Rotes Erbe - Grüner Markt. Wie sich Kopenhagen

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Dossier
Rotes Erbe - Grüner Markt
Wie sich Kopenhagen als Grüne Metropole neu erfindet
Autoren: Jane Tversted und Martin Zähringer
Redaktion: Birgit Morgenrath
Regie: Wolfgang Schiller
Produktion: DLF 2016
Erstsendung: Freitag, 16.12.2016, 19.15 Uhr
Sprecher : Frauke Poolman, Martin Schaller , Michael Witte, Gregor Höppner,
Jochen Langner, Matthias Ponnier
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©
- unkorrigiertes Exemplar -
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O-Ton 1 Morten Kabell:
Så også der synes jeg faktisk
Sprecher 3:
Ich meine, man kann absolut sagen: Das rote Kopenhagen findet rote Lösungen, indem
es grüne Lösungen sucht. Das ist ein Leitfaden in unserer Arbeit.
Sprecher 1:
Morten Kabell, Großstadtbürgermeister, Kopenhagen
O-Ton 2 Søren Ulrik Thomsen:
Og jeg kan ikke tåle det der med
Sprecher 4:
Und ich kann es gar nicht leiden, wenn man nur das Wort Grün sagt, dann ist gleich
alles positiv und es gibt nichts mehr zu diskutieren. Dänemark ist ein großer Rasen mit
Kirschbäumen darauf. Warum darf man nicht dieses kleine Stück Stadt haben, das
einem das Gefühl von einer richtigen kompakten Metropole gibt?
Sprecher 1:
Søren Ulrik Thomsen, Großstadtdichter, Kopenhagen.
O-Ton 3 Anders Lund Hansen:
Jamen altså Nørrebro 10
Sprecher 5:
In Nørrebro gibt es ja die Hipsterstraße Nummer 1, die Jægersborg Gade, die einem
großen Genossenschaftsverein gehört. Dort hatte man früher hart zu kämpfen, da war
die Szene, Drogen, Rocker und so weiter. Heute ist das einfach Super, Super Hipster
Gentri.
Sprecher 1:
Anders Lund Hansen, Großstadtgeograph, Kopenhagen
2
Sprecher 2 (Ansage):
Rotes Erbe, grüner Markt
Wie sich Kopenhagen als Grüne Metropole neu erfindet
Ein Dossier von Jane Tversted und Martin Zähringer
Atmo 1 Metro Ankunft Amager Vest
Sprecher 1:
Ørestad Süd, in zehn Minuten ist man mit der Hochbahn hier. Wir haben die Fahrräder
mitgenommen und werden die Strecke zurück in die Altstadt radeln. Ørestad auf der
Insel Amager ist das jüngste Stadtviertel der dänischen Hauptstadt. Seinen Namen
verlieh ihm der nahe Øresund. Das Gebiet sollte - nach dem Bau der Øresund-Brücke
im Jahr 2000 - ein regionaler Schmelztiegel zwischen Schweden und Dänemark
werden. Das Stadtviertel wurde vor 25 Jahren geplant und sollte schon damals
zukunftsweisend sein: autofrei, Natur und Architektur auf attraktive Weise verbindend.
Ørestad ist fünf Kilometer lang, 600 Meter breit, ein ganz neuer Stadtteil auf das nackte
Feld geplant.
O-Ton 4 Leif Thomsen:
Så i realiteten kan man jo se
Sprecher 6:
Ørestad ist wie ein Band, auf das man einige Bauwerke gestellt hat. Und die Architekten
hier sind keine ganz gewöhnlichen. Das ist eine exklusive internationale Gesellschaft
von französischen, holländischen und englischen Architekten, die mit dänischen
Zeichenstuben zusammenarbeiten.
Sprecher 1:
Der Stadtsoziologe Leif Thomsen begleitet uns auf unserer Rundfahrt. Er ist Anfang 70
und ein überzeugter Fahrradfahrer. Trotz kühler Temperaturen ist er barfuß in
Treckingsandalen unterwegs.
3
O-Ton 5 Leif Thomsen:
Det de så også diskuterer
Sprecher 6:
Was die Architekten und Planer hier diskutieren, ist das Verhältnis von Offenheit und
Dichte. Das Ideal ist eine dichte Stadt in der Nähe eines Bahnhofs. Der Slogan des
Stadtarchitekten ist ja - Ørstad, das ist dichte Stadt und öffentlicher Verkehr, wer also
das Auto liebt, hat hier wenig Freude. Man sieht ja hier, wie das geht, eine sehr offene
Konstruktion mit vielen Straßen.
Sprecher 1:
Aber hier sehen wir eher Spektakuläres, so etwa das erste Bauwerk ganz im Süden,
„Die Acht“ des dänischen Architekten Bjarke Ingels. Zusammenhängende Wohnblöcke
auf dem geschlossenen Grundriss einer riesigen Acht, bis zu zehn Stockwerke hoch mit
insgesamt 476 Wohnungen und im Erdgeschoss Läden und Büros. Alle Wohnungen
haben Balkon oder Garten. Die Süd-West-Seite der Schleife ist bis zum Boden
abgesenkt, damit Sonne und Licht in das Innere gelangen. Auf den Kopfschrägen
steigen zwei Gründächer in den Himmel. In einem verglasten Café im Erdgeschoss
sieht man einige wenige Menschen.
Sprecher 1:
Die Acht steht recht allein in der flachen Landschaft. Weitläufig konzipierte Parkstreifen
zwischen den geplanten Häuserblöcken sind noch Acker, den etwas verloren wirkende
Freizeitsportler in knallbunten Trikots zwischennutzen.
Atmo 3 Regen, Sportler
Sprecher 1:
Außerdem einige wilde Gärten. Es regnet und windet, die weit auseinander stehenden
Bauten bieten keinen Schutz.
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Anfang der 1990er-Jahre hatte Leif Thomsen gerade das Scheitern einer anderen
Planstadt westlich von Kopenhagen miterlebt und war ein Kritiker des großen
Ørestad-Plans.
O-Ton 7 Leif Thomsen:
Ørestaden er jo sådan set iscenesat
Sprecher 6:
Ørestad wurde als Stadt inszeniert und erst später kam unter den Architekten und
Stadtplanern eine Diskussion auf: Ist das nun eine Stadt oder was ist das? Und
diejenigen, die an diesem Projekt beteiligt sind, sagen: Ja es dauert halt seine Zeit, eine
Stadt zu bauen. Das geht nicht so hoppla hopp.
Sprecher 1:
Das neue Ørestad war eine ganz große Vision, trotz Kopenhagens leerer Kassen. Die
damalige bürgerliche Regierung träumte von einer Hauptstadt als
Wachstumslokomotive für ganz Skandinavien. Also gab man der Stadt einen
Staatskredit, um eine Metro zu finanzieren, die den Flughafen mit dem Zentrum
verbindet. Dazwischen sollten nach und nach die vier Teile von Ørestad entstehen - als
Anfang einer umfassenden Stadterneuerung und als Rahmen für internationale
Investoren. Der Einzug großer Firmen kam jedoch durch die Finanzkrise ins Stocken.
Atmo Regen, Sportler
Sprecher 1:
Wir radeln in Richtung Norden, im Blick das ausgefallene Bella Sky Hotel, zwei schiefe,
schräg zueinander stehende Gebäude, 23 Stockwerke hohe Türme aus Stahl und
dunkelblauem Glas. Auch wenn hier Gäste in über 800 Zimmern logieren können, wirkt
das größte Hotel des Landes einsam auf freiem Feld und funkelt wie ein Eisberg.
Das vielbeschworene Ideal vom Leben zwischen den Häusern verliert sich in der
dominanten Architektur, einer unnahbaren Ansammlung von Bauten, verbunden nur
durch die pfeilgerade Linie der Hochbahn auf Betonpfeilern. Nach dieser schnurgeraden
Fahrradtour durch Ørestaden haben wir den Eindruck gewonnen, dass alle Bauten in
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dieser Vorzeigestadt ihre Bewohner vor jeder Art von sozialem oder gar spontanem
Flair schützen. Selbst die Enten am zementierten Kanal wirken etwas befremdet.
Sprecher 2:
METROPOLE FÜR MENSCHEN - Kopenhagen hat eine Vision: Wir wollen die beste
und lebenswerteste Stadt der Welt werden. Eine nachhaltige Stadt mit einem
Stadtraum, der zu einem vielfältigen und einzigartigen Stadtleben einlädt. Wir wollen
eine Metropole für Menschen sein.
O-Ton 9 Kabell:
Københavns Kommune har vedtaget, at vi skal være verdens første CO2-neutrale
hovedstad...
Sprecher 3:
Die Kommune Kopenhagen hat 2009 und nochmals 2012 beschlossen, die erste
CO2-neutrale Hauptstadt der Welt zu werden. Und seit wir den Plan im Jahr 2012
umzusetzen begannen, haben wir den CO2-Ausstoß bereits um 40 Prozent verringert.
Sprecher 1:
Morten Kabell, Bürgermeister für Technik und Umwelt im Rathaus der Stadt. Ein
smarter Kopenhagener, 45 Jahre alt, hemdsärmelig sitzt er uns am Konferenztisch
gegenüber. Er residiert in einem großen Eckbüro mit dänischen Designmöbeln, was
ganz gut zu seinem selbtsbewussten Auftreten passt:
O-Ton 10 Kabell
For tiden vores beregninger viser
Sprecher 3:
Wenn wir so weiter machen wie bisher, erreichen wir im Jahr 2025 eine Reduktion um
93 Prozent. Aber wir haben weitere Maßnahmen ergriffen, um das Null-Prozent-Ziel im
Jahr 2025 wirklich zu erreichen. Für Kopenhagen ist das Ziel Klimaneutralität von
entscheidender Bedeutung, und ich bin davon überzeugt, dass wir das schaffen, wenn
wir so weitermachen.
Sprecher 1:
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Morten Kabell ist seit 2014 einer der sieben Fachbürgermeister der Stadt. Kabells
Ressort spielt in der aktuellen Stadtpolitik eine entscheidende Rolle. In Kopenhagens
Klimaplan von 2012 schreibt Oberbürgermeister Frank Jensen von den
Sozialdemokraten:
Sprecher 2:
Mit dem Klimaplan investieren wir in Wachstum und Lebensqualität: Die Kopenhagener
bekommen einen besseren Alltag. Die Investitionen sichern Jobs jetzt - und die neuen
Lösungen schaffen das Fundament für einen starken grünen Sektor.
Sprecher 1:
Die geplagten Kopenhagener haben guten Grund, das zu glauben. Viele
Großbaustellen und vor allem der Bau der neuen Metro zwingen sie zu Umwegen. Aber
die Metro ist logistisch das zentrale Projekt für die nachhaltige Stadtentwicklung. Kritik
ist nur selten zu hören, schließlich ist eine Metro ebenso tragend für den CO2-Plan wie
das Fahrrad:
O-Ton 11 Kabell:
Cykeltrafikken spiller en meget meget stor rolle...
Sprecher 3:
40 Prozent der Kopenhagener fahren täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit, 60 Prozent
benutzen das Fahrrad täglich und wir könnten niemals so viel in der Stadt bewirken,
wenn wir nicht eine gut entwickelte Fahrradinfrastruktur hätten. Ohne die wäre das
Gedrängel unerträglich. Wir könnten auch niemals unser Klimaziel erreichen und die
Reduzierung des Partikelausstoßes, der die Kopenhagener krank macht.
Sprecher 1:
Ebenfalls auf Nachhaltigkeit angelegt ist Kopenhagens sogenannter Wolkenbruchplan.
Im Jahr 2011 hatte ein Sturzregen weite Teile der Innenstadt unter Wasser gesetzt und
einen Schaden von rund einer Milliarde Euro verursacht.
O-Ton 12 Kabell:
Det ville jo være den naturlige gammeldags overvejelse
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Sprecher 3:
Die traditionelle Überlegung wäre wohl gewesen, neue Abwasserkloaken und Kanäle zu
graben, die ganze Stadt umzugraben und die Sache ist erledigt. Aber wir wollen eine
andere Entwicklung, wir wollen das Wasser nutzen. Wir wollen es nicht nur technisch
handhaben, sondern für die Entwicklung einer grünen Stadt nutzen. Wir wollen mit dem
Wasser eine ganz neue Stadt schaffen. 2035 wird Kopenhagen grundlegend anders
aussehen als heute. Parks, Plätze und Grünflächen werden bei Wolkenbrüchen und
Starkregen als Wasserreservoirs dienen. In vielen Straßen werden kleine Ströme und
Bäche fließen.
Sprecher 1:
Das ist keineswegs die Utopie eines ökosozialistischen Träumers. Im Frühjahr 2016 hat
Kopenhagen eineinhalb Milliarden Euro für die Umsetzung des Wolkenbruchplans
freigegeben. Damit sollen in den nächsten 25 Jahren etwa 300 lokale
Regenwasserprojekte im Stadtgebiet realisiert werden. Bürgerbeteiligung ist dabei ein
bedeutendes Element, denn Kopenhagen setzt auf die Synergie von ökologischer,
ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit. Jedenfalls laut Morten Kabell, seit 1996
Mitglied der sozialistischen Partei Enhedslisten und seit 2006 ihr politischer Sprecher
mit Schwerpunkt Verkehr, Klima und Stadtentwicklung. Bleibt die Frage an den
Sozialisten, welche Auswirkungen diese Politik für den Wohnungsmarkt und für die
Höhe der Mieten haben wird:
O-Ton 13 Kabell:
Der er ingen tvivl om
Sprecher 3:
Dass die Bodenpreise in der Nähe von Grünflächen steigen können, darüber kann es
wohl keinen Zweifel geben. Für die gemeinnützigen Mietwohnungen hat das aber keine
Bedeutung, Grün ist kein objektives Preiskriterium für Mieten. Es ist schon klar, dass die
Preise für Eigentumswohnungen und Genossenschaftswohnungen ansteigen, aber wir
müssen diese Maßnahmen umsetzen. Wir hätten ja auch die ‚grauen' Lösungen
nehmen können, also eine neue Kanalisation durch die Stadt graben. Aber da die
Wasserpreise pro Haushalt bezahlt werden und nicht pro Einkommen, wären die
niedrigsten Einkommensschichten belastet worden. Deren prozentualer Anteil wäre ja
wesentlich größer als der der Reichen. Und deshalb meine ich, man kann
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uneingeschränkt sagen: Das rote Kopenhagen findet rote Lösungen, indem es grüne
Lösungen sucht. Das ist ein Leitfaden in unserer Arbeit.
Atmo 5 Platz (Rathaus, Brunnen plus Portier)
Sprecher 1:
Dabei hat „Grün“ in der Stadt eine lange Tradition, worüber wir etwas vom Stadtarchivar
Henrik Bro erfahren wollen. Wir radeln zum Rathaus von Frederiksberg, einer
selbständigen Kommune innerhalb der Hauptstadt.
Sprecher 1:
Das Archiv und die Bibliothek befinden sich im Tiefgeschoss, am Ende eines
Großraumbüros hat der Archivar sein eigenes Arbeitszimmer mit einem Kellerfenster
zum Rathausplatz. Henning Bro hat eine Elektro-Zigarette vor sich liegen, akkurat
ordnet der 60jährige ein paar Nikotinpatronen. Dann beginnt er seinen Rückblick Ende
des 19. Jahrhunderts:
O-Ton 14 Bro
Der findes ikke en egentlig boligpolitik i natvægterstaten
Sprecher 6:
Im Nachtwächterstaat gab es keine Wohnungspolitik im eigentlichen Sinn. Da ging es
nur um elementare öffentliche Aufgaben wie Schulwesen, vor allem aber um Ruhe und
Ordnung, die Nachtwächter eben. Bauregeln, wenn es welche gab, dienten
ausschließlich den Interessen der Bauherren. Damals waren das noch unzählige
Kleinspekulanten, meist Handwerksmeister. Für die war es natürlich profitabel, ihre
Grundstücke so dicht wie möglich zu bebauen, Quartiere mit engen Hinterhöfen, so wie
man sie zu dieser Zeit auch in Wien und Berlin kennt.
Sprecher 1:
In Kopenhagen nennt man diese proletarischen Quartiere Pflasterstein-Viertel, Nørrebro
und Vesterbro gehören dazu, zum Teil auch das innere Frederiksberg.
O-Ton 15 Bro:
9
Der opstår
Sprecher 6:
In den 1850er und ‘60er-Jahren gab es dann erste Reaktionen; besonders Ärzte
kritisierten laut das Verhalten der Behörden. Sie forderten, dass sich der Staat
einmischt und das Bauen durch ein Gesetz kräftig reguliert. Man forderte breitere
Straßen, damit die Häuserblöcke kleiner werden.
Sprecher 1:
Die Verschärfung des Bebauungsgesetzes ging nicht ohne Reibereien vonstatten,
erklärt der Historiker weiter. Denn einerseits nahm die Stadt große Rücksicht auf die
Interessen der Bauherren, jeden Quadratmeter bebauen zu wollen, andererseits sollten
grüne Erholungsräume geschaffen werden. Im großen Stil wurde das erstmals
umgesetzt, als man die Festungswälle aus dem 17. Jahrhundert zu schleifen begann.
Auf der ehemals militärischen Grenze der Stadt, einem Ring aus Wällen und
Maueranlagen, entstanden nun Promenaden und damit so etwas wie eine grüne
Grenze zwischen den bürgerlichen und den neuen proletarischen Wohngegenden.
Gleichzeitig mit dieser städtischen Raumpolitik entwickelte sich eine neue Sozialpolitik.
Wie auch in anderen europäischen Ländern wurden um 1900 die ersten
Sozialversicherungen eingeführt und die öffentliche Hand förderte Krankenkassen und
die Arbeitslosenversicherung.
O-Ton 16 Bro:
Man får statslånordninger til
Sprecher 6:
Es gibt Staatskredite für Wohn- oder Bauvereine, gleichzeitig wird die Stadtplanung
intensiviert und schon hier richtet man einen Fokus auf Grünanlagen, nicht
Promenaden, sondern Volksparks. Das größte Beispiel in Kopenhagen ist der
Fælledpark von 1910, ein ehemaliges Militärareal etwas außerhalb der Stadt. Da
diskutierten die Stadtväter ähnlich wie früher über die Festungsanlagen: Soll man das
Gelände dicht bebauen oder für Erholungszwecke öffnen. Hier konnten die Bürger aktiv
Sport treiben, sich erholen, auf den Wiesen ausruhen.
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Sprecher 1:
Henning Bro betont, dies seien schon die Umrisse einer Politik gewesen, die später
zum berühmten Wohlfahrtsstaat skandinavischer Prägung führte. Als entscheidende
politische Kraft tritt die Sozialdemokratie auf den Plan. Im Parlament, dem Dänischen
Folketing, bleibt sie bis auf kurze Perioden von 1920 bis 1982 mit ihrem liberalen
Koalitionspartner an der Regierung.
O-Ton 17 Bro:
Den bliver en central nøgle 4
Sprecher 6:
Wohnungspolitik und Bauregulierung werden - neben dem Sozialen, Schule und
Unterricht sowie Kinder- und Jugendschutz - eine tragende Säule im Wohlfahrtsstaat.
Staat und Kommunen vergeben hohe Kredite für Wohnungsbau, man reguliert die
Mieten, Bürger mit geringen Einkommen bekommen Wohngeld und gleichzeitig
realisieren die Kommunen selbst bedeutende Bauvorhaben. Und mit den Förderungen
setzt man auch Forderungen durch, so dürfen die Hinterhöfe nicht bebaut und offene
Gärten müssen ausgewiesen werden; so wie man es von den Karl Marx Höfen in Wien
kennt, große grüne Areale in den Innenhöfen mit Spielplätzen, Parkanlagen und
Sitzgelegenheiten.
Sprecher 1:
Soziale Gleichheit durch Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen sei immer „der
Königsgedanke” des Wohlfahrtstaates gewesen. Dabei spielen Gesundheit und Hebung
des Lebenstandards für die unterprivilegierte Klasse eine wesentliche Rolle. Am Anfang
der wohnpolitischen Initiativen um 1860 hieß die Parole ”Licht, Luft und Sauberkeit”, ab
den 1930er-Jahren geht es um Freizeit im Freien.
O-Ton 18 Bro:
Man bruger naturen aktivt
Sprecher 6:
Man benutzt die Natur aktiv, stärkt seinen Körper in der Natur und lernt Landschaft und
Umgebung kennen. Der aktive Naturschutz trägt also zur kulturellen Hebung bei, und
da ist wieder die Stadt gefragt. Sie agiert, indem sie flächendeckend
Naturschutzgebiete entwickelt, einen grünen Gürtel um ganz Kopenhagen. Das
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bedeutet dann ganz konkret, dass Kopenhagen seine Grenzen bis in die Vorstädte
ausweitet, wo es einst nur ein altes Moor gab. Aber man geht noch weiter: Auch das
Naturschutzgesetz wird verschärft, und zwar explizit zu dem Zweck, Naturgebiete
enteignen zu können und einfachen Bürgern den Zugang zu ermöglichen.
Sprecher 2:
EINE UMWELTFREUNDLICHE STADT: Nordhavn soll Kopenhagens Identität als
Umweltmetropole stärken. Regenerative Energie, neue Energieformen, optimale
Ausnutzung von Ressourcen und umweltfreundliche Verkehrsformen sollen
gewährleisten, dass Nordhavn zu einer Pionierstadt für nachhaltige Stadtentwicklung
und umweltfreundliches Bauen wird.
Sprecher 1:
Zwei Kreuzfahrtschiffe liegen an einem riesigen Terminal. In Sichtweite die leuchtend
weiße UN-City, ein gigantisches achtarmiges Gebäudeensemble auf einer eigens
aufgeschütteten Insel. Die EU hat diesem Komplex auf dem Nordhafen einen Preis für
energieeffiziente Lösungen verliehen. So nutzt man Solarenergie zum Heizen und
Meerwasser zum Kühlen, für eine Isolierschicht um das ganze Gebäude werden
recycelbare Materialien verwendet. Um nachhaltige Originalität konkurrieren auch
andere spektakuläre Bauten. Etwa die Immobilie eines dänischen Pensionsfonds, deren
Fassade aus alten Backsteinen eines Brauereigebäudes gebaut wurde. Ein ehemaliger
Vorratsspeicher mit Doppelturm überragt alles mit seinen rundum angefügten
Luxuswohnungen. Baumaschinen beherrschen das Terrain, hin und wieder werden
einige Arbeiter sichtbar, vereinzelt sogar erste Bewohner. Auf dieser Riesenbaustelle
sollen Gebäude und Infrastruktur für bis zu 40.000 Bewohner und ebenso viele
Arbeitsplätze entstehen. Aber so weit ist es noch lange nicht.
Atmo 9 Nordhavn II
Sprecher 1:
Wer wird hier wohnen können? Eine 100 m2- Wohnung kostet etwa 700.000 Euro,
direkt am Wasser legt man das Doppelte hin. Die Kommune Kopenhagen will bis zu
25 Prozent gemeinnützige Wohnungen gewährleisten. Aber bei den aktuellen
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Ausschreibungen der stadteigenen Holding By og Havn kämen die
Wohnbaugesellschaften wegen einer zu langsamen Bürokratie oftmals zu spät, heißt
es. Teuer wird auch ein privat finanziertes innerstädtisches Entwicklungsprojekt, die
historische Brauerei Carlsberg bei Vesterbro. Dort wird in die Höhe gebaut. Wer 191 m2
im 29. Stock des Niels Bohr Turms beziehen will, zahlt etwas über zwei Millionen Euro.
Fünf bis sechs solcher Türme sind geplant. Zum Vergleich: Ein Kopenhagener
Durchschnittshaushalt verfügt über rund 38.000 Euro, pro Jahr.
Atmo 10 Fahrradtour zu Dritte Natur
Sprecher 1:
Was wären die Alternativen zu hochpreisigen Prestige-Bauten auf künstlich designtem
freien Gelände? Wir suchen nach Gegenmodellen und radeln auf dem sogenannten
Grünen Weg von Frederiksberg nach Nørrebro quer durch Kopenhagen. Der Grüne
Weg ist vier Meter breit, er führt an Gärten, Spiel- und Sportplätzen entlang; bis auf die
Kreuzungen ist alles autofrei. Im Gegensatz zum Massenradeln in der City ist das hier
entspanntes Fahrradfahren. Und wenn es regnet - so wie jetzt, stellen wir uns unter
eines der weitgespannten Schutzdächer direkt über dem Fahrradweg.
Atmo 11 Aufgang Dritte Natur
Sprecher 1:
Wir kommen im Architektenbüro „Dritte Natur” an. Es liegt ganz oben in einer alten
Fabrik, starker Regen prasselt auf die flachen, schwarzen Dächer unter uns. Der
Firmenmitgründer Flemming Rafn Thomsen ist ein Senkrechtstarter der ökologischen
Stadtentwicklung. Ein sympatischer Mensch, der uns entgegenkommend begrüßt. Stolz
zeigt er uns das großräumige Architektenatelier und führt uns in einen verglasten
Besprechungsraum. Draussen wird gerade ein Mittagsbuffet für die 25 Mitarbeiter
geliefert, nicht von irgendwem, sondern von einem angesagten Koch. Bei diesen jungen
Architekten und Landschaftsplanern gehört gutes Leben zum guten Arbeiten, zentrale
Begriffe sind „Naturwert” und „Natur Zuerst”.
Sprecher 2:
Nature First beschreibt den Weg zu einem neuen Selbst-Verständnis und einer anderen
Erzählung darüber, wie Stadtentwicklung und Architektur den Klimawandel handhaben
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können. „Dritte Natur“ will eine neue Art von Baukunst, die Experiment, Kreativität und
Lernen vereint - so dass die Stadt an das Leben in ihr angepasst wird und nicht
umgekehrt. Nach dem Wahlspruch: Es wird Zeit, dass wir das Prinzip „Geld zuerst!“
gegen das Prinzip „Natur zuerst!“ austauschen.
O-Ton 19 Flemming Rafn Thomsen
Det er top paradoksalt
Sprecher 4:
Das ist superparadox. Aber eigentlich wäre es das Beste, wenn die Bewohner selbst ein
paar Bäume pflanzen oder ihren Stadtraum selbst gestalten könnten, die Bodenplatten
entfernen, etwas pflanzen und so weiter. Aber je hipper und interessanter so etwas
dann wird, desto höher steigen die Immobilienpreise. Man kann also sagen, die
Kreativität des Volkes wird immer in einem sehr problematischen Verhältnis zu den
Marktkräften stehen. Was die Lösung sein könnte, weiß ich nicht, aber warum sollte
man nicht festlegen, wie hoch die Preise steigen dürfen?
Sprecher 1:
Flemming Rafn Thomsen ist kein Kritiker der grünen Stadtentwicklung, im Gegenteil. Er
war von Anfang an dabei, als die Stadt Kopenhagen nach dem Wolkenbruch vom 2. Juli
2011 den Masterplan zum Umbau der Entwässerungssysteme entwickelte. Die
Spezialität des Büros ist die sogenannte synergetische Analyse eines
Planungsprojektes. Man denkt ganzheitlich und nimmt alles in den Blick: die
geologische Wassersituation an einem Ort, das Naturumfeld und die soziale Lage sowie
technische Parameter, etwa Verkehrsanbindungen und Infrastruktur. Vor diesem
Hintergrund der Kopenhagener Ökopolitik kritisiert Flemming Rafn Thomsen die Klimaund Umweltpolitik unter der wirtschaftsliberalen Landesregierung. Die dreht seit dem
Amtsantritt von Lars Løkke Rasmussen im Jahr 2015 das Rad wieder zurück:
O-Ton 20 Flemming Rafn Thomsen:
Og der oplever vi jo på statsplan kan man sige,
Sprecher 4:
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Wir erleben auf der staatlichen Ebene einige außerordentlich konservative Kräfte mit
einer bürgerlichen Regierung, die gerade sehr viel von dem abbaut, was an
Naturschutz- und Umweltarbeit geleistet wurde, die alle die Standards und Regeln
über den Haufen wirft, die zum Schutz der Natur oder für eine Reduktion der Giftstoffe
eingeführt wurden. Stattdessen fordert sie jetzt einen liberalen Commonsense ein. Da
ist ein klarer Bruch zwischen Stadt und dem Umland zu erkennen. Morten Kabell hat
nach der Wahl gesagt, dass wir als Stadt selbst die Aufgabe in Angriff nehmen müssen,
Kopenhagen in einem überschaubaren Zeitraum klimaneutral zu machen - und dass wir
keine Hilfe vom Staat zu erwarten hätten.
Sprecher 1:
Wie die Metro, wird also auch das Milliardenprojekt Wolkenbruchplan von der Stadt
allein finanziert. Die erste vollendete grüne Lösung ist am Tåsinge Platz in Østerbro zu
besichtigen: Inmitten anonymer Wohnblocks entlang der Straße eine grüne Oase, sanft
geschwungene Grashügel, auf einer Art Spielplatz drei markante, schwarze Skulpturen
aus Stahl, die aussehen wie umgekehrte Regenschirme im Sturm, dazu verspielte
tropfenförmige Elemente. Ein breites Becken voller Blumen und Sträucher gibt dem
Platz eine wilde Note.
Atmo 13 Tåsinge Plads
O-Ton 21 René Sommer Lindsey:
Den rent tekniske regnvandshåndtering, det er faktisk bare det hul, der er derovre …
Sprecher 3:
Praktisch nimmt nur das große Bassin da drüben Regenwasser auf. Früher floss das
gesamte Regenwasser von den Dächern und den Straßen direkt in die Kanalisation,
jetzt sammelt es sich hier, wird in unterirdischen Tanks zurückgehalten und für die
Bewässerung der Anlage genutzt. Die Straßen und Dächer der Umgebung sind
komplett von der Kanalisation entkoppelt, das Regenwasser wird vollständig in dieser
kleinen Biosphäre verbraucht. Aber Kopenhagens Plan geht weiter als das direkte
Regenwassermanagement. Es geht auch um die Trockenperioden und die Hitze, die
auf den großen Asphaltflächen entsteht, das ergibt ein sehr ungutes Stadtklima. Wir
wollen das durch eine vielfältige Bepflanzung verändern. Wir haben niedrige Gewächse
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und Gras, aber auch Bäume und Sträucher, früher hatte Kopenhagen eine sehr
eintönige Bepflanzung, immer die gleichen Baumarten.
Sprecher 1:
René Sommer Lindsey ist Architekt und strategischer Planer in der Stadtverwaltung.
Am Tåsinge Platz koordiniert er die Interaktion zwischen Anwohnern, Platzgestaltern
und Kommune. Heute ist er nicht der einzige, der die Anlage erklärt. Ein anderer
Mitarbeiter führt gerade eine schwedische Gruppe von Stadtplanern herum; die
klimapolitische Kooperation der nordischen Städte scheint zu funktionieren.
Sprecher 1:
Dabei wird der Stadtraum zum Ausstellungsfenster für Grüne Lösungen. Und was die
Stadtplaner sich besonders wünschen: die Beteiligung der Anwohner am grünen
Umbau der Stadt. René stellt uns Flemming Filur Olsen vor. Er wohnt am unteren Ende
der Tåsinge Straße in einem Plattenbau, dem Øbro-Haus. Flemming Olsen hat auch
schon erlebt, wie die grünen Versprechungen der Stadt zum Flop werden können. Denn
von der Initiative am Tåsinge Platz waren die Einwohner der gleichnamigen Straße so
begeistert, dass sie einen Verein zur grünen Umgestaltung der Straße gründeten.
Gemeinsam mit dem Büro Dritte Natur waren sie schon recht weit in der Planung
vorangekommen, doch dann requirierte die Kommune ihre Straße kurzerhand als
Parkzone für Autos. Für den Verein war das tödlich, aber eine Feuerseele, so nennt
man in Dänemark sozial engagierte Menschen wie Flemming Olsen, lässt sich nicht so
leicht entmutigen. Die grüne Tåsinge Straße war ohnehin nur eine Nebenbühne für den
deutsch sprechenden Dänen mit Rasta-Schopf.
O-Ton 22 Flemming Olsen (spricht deutsch)
Also ich bin Vorsitzender in einer sozialen Wohnungsbaugesellschaft oder wie man es
auch nennen kann, in einem gemeinnützigen Wohnungsbau von 1961. Das sind fünf
verschiedene Gebäude, alle so Beton und eigentlich ziemlich langweilig anzusehen.
Aber wir hatten eine sehr gute Entwicklung in den letzten zehn Jahren, und ich werde
euch ein paar Sachen zeigen. Wir machen eine kleine Runde und dann werde ich ein
bisschen über die Anschauungsweise von unserer sozialen Wohnungsbautradition oder
unser gemeinnützigen Wohnungsbautradition … (Unterbrechung) Das war eben Jakob,
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er ist aus dem Øbro-Haus und hilft gerade Max. Der ist einer der letzten Bürger, die seit
1961 hier in diesen Wohnungen leben. Er ist eingezogen, als der Beton noch nass war,
das Gebäude war noch nicht fertig. Und er ist einer von den letzten fünf, die noch am
Leben sind, mit seiner Frau, er kommt gerade hier auf dem Gehweg vorbei. Und Jakob
hilft diesem Nachbarn. Das ist das Schöne an dem sozialen Wohnungsbau, dass viele
Leute einander helfen. Hej Max! Hej Flemming! Hej Jakob! Hej du!
Sprecher 1:
Flemming erzählt von der Grußpflicht im Haus, um den Zusammenhalt zu stärken. Man
wolle so etwas wie ein Dorf in der Stadt sein. Er ist selbst in diesem Haus
aufgewachsen und kam vor zehn Jahren zurück. Er begann aktiv mit den Medien zu
kommunizieren, nachdem ein Journalist das Haus einmal als Armen-Ghetto bezeichnet
hatte. Als Vorsitzender des Mieterrates hat er konkrete Vorstellungen über soziale
Nachhaltigkeit und wie man sie bei 250 meist ein bis anderthalb Zimmer-Wohnungen in
zehn Stockwerken erreichen kann. Eigentlich ist das Øbro-Haus unscheinbar. Ein
grauer Plattenbau an einer vielbefahrener Verkehrsstraße, den wir bei unserer Anfahrt
nicht einmal bemerkt haben.
O-Ton 23 Flemming Olsen:
Und jetzt gehen wir in den großen Garten rein. Was kann man sagen… es ist ein Raum
wo früher alles niedlich war, also man hatte einen Gärtner, er hat alles gemacht, aber
jetzt haben wir Einwohner, die alles selber machen. Nicht den Rasen, aber sonst die
Beete und Pläne, wie sich das entwickeln soll.
Sprecher 1:
Flemming zeigt uns ein winziges, eingezäuntes Beet mit Erdbeeren. Es gehört einer
jungen Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien. Etwas tiefer zwischen den Obstbäumen
weitere Beete mit Blumen und Sitzbänken. Therapiebeete nennt sie Flemming Olsen,
ganz ohne Herablassung. Schließlich gehört die Beschäftigung mit Natur zu seiner
Grundidee einer nachhaltigen Mieterdemokratie.
Atmo 15 Eingang Øbrohus
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Sprecher 1:
Flemming führt uns durch den langen Hausflur. Hier haben die Mieter sich selbst in
einem Wandfries festgehalten, mit der Hilfe einer Künstlerin und auf eigene Kosten. Die
Motive und Szenen stellen ihre grünen Aktionen der letzten zehn Jahre dar.
O-Ton 25 Flemming Olsen:
Hier ist Elisabeth. Elisabeth ist unsere Hausmeisterin, eigentlich soziale Hausmeisterin,
weil wir auch einen normalen Hausmeister haben. Ein sehr großer Erfolg dieses
Gebäudes ist auch, dass die Leute selber zugestimmt haben, einen sozialen
Hausmeister anzustellen und dafür etwas mehr Miete zu zahlen. Und der soziale
Hausmeister hilft den Leuten, die entweder soziale oder ökonomische Probleme haben,
so dass wir als Community harmonischer miteinander auskommen.
Atmo 16 Aufgang Fahrstuhl, dann Treppe, Tür geht auf bei 1'07
Sprecher 1:
Und noch eine Mieterhöhung haben die Mieter selbst entschieden, sie zahlen bis zu
zehn Euro pro Monat mehr für die hauseigene Dachterrasse. Die war ein alter
Kindheitstraum von Flemming Olsen, und als Vorsitzender des Mieterrates hat er dann
alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mit seinen Mietern zu zeigen, dass auch in einem
sozialen Wohnungsbau ein gewisser Luxus möglich ist.
Es regnet. Die Liegestühle aus Holz und den Grill können wir heute nicht in Anspruch
nehmen. Aber der Panoramablick über Kopenhagen ist sagenhaft.
O-Ton 26 Anders Lund Hansen:
men hvor det sådan bliver normaliseret at snakke om det
Sprecher 5:
Also vor fünf bis zehn Jahren wurde noch diskutiert, ob man hier in Kopenhagen
überhaupt von Gentrifizierung sprechen kann. Ich habe das von Anfang an miterlebt, da
hieß es dann: Also ihr lieben Kleinen hört mal her! Das hier ist Skandinavien und hier
haben wir eine lange Tradition der Wohlfahrtsvorsorge, also diese unzivilisierten
Entwicklungen, wie in den USA und England gibt es hier nicht. Wir kennen ja diese
Theorien, aber wir haben das Problem gelöst.
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Sprecher 1:
Anders Lund Hansen ist ein Kulturgeograph, der die transregionalen Möglichkeiten am
Øresund auch persönlich nutzt. Er pendelt zwischen Kopenhagen und der
südschwedischen Universität Lund. Mit den unzivilisierten Dingen meint er die
Vertreibung ärmerer Schichten aus ganzen Wohnvierteln. Er ist einer der wenigen
Forscher, die sich mit dem Problem Gentrifizierung in Dänemark beschäftigen und
kennt die Sache auch aus eigener Erfahrung. Seine jetzige Wohnung auf
Christianshavn, direkt am Wasser, zeugt davon. Denn sie war - ein Glück im Unglück das alternative Angebot der Stadt, als ihm seine Hinterhofwohnung in Vesterbro wegen
einer umfassenden Sanierung des Viertels gekündigt worden war.
O-Ton 27 Anders Lund Hansen
Jamen Vesterbro nu jamen der kan man jo næsten se i fuldt flor den gentrificering
Sprecher 5:
Auf Vesterbro kann man ja jetzt die Gentrifizierung in voller Blüte erleben, in dem Haus
in dem ich gewohnt habe, blieb das Vorderhaus stehen, da kostete eine
Genossenschaftswohnung damals 200.000 Kronen, etwa 30.000 Euro, heute kostet sie
vier Millionen Kronen. Da gibt es ja jetzt eine kulturelle Szene.
Sprecher 1:
Davor war die Qualität der Wohnungen in den Spekulationsbauten aus dem
19. Jahrhundert allerdings wirklich schlecht. 11 Prozent der Wohnungen hatten keine
eigene Toilette, 70 Prozent kein Bad. Und das soziale Profil des Viertels war prekär:
20 Prozent Arbeitslose, 24 Prozent der Bewohner lebten von Transferleistungen. 1991
wurde dann das größte Stadtentwicklungsprojekt in ganz Skandinavien mit einem
Volumen von 650 Millionen Euro beschlossen. Ein Widerspruch war hier von Anfang an
angelegt: Sozial nachhaltige Sanierung des Viertels bei gleichzeitiger Werbung um
finanzkräftige Bewohner.
O-Ton 28 Anders Lund:
Så der kan man tale om
Sprecher 3:
19
Im Englischen heißt das state led gentrification: Vom Staat gelenkte Gentrifizierung.
Man kennt das auch aus Berlin von vielen Bezirken: Der Staat war immer dabei, aber
das heißt ja nicht, dass die Gentrifizierung nicht durchschlagen konnte. Das kann sogar
eine Art Kickstartfunktion haben, so wie in Vesterbro, da kann man praktisch von einem
staatsgeförderten Kickstarter für die Gentrifizierung sprechen.
Sprecher 1:
Wenn dann am Ende eine reichere Schicht die ärmere verdrängt hat, ist ein Stadtteil
gentrifiziert. In Vesterbro geschah dies durch die Überlistung der Bewohner, vielleicht
haben sie sich auch selbst überlistet, erzählt Anders Lund Hansen: In den 1990erJahren wurden im Zuge der Stadterneuerung private Mietwohnungen in preiswerte
Genossenschaftswohnungen umgewandelt. Das bot sogar Studierenden die
Möglichkeit, hier Besitz zu erwerben. Zehn Jahre darauf erließ die bürgerliche
Regierung ein raffiniertes Gesetz. Es erlaubte den Genossenschaftlern jetzt, ihren
persönlichen Anteil als Sicherheit für Privatkredite anzubieten. Und die Banken nahmen
diese Sicherheiten gerne an. In der Folge bewerteten Banker, Immobilienagenturen und
die Genossennschaftsvereine selbst diese Wohnungen immer höher. Und die
Wohnungseigentümer verkauften oft mit enormem Gewinn. So kamen die
Genossenschaftswohnungen auf den freien Immobilienmarkt.
O-Ton 29 Anders Lund Hansen:
Altså i litteraturen taler man
Sprecher 5:
In der Literatur heißt das exclusionary displacement, also diese Leute werden nicht
geradewegs hinausgeworfen, aber sie werden langsam ersetzt von einer ganz anderen
Gruppe. Wenn du aber Opfer eines Gentrifizierungsprozesses wirst, weil du nicht mehr
mithalten kannst, dann kommst du nicht so einfach in eine gemeinnützige Wohnung.
Hier wo ich jetzt wohne, muss man 20 Jahre warten.
Sprecher 1:
Anders Lund Hansen berichtet von den Angriffen der bürgerlich-liberalen
Landesregierung auf die soziale Wohnpolitik des Wohlfahrtsstaates. Schon 2001, im
20
ersten Jahr der Regierung Anders Fogh Rasmussen, sei das Ministerium für Stadt und
Wohnen aufgelöst worden. Später folgte das neue Kreditgesetz gegen die Ideale der
Genossenschaften. Schließlich kam der „Ghettoplan", der die sozialen Probleme in
sogenannten Ausländerghettos lösen sollte, am Ende aber die Autonomie der
Wohnungsbaugesellschaften und die traditionsreiche Mieterdemokratie untergrub.
Dieser neoliberale Sozialabbau in Dänemark - durch Deregulierung und Privatisierung
gesellschaftlichen Eigentums, sei eine eher stille, verschwiegene Arbeit der
Landesregierung gewesen, lauthals übertönt vom fremdenfeindlichen Spektakel der die
Regierung stützenden rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei.
Für Vermögensverwalter, Finanzmakler und Investmentbanker spiele die grüne
Strategie eine immer größere Rolle. Sie suchen nachhaltige Produkte wie
energieeffiziente Immobilien für ihre Wertanlagen-Portfolios, weil die Pensionsfonds
dann gerne zugreifen, denn Nachhaltigkeit ist ein schlagkräftiges Argument auf den
globalen Finanzmärkten. Wenn also Nordhavn oder Ørestad so bemüht sind um ein
grünes Image, dann kommt das den Pensionsfonds sehr entgegen, die dort als
Hauptinvestoren auftreten.
O-Ton 31 Anders Lund Hansen:
og derfor bliver det urbane produkt
Sprecher 5:
Und so wird die nachhaltige Stadt immer mehr zum Rahmen für das grüne urbane
Produkt, und das ist ein guter Rahmen, das macht ja unwidersprochen Sinn: Gut fürs
Klima, die CO2-Reduktion, all diese nachhaltigen Dinge. Aber natürlich ergibt das auch
ökonomisch einen Sinn, man sollte da nicht so naiv sein.
Sprecher 1:
Anders Lund Hansen ist nur nicht so ganz einverstanden mit diesem „Sinn”. Denn mit
all den grünen Lösungen in der Vorzeigestadt Kopenhagen - vom energieeffizienten
UN-Bauwerk über die exportfähige Fahrradinfrastruktur bis zum ökologischen
Regenwassermanagment gehe ein politischer Systemwandel einher. Sein Fazit lautet:
Im Wohlfahrststaat Dänemark waren Natur und Umweltschutz noch elementar auf eine
soziale Wohnpolitik abgestimmt. Städte und Regionen handelten in politischem
Einvernehmen. Im neoliberalen Dänemark dagegen wird die grüne Metropole mit ihren
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nachhaltigen Visionen von den Wirtschaftsliberalen und Rechtspopulisten in der
Landesregierung blockiert. Also geht es an die Substanz: Kopenhagen verkauft mehr
und mehr Grundbesitz, um seine Nachhaltigkeit zu finanzieren, während die Käufer,
also Investoren wie Pensionsfonds und Versicherungen, immer einflussreicher in der
dänischen Volkswirtschaft werden. Und deren Logik heißt Wachstum und Ertrag, nicht
synergetische Nachhaltigkeit von Wirtschaft, Umwelt und Sozialem.
O-Ton 32 Anders Lund Hansen:
altså hvis vi også vil tale social bæredygtighed
Sprecher 5:
Also wenn wir über Nachhaltigkeit reden wollen, über soziale Nachhaltigkeit, dann
müssen wir uns den Realitäten stellen. Und das heißt, es ist die kapitalistische
Ökonomie des Raumes, die alle diese Situationen schafft, die mit Gentrifizierung
einhergehen.
Sprecher 1:
Das letzte Wort hat der Dichter - Søren Ulrik Thomsen:
O-Ton 35 SUT
Hvis du kigger ud i gården her
Sprecher 4:
Wenn man hier in den Hinterhof hinausblickt - sieht man wohl das wahre Ideal des
neuen Kopenhagen - da wachsen Bäume, da ist es grün und da drüben steht ein
Gewächshaus, so möchte man Kopenhagen und so sieht es mittlerweile auch aus. Das
mag ich überhaupt nicht. Weil eine richtige Großstadt anders sein muss: kolossal,
komplex und kompakt. Kolossal - also groß. Komplex - also soziale Komplexität mit
allen möglichen Typen im öffentlichen Raum. Und man braucht das Gefühl eines
kompakten Stadtraumes. Wenn man davon zu viel verschwinden lässt, dann
verschwindet auch das Großstadtgefühl, der Unterschied zwischen Großstadt und
Vorstadt.
O-Ton 36:
og hvad det angår med at være reaktionær
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Sprecher 4:
Und was den Vorwurf angeht - ich sei reaktionär. Das weise ich vollkommen zurück.
Denn ich bin der Meinung, dass ich die Modernität verteidige. Ich finde, es ist zutiefst
reaktionär, die Großstadt zu einem grünen Dorf zu machen.
Sound Konzert
Absage Sprecher 2
Rotes Erbe – Grüner Markt
Wie sich Kopenhagen als Grüne Metropole neu erfindet
Ein Dossier von Jane Tversted und Martin Zähringer
Es sprachen Frauke Poolman, Martin Schaller, Gregor Höppner, Jochen Langner,
Matthias Ponnier und Michael Witte
Ton und Technik: Gunther Rose und Roman Weingart
Regie: Wolfgang Schiller
Redaktion: Birgit Morgenrath
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2016