Manuskript downloaden

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Essay
"Wir sind alle Kinder der Presse"
Literatur und Journalismus im Paris des 19. Jahrhunderts
Von Albrecht Betz
Sendung: Montag, 12. Dezember 2016
Redaktion: Stephan Krass
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Service:
SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter
www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/essay.xml
Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind auf CD erhältlich beim SWR
Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro.
Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030
Bestellungen per E-Mail: [email protected]
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Spr. 1
„Wir sind alle Kinder der Presse“, bemerkte Emile Zola, der berühmteste
französische Romancier des späten 19. Jahrhunderts. Er fügte hinzu, die besten
Schriftsteller dieser Zeit seien durch den Journalismus geprägt worden. Zola wusste,
wovon er sprach. Er hatte vierzig Jahre lang - parallel zu dem naturalistischen
Gesellschaftspanorama, das er in seinen Romanen entwarf – für und mit Pariser
Zeitungen gearbeitet. Und er kannte den Literaturbetrieb in all seinen Facetten, seit
er als junger Verfasser von Verlagsannoncen Romaninhalte aktueller Autoren in
wenige Zeilen zu pressen hatte. Für ihn war das die Vorstufe zum späteren
Literaturkritiker, der er auch war. Die Gesellschaftsberichte, die er nicht ohne
satirischen Biss für auflagenstarke Blätter wie den Figaro schrieb, wurden als
Fingerübungen zum Rohmaterial zahlreicher Werke.
Spr. 2
Zum fassadenhaften Glanz der Weltstadt Paris mit ihren vibrierenden Widersprüchen
hatte die Glamour- und profitorientierte ebenso wie die regierungskonforme Presse
beigetragen. Die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ – wie Walter Benjamin Paris
betitelte - war auch ein Ort der raffinierten Selbstdarstellung. Dagegen galt es,
unbestechlich eine Art soziologischer Röntgenbilder zu setzen; faktisch in der
kritischen Presse; imaginär verdichtet im Roman. Was bei beiden zum Einsatz kam,
war der „böse Blick“ als Produktivkraft. Ihn fruchtbar zu machen, hieß die Mischung
aus Gier, aus nackter Selbstsucht, aus Prestige- und Machtbedürfnissen in einer
ebenso eleganten wie intriganten, erbarmungslos konkurrenzfixierten
Metropolengesellschaft freizulegen. Emile Zolas Ethos gleicht dem eines Chirurgen,
der vor allem, was er im Körper entdeckt, nicht die Augen verschließen darf. Die
Beherrschung des literarischen und publizistischen Instrumentariums dient dazu, die
Auswüchse hinter und unter arroganten Snobismen und verschleierten Interessen
sichtbar zu machen.
Spr. 1
Kritisch auch die eigene Zunft ins Visier zu nehmen, ist für Zola selbstverständlich.
Mit seinen Urteilen und Vorurteilen ist er ein Kind seiner Zeit. Dazu gehört auch das
seit Balzac geläufige und eher aristokratisch angehauchte Diktum, die Massenpresse
sei der Friedhof höherer literarischer Ambitionen und verschlinge große Begabungen.
Oder: Der Vorrang der Information zwinge zu Kürze und Schnelligkeit, was mit der
Praxis des Schriftstellers unvereinbar sei. Die Pflicht zur Aktualität, die tägliche
Tortur, den vorgegeben Rahmen ausfüllen zu müssen, sei ein tödlicher Gegensatz
jedes Schreibens mit dichterischem Anspruch. Und doch finden sich immer wieder
auch Bemerkungen wie diese:
Spr. 3
„Für jeden beginnenden Romanautor ist der Journalismus eine exzellente Gymnastik,
ein Sich-Reiben am täglichen Leben, von dem starke Schriftsteller nur profitieren
können... Die Zeitung macht nicht den Journalisten, sondern der Journalist die
2
Zeitung. Ist er gut, ist er überall gut. Wichtig ist, sein Niveau zu halten, um als Autor
nicht vor seinem Werk erröten zu müssen.“
Spr. 1
Fast ließe sich von einer sozialen Hierarchie der Textsorten sprechen, in der
Erinnerungen an frühere Poetiken weiterleben, auch wenn in Frankreich solche
Positionen bereits weiter erodiert sind als in Deutschland. Hierzulande konnte ein
großer Stilist wie Arthur Schopenhauer seine Verachtung von oben herab in einen
Aphorismus fassen:
Spr. 3
„Eine große Menge schlechter Schriftsteller lebt allein von der Narrheit des
Publikums, nichts lesen zu wollen als was heute gedruckt ist: die Journalisten.
Treffend benannt! Verdeutscht würde es heißen ‚Tagelöhner‘„.
Spr. 2
Journalisten als „Alarmisten“, stets bereit zu übertreiben und aus jedem Vorfall
möglichst viel zu machen. Überhaupt: Schreiben für Honorar – ein korruptes,
unehrliches Geschäft. Natürlich hatte das der Sohn eines Danziger Bankiers, der
sein Leben lang vom ererbten Vermögen zehrte, nicht nötig. Es ist ein wohlfeiler
Hochmut, der bei Schopenhauer zum Ausdruck kommt. Jemand der finanziell
unabhängig ist, kann schreibend frei über seine Zeit verfügen, braucht Neuigkeiten
des Tages weder zu komprimieren noch zu redigieren. Er kann sich stressfrei der
Muße hingeben und warten, ob sich Inspirationen einstellen oder nicht. Wer zwecks
Selbsterhaltung Kompromisse eingehen muss, sieht die Dinge aus anderer
Perspektive. Der von Schopenhauer gehasste, weil weit bekanntere Hegel hatte die
harte Erfahrung hinter sich. Im gleichen Jahr 1807, in dem seine Phänomenologie
des Geistes erschien, musste er sich aus Geldnot als Redakteur bei einem Blättchen
wie der Bamberger Zeitung verdingen und Tagesmeldungen zusammenstellen zudem in einer Phase der Napoleonischen Okkupation mit ihrer strengen Zensur.
Heinrich von Kleist machte eine ähnlich kurze und wenig angenehme Erfahrung mit
den Berliner Abendblättern.
Spr. 1
Zwänge ähnlicher Art hätte Zola vermutlich als unvermeidlich strenge Schule für all
jene gehalten, die als Schriftsteller oder Philosophen vor dem Durchdringen großer
Zusammenhänge nicht zurückschrecken und versuchen würden, das „Ganze“ in den
Griff zu bekommen, ohne zu kapitulieren. Die Erfahrungen des Alltags und die
eigenen erlebten Konflikte zu verarbeiten, war dabei unverzichtbar, wollte man die
eigene Zeit, wollte man die eigene Epoche nicht nur von außen erfassen. Der
Trennung von Literatur und Journalismus, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts
sichtbar wird, liegt ein Verhältnis von Anziehung und Abstoßung zugrunde. Beide
befassen sich mit der Vermittlung von Wirklichkeit, sie sind Geschwister, deren
Beziehung jedoch nur selten spannungsfrei verläuft.
3
Spr. 2
Es mag bezweifelt werden, ob mit der allgemeinen Formel viel gewonnen ist, es sei
beider Funktion, die Gesellschaft bei ihrer Selbstbeobachtung zu unterstützen.
Andere Publikationsformen tun das auch. Wichtiger scheint der Blick auf die
Entwicklung der modernen bürgerlichen Öffentlichkeit mit einem lesekundigen und
informationshungrigen Publikum, für das der Analphabetismus längst Erinnerung ist
und das dabei ist, seine provinzielle Borniertheit abzustreifen. Die industrielle
Revolution, deutlich wahrnehmbar im Bereich des Verkehrs - Stichwort: Eisenbahn forciert die Beschleunigung und damit die Verbreitung der Kommunikation. Die
Auswahl und Überprüfbarkeit von Informationen wird immer wichtiger. Nun dominiert
die ereignisorientierte Tatsachenvermittlung die Blätter, deren Auflage rasch steigt.
Spr. 1
Die Behauptung, Literatur und Journalismus seien prinzipiell unvereinbar, geht von
einer unterschiedlichen Auffassung von Realität aus. Bei der literarischen Erzeugung
von Fiktionen, so heißt es, gehe es um mögliche Wirklichkeiten, bei der
publizistischen Darstellung indes um realitätsbezogene, kontrollierbare Faktizität.
Das Postulat strikter Trennung von Nachricht und Kommentar sowie die Diskussion
um das Zulassen fiktiver Elemente bewegen sich noch heute vor diesem
Hintergrund. Natürlich hat eine so deutliche Trennung auch etwas Künstliches, wirft
man einen Blick auf die lange Reihe der Grenzgänger im literarisch-publizistischen
Feld, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. In England gilt Daniel Defoe, Autor des
Robinson Crusoe, als Vater des Journalismus und des Romans. Er war der Ansicht,
Fiktionales habe durchaus seinen Platz im Journalismus und könne mit Faktischem
gemischt den Leseanreiz steigern. Voraussetzung sei jedoch, der Leser werde nicht
dazu verführt, das alles bis ins Detail für wirklichkeitsgetreu zu halten.
Spr. 2
Auch die im deutschsprachigen Raum erscheinenden Moralischen Wochenschriften
des 18. Jahrhunderts arbeiteten pragmatisch und ohne Skrupel mit erfundenen
Leserbriefen und Vorformen von Serienhelden. Hingegen behielt es sich die sog.
„wahre“ Dichtkunst vor, mit der poetischen Erschaffung des „Wunderbaren“
imaginäre Welten zu erfinden: eine gesteigerte Wirklichkeit, wahrer als die empirisch
wahrnehmbare Realität. Sie sollte zu tieferen Dimensionen des Menschseins
vordringen, den Zugang zu bislang unbekannten Räumen öffnen und verschüttete
Quellen der Vorstellungskraft freilegen. Jahrzehnte später besetzen die Epigonen der
Romantik im zersplitterten Deutschland noch immer weite Teile des literarischen
Feldes. Die biedermeierliche Presse bestand indes meist aus lokalen Anzeigern.
Allein Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung konnte den Vergleich mit europäischen
Blättern aushalten. Die Gleichzeitigkeit des Unzeitgleichen war im Nebeneinander
von prä- und post-revolutionären Ländern mit ihren unterschiedlichen Printmedien
europäische Normalität.
4
Spr. 1
Unterdessen ist im zentralistischen Frankreich mit Paris, das sich als Hauptstadt des
Kontinents mit intellektuellem Führungsanspruch sieht und so auch weithin
wahrgenommen wird, die Konkurrenz politischer Blätter voll entbrannt. Ein kritischer
Realismus hat in die Literatur Einzug gehalten. Die Julirevolution von 1830, die sich
an Konflikten um die Pressefreiheit entzündet hatte, läutete einen Elitenwechsel ein.
Fortan triumphierte die Finanzaristokratie über den Adel, der unter Karl X. noch den
Ton angegeben hatte. Das Geld begann mit Vehemenz, in alle Bereiche
einzudringen. Das berühmte Wort „Das Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild
ist sein Prophet“, spiegelte in der Julimonarchie den Geist der Gegenwart als
materialistischer Jetzt-Zeit wider. Die Parole im Paris des Bürgerkönigtums lautete
„Bereichert euch!“ „Enrichissez-vous!“ Exemplarische Gestalt gab dieser aus dem
Umsturz hervorgegangenen Epoche ihr tonangebender Romancier: Balzac. Sein
Freund Felix Davin kommentierte dessen vieltausendseitige Comédie humaine:
Spr. 3
„Eine Hauptstadt war der einzig mögliche Rahmen für dieses Gemälde einer
einschneidenden Epoche, wo die Krankheiten nicht weniger das Herz als den Körper
des Menschen heimsuchten. Hier sind wahre Empfindungen die Ausnahme, und sie
werden zerbrochen vom Spiel der Interessen, zermalmt unter den Rädern dieser
mechanischen Welt. Die Tugend wird verleumdet, die Unschuld verkauft. An die
Stelle der Leidenschaften sind ruinöse Neigungen und Laster getreten. Alles wird
verfeinert, analysiert, verkauft und gekauft; es ist ein Basar, wo alles beziffert ist. Die
Berechnungen werden schamlos und im hellen Tageslicht angestellt, die Menschheit
kennt nur noch zwei Formen, den Betrüger und den Betrogenen. Es geht nur noch
darum, wer sich die Zivilisation unterwirft und sie für sich allein auspresst.“
Spr. 2
Paris fungiert als Brennpunkt geschichtlicher Erfahrung mit dem Geld als
verborgener Triebkraft, in dem nur wenige Bereiche sich der Käuflichkeit entziehen
können und die Verhältnisse das Handeln der Personen bestimmen, nicht ihr
Charakter. Eine Metropole, in der 1839 bereits der Begriff littérature industrielle in
Umlauf kommt, aber auch das unterirdische Grollen der frühsozialistischen
Bewegungen schon zu vernehmen ist. Eine Stadt, in der zwanzig Theater
miteinander konkurrieren - das Kino ist noch nicht in Sicht – und die Kritiker mittels
der Presse als neuer Großmacht über den kommerziellen Erfolg der Stücke
entscheiden. Bestechlichkeit ist Teil des Systems. Die Plakate annoncieren
unentwegt Neues, das dann auch das seltene Großartige überschwemmt.
Eintagsfliegen auf der Bühne. Ein Unterhaltungsbetrieb, der sich reproduziert mit
geringem literarischen Anspruch..
Spr. 1
Es scheint paradox, dass ein Autor wie Balzac nicht aufhört, die Presse und ihre
Vertreter zu schmähen, sie mit süffisanten Bemerkungen bloß zu stellen, sogar mit
5
Prostituierten zu vergleichen, während andererseits die Presse ihn während seiner
ganzen Karriere ernährt hat und eine beständige Quelle der Inspiration für seine
Romane war. Hängt es damit zusammen, dass er als Zeitschriftenherausgeber und
Druckereibesitzer mehrfach scheiterte und sich sein Leben lang mit Buch- und
Zeitungsverlegern herumzuschlagen hatte? Das ändert jedoch nichts daran, dass er
an der Gestalt des für beide schreibenden janusköpfigen Schriftsteller-Journalisten
mitarbeitet, gleichermaßen fasziniert und angewidert vom Eintritt der Literatur ins
Medienzeitalter. Der hohen Idee von Funktion und Bedeutung des Romanciers, die
Balzac im Vorwort zu seiner Comédie humaine entfaltet, steht die meist unschöne
Realität gegenüber, wie sie sich unweigerlich in der engen Berührung mit den
verabscheuten Typen einer durchkommerzialisierten frühen Kulturindustie ausprägt:
dem Feilschen um Honorare und das Im-Auge-behalten der Konkurrenten.
Spr. 2
Den nach außen oft verführerisch glitzernden Schein stellt der Romanautor unter
Generalverdacht. Er setzt die extremen Kontraste ins Relief, kommentiert sie nach
Bedarf und fügt sie ein in das fiktionale Geflecht des Geschehens, das seinen
Figuren häufig zum Verhängnis wird. Viele sind den skrupellosen Machenschaften
dieses arglistigen Eldorados nicht gewachsen. So auch der Held des vielleicht
bedeutendsten Werks im gesamten Zyklus. Sein Titel Verlorene Illusionen könnte
über den meisten von Balzacs Romanen stehen, denn es geht um die Entzauberung
dieser Gegenwart. Die künftige, kapitalistisch-technische Welt lässt Idyllen nur mehr
als Inseln zu.
Spr. 1
Lucien de Rubempré ist zu Beginn der junge, liebenswürdige Dichter, der im
provinziellen Angoulème bewundert wird. Seinen begabten, aber schwachen
Protagonisten lässt Balzac in der blendenden Hauptstadt dann beides durchlaufen:
die Stufen des schnellen publizistischen Erfolgs, die Lust, seinen Namen gedruckt zu
sehen und die fatale Bereitschaft zur Anpassung - bis hin zur Verstrickung in dubiose
Abhängigkeiten. Und parallel dazu: die Opferung eigener Prinzipien und Ansprüche
an sich selbst. Der junge Poet, der mit Gedichten und historischen Romanen
begonnen hatte, findet erst dann stärkere Resonanz, als er sich an dem in Mode
gekommenen feuilletonistischen Tableau de Paris probiert.
Spr. 3
„Lucien las ihnen einen dieser köstlichen Artikel vor, die das Glück der kleinen
Zeitung machten und wo er auf zwei Kolumnen kleine Details des Pariser Lebens
darstellte, ein Gesicht, eine typische Gestalt, ein durchschnittliches Ereignis oder
etwas Außergewöhnliches. Dies Muster mit dem Titel Die Passanten von Paris war in
dem neuen originellen Stil geschrieben, wo der Gedanke der Berührung der Wörter
entsprang und das Klirren der Adverbien und der Adjektive die Aufmerksamkeit
weckte.“
6
Spr. 1
Noch scheint solche Anpassung harmlos - nur ein Schritt auf dem Weg zu größerer
Anerkennung. Doch bald schon folgen Versuchungen, die kurzfristig gewonnene
Macht der Feder zu missbrauchen und einer der Figuranten jener Metamorphose zu
werden, die die Hauptstadt eher als Paradies denn als Inferno erscheinen lässt. Mit
Balzacs Worten:
Spr. 3
„Der Journalismus ist eine Hölle, ein Abgrund von Ungewissheiten, Lügen,
Verrätereien, den man unbeschmutzten Fußes nur durchqueren und verlassen kann,
wenn man wie Dante vom göttlichen Lorbeer Vergils beschützt wird.“
Spr. 2
Den Luxus zu lieben, ihn kraft eigener Imagination noch zu überhöhen, dann aber
selbst mittellos zu werden in der Großstadt, das kann zu Konzessionen verleiten,
auch zu moralischen Schurkereien, die nicht wieder gut zu machen sind. Um hundert
Jahre vorweggenommen findet sich hier die aus Brechts Oper Mahagonny bekannte
These, wonach alles erlaubt ist in den Großstädten, selbst das Perverseste, nur das
eine nicht: kein Geld zu haben. Folgerichtig führt Balzac seinen Helden bis an den
Rand des Selbstmords. So endet auch Balzacs gleichzeitig verfasste, durch und
durch sarkastisch gehaltene Monographie der Pariser Presse mit dem Verdikt:
Spr. 3
„Wenn es die Presse nicht gäbe, müsste man sie nicht erfinden.“
Spr. 1
Balzac steht auch am Anfang eines spezifisch französischen Genres der modernen
Prosa, des Feuilleton-Romans. Seit Mitte der 1830er Jahre ist er Bestandteil der
neugegründeten Pariser Blätter wie La Presse und Le Siècle. Diese Blätter leiten
eine neue Etappe im Zeitungswesen ein. Zwar war die dampfbetriebene
Zylinderdruckpresse zuvor in England erfunden worden, doch durch die Aufnahme
von Anzeigen sowie durch die Leserbindung im Rahmen der unterm Strich
fortlaufenden Romankapitel erleben die Blätter in Paris, später in ganz Europa, eine
enorme Steigerung der Auflagen. Und damit verbunden steigen auch die
Autorenhonorare. Kaum einer der Romanciers will auf die Chance verzichten, seinen
Text in einer Zeitung oder Zeitschrift vorabdrucken zu lassen. In Frankreich sind das
neben Balzac vor allem Alexandre Dumas, George Sand, Eugène Sue und Victor
Hugo, in England später Charles Dickens und in Russland Fjodor Dostojewski.
Spr. 2
Die Ausrichtung auf ein breiteres Publikum, das spannende, leicht konsumierbare
Kost verlangt, führt auch zu einer Veränderung der Schreibart. Die durchkomponierte
7
große Form des Bildungsromans, die geschachtelten, hypotaktischen Sätze,
Schreibformen, die mit einer hierarchischen Ausrichtung der Sprache
verbunden sind, gelten nunmehr als altmodisch, betulich, dem Tempo der
bürgerorientierten Gegenwart nicht angemessen. Auch die neue Prosa hat
parataktisch zu sein, fließend und unmittelbar anschaulich; man muss ihr folgen
können, ohne zurücklesen zu müssen. Aufbau und Szenenfolge im FeuilletonRoman haben einer Perlenkette zu ähneln. Die aufgereihten Episoden sollen
zugleich kurz und in sich geschlossen, aber doch durch einen roten Handlungsfaden
verbunden sein. So erleidet die Lektüre keinen Schiffbruch, sollte einmal eine
Nummer übersprungen werden.
Spr. 1
Die Veränderung der Spracharchitektur und des formalen Aufbaus, vor allem das
Prinzip der Reihung statt organischer Entfaltung, greift unterschiedlich schnell auch
auf anderen Gattungen über. Und das nicht nur im Essay oder im Sachbuchbereich,
auch in der Lyrik und wie bei Georg Büchner im Drama. Es dominiert die offene statt
der geschlossenen Form. Kein anderer deutschsprachiger Autor hat an diesem
Modernitätsschub so starken Anteil wie Heinrich Heine. Es kann geradezu von einem
Glücksfall der deutschen Literatur nach Goethe gesprochen werden. Durch Heines
Weggang aus dem biedermeierlichen Deutschland und seine Integration in das
postrevolutionäre Paris der 1830er Jahre mit seinen avancierten artistischen und
sozialen Bewegungen wurde der Anschluss an die europäische Avantgarde
zurückgewonnen. Was brachte Heine mit nach Paris? Zum einen die Sensibilität des
jungen Lyrikers, der in der Spätromantik groß und durch sein Buch der Lieder
bekannt geworden war. Zum andern, damit scheinbar unvereinbar, die Gedankenund Analyseschärfe eines Junghegelianers, der die aktuelle politische und
industrielle Entwicklung als früher Zeithistoriker zu durchschauen und somit
Signaturen der Gegenwart sichtbar zu machen suchte. Dabei kannte er keine
Berührungsängste mit der ökonomischen Welt, die ihm als Neffen eines reichen
Hamburger Bankiers nicht fern stand.
Spr. 2
Das meiste von dem, was Heine in Buchform veröffentlicht hat, ist zuvor - teilweise
oder ganz - in der Zeitschriften- oder Zeitungspresse gedruckt worden. Das gilt für
die ersten Gedichte ebenso wie für seine Briefe aus Berlin, amüsante Berichte aus
der preußischen Hauptstadt für eine rheinische Zeitung, mit der der Student sein
Taschengeld verdiente. Erst recht sind für den späteren freien Schriftsteller die
Periodika wichtig. Ob als Redakteur, Autor oder Pariser Korrespondent von Cottas
Allgemeiner Zeitung, ob als Verfasser von Reisebildern, Versepen oder
kulturgeschichtlichen Essays - die Einnahmen aus publizistischen Veröffentlichungen
bleiben die Basis seiner Existenz. Die Welt der Periodika bildete somit den
notwendigen Raum der Kommunikation und des Einkommens. Deshalb finden sich
auch kaum rhetorische Salven gegen Presse und Journalismus wie bei seinem
späteren Freund Balzac. Eher schon kritische Vergleiche der Publizistik in
Deutschland und Frankreich. Eine Position bezieht Heine indessen schon sehr früh:
die Presse zu nutzen als Waffe im Kampf für die Emanzipation der unterdrückten
8
Klassen, der Juden, der sozialen und erotischen Bedürfnisse und gegen jede Form
religiöser Bevormundung.
Spr. 1
Es ist wenig bekannt, dass der 40jährige Heine in Paris ernsthaft mit dem Gedanken
umging, sich auf ein höchst riskantes Projekt einzulassen - die Gründung einer
deutschen Zeitung in Paris. Der Erfolg der neuen Massenpresse, beflügelt durch
Verleger wie Émile de Girardin, inspirierte ihn. An August Lewald, einen jungen Autor
und Verehrer, schreibt er im März 1838:
Spr. 3
„Seit zehn Jahren studiere ich den Organismus der Presse in allen Ländern und ich
darf behaupten, niemand ist ihren Geheimnissen tiefer auf die Spur gekommen als
ich. Ich kenne das Personal und die Ressourcen der Tagespresse genau... Da Paris
hauptsächlich durch sich selbst, aber auch durch seine Stellung zwischen London
und Madrid, noch auf lange Zeit der Stapelplatz aller politischen Fakten und
Raisonnements sein wird, so ist eine deutsche Zeitung, die von hier direkt nach
Deutschland kommt, für das dortige Publikum wichtiger als die Blätter, deren Pariser
Correspondenzen dem Verdacht des Daheimfabrizierten ausgesetzt sind...
Viel, sehr viel, ungeheuer viel rechne ich darauf, daß ich mich mit meinem Namen als
Chefredakteur der Pariser Zeitung nenne... meinem Namen, der Zutrauen und
Absatz verbürgt... Mehr noch rechne ich auf die Hilfsquellen, die mir die Annoncen
und meine Kenntnis dieser geheimsten Partie des Journalismus bieten... Der
deutsche Journalismus... ist ganz unwissend in den Raffinements, die im
Annoncengeschäft seit einigen Jahren stattfinden... Die Pariser Zeitung wird in Paris
geschrieben, in Paris redigiert, in Paris ist ihr Redaktionszimmer, und auf der
deutschen Grenze (etwa in Kehl) ist eine Presse, wo sie gedruckt und von wo
aus sie expediert wird... Die schnelle Beförderung ist die Hauptsache... Bei der
Exekution dieses Projekt steht wenig zu riskieren und enorm viel zu gewinnen.“
Spr. 1
Schon drei Wochen später ist Heines Projekt wie eine Seifenblase zerplatzt. Dem
befreundeten Komponisten Meyerbeer schreibt er:
Spr. 3
„Die Zeitung hat von Berlin her ein tödlicher Schlag betroffen... die Sache ist ins
Wasser gefallen... die preußische Regierung will doch noch nicht von dem
lächerlichen und ungerechten Publikationsverbot meines Namens ablassen.“
Spr. 1
Damit spielt Heine auf die von Metternich (im Volksmund: Fürst Mitternacht) 1832
veranlassten und 1835 bekräftigten „Bundestagsbeschlüsse“ gegen das Junge
Deutschland an – jene Autorengruppe, die subversiver Absichten bezichtigt wurde 9
mit Heine an der Spitze. Im Rückblick dürften die Leser eher erfreut sein, dass Heine
nicht zum Verleger mutierte. Immerhin stand er wenige Jahre vor solchen
Meisterwerken wie dem brillanten Buch Über Börne, dem Atta Troll und der
Winterreise.
Spr. 2
Zum Schriftstelleralltag im 19. Jahrhundert gehörte der Kampf mit der Zensur. Sie
konnte auch bei offizieller Pressefreiheit subtile Formen annehmen. 1840 warnt
Heine vor einer ähnlichen Deformation in Deutschland:
Spr. 3
„Wenn man die französische Presse nicht nach ihrer äußeren Erscheinung beurteilt,
sondern sie in ihrem Innern, in ihren Bureaus belauscht, muß man eingestehen, daß
sie an einer besonderen Art von Unfreiheit leidet, die der deutschen Presse ganz
fremd und vielleicht verderblicher ist als unsere transrheinische Zensur... Die
Begründung eines französischen Journals ist mit so vielen Kosten und
Schwierigkeiten verbunden, daß nur Personen, die imstande sind, die größten
Summen aufs Spiel zu setzen, ein Journal errichten können. Es sind daher
gewöhnlich Kapitalisten und sonstige Industrielle, die das Geld herschießen... sie
spekulieren dabei auf den Absatz, den das Blatt finden werde, wenn es sich als
Organ einer bestimmten Partei geltend zu machen verstanden, oder sie hegen gar
den Hintergedanken, das Journal... mit noch größerem Profit zu verkaufen.“
Spr. 2
Als Objekte der Spekulation werden Zeitungen und was sie enthalten, Informationen
und Kommentare, zu Waren. Sie sind den Gesetzen des Marktes unterworfen und
müssen, indem sie bestimmte Käuferschichten anzielen, im vielfältigen Sortiment
klassifizierbar und mit einem politischen Etikett versehen sein. Wie wirkt das auf
Redaktion und Schreibart zurück?
Spr. 3
„Der Chefredakteur eines französischen Journals ist ein Condottiere, der durch seine
Kolonnen die Interessen und Passionen der Partei, die ihn durch Absatz oder
Subvention gedungen hat, verficht und verteidigt. Seine Unterredakteure, seine
Lieutenants und Soldaten, gehorchen mit militärischer Subordination, und sie geben
ihren Artikeln die verlangte Richtung und Farbe, und das Journal erhält dadurch jene
Einheit und Präzision, die wir in der Ferne nicht genug bewundern können. Hier
herrscht die strengste Disziplin des Gedankens und sogar des Ausdrucks.“
Spr. 2
Diese eng gefassten Direktiven und Leitsätze nennt Heine...
10
Spr. 3
„eine bittere Verhöhnung für geniale Denker und Weltbürger. Faktisch existiert für
diese durchaus keine Pressefreiheit.“
Spr. 2
Was nicht heißt, dass Heine selbst, trotz seiner großen Reputation als engagierter
Intellektueller und Korrespondent der führenden deutschsprachigen Zeitung, keine
Konzessionen machen müsste. Den Zusammenhang von Aufklärung, Zensur und
Wirkung gilt es sorgfältig abzuwägen.
Spr. 3
„Ein in jeder Hinsicht politischer Schriftsteller muß der Sache wegen, die er verficht,
der rohen Notwendigkeit manche bittere Zugeständnisse machen. Es gibt obskure
Winkelblätter genug, worin wir unser Herz mit allen seinen Zornbränden ausschütten
könnten – aber sie haben nur ein sehr bedürftiges und einflußloses Publikum, und es
wäre ebenso gut, als wenn wir in der Bierstube oder im Kaffeehause vor den
respektiven Stammgästen schwadronierten, gleich anderen großen Patrioten. Wir
handeln weit klüger, wenn wir unsere Glut mäßigen und mit nüchternen Worten, wo
nicht gar unter einer Maske, in einer Zeitung uns aussprechen, die mit Recht eine
allgemeine Weltzeitung genannt wird und vielen hunderttausend Lesern in allen
Ländern belehrsam zu Händen kommt. Selbst in seiner trostlosen Verstümmelung
kann hier das Wort gedeihlich wirken; die not-dürftigste Andeutung wird zuweilen zu
ersprießlicher Saat in unbekanntem Boden.“
Spr. 1
Heine sagt an dieser Stelle nicht, wie stark er von Beginn an sein Autoren- und
Publizisten-Ich ins Spiel bringt. Auf neue Weise verbinden sich Subjektivität und die
Hinwendung zu den konkreten Geschehnissen, so monströs und eigentlich
kunstunwürdig sie auch sein mögen. Momente des Erlebens, der Wahrnehmung und
ihrer Wiedergabe bei der Beobachtung, bei der Erkundung des Materials, rücken so
nach vorn. Heine spürt schon früh, dass der Idealismus der deutschen Literatur einen
Hunger nach Unmittelbarkeit hervorgerufen hat. Das Ende der Kunstperiode ist für
ihn mit Goethes Tod besiegelt. Der fällt in das Jahr 1832; jenes Jahr, in dem Heine
ein knappes Dutzend seiner neuartigen Texte mit großen Reportagen aus dem Paris
nach der Julirevolution zu einem Buch zusammenfasst, das als wichtiger Vorläufer
des späteren New Journalism gelten kann. Heine gibt seinem Werk den Titel
Französische Zustände. Es geht um die Erforschung der Gegenwart als soziale
Erkenntnis. Um in den Zuständen zugleich Geschichte in Form von Prozessen,
Herkünften und einer möglichen Zukunft erfahrbar zu machen, arbeitet er mit
Zeitüberblendungen, Perspektivenwechseln und fiktionalen Erzählelementen. Damit
erhebt er den Anspruch auf Zeugenschaft, darauf, selbst Teil der Situation zu sein.
11
Spr. 2
Diese authentische Intensität hebt viele Texte Heines weit hinaus über Berichte und
Beschreibungen seiner Zeit. Eine neue poetische Prosa entsteht, die die Signatur der
Epoche entschlüsseln will. Wird heute darauf hingewiesen, dass der New Journalism
der 1970er Jahre schon Vorgänger in den Zwanziger Jahren des letzten
Jahrhunderts gehabt habe – man denke nur an Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und
Kurt Tucholsky - so sei daran erinnert, dass Kisch in seinem klassisch gewordenen
Erstling Der rasende Reporter sich ausdrücklich auf Heines Französische Zustände
bezieht. Das heißt allerdings nicht, dass Kisch Heines Sprachsensibilität und dessen
scharfes Gespür für Rhythmus und die Genauigkeit immer erreicht.
Spr. 1
Die vom Großstadtrhythmus durchpulste Prosa Heines ist in ihrem Reichtum an
Nuancen von seiner Erfahrung als Lyriker nicht zu trennen. Er selbst hat seine
literaturgeschichtliche Stellung als eine am Übergang von der Romantik zur Moderne
gekennzeichnet. An deren Beginn steht bekanntlich Charles Baudelaire – und damit
ein weiterer Dichter-Journalist. Beide verbindet nicht nur, dass der späte Heine und
der junge Baudelaire zeitgleich Gedichte in der tonangebenden Revue des Deux
Mondes veröffentlichten. Beide nutzen zudem alle erreichbaren Medien, um ihre
Texte unterzubringen. Folgerichtig experimentierten sie auch mit neuen
Mischformen. Baudelaire etwa mit den Poèmes en prose - Gedichten in Prosaform die in erstmals in einer Zeitung dort platziert wurden, wo sonst der Feuilleton-Roman
erschien.
Spr. 2
Baudelaire war gespalten. Er hielt die Franzosen für korrumpiert durch Fortschritt,
Materialismus und Kommerz. Neue Techniken wie etwa die Photographie – so sein
Diktum - ziele auf Imitation, nicht auf Imagination wie die Bilder der Malerei. Seine
Verurteilung der Massenpresse und sein Fortschrittspessimismus hinderten ihn
allerdings nicht, sich Visitenkarten mit seinem Porträt drucken zu lassen und zu
verteilen. Das Foto stammte von Nadar, einem Pionier der neuen Kunst.
Spr. 1
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt die Presse als „vierte Macht“
schließlich so stark an Bedeutung, dass ihre Protagonisten Dramen- und
Romangestalten werden können. In Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten aus
dem Jahre 1852 wird die deutsche Verspätung - im Vergleich zu England und
Frankreich – deutlich. Die provinziellen Schlacken haften den handelnden Figuren
bis in ihre parteipolitischen Scharmützel an. Freytag, ein liberaler Redakteur der
vielgelesenen Zeitschrift Grenzboten, entgeht nicht der Versuchung, als komische
Kontrastfigur den Journalisten Schmock einzuführen, der für geringes Honorar in alle
Richtungen schreibt und gelegentlich jiddisch spricht. Was lustig gemeint ist, bedient
12
gleichwohl ein eingeschliffenes Klischee. Der Name Schmock wurde so zum
Synonym für leeres Gerede. Zur Rolle des Journalisten sagt Freytag:
Spr. 3
„Alle Welt klagt über ihn, und jeder möchte ihn für sich benutzen.“
Spr. 2
Das weist bereits in Richtung Manipulation. So wird es künftig nicht an Romanfiguren
im Zeitungsmilieu fehlen, die desillusioniert sind von der universellen
Maskenhaftigkeit der sie umgebenden Realität mit all ihrer Geltungssucht und ihren
korrumpierenden Verlockungen. Gleichwohl wollen sie in dieser Welt Karriere
machen. Balzacs Vorgriff auf diesen Typus war genial. Ein halbes Jahrhundert später
kehrt er in Strindbergs Roman Das rote Zimmer in Gestalt des Arvid Falk zurück, der
seine Ambitionen im perfiden sozialen Panorama Stockholms verwirklichen will.
Spr. 1
Vor allem aber schreibt Guy de Maupassant mit seinem Roman Bel-Ami eine Satire
auf die Presse des 19. Jahrhunderts, die jenen faszinierend-negativen Helden
hervorbringt, der im Titel als ‚schöner Freund‘ ironisch angekündigt wird. Viel von
Maupassants eigener Biographie ist eingeflossen. So der Aufstieg des
unscheinbaren Ministerialbeamten zum hochdotierten und umschmeichelten
Publizisten und Chefredakteur, schließlich das Baden in Luxus und Frivolität.
In seinem Bel-Ami ist der Zynismus zur zweiten Natur geworden. Der sehr fesche
Parvenu, ein blendend aussehender Abenteurer aus kleinen Verhältnissen, bedient
sich der Frauen seiner Vorgesetzten, um die Sprossen der Karriereleiter in der
Zeitungshierarchie auch ohne Talent zu überspringen. Man könnte von einer
Perversion des Fortschrittsdenkens sprechen, die das 19. Jahrhundert beherrscht.
Bel-Ami setzt alles daran, seine egoistisch-materiellen Aufsteigerstrategien
umzusetzen. Auf dem Weg nach oben ist Mitleid hinderlich. Die Verliebtheit lässt die
eleganten Damen in Bel-Amis Augen zu natürlichen Opfern ihrer Illusionen werden.
Aber auch in der Zeitungsredaktion dominieren das Kalkül und die Manipulation, wie
Maupassant an zentraler Stelle seines Romans einflicht.
Spr. 3
„Zwischen die Nachrichten über zwei Abendgesellschaften gilt es, in gespielter
Harmlosigkeit etwas höchst Brisantes einzuschmuggeln, und die Sache auch mehr
anzudeuten als auszusprechen. Die Kunst besteht darin, mit Hilfe von Anspielungen
das durchklingen zu lassen, worauf man es abgesehen hat, bestimmte Dinge so zu
dementieren, daß sich das Gerücht noch weiter verbreitet, oder etwas so zu
bestätigen, daß kein Leser den fraglichen Behauptungen noch Glauben schenkt...
Der Mann, der diese Spalten leitet und der das Heer der Reporter befehligt, muß
immer hellwach und immer auf der Hut sein, ebenso mißtrauisch wie
vorausschauend, listig, wachsam, gewandt, ausgestattet mit allen Tricks und mit
13
einem unfehlbaren Instinkt, der ihn befähigt, auf den ersten Blick eine Falschmeldung zu durchschauen, zu beurteilen, was man sagen kann und was man besser
verklausuliert, auf Anhieb zu erraten, was bei den Lesern ankommt und was nicht;
und schließlich muß er wissen, wie man die Dinge präsentiert, damit sie eine
möglichst große Breitenwirkung entfalten.“
Spr. 2
Maupassants strenger literarischer Lehrmeister Gustave Flaubert hatte ihn vor
zweierlei gewarnt: vor den käuflichen „Göttinnen des Leichtsinns“ und vor den
Zeitungen. Beides sei seriösem Schreiben abträglich. Es gebe – so Flaubert - eine
natürliche Unvereinbarkeit von Journalismus und Literatur. Die erfordere bei
höchstem ästhetischem Anspruch die Askese. Maupassant schlug die Warnung in
den Wind. Fast folgerichtig erlag er nach einem äußerst produktiven Jahrzehnt, in
dem er sechs Romane, hunderte Erzählungen, zahllose Artikel und Kritiken
veröffentlichte, der Syphilis. Sie war das Aids des 19. Jahrhunderts.
Spr. 1
Etwa zur gleichen Zeit gelingt Theodor Fontane in Berlin die Metamorphose vom
Journalisten zum Romancier. Jahrzehntelang hatte er sich mit Redaktionsarbeit und
Berichterstattung über Wasser gehalten. Für die konservative Neue preußische
Zeitung hatte er den „Englischen Artikel“ zu verfassen. Da er nach seinen Londoner
Jahren nur selten vor Ort sein konnte, entstanden diese Artikel meist an seinem
Berliner Redaktionsschreibtisch. Englische Zeitungen lieferten den Stoff.
Fontane wollte fiction und non-fiction getrennt halten. Publizist blieb er bis zum
Schluss.
Spr. 2
Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert ist Berlin nach Paris zur größten PresseMetropole des Kontinents aufgestiegen. Das Gründungsfieber erfasste ebenso die
Branche der Buchverlage. Nach dem verlorenen Weltkrieg und der Oktoberrevolution
mit ihren sozialen Erschütterungen, den neuen Medien Rundfunk und Film, die den
Stellenwert und die Funktion der Künste veränderten, explodierte die Kreativität
geradezu. Manchen erscheint die Kulturszene der Weimarer Republik im Rückblick
als Durchlauferhitzer, in dem eine neue Zerstreuungskultur entstand. Journalismus
und Literatur trugen dazu bei, brachten hybride Formen hervor und bedienten sich
bei den neuen Wissenschaften Soziologie und Pychoanalyse für den oft als verboten
inszenierten Blick hinter die Kulissen. Aufgabe war es, die Oberfläche der neuen
Scheinwelt zu entziffern und mittels sprachlicher Virtuosität die Lust an der
Erkenntnis zu steigern, um so zur Entmythologisierung des Daseins beizutragen.
Spr. 1
Ein Essayist, der wie Siegfried Kracauer zugleich Romanautor ist, kann für diesen
neuen Autorentypus stehen. Alfred Döblin und Joseph Roth, Kisch und Tucholsky
14
entwickelten ähnliche Schreibstrategien, wobei sich Nicht-Fiktionales und Erfundenes
vermischen. Die Trennung zwischen Journalismus und Literatur, zwischen der
Vermittlung von Tatsachen, Ereignissen und Informationen auf der einen und dem
alternativen, imaginären Wirklichkeitsentwurf der Literatur auf der anderen Seite,
scheint nicht länger durchzuhalten.
Spr. 2
Ein großer Sprung sei erlaubt. Kürzlich titelte der Pariser Nouvel Observateur:
„Achtung, der erzählende Journalismus landet in Frankreich“. Die Anspielung auf den
D-Day, die Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, galt einer neuen
amerikanischen Schreibweise in der Nachfolge von Tom Wolfe, Truman Capote und
Norman Mailer, die in den frühen 1970er Jahren, als „New Journalism“ bekannt
wurde. Hier verbinden sich investigative Recherche mit flüssig subjektivem Erzählen.
Der New Journalist sieht sich nicht nicht als objektive Instanz, sondern als persönlich
Beteiligter. Er verbürgt durch die Mitteilung seiner subjektiven Eindrücke während der
Recherche die Authentizität und Glaubwürdigkeit seines Textes und rückt dabei den
Autor selbst ins Zentrum des Geschehens. Lebendige Szenen von dramatischer
Spannung, auch Dialoge werden eingebaut. Denn faktische Objektivität ist allein
keine Garantie für Wahrheit. Elemente dieses Ansatzes finden sich schon bei Mark
Twain und später bei John Dos Passos und Ernest Hemingway. Sein publizistisches
Terrain fand der New Journalism vorwiegend in den großen Ostküsten-Zeitschriften
wie dem New Yorker, The Atlantic, dem New York Times Magazine oder dem Rolling
Stone.
Spr. 1
Ein halbes Jahrhundert später - darauf spielt der Artikel des Nouvel Observateur an ist bereits von einem New New Journalism die Rede. Die Nachfolge-Generation habe
kein Problem mit dem Verhältnis von Literatur und Journalismus. Die „Literature of
Fact“ sei ein akzeptierter Begriff und die neue Generation beschreibe auch den Weg,
mit dem der Autor zu seiner story gelange. Dass auch scheinbar „pure“ Nachrichten
nach gewissen Inszenierungslogiken funktionieren - Illusion, Suggestion, Sensation und dass sie Manipulationstechniken unterliegen, hat Umberto Eco in seinem letzten
Roman Nullnummer, der in der Berlusconi-Zeit spielt, satirisch vorgeführt. Er selbst
kannte als jahrelanger Zeitschriftenkolumnist den Medienbetrieb von innen. Eco hat
sich in seinen letzten Jahren über den Bedeutungsschwund der Printmedien immer
wieder beklagt. Die Gewohnheiten des digitalen Medienkonsums – so Eco - sorgten
dafür, dass vor allem das jüngere Publikum immer weniger Gedrucktes lese. Das ist
unbestritten. Die digitale Pseudo-Verzauberung sollte aber nicht das letzte Wort sein.
Immer schon haben innovative Literatur und Publizistik neue Formen gefunden, um
das, was einmal Verblendungszusammenhang genannt wurde, zu durchbrechen.
Vielleicht sind sie auch im Zeitalter von Internet und smartphones schon auf dem
Weg?
15