J. Dietrich: „Frontstadt“ im Kalten Krieg 2016-4-177 - H-Soz-u-Kult

J. Dietrich: „Frontstadt“ im Kalten Krieg
Dietrich, Johanna: „Frontstadt“ im Kalten Krieg
oder Kulturmetropole an der Spree? Das geteilte Berlin im Dokumentarfilm der Bundesrepublik und der DDR (1948–1973). Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2014. ISBN: 978-3-8300-7673-5;
357 S.
Rezensiert von: Andy Räder, Philosophische
Fakultät – Institut für Medienforschung, Universität Rostock
Film handelt „von der Beziehung des Menschen zu den Dingen und zu der ihn umgebenden Welt“ erklärte der bedeutende französische Filmkritiker André Bazin in seinem
Hauptwerk „Qu’est-ce que le cinéma?“1 Bazins Überlegungen zum filmischen Raum eröffneten neue Sichtweisen auf die historiografische Filmanalyse und haben bis heute
Einfluss auf die Geschichtswissenschaft. Für
eine zeitgeschichtliche Untersuchung räumlicher Repräsentation in Filmen bietet sich
das Nachkriegsberlin mit seinen Brüchen
und Kontinuitäten als zentraler Ort deutschdeutscher Geschichte und Spiegelbild gesellschaftspolitischer Veränderungen geradezu an.
Johanna Dietrich greift in ihrer Studie zur
Darstellung des geteilten Berlin im Dokumentarfilm der Bundesrepublik und der DDR
von 1948 bis 1973, die 2013 als Dissertation
an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde, diesen Gedanken auf und
sucht in ihrer Arbeit aus historiografischer
Perspektive nach „Wandlungen des im Dokumentarfilm vermittelten Berlin-Bildes anhand
von Zäsuren der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte“ (S. 12). Ausgangspunkt ist
die Annahme, dass sich gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen in einzelnen Filmen niederschlugen. Sie spricht hierbei sogar von einer „aktive[n] Selbst- und Fremddarstellung beider
deutscher Regierungen mithilfe der Filmemacher, die an Berlin, als Brennpunkt und
Miniaturansicht des Kalten Kriegs und als
Gradmesser der Beziehungen zwischen den
Besatzungsmächten, illustriert werden kann“
(ebd.). Dietrich sucht nach „Ausmaß und
Form“ (ebd.) dieser Veränderungen, nach Einflussfaktoren auf die Bevölkerung und nach
gegenseitigen Bezugspunkten im Dokumen-
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tarfilmschaffen beider deutscher Staaten.
In ihrer umfangreichen Einleitung nennt
sie fünf zentrale Fragestellungen: 1. Veränderungen in der Darstellung Berlins, 2. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, 3. Absichten von Politikern und Produzenten, 4. Intentionen von Regisseuren und 5. Publikumsreaktionen (vgl. S. 13ff.). Für ihre Untersuchung wählt sie drei historische Zäsuren während des Kalten Krieges: Zum einen die Berlin-Blockade und Luftbrücke von
1948/49, die Berlin-Krise ab 1958 bis zum
Mauerbau 1961 und die späten 1960er-Jahre
bis zum Vier-Mächte-Abkommen 1972. Diese zunächst noch grobe Einteilung wird im
Laufe der Arbeit präzisiert, so dass am Ende die Zeiträume 1947–1950, 1957–1962 und
1966–1973 benannt werden (vgl. S. 45).
Die gewählten Phasen sowie bewusste Auslassungen zwischen den historischen Zäsuren
offenbaren einige methodologische Schwächen dieser Arbeit. Im Hinblick auf die große Menge an Dokumentarfilmen ist eine
Eingrenzung durchaus sinnvoll, eine präzise Schilderung der Auswahlkriterien unter
Einbeziehung der Filmauswahl wäre jedoch
wünschenswert gewesen. Eine Antwort auf
die von Dietrich selbst gestellte Frage, warum die speziell auf die Untersuchung zugeschnittenen Kriterien „nicht auf weitere Forschungen zum Dokumentarfilm übertragen
werden können“ (S. 33) bleibt sie leider schuldig. So sind die gewählten Zeiträume und Dokumentarfilme sowie die nicht berücksichtigten Filmbeispiele schwer nachvollziehbar.
Die gewählte Forschungsmethode wird an
unterschiedlichen Stellen der Einleitung thematisiert, ohne sie jedoch umfassend und abschließend zu erklären (vgl. 13ff., 25ff., 33,
45ff.). Von 40 Filmen, die Dietrich sichtete,
wählte sie zwölf aus. Die 28 restlichen Dokumentarfilme werden zwar aufgeführt, über
die Gründe ihres Ausschlusses erfährt man,
außer einigen wenigen formalen Kriterien,
wie beispielsweise eine Mindestlänge von 30
Minuten, jedoch wenig. Dass die dann ausgewählten Filme „am ehesten den [. . . ] festgelegten Kriterien“ (S. 47) entsprechen, ist
als Begründung nicht ausreichend und kaum
nachprüfbar.
1 André
Bazin, Was ist Film? Berlin 2004, S. 87.
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Nachdem Johanna Dietrich den Dokumentarfilmbegriff definiert und sich mit der Theorie beschäftigt, die sich insbesondere dem
Wert dokumentarischer Arbeiten als historischer Quelle widmet, beschreibt sie unterschiedliche filmanalytische Methoden. Dabei
stützt sie sich vor allem auf Jürgen Kühnels
vier Arten der Filmanalyse: die sozialhistorische Analyse, filmhistorische Analyse, Aussageanalyse und psychologische Analyse.2 Die
zuletzt genannte Methode will die Autorin
für ihre Arbeit nutzen, da es ihr „hauptsächlich um die Wirkung des Films auf den Rezipienten“ (S. 41) gehe. Das überrascht, weil
sich ihre Forschungsfrage doch eigentlich mit
dem Wandel der Berlin-Darstellung beschäftigt. Sie wolle herausfinden „mit welchen Mitteln die Beeinflussung funktioniert“ (S. 12).
Die Reaktion des Publikums ist dagegen nur
als eine von fünf Fragen benannt.
Das Filmprotokoll, bzw. die Sequenzanalyse, wird als wichtigstes Instrument angeführt. „Bei der Sequenzanalyse wurde zwischen visuellen Zeichen wie Bild oder Schrift
und akustischen Merkmalen wie Sprache, Geräusche oder Musik unterschieden“ (S. 42), so
Dietrich. Weshalb die abgedruckten Filmprotokolle dann lediglich Sequenznummer und
Inhalt angeben bleibt rätselhaft. Beide Punkte tragen kaum etwas zur Beweisführung in
den Analysekapiteln bei. Es bleibt zu hoffen,
dass bei den Beispielanalysen ausführlichere Sequenzprotokolle zur Verfügung standen,
auch wenn sie in dieser Publikation nicht abgedruckt sind.
In Bezug auf den Forschungsstand fällt
auf, dass Dietrich häufig ältere Literatur verwendet. So nutzt sie für die Definition des
Begriffes Dokumentarfilm eine weniger bekannte Publikation von Peter Bär über Filmzensur und -förderung aus dem Jahre 1984
(S. 30).3 Für ihre eigene Methode zur Quellenkritik verwendet sie als Grundlage sogar einen Aufsatz von Gerd Albrecht aus
dem Jahre 1964.[4] Der Arbeit fehlt es ferner an einer interdisziplinären Perspektive
auf ihren Untersuchungsgegenstand und eine
Berücksichtigung aktueller film- und medienwissenschaftlicher Forschungsansätze und
-methoden.
Weitere methodologische und theoretische
Schwächen zeigen sich in den nun folgenden
Analysekapiteln. Bereits bei der ersten Dokumentarfilmproduktion „Westwärts schaut
Berlin“ (Britische Besatzungszone 1948) beschreibt Dietrich überwiegend den historischen Kontext und nennt nur die aus der
Sekundärliteratur bereits bekannten Produktionshintergründe. Die in der Kapitelüberschrift angekündigten Informationen über
Bild, Ton und Aufbau beschränken sich auf
Angaben über Filmmaterial, Herkunft der
Aufnahmen sowie der Feststellung, dass Musik „keine allzu große Rolle“ (S. 81) spiele. Auch die Erläuterungen zum Berlin-Bild
entsprechen fast ausschließlich inhaltlichthematischen Nacherzählungen der Handlung. Nach einem zweiten Filmbeispiel erfolgt eine „Analyse und Interpretation“ (S. 88)
der beiden West-Berliner Dokumentarfilme,
in der die bekannten Fakten jedoch nur wiederholt werden. Im Anschluss an die OstBerliner Filmbeispiele widmet sich Dietrich
der Rezeption und vergleicht das in West und
Ost gezeichnete Bild der Stadt Berlin. Dieses Schema wiederholt sich im Laufe der Arbeit. Die Beispielanalysen werden dabei jedoch zunehmend kürzer. Beim letzten Dokumentarfilm „Berliner Miniaturen“ (DDR 1971)
sind sie nur noch eine halbe Seite lang (vgl.
S. 269). Zur Rezeption des DDR-Fernsehfilms
wird beispielsweise lediglich die Fernsehzeitschrift „FF dabei“ angeführt und wiederholt auf die schwierige Quellenlage verwiesen (vgl. 282f.). Verschwiegen wird jedoch,
dass es seit Mitte der 1960er-Jahre eine Abteilung Zuschauerforschung beim Deutschen
Fernsehfunk gab, die die Sehgewohnheiten
der DDR-Bevölkerung umfassend untersuchte und deren Ergebnisse im Deutschen Rundfunkarchiv einzusehen sind.
Aufgrund der genannten Mängel hinterlässt die Publikation einen sehr zwiespältigen
Eindruck. Positiv hervorzuheben ist, dass sie
sich weniger bekannten und kaum untersuchten Dokumentarfilmen widmet. Leider gibt
es keine Abbildungen und Illustrationen zu
den Beispielfilmen. Ferner führen methodische und theoretische Mängel immer wieder
2 Vgl. Jürgen Kühnel, Einführung in die Filmanalyse. Teil
1. Die Zeichen des Films, Siegen 2004.
Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und
ihre Grenzen. Filmzensur und Filmförderung, Frankfurt am Main 1984.
3 Peter
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J. Dietrich: „Frontstadt“ im Kalten Krieg
zu Spekulationen. So stellt die Autorin beispielsweise im Fazit fest, dass beide politischen Systeme „in Form und Inhalt“ ähnliche
Dokumentarfilme hervorbrachten. Sie bleibt
dem Leser durch die fehlende filmästhetische Analyse in Bezug auf die Form den Beweis jedoch schuldig. Auch verirrt sie sich
oft in Pauschalisierungen wie: „Instrumentalisierungen der Zuschauer fanden in beiden
Staaten gleichermaßen statt und waren auch
ähnlich offensichtlich. In West-Berlin hätten
die Regisseure die Möglichkeit gehabt kritischere Filme zu drehen, in Ost-Berlin nicht.“
(S. 299) Angesichts der Tatsache, dass der
aktiv rezipierende Zuschauer und die Wirkung der Filmbilder auf das Kinopublikum
in der Arbeit kaum untersucht wurden überrascht diese These. Auch gab es in der DDRKulturpolitik liberale Phasen, in denen kritische Dokumentarfilme bei der DEFA oder
dem Fernsehen durchaus möglich waren. Aus
den genannten Gründen enttäuscht Dietrichs
Studie, auch wenn sie einen wichtigen Forschungsgegenstand beleuchtet.
HistLit 2016-4-177 / Andy Räder über Dietrich, Johanna: „Frontstadt“ im Kalten Krieg oder
Kulturmetropole an der Spree? Das geteilte Berlin
im Dokumentarfilm der Bundesrepublik und der
DDR (1948–1973). Hamburg 2014, in: H-SozKult 15.12.2016.
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