Hüventhal folgen, vom Rat selber bestellt und
beraten vom Kirchenpolitiker Johann Bruns (zugleich Pfarrer in Grone),
reformatorisch gemäßigte Prediger: Heinrich Winkel (aus Braunschweig),
Jost Winter (aus Allendorf), Magister Johann Sutel (aus Melsungen). Nach
dem Vorbild der Braunschweiger Kirchenordnung Johann Bugenhagens
wird eine Göttinger evangelische Kirchenordnung verabschiedet und am
Sonntag Palmarum 1530 von den Kanzeln verlesen. Gedruckt wurde die
Christelike Ordeninge der Stadt Gottingen. Myth eyner vörrede D. Martini Luther (beides in niederdeutscher Sprache) 1531 in Wittenberg.
Stellt sich die Reformation in Göttingen, begonnen als Volks- und Protestbewegung mit Lutherliedern auf offener Straße, durchaus als Reformation von unten dar, so folgt, im Zuge territorialfürstlich aufkommenden
Kirchenregiments, bald schon deren Überlagerung durch Reformation
von oben: Nach dem Tod Herzog Erichs I. von Calenberg-Göttingen
(1540) führt dessen Witwe Elisabeth, die – schon 1537 zum lutherischen
Glauben übergetreten – anstelle ihres unmündigen Sohnes die Regierung
übernimmt, im Fürstentum Calenberg-Göttingen flächendeckend umgehend die Reformation ein. Im Mai 1542 erlässt sie die vom lutherischen
Landessuperintendenten und Reformator Antonius Corvinus verfasste
Reformation von oben: Elisabeth von Calenberg-Göttingen, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg (1510-1558) – Antonius Corvinus (1501-1553), Reformator Niedersachsens – Calenbergische Kirchenordnung (1542) – Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel (1528-1598)
evangelische Calenbergische Kirchenordnung – mit sogleich folgender
Visitation sämtlicher Kirchen und Klöster ihres Territoriums. Allerdings
nicht ohne Widerstand: Kirchenpolitisch autonom verweigert der Göttinger Rat, unter Verweis auf die seit 1530 geltende Göttinger Kirchenordnung, erfolgreich die Annahme der Calenbergischen Kirchenordnung mit
zugehöriger Kirchenvisitation. Auch Visitationen 1542 in Weende und Nikolausberg sind nur bedingt wirksam: die Konventualinnen des Klosters
Weende bleiben strikt altgläubig und die Kirche in Nikolausberg weiterhin Wallfahrtskirche. Elisabeths inzwischen mündiger Sohn Erich II. indessen betreibt, gleich nach Regierungsantritt 1549, die Rekatholisierung
seines Territoriums. Nach seinem Tod 1584 (ohne Thronerben) fällt sein
Land an Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, der bereits 1568
die Reformation eingeführt hat und dessen landesherrlichem Kirchenregiment nun auch Göttingen unterworfen ist. Nicht zuletzt aber (mit 5KiNOBezug): In Roringen und Herberhausen als Göttinger Stadtdörfern dürfte,
im Unterschied zu Weende und Nikolausberg, schon mit der Göttinger
Kirchenordnung von 1530 die Reformation eingeführt worden sein.
Aus tiefer Not schrei ich zu dir: Was als Straßengesang im Zeichen Luthers begann, lebt fort als reformatorisches Credo und Gesangbuchlied
(EG 299, Str. 2) bis heute: Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,/ die
Sünde zu vergeben;/ es ist doch unser Tun umsonst/ auch in dem besten
Leben./ Vor dir niemand sich rühmen kann,/ des muß dich fürchten jedermann/ und deiner Gnade leben.
Eberhard Rohse