E. Gruber: Kommunale Rechnungspraxis 2016-4-176 - H-Soz-u-Kult

E. Gruber: Kommunale Rechnungspraxis
Gruber, Elisabeth: „Raittung und außgab zum
gepew“. Kommunale Rechnungspraxis im oberösterreichischen Freistadt. Edition und Kommentar der Stadtgrabenrechnung 1389–1392.
Wien: Böhlau Verlag Wien 2015. ISBN: 978-3205-79631-2; 243 S.
Rezensiert von: Georg Vogeler, Zentrum für
Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften, Karl-Franzens-Universität Graz
Das hier vorzustellende Buch hält nicht, was
der Titel verspricht – aber im positiven Sinne: Es ist nicht nur die Edition einer 96seitigen Rechnung, sondern auch ein Beitrag
zur Geschichte der Stadtmauer und eine Tiefenverzeichnung der mittelalterlichen Rechnungsüberlieferung von Freistadt. Die Autorin hat sich in der Einleitung das Ziel gesetzt,
über die mit und in den Rechnungen handelnden Menschen zu schreiben. Dass die von
ihr gründlich bearbeitete Rechnung (OÖLA
StA Freistadt HS 631) nur ein Projekt der Bewohner Freistadts betrifft, wird aus dem Titel nicht ganz klar: Es geht um den Ausbau
der Stadtmauer der heute an der Grenze zu
Tschechien situierten Kleinstadt. Am Goldenen Steig gelegen prosperierte sie und war im
14. Jahrhundert zum Zentrum des Mühlviertels aufgestiegen. Die am Ende des 14. Jahrhunderts errichtete Stadtmauer war ein komplexes Bauwerk aus Graben, Zwinger, eigentlicher Stadtmauer und einem dahinter gelegenen Freiraum zu den Häusern, der auch in die
Verteidigungskonzeption einbezogen war.
Die Autorin stellt ihren Beitrag in den Kontext von Forschungen zu den gesellschaftlichen Phänomenen, die große Bauprojekte
mit sich bringen: Repräsentationsbedürfnisse und Identitätsstiftung sind dabei ebenso
von Interesse wie Auswirkungen auf politische Organisation und Finanzgebaren, die
solche Bauten im Mittelalter hatten. So macht
es Sinn, dass sie die Rechnungsüberlieferung
zunächst kontextualisiert. Als erstes wird die
Quelle in die Archivgeschichte von Freistadt
eingeordnet. Dann stellt die Autorin den wirtschaftlichen, verfassungsgeschichtlichen und
politischen Rahmen vor. Die Rechnung ist
erst verständlich, wenn man weiß, dass sie
als Beleg gegenüber dem Landesherrn diente, welcher der Stadt zur Finanzierung des
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Mauerbaus auf drei Jahre das Ungeld (eine Art Umsatzsteuer) überlassen hatte. Sie
muss also keineswegs das ganze Bauprogramm abbilden. Auch das Wissen über die
Rotation der Bauaufsicht und damit der Rechnungsführung macht es leichter, sie zu verstehen. Hilfreich ist schließlich die prosopographische Einordnung der erwähnten Personen, die zeigt, welcher sozialen Gruppe in
der Stadt die Baumeister angehörten. Ausführlich zieht die Autorin aus der Rechnung
selbst Angaben zum Ablauf der Baumaßnahmen (jahreszeitliche und wöchentliche Verteilung) und zu den Kostengruppen (Schwergewicht auf Personalkosten und Transportkosten). Während diese Angaben eher einer
späteren Forschung hätten überlassen werden
können, sind die darin enthaltenen realienkundlichen Ausführungen über Baumaterial
und Werkzeuge für das Verständnis der Rechnung notwendige Voraussetzung. Umfangreich fällt auch eine bauhistorische Untersuchung aus, zu der Thomas Kühtreiber, Gábor
Tarcasay und Michaela Zorko einen „bauarchäologischen Rundgang“ (S. 87–96) beigetragen haben. Dabei wird deutlich, dass die heute vorhandenen – umfangreichen – Reste der
Stadtmauer in mehr Phasen entstanden sind,
als es die ältere Forschung annahm. Die folgende Einordnung in die militärischen Konflikte, in denen die Mauer im 15. Jahrhundert ihre Aufgabe erfüllte, könnte helfen, diese Schichtungen näher zu bestimmen, doch
bleiben der archäologische und der archivalische Beitrag im Band eher unverbunden.
Die eigentliche Edition (S. 109–162) folgt
den etablierten Transkriptionsrichtlinien für
landesgeschichtliche Quellen. Soweit Bildmaterial im Band einen Vergleich ermöglichte,
besitzt die Editorin die notwendige paläographische Sicherheit. Nun interessiert sich
auch germanistische Forschung für Rechnungen.1 Für diese Nutzer der Rechnung sei darauf hingewiesen, dass die Editorin sich anscheinend entschieden hat, alle über einem
u zu findenden diakritischen Zeichen mit einem Akzent (ú) wiederzugeben, auch wenn
1 Claudine
Moulin, Zeichen und ihre Deutung. Zum
handschriftennahen Edieren schriftlicher Quellen im
interdisziplinären Kontext, in: Claudin Moulin / Michel Pauly (Bearb.), Die Rechnungsbücher der Stadt
Luxemburg, Bd. 6, Luxemburg 2012 (Schriftenreihe des
Stadtarchivs Luxemburg 6), S. 9–17.
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sie nicht anders als das übergeschriebene e
aussehen, das bei anderen Vokalen als dem u
als ein solches transkribiert wird (z. B. S. 117,
in der Transkription zu pag. 14a).
In der Edition wird hin und wieder deutlich, wie ungünstig die eingeführten Transkriptionsrichtlinien für einen Gebrauchstext
sind: Sie gehen davon aus, dass es einen abschließenden gültigen Text gibt und verlegen
deshalb gestrichenen Text in die Fußnoten.
So verschwindet zum Beispiel der Hinweis,
dass Friedrich der Volchrat seine Verzehrkosten zunächst erst aus den Steuereinnahmen
beglichen hatte, in Fußnote h. Das weist auf
eine Grundproblematik der gedruckten Edition von Rechnungsmaterial hin: Die Bindung
an die Druckform erzwingt die Bevorzugung
einer Textfassung. Wenn man dann zusätzlich noch die aus der Rechnung erstellten Graphiken im ersten Teil des Textes als händische Kopie von Zahlenangaben aus der Edition in Tabellenkalkulationsprogramme versteht, dann drängt sich die Frage auf, ob nicht
wenigstens für diese beiden Probleme eine digitale Edition das bessere Mittel gewesen wäre. Die auf S. 41 angesprochenen Ordnungsprobleme der Prosopographien wären dann
auch geringer gewesen.
Im Anschluss an die Edition listet die Autorin die übrige Rechnungsüberlieferung aus
dem Stadtarchiv Freistadt zwischen 1396 und
1487 auf. Sie beschreibt jede der im Oberösterreichischen Landesarchiv verwahrten Handschriften ausführlich nach den Standards
Handschriftenerschließung. Zusätzlich zu äußeren Merkmalen und extensivem Inhaltsverzeichnis kommentiert die Autorin bauhistorisch relevante Inhalte. Ergänzend zu diesen Handschriftenbeschreibungen kann man
in manuscripta.at betaradiographische Bilder
der Wasserzeichen finden. Auch hier ist man
ein wenig verwundert, dass die Handschriftenbeschreibungen nicht mit in das digitale
Angebot aufgenommen wurden.2
Den Band schließen eine Karte und zwei
Register (Sachen, Orts- und Personennamen)
ab. Sie bedürfen hier einer besonderen Erwähnung, weil sie historische Fachtermini
kurz erläutern, und es mit einer hierarchischen Gliederung ermöglichen, nach Gruppen wie Werkzeuge, Tagwerke, Holzgegenstände, Schießscharten oder Mauerwerk zu
suchen. Das Sachregister dient damit auch als
Verständnishilfe für den Leser des Editionstextes.
Die Edition ist also vieles zugleich: ein
gelungenes Quellenwerk, das verschiedenen
Fragestellungen zugänglich gemacht werden kann, eine schöne Fallstudie über die
Organisation von städtischen Bauaufgaben,
und schließlich eine stadthistorische Untersuchung der Befestigungsanlagen einer gerade
im 15. Jahrhundert immer wieder militärisch
geforderten Grenzstadt. Damit ist sie mehr als
das, was der Titel verspricht.
HistLit 2016-4-176 / Georg Vogeler über Gruber, Elisabeth: „Raittung und außgab zum gepew“. Kommunale Rechnungspraxis im oberösterreichischen Freistadt. Edition und Kommentar der
Stadtgrabenrechnung 1389–1392. Wien 2015, in:
H-Soz-Kult 14.12.2016.
2 Vgl.
http://manuscripta.at/m1/hs
_detail.php?ID=35237 (16.11.2016).
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