SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Essay "Wir sind alle Kinder der Presse" Literatur und Journalismus im Paris des 19. Jahrhunderts Von Albrecht Betz Sendung: Montag, 12. Dezember 2016 Redaktion: Stephan Krass Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/essay.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Für ihn war das die Vorstufe zum späteren Literaturkritiker, der er auch war. Die Gesellschaftsberichte, die er nicht ohne satirischen Biss für auflagenstarke Blätter wie den Figaro schrieb, wurden als Fingerübungen zum Rohmaterial zahlreicher Werke. Spr. 2 Zum fassadenhaften Glanz der Weltstadt Paris mit ihren vibrierenden Widersprüchen hatte die Glamour- und profitorientierte ebenso wie die regierungskonforme Presse beigetragen. Die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ – wie Walter Benjamin Paris betitelte - war auch ein Ort der raffinierten Selbstdarstellung. Dagegen galt es, unbestechlich eine Art soziologischer Röntgenbilder zu setzen; faktisch in der kritischen Presse; imaginär verdichtet im Roman. Was bei beiden zum Einsatz kam, war der „böse Blick“ als Produktivkraft. Ihn fruchtbar zu machen, hieß die Mischung aus Gier, aus nackter Selbstsucht, aus Prestige- und Machtbedürfnissen in einer ebenso eleganten wie intriganten, erbarmungslos konkurrenzfixierten Metropolengesellschaft freizulegen. Emile Zolas Ethos gleicht dem eines Chirurgen, der vor allem, was er im Körper entdeckt, nicht die Augen verschließen darf. Die Beherrschung des literarischen und publizistischen Instrumentariums dient dazu, die Auswüchse hinter und unter arroganten Snobismen und verschleierten Interessen sichtbar zu machen. Spr. 1 Kritisch auch die eigene Zunft ins Visier zu nehmen, ist für Zola selbstverständlich. Mit seinen Urteilen und Vorurteilen ist er ein Kind seiner Zeit. Dazu gehört auch das seit Balzac geläufige und eher aristokratisch angehauchte Diktum, die Massenpresse sei der Friedhof höherer literarischer Ambitionen und verschlinge große Begabungen. Oder: Der Vorrang der Information zwinge zu Kürze und Schnelligkeit, was mit der Praxis des Schriftstellers unvereinbar sei. Die Pflicht zur Aktualität, die tägliche Tortur, den vorgegeben Rahmen ausfüllen zu müssen, sei ein tödlicher Gegensatz jedes Schreibens mit dichterischem Anspruch. Und doch finden sich immer wieder auch Bemerkungen wie diese: Spr. 3 „Für jeden beginnenden Romanautor ist der Journalismus eine exzellente Gymnastik, ein Sich-Reiben am täglichen Leben, von dem starke Schriftsteller nur profitieren können... Die Zeitung macht nicht den Journalisten, sondern der Journalist die 2 Zeitung. Ist er gut, ist er überall gut. Wichtig ist, sein Niveau zu halten, um als Autor nicht vor seinem Werk erröten zu müssen.“ Spr. 1 Fast ließe sich von einer sozialen Hierarchie der Textsorten sprechen, in der Erinnerungen an frühere Poetiken weiterleben, auch wenn in Frankreich solche Positionen bereits weiter erodiert sind als in Deutschland. Hierzulande konnte ein großer Stilist wie Arthur Schopenhauer seine Verachtung von oben herab in einen Aphorismus fassen: Spr. 3 „Eine große Menge schlechter Schriftsteller lebt allein von der Narrheit des Publikums, nichts lesen zu wollen als was heute gedruckt ist: die Journalisten. Treffend benannt! Verdeutscht würde es heißen ‚Tagelöhner‘„. Spr. 2 Journalisten als „Alarmisten“, stets bereit zu übertreiben und aus jedem Vorfall möglichst viel zu machen. Überhaupt: Schreiben für Honorar – ein korruptes, unehrliches Geschäft. Natürlich hatte das der Sohn eines Danziger Bankiers, der sein Leben lang vom ererbten Vermögen zehrte, nicht nötig. Es ist ein wohlfeiler Hochmut, der bei Schopenhauer zum Ausdruck kommt. Jemand der finanziell unabhängig ist, kann schreibend frei über seine Zeit verfügen, braucht Neuigkeiten des Tages weder zu komprimieren noch zu redigieren. Er kann sich stressfrei der Muße hingeben und warten, ob sich Inspirationen einstellen oder nicht. Wer zwecks Selbsterhaltung Kompromisse eingehen muss, sieht die Dinge aus anderer Perspektive. Der von Schopenhauer gehasste, weil weit bekanntere Hegel hatte die harte Erfahrung hinter sich. Im gleichen Jahr 1807, in dem seine Phänomenologie des Geistes erschien, musste er sich aus Geldnot als Redakteur bei einem Blättchen wie der Bamberger Zeitung verdingen und Tagesmeldungen zusammenstellen zudem in einer Phase der Napoleonischen Okkupation mit ihrer strengen Zensur. Heinrich von Kleist machte eine ähnlich kurze und wenig angenehme Erfahrung mit den Berliner Abendblättern. Spr. 1 Zwänge ähnlicher Art hätte Zola vermutlich als unvermeidlich strenge Schule für all jene gehalten, die als Schriftsteller oder Philosophen vor dem Durchdringen großer Zusammenhänge nicht zurückschrecken und versuchen würden, das „Ganze“ in den Griff zu bekommen, ohne zu kapitulieren. Die Erfahrungen des Alltags und die eigenen erlebten Konflikte zu verarbeiten, war dabei unverzichtbar, wollte man die eigene Zeit, wollte man die eigene Epoche nicht nur von außen erfassen. Der Trennung von Literatur und Journalismus, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts sichtbar wird, liegt ein Verhältnis von Anziehung und Abstoßung zugrunde. Beide befassen sich mit der Vermittlung von Wirklichkeit, sie sind Geschwister, deren Beziehung jedoch nur selten spannungsfrei verläuft. 3 Spr. 2 Es mag bezweifelt werden, ob mit der allgemeinen Formel viel gewonnen ist, es sei beider Funktion, die Gesellschaft bei ihrer Selbstbeobachtung zu unterstützen. Andere Publikationsformen tun das auch. Wichtiger scheint der Blick auf die Entwicklung der modernen bürgerlichen Öffentlichkeit mit einem lesekundigen und informationshungrigen Publikum, für das der Analphabetismus längst Erinnerung ist und das dabei ist, seine provinzielle Borniertheit abzustreifen. Die industrielle Revolution, deutlich wahrnehmbar im Bereich des Verkehrs - Stichwort: Eisenbahn forciert die Beschleunigung und damit die Verbreitung der Kommunikation. Die Auswahl und Überprüfbarkeit von Informationen wird immer wichtiger. Nun dominiert die ereignisorientierte Tatsachenvermittlung die Blätter, deren Auflage rasch steigt. Spr. 1 Die Behauptung, Literatur und Journalismus seien prinzipiell unvereinbar, geht von einer unterschiedlichen Auffassung von Realität aus. Bei der literarischen Erzeugung von Fiktionen, so heißt es, gehe es um mögliche Wirklichkeiten, bei der publizistischen Darstellung indes um realitätsbezogene, kontrollierbare Faktizität. Das Postulat strikter Trennung von Nachricht und Kommentar sowie die Diskussion um das Zulassen fiktiver Elemente bewegen sich noch heute vor diesem Hintergrund. Natürlich hat eine so deutliche Trennung auch etwas Künstliches, wirft man einen Blick auf die lange Reihe der Grenzgänger im literarisch-publizistischen Feld, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. In England gilt Daniel Defoe, Autor des Robinson Crusoe, als Vater des Journalismus und des Romans. Er war der Ansicht, Fiktionales habe durchaus seinen Platz im Journalismus und könne mit Faktischem gemischt den Leseanreiz steigern. Voraussetzung sei jedoch, der Leser werde nicht dazu verführt, das alles bis ins Detail für wirklichkeitsgetreu zu halten. Spr. 2 Auch die im deutschsprachigen Raum erscheinenden Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts arbeiteten pragmatisch und ohne Skrupel mit erfundenen Leserbriefen und Vorformen von Serienhelden. Hingegen behielt es sich die sog. „wahre“ Dichtkunst vor, mit der poetischen Erschaffung des „Wunderbaren“ imaginäre Welten zu erfinden: eine gesteigerte Wirklichkeit, wahrer als die empirisch wahrnehmbare Realität. Sie sollte zu tieferen Dimensionen des Menschseins vordringen, den Zugang zu bislang unbekannten Räumen öffnen und verschüttete Quellen der Vorstellungskraft freilegen. Jahrzehnte später besetzen die Epigonen der Romantik im zersplitterten Deutschland noch immer weite Teile des literarischen Feldes. Die biedermeierliche Presse bestand indes meist aus lokalen Anzeigern. Allein Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung konnte den Vergleich mit europäischen Blättern aushalten. Die Gleichzeitigkeit des Unzeitgleichen war im Nebeneinander von prä- und post-revolutionären Ländern mit ihren unterschiedlichen Printmedien europäische Normalität. 4 Spr. 1 Unterdessen ist im zentralistischen Frankreich mit Paris, das sich als Hauptstadt des Kontinents mit intellektuellem Führungsanspruch sieht und so auch weithin wahrgenommen wird, die Konkurrenz politischer Blätter voll entbrannt. Ein kritischer Realismus hat in die Literatur Einzug gehalten. Die Julirevolution von 1830, die sich an Konflikten um die Pressefreiheit entzündet hatte, läutete einen Elitenwechsel ein. Fortan triumphierte die Finanzaristokratie über den Adel, der unter Karl X. noch den Ton angegeben hatte. Das Geld begann mit Vehemenz, in alle Bereiche einzudringen. Das berühmte Wort „Das Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild ist sein Prophet“, spiegelte in der Julimonarchie den Geist der Gegenwart als materialistischer Jetzt-Zeit wider. Die Parole im Paris des Bürgerkönigtums lautete „Bereichert euch!“ „Enrichissez-vous!“ Exemplarische Gestalt gab dieser aus dem Umsturz hervorgegangenen Epoche ihr tonangebender Romancier: Balzac. Sein Freund Felix Davin kommentierte dessen vieltausendseitige Comédie humaine: Spr. 3 „Eine Hauptstadt war der einzig mögliche Rahmen für dieses Gemälde einer einschneidenden Epoche, wo die Krankheiten nicht weniger das Herz als den Körper des Menschen heimsuchten. Hier sind wahre Empfindungen die Ausnahme, und sie werden zerbrochen vom Spiel der Interessen, zermalmt unter den Rädern dieser mechanischen Welt. Die Tugend wird verleumdet, die Unschuld verkauft. An die Stelle der Leidenschaften sind ruinöse Neigungen und Laster getreten. Alles wird verfeinert, analysiert, verkauft und gekauft; es ist ein Basar, wo alles beziffert ist. Die Berechnungen werden schamlos und im hellen Tageslicht angestellt, die Menschheit kennt nur noch zwei Formen, den Betrüger und den Betrogenen. Es geht nur noch darum, wer sich die Zivilisation unterwirft und sie für sich allein auspresst.“ Spr. 2 Paris fungiert als Brennpunkt geschichtlicher Erfahrung mit dem Geld als verborgener Triebkraft, in dem nur wenige Bereiche sich der Käuflichkeit entziehen können und die Verhältnisse das Handeln der Personen bestimmen, nicht ihr Charakter. Eine Metropole, in der 1839 bereits der Begriff littérature industrielle in Umlauf kommt, aber auch das unterirdische Grollen der frühsozialistischen Bewegungen schon zu vernehmen ist. Eine Stadt, in der zwanzig Theater miteinander konkurrieren - das Kino ist noch nicht in Sicht – und die Kritiker mittels der Presse als neuer Großmacht über den kommerziellen Erfolg der Stücke entscheiden. Bestechlichkeit ist Teil des Systems. Die Plakate annoncieren unentwegt Neues, das dann auch das seltene Großartige überschwemmt. Eintagsfliegen auf der Bühne. Ein Unterhaltungsbetrieb, der sich reproduziert mit geringem literarischen Anspruch.. Spr. 1 Es scheint paradox, dass ein Autor wie Balzac nicht aufhört, die Presse und ihre Vertreter zu schmähen, sie mit süffisanten Bemerkungen bloß zu stellen, sogar mit 5 Prostituierten zu vergleichen, während andererseits die Presse ihn während seiner ganzen Karriere ernährt hat und eine beständige Quelle der Inspiration für seine Romane war. Hängt es damit zusammen, dass er als Zeitschriftenherausgeber und Druckereibesitzer mehrfach scheiterte und sich sein Leben lang mit Buch- und Zeitungsverlegern herumzuschlagen hatte? Das ändert jedoch nichts daran, dass er an der Gestalt des für beide schreibenden janusköpfigen Schriftsteller-Journalisten mitarbeitet, gleichermaßen fasziniert und angewidert vom Eintritt der Literatur ins Medienzeitalter. Der hohen Idee von Funktion und Bedeutung des Romanciers, die Balzac im Vorwort zu seiner Comédie humaine entfaltet, steht die meist unschöne Realität gegenüber, wie sie sich unweigerlich in der engen Berührung mit den verabscheuten Typen einer durchkommerzialisierten frühen Kulturindustie ausprägt: dem Feilschen um Honorare und das Im-Auge-behalten der Konkurrenten. Spr. 2 Den nach außen oft verführerisch glitzernden Schein stellt der Romanautor unter Generalverdacht. Er setzt die extremen Kontraste ins Relief, kommentiert sie nach Bedarf und fügt sie ein in das fiktionale Geflecht des Geschehens, das seinen Figuren häufig zum Verhängnis wird. Viele sind den skrupellosen Machenschaften dieses arglistigen Eldorados nicht gewachsen. So auch der Held des vielleicht bedeutendsten Werks im gesamten Zyklus. Sein Titel Verlorene Illusionen könnte über den meisten von Balzacs Romanen stehen, denn es geht um die Entzauberung dieser Gegenwart. Die künftige, kapitalistisch-technische Welt lässt Idyllen nur mehr als Inseln zu. Spr. 1 Lucien de Rubempré ist zu Beginn der junge, liebenswürdige Dichter, der im provinziellen Angoulème bewundert wird. Seinen begabten, aber schwachen Protagonisten lässt Balzac in der blendenden Hauptstadt dann beides durchlaufen: die Stufen des schnellen publizistischen Erfolgs, die Lust, seinen Namen gedruckt zu sehen und die fatale Bereitschaft zur Anpassung - bis hin zur Verstrickung in dubiose Abhängigkeiten. Und parallel dazu: die Opferung eigener Prinzipien und Ansprüche an sich selbst. Der junge Poet, der mit Gedichten und historischen Romanen begonnen hatte, findet erst dann stärkere Resonanz, als er sich an dem in Mode gekommenen feuilletonistischen Tableau de Paris probiert. Spr. 3 „Lucien las ihnen einen dieser köstlichen Artikel vor, die das Glück der kleinen Zeitung machten und wo er auf zwei Kolumnen kleine Details des Pariser Lebens darstellte, ein Gesicht, eine typische Gestalt, ein durchschnittliches Ereignis oder etwas Außergewöhnliches. Dies Muster mit dem Titel Die Passanten von Paris war in dem neuen originellen Stil geschrieben, wo der Gedanke der Berührung der Wörter entsprang und das Klirren der Adverbien und der Adjektive die Aufmerksamkeit weckte.“ 6 Spr. 1 Noch scheint solche Anpassung harmlos - nur ein Schritt auf dem Weg zu größerer Anerkennung. Doch bald schon folgen Versuchungen, die kurzfristig gewonnene Macht der Feder zu missbrauchen und einer der Figuranten jener Metamorphose zu werden, die die Hauptstadt eher als Paradies denn als Inferno erscheinen lässt. Mit Balzacs Worten: Spr. 3 „Der Journalismus ist eine Hölle, ein Abgrund von Ungewissheiten, Lügen, Verrätereien, den man unbeschmutzten Fußes nur durchqueren und verlassen kann, wenn man wie Dante vom göttlichen Lorbeer Vergils beschützt wird.“ Spr. 2 Den Luxus zu lieben, ihn kraft eigener Imagination noch zu überhöhen, dann aber selbst mittellos zu werden in der Großstadt, das kann zu Konzessionen verleiten, auch zu moralischen Schurkereien, die nicht wieder gut zu machen sind. Um hundert Jahre vorweggenommen findet sich hier die aus Brechts Oper Mahagonny bekannte These, wonach alles erlaubt ist in den Großstädten, selbst das Perverseste, nur das eine nicht: kein Geld zu haben. Folgerichtig führt Balzac seinen Helden bis an den Rand des Selbstmords. So endet auch Balzacs gleichzeitig verfasste, durch und durch sarkastisch gehaltene Monographie der Pariser Presse mit dem Verdikt: Spr. 3 „Wenn es die Presse nicht gäbe, müsste man sie nicht erfinden.“ Spr. 1 Balzac steht auch am Anfang eines spezifisch französischen Genres der modernen Prosa, des Feuilleton-Romans. Seit Mitte der 1830er Jahre ist er Bestandteil der neugegründeten Pariser Blätter wie La Presse und Le Siècle. Diese Blätter leiten eine neue Etappe im Zeitungswesen ein. Zwar war die dampfbetriebene Zylinderdruckpresse zuvor in England erfunden worden, doch durch die Aufnahme von Anzeigen sowie durch die Leserbindung im Rahmen der unterm Strich fortlaufenden Romankapitel erleben die Blätter in Paris, später in ganz Europa, eine enorme Steigerung der Auflagen. Und damit verbunden steigen auch die Autorenhonorare. Kaum einer der Romanciers will auf die Chance verzichten, seinen Text in einer Zeitung oder Zeitschrift vorabdrucken zu lassen. In Frankreich sind das neben Balzac vor allem Alexandre Dumas, George Sand, Eugène Sue und Victor Hugo, in England später Charles Dickens und in Russland Fjodor Dostojewski. Spr. 2 Die Ausrichtung auf ein breiteres Publikum, das spannende, leicht konsumierbare Kost verlangt, führt auch zu einer Veränderung der Schreibart. Die durchkomponierte 7 große Form des Bildungsromans, die geschachtelten, hypotaktischen Sätze, Schreibformen, die mit einer hierarchischen Ausrichtung der Sprache verbunden sind, gelten nunmehr als altmodisch, betulich, dem Tempo der bürgerorientierten Gegenwart nicht angemessen. Auch die neue Prosa hat parataktisch zu sein, fließend und unmittelbar anschaulich; man muss ihr folgen können, ohne zurücklesen zu müssen. Aufbau und Szenenfolge im FeuilletonRoman haben einer Perlenkette zu ähneln. Die aufgereihten Episoden sollen zugleich kurz und in sich geschlossen, aber doch durch einen roten Handlungsfaden verbunden sein. So erleidet die Lektüre keinen Schiffbruch, sollte einmal eine Nummer übersprungen werden. Spr. 1 Die Veränderung der Spracharchitektur und des formalen Aufbaus, vor allem das Prinzip der Reihung statt organischer Entfaltung, greift unterschiedlich schnell auch auf anderen Gattungen über. Und das nicht nur im Essay oder im Sachbuchbereich, auch in der Lyrik und wie bei Georg Büchner im Drama. Es dominiert die offene statt der geschlossenen Form. Kein anderer deutschsprachiger Autor hat an diesem Modernitätsschub so starken Anteil wie Heinrich Heine. Es kann geradezu von einem Glücksfall der deutschen Literatur nach Goethe gesprochen werden. Durch Heines Weggang aus dem biedermeierlichen Deutschland und seine Integration in das postrevolutionäre Paris der 1830er Jahre mit seinen avancierten artistischen und sozialen Bewegungen wurde der Anschluss an die europäische Avantgarde zurückgewonnen. Was brachte Heine mit nach Paris? Zum einen die Sensibilität des jungen Lyrikers, der in der Spätromantik groß und durch sein Buch der Lieder bekannt geworden war. Zum andern, damit scheinbar unvereinbar, die Gedankenund Analyseschärfe eines Junghegelianers, der die aktuelle politische und industrielle Entwicklung als früher Zeithistoriker zu durchschauen und somit Signaturen der Gegenwart sichtbar zu machen suchte. Dabei kannte er keine Berührungsängste mit der ökonomischen Welt, die ihm als Neffen eines reichen Hamburger Bankiers nicht fern stand. Spr. 2 Das meiste von dem, was Heine in Buchform veröffentlicht hat, ist zuvor - teilweise oder ganz - in der Zeitschriften- oder Zeitungspresse gedruckt worden. Das gilt für die ersten Gedichte ebenso wie für seine Briefe aus Berlin, amüsante Berichte aus der preußischen Hauptstadt für eine rheinische Zeitung, mit der der Student sein Taschengeld verdiente. Erst recht sind für den späteren freien Schriftsteller die Periodika wichtig. Ob als Redakteur, Autor oder Pariser Korrespondent von Cottas Allgemeiner Zeitung, ob als Verfasser von Reisebildern, Versepen oder kulturgeschichtlichen Essays - die Einnahmen aus publizistischen Veröffentlichungen bleiben die Basis seiner Existenz. Die Welt der Periodika bildete somit den notwendigen Raum der Kommunikation und des Einkommens. Deshalb finden sich auch kaum rhetorische Salven gegen Presse und Journalismus wie bei seinem späteren Freund Balzac. Eher schon kritische Vergleiche der Publizistik in Deutschland und Frankreich. Eine Position bezieht Heine indessen schon sehr früh: die Presse zu nutzen als Waffe im Kampf für die Emanzipation der unterdrückten 8 Klassen, der Juden, der sozialen und erotischen Bedürfnisse und gegen jede Form religiöser Bevormundung. Spr. 1 Es ist wenig bekannt, dass der 40jährige Heine in Paris ernsthaft mit dem Gedanken umging, sich auf ein höchst riskantes Projekt einzulassen - die Gründung einer deutschen Zeitung in Paris. Der Erfolg der neuen Massenpresse, beflügelt durch Verleger wie Émile de Girardin, inspirierte ihn. An August Lewald, einen jungen Autor und Verehrer, schreibt er im März 1838: Spr. 3 „Seit zehn Jahren studiere ich den Organismus der Presse in allen Ländern und ich darf behaupten, niemand ist ihren Geheimnissen tiefer auf die Spur gekommen als ich. Ich kenne das Personal und die Ressourcen der Tagespresse genau... Da Paris hauptsächlich durch sich selbst, aber auch durch seine Stellung zwischen London und Madrid, noch auf lange Zeit der Stapelplatz aller politischen Fakten und Raisonnements sein wird, so ist eine deutsche Zeitung, die von hier direkt nach Deutschland kommt, für das dortige Publikum wichtiger als die Blätter, deren Pariser Correspondenzen dem Verdacht des Daheimfabrizierten ausgesetzt sind... Viel, sehr viel, ungeheuer viel rechne ich darauf, daß ich mich mit meinem Namen als Chefredakteur der Pariser Zeitung nenne... meinem Namen, der Zutrauen und Absatz verbürgt... Mehr noch rechne ich auf die Hilfsquellen, die mir die Annoncen und meine Kenntnis dieser geheimsten Partie des Journalismus bieten... Der deutsche Journalismus... ist ganz unwissend in den Raffinements, die im Annoncengeschäft seit einigen Jahren stattfinden... Die Pariser Zeitung wird in Paris geschrieben, in Paris redigiert, in Paris ist ihr Redaktionszimmer, und auf der deutschen Grenze (etwa in Kehl) ist eine Presse, wo sie gedruckt und von wo aus sie expediert wird... Die schnelle Beförderung ist die Hauptsache... Bei der Exekution dieses Projekt steht wenig zu riskieren und enorm viel zu gewinnen.“ Spr. 1 Schon drei Wochen später ist Heines Projekt wie eine Seifenblase zerplatzt. Dem befreundeten Komponisten Meyerbeer schreibt er: Spr. 3 „Die Zeitung hat von Berlin her ein tödlicher Schlag betroffen... die Sache ist ins Wasser gefallen... die preußische Regierung will doch noch nicht von dem lächerlichen und ungerechten Publikationsverbot meines Namens ablassen.“ Spr. 1 Damit spielt Heine auf die von Metternich (im Volksmund: Fürst Mitternacht) 1832 veranlassten und 1835 bekräftigten „Bundestagsbeschlüsse“ gegen das Junge Deutschland an – jene Autorengruppe, die subversiver Absichten bezichtigt wurde 9 mit Heine an der Spitze. Im Rückblick dürften die Leser eher erfreut sein, dass Heine nicht zum Verleger mutierte. Immerhin stand er wenige Jahre vor solchen Meisterwerken wie dem brillanten Buch Über Börne, dem Atta Troll und der Winterreise. Spr. 2 Zum Schriftstelleralltag im 19. Jahrhundert gehörte der Kampf mit der Zensur. Sie konnte auch bei offizieller Pressefreiheit subtile Formen annehmen. 1840 warnt Heine vor einer ähnlichen Deformation in Deutschland: Spr. 3 „Wenn man die französische Presse nicht nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilt, sondern sie in ihrem Innern, in ihren Bureaus belauscht, muß man eingestehen, daß sie an einer besonderen Art von Unfreiheit leidet, die der deutschen Presse ganz fremd und vielleicht verderblicher ist als unsere transrheinische Zensur... Die Begründung eines französischen Journals ist mit so vielen Kosten und Schwierigkeiten verbunden, daß nur Personen, die imstande sind, die größten Summen aufs Spiel zu setzen, ein Journal errichten können. Es sind daher gewöhnlich Kapitalisten und sonstige Industrielle, die das Geld herschießen... sie spekulieren dabei auf den Absatz, den das Blatt finden werde, wenn es sich als Organ einer bestimmten Partei geltend zu machen verstanden, oder sie hegen gar den Hintergedanken, das Journal... mit noch größerem Profit zu verkaufen.“ Spr. 2 Als Objekte der Spekulation werden Zeitungen und was sie enthalten, Informationen und Kommentare, zu Waren. Sie sind den Gesetzen des Marktes unterworfen und müssen, indem sie bestimmte Käuferschichten anzielen, im vielfältigen Sortiment klassifizierbar und mit einem politischen Etikett versehen sein. Wie wirkt das auf Redaktion und Schreibart zurück? Spr. 3 „Der Chefredakteur eines französischen Journals ist ein Condottiere, der durch seine Kolonnen die Interessen und Passionen der Partei, die ihn durch Absatz oder Subvention gedungen hat, verficht und verteidigt. Seine Unterredakteure, seine Lieutenants und Soldaten, gehorchen mit militärischer Subordination, und sie geben ihren Artikeln die verlangte Richtung und Farbe, und das Journal erhält dadurch jene Einheit und Präzision, die wir in der Ferne nicht genug bewundern können. Hier herrscht die strengste Disziplin des Gedankens und sogar des Ausdrucks.“ Spr. 2 Diese eng gefassten Direktiven und Leitsätze nennt Heine... 10 Spr. 3 „eine bittere Verhöhnung für geniale Denker und Weltbürger. Faktisch existiert für diese durchaus keine Pressefreiheit.“ Spr. 2 Was nicht heißt, dass Heine selbst, trotz seiner großen Reputation als engagierter Intellektueller und Korrespondent der führenden deutschsprachigen Zeitung, keine Konzessionen machen müsste. Den Zusammenhang von Aufklärung, Zensur und Wirkung gilt es sorgfältig abzuwägen. Spr. 3 „Ein in jeder Hinsicht politischer Schriftsteller muß der Sache wegen, die er verficht, der rohen Notwendigkeit manche bittere Zugeständnisse machen. Es gibt obskure Winkelblätter genug, worin wir unser Herz mit allen seinen Zornbränden ausschütten könnten – aber sie haben nur ein sehr bedürftiges und einflußloses Publikum, und es wäre ebenso gut, als wenn wir in der Bierstube oder im Kaffeehause vor den respektiven Stammgästen schwadronierten, gleich anderen großen Patrioten. Wir handeln weit klüger, wenn wir unsere Glut mäßigen und mit nüchternen Worten, wo nicht gar unter einer Maske, in einer Zeitung uns aussprechen, die mit Recht eine allgemeine Weltzeitung genannt wird und vielen hunderttausend Lesern in allen Ländern belehrsam zu Händen kommt. Selbst in seiner trostlosen Verstümmelung kann hier das Wort gedeihlich wirken; die not-dürftigste Andeutung wird zuweilen zu ersprießlicher Saat in unbekanntem Boden.“ Spr. 1 Heine sagt an dieser Stelle nicht, wie stark er von Beginn an sein Autoren- und Publizisten-Ich ins Spiel bringt. Auf neue Weise verbinden sich Subjektivität und die Hinwendung zu den konkreten Geschehnissen, so monströs und eigentlich kunstunwürdig sie auch sein mögen. Momente des Erlebens, der Wahrnehmung und ihrer Wiedergabe bei der Beobachtung, bei der Erkundung des Materials, rücken so nach vorn. Heine spürt schon früh, dass der Idealismus der deutschen Literatur einen Hunger nach Unmittelbarkeit hervorgerufen hat. Das Ende der Kunstperiode ist für ihn mit Goethes Tod besiegelt. Der fällt in das Jahr 1832; jenes Jahr, in dem Heine ein knappes Dutzend seiner neuartigen Texte mit großen Reportagen aus dem Paris nach der Julirevolution zu einem Buch zusammenfasst, das als wichtiger Vorläufer des späteren New Journalism gelten kann. Heine gibt seinem Werk den Titel Französische Zustände. Es geht um die Erforschung der Gegenwart als soziale Erkenntnis. Um in den Zuständen zugleich Geschichte in Form von Prozessen, Herkünften und einer möglichen Zukunft erfahrbar zu machen, arbeitet er mit Zeitüberblendungen, Perspektivenwechseln und fiktionalen Erzählelementen. Damit erhebt er den Anspruch auf Zeugenschaft, darauf, selbst Teil der Situation zu sein. 11 Spr. 2 Diese authentische Intensität hebt viele Texte Heines weit hinaus über Berichte und Beschreibungen seiner Zeit. Eine neue poetische Prosa entsteht, die die Signatur der Epoche entschlüsseln will. Wird heute darauf hingewiesen, dass der New Journalism der 1970er Jahre schon Vorgänger in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gehabt habe – man denke nur an Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und Kurt Tucholsky - so sei daran erinnert, dass Kisch in seinem klassisch gewordenen Erstling Der rasende Reporter sich ausdrücklich auf Heines Französische Zustände bezieht. Das heißt allerdings nicht, dass Kisch Heines Sprachsensibilität und dessen scharfes Gespür für Rhythmus und die Genauigkeit immer erreicht. Spr. 1 Die vom Großstadtrhythmus durchpulste Prosa Heines ist in ihrem Reichtum an Nuancen von seiner Erfahrung als Lyriker nicht zu trennen. Er selbst hat seine literaturgeschichtliche Stellung als eine am Übergang von der Romantik zur Moderne gekennzeichnet. An deren Beginn steht bekanntlich Charles Baudelaire – und damit ein weiterer Dichter-Journalist. Beide verbindet nicht nur, dass der späte Heine und der junge Baudelaire zeitgleich Gedichte in der tonangebenden Revue des Deux Mondes veröffentlichten. Beide nutzen zudem alle erreichbaren Medien, um ihre Texte unterzubringen. Folgerichtig experimentierten sie auch mit neuen Mischformen. Baudelaire etwa mit den Poèmes en prose - Gedichten in Prosaform die in erstmals in einer Zeitung dort platziert wurden, wo sonst der Feuilleton-Roman erschien. Spr. 2 Baudelaire war gespalten. Er hielt die Franzosen für korrumpiert durch Fortschritt, Materialismus und Kommerz. Neue Techniken wie etwa die Photographie – so sein Diktum - ziele auf Imitation, nicht auf Imagination wie die Bilder der Malerei. Seine Verurteilung der Massenpresse und sein Fortschrittspessimismus hinderten ihn allerdings nicht, sich Visitenkarten mit seinem Porträt drucken zu lassen und zu verteilen. Das Foto stammte von Nadar, einem Pionier der neuen Kunst. Spr. 1 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt die Presse als „vierte Macht“ schließlich so stark an Bedeutung, dass ihre Protagonisten Dramen- und Romangestalten werden können. In Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten aus dem Jahre 1852 wird die deutsche Verspätung - im Vergleich zu England und Frankreich – deutlich. Die provinziellen Schlacken haften den handelnden Figuren bis in ihre parteipolitischen Scharmützel an. Freytag, ein liberaler Redakteur der vielgelesenen Zeitschrift Grenzboten, entgeht nicht der Versuchung, als komische Kontrastfigur den Journalisten Schmock einzuführen, der für geringes Honorar in alle Richtungen schreibt und gelegentlich jiddisch spricht. Was lustig gemeint ist, bedient 12 gleichwohl ein eingeschliffenes Klischee. Der Name Schmock wurde so zum Synonym für leeres Gerede. Zur Rolle des Journalisten sagt Freytag: Spr. 3 „Alle Welt klagt über ihn, und jeder möchte ihn für sich benutzen.“ Spr. 2 Das weist bereits in Richtung Manipulation. So wird es künftig nicht an Romanfiguren im Zeitungsmilieu fehlen, die desillusioniert sind von der universellen Maskenhaftigkeit der sie umgebenden Realität mit all ihrer Geltungssucht und ihren korrumpierenden Verlockungen. Gleichwohl wollen sie in dieser Welt Karriere machen. Balzacs Vorgriff auf diesen Typus war genial. Ein halbes Jahrhundert später kehrt er in Strindbergs Roman Das rote Zimmer in Gestalt des Arvid Falk zurück, der seine Ambitionen im perfiden sozialen Panorama Stockholms verwirklichen will. Spr. 1 Vor allem aber schreibt Guy de Maupassant mit seinem Roman Bel-Ami eine Satire auf die Presse des 19. Jahrhunderts, die jenen faszinierend-negativen Helden hervorbringt, der im Titel als ‚schöner Freund‘ ironisch angekündigt wird. Viel von Maupassants eigener Biographie ist eingeflossen. So der Aufstieg des unscheinbaren Ministerialbeamten zum hochdotierten und umschmeichelten Publizisten und Chefredakteur, schließlich das Baden in Luxus und Frivolität. In seinem Bel-Ami ist der Zynismus zur zweiten Natur geworden. Der sehr fesche Parvenu, ein blendend aussehender Abenteurer aus kleinen Verhältnissen, bedient sich der Frauen seiner Vorgesetzten, um die Sprossen der Karriereleiter in der Zeitungshierarchie auch ohne Talent zu überspringen. Man könnte von einer Perversion des Fortschrittsdenkens sprechen, die das 19. Jahrhundert beherrscht. Bel-Ami setzt alles daran, seine egoistisch-materiellen Aufsteigerstrategien umzusetzen. Auf dem Weg nach oben ist Mitleid hinderlich. Die Verliebtheit lässt die eleganten Damen in Bel-Amis Augen zu natürlichen Opfern ihrer Illusionen werden. Aber auch in der Zeitungsredaktion dominieren das Kalkül und die Manipulation, wie Maupassant an zentraler Stelle seines Romans einflicht. Spr. 3 „Zwischen die Nachrichten über zwei Abendgesellschaften gilt es, in gespielter Harmlosigkeit etwas höchst Brisantes einzuschmuggeln, und die Sache auch mehr anzudeuten als auszusprechen. Die Kunst besteht darin, mit Hilfe von Anspielungen das durchklingen zu lassen, worauf man es abgesehen hat, bestimmte Dinge so zu dementieren, daß sich das Gerücht noch weiter verbreitet, oder etwas so zu bestätigen, daß kein Leser den fraglichen Behauptungen noch Glauben schenkt... Der Mann, der diese Spalten leitet und der das Heer der Reporter befehligt, muß immer hellwach und immer auf der Hut sein, ebenso mißtrauisch wie vorausschauend, listig, wachsam, gewandt, ausgestattet mit allen Tricks und mit 13 einem unfehlbaren Instinkt, der ihn befähigt, auf den ersten Blick eine Falschmeldung zu durchschauen, zu beurteilen, was man sagen kann und was man besser verklausuliert, auf Anhieb zu erraten, was bei den Lesern ankommt und was nicht; und schließlich muß er wissen, wie man die Dinge präsentiert, damit sie eine möglichst große Breitenwirkung entfalten.“ Spr. 2 Maupassants strenger literarischer Lehrmeister Gustave Flaubert hatte ihn vor zweierlei gewarnt: vor den käuflichen „Göttinnen des Leichtsinns“ und vor den Zeitungen. Beides sei seriösem Schreiben abträglich. Es gebe – so Flaubert - eine natürliche Unvereinbarkeit von Journalismus und Literatur. Die erfordere bei höchstem ästhetischem Anspruch die Askese. Maupassant schlug die Warnung in den Wind. Fast folgerichtig erlag er nach einem äußerst produktiven Jahrzehnt, in dem er sechs Romane, hunderte Erzählungen, zahllose Artikel und Kritiken veröffentlichte, der Syphilis. Sie war das Aids des 19. Jahrhunderts. Spr. 1 Etwa zur gleichen Zeit gelingt Theodor Fontane in Berlin die Metamorphose vom Journalisten zum Romancier. Jahrzehntelang hatte er sich mit Redaktionsarbeit und Berichterstattung über Wasser gehalten. Für die konservative Neue preußische Zeitung hatte er den „Englischen Artikel“ zu verfassen. Da er nach seinen Londoner Jahren nur selten vor Ort sein konnte, entstanden diese Artikel meist an seinem Berliner Redaktionsschreibtisch. Englische Zeitungen lieferten den Stoff. Fontane wollte fiction und non-fiction getrennt halten. Publizist blieb er bis zum Schluss. Spr. 2 Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert ist Berlin nach Paris zur größten PresseMetropole des Kontinents aufgestiegen. Das Gründungsfieber erfasste ebenso die Branche der Buchverlage. Nach dem verlorenen Weltkrieg und der Oktoberrevolution mit ihren sozialen Erschütterungen, den neuen Medien Rundfunk und Film, die den Stellenwert und die Funktion der Künste veränderten, explodierte die Kreativität geradezu. Manchen erscheint die Kulturszene der Weimarer Republik im Rückblick als Durchlauferhitzer, in dem eine neue Zerstreuungskultur entstand. Journalismus und Literatur trugen dazu bei, brachten hybride Formen hervor und bedienten sich bei den neuen Wissenschaften Soziologie und Pychoanalyse für den oft als verboten inszenierten Blick hinter die Kulissen. Aufgabe war es, die Oberfläche der neuen Scheinwelt zu entziffern und mittels sprachlicher Virtuosität die Lust an der Erkenntnis zu steigern, um so zur Entmythologisierung des Daseins beizutragen. Spr. 1 Ein Essayist, der wie Siegfried Kracauer zugleich Romanautor ist, kann für diesen neuen Autorentypus stehen. Alfred Döblin und Joseph Roth, Kisch und Tucholsky 14 entwickelten ähnliche Schreibstrategien, wobei sich Nicht-Fiktionales und Erfundenes vermischen. Die Trennung zwischen Journalismus und Literatur, zwischen der Vermittlung von Tatsachen, Ereignissen und Informationen auf der einen und dem alternativen, imaginären Wirklichkeitsentwurf der Literatur auf der anderen Seite, scheint nicht länger durchzuhalten. Spr. 2 Ein großer Sprung sei erlaubt. Kürzlich titelte der Pariser Nouvel Observateur: „Achtung, der erzählende Journalismus landet in Frankreich“. Die Anspielung auf den D-Day, die Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, galt einer neuen amerikanischen Schreibweise in der Nachfolge von Tom Wolfe, Truman Capote und Norman Mailer, die in den frühen 1970er Jahren, als „New Journalism“ bekannt wurde. Hier verbinden sich investigative Recherche mit flüssig subjektivem Erzählen. Der New Journalist sieht sich nicht nicht als objektive Instanz, sondern als persönlich Beteiligter. Er verbürgt durch die Mitteilung seiner subjektiven Eindrücke während der Recherche die Authentizität und Glaubwürdigkeit seines Textes und rückt dabei den Autor selbst ins Zentrum des Geschehens. Lebendige Szenen von dramatischer Spannung, auch Dialoge werden eingebaut. Denn faktische Objektivität ist allein keine Garantie für Wahrheit. Elemente dieses Ansatzes finden sich schon bei Mark Twain und später bei John Dos Passos und Ernest Hemingway. Sein publizistisches Terrain fand der New Journalism vorwiegend in den großen Ostküsten-Zeitschriften wie dem New Yorker, The Atlantic, dem New York Times Magazine oder dem Rolling Stone. Spr. 1 Ein halbes Jahrhundert später - darauf spielt der Artikel des Nouvel Observateur an ist bereits von einem New New Journalism die Rede. Die Nachfolge-Generation habe kein Problem mit dem Verhältnis von Literatur und Journalismus. Die „Literature of Fact“ sei ein akzeptierter Begriff und die neue Generation beschreibe auch den Weg, mit dem der Autor zu seiner story gelange. Dass auch scheinbar „pure“ Nachrichten nach gewissen Inszenierungslogiken funktionieren - Illusion, Suggestion, Sensation und dass sie Manipulationstechniken unterliegen, hat Umberto Eco in seinem letzten Roman Nullnummer, der in der Berlusconi-Zeit spielt, satirisch vorgeführt. Er selbst kannte als jahrelanger Zeitschriftenkolumnist den Medienbetrieb von innen. Eco hat sich in seinen letzten Jahren über den Bedeutungsschwund der Printmedien immer wieder beklagt. Die Gewohnheiten des digitalen Medienkonsums – so Eco - sorgten dafür, dass vor allem das jüngere Publikum immer weniger Gedrucktes lese. Das ist unbestritten. Die digitale Pseudo-Verzauberung sollte aber nicht das letzte Wort sein. Immer schon haben innovative Literatur und Publizistik neue Formen gefunden, um das, was einmal Verblendungszusammenhang genannt wurde, zu durchbrechen. Vielleicht sind sie auch im Zeitalter von Internet und smartphones schon auf dem Weg? 15
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