Die Suche nach einer besseren Welt

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15. DEZEMBER 2016 No 52
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Das kleine Glück
Wo selbst bei
düsterer Weltlage
und grauer
Stimmung
Freude wartet
Z – Zeit zum Entdecken, Seite 60
Titelfoto [M]: Greg Pease/Getty Images
Die Suche nach
einer besseren Welt
Alles aus
Tradition
Was eine Gans
so alles erlebt,
bevor sie zum
Braten wird
Seit 500 Jahren treibt Menschen die Frage um,
wie eine gerechte Weltordnung aussehen könnte.
Wer sind die Idealisten, die heute noch alles
ändern wollen? FEUILLETON
Wissen, Seite 40
SYRIEN
RUSSLAND
Hölle auf Erden
Immer ist es Putin
Kriegsverbrechen lohnen sich wieder – und die ganze Welt schaut
zu. Das ist die bittere Wahrheit von Aleppo VON ANDREA BÖHM
A
m Dienstagabend, als diese Zeilen
geschrieben wurden, befanden
sich noch Zehntausende Zivilisten
in den Ruinen von Ost-Aleppo,
während sich ein Abkommen an‑
bahnte, das den letzten Rebellen
den Abzug aus der Stadt ermöglichen sollte. In den
Straßen lagen Leichen, die niemand mehr zu
bergen gewagt hatte. Die Vereinten Nationen be‑
richteten am Dienstag von Massakern durch ein‑
rückende Assad-Truppen.
In Aleppo, so ein UN-Sprecher, zeige sich ein
»kompletter Kollaps der Menschlichkeit«.
Nein, es ist nicht der erste Kollaps der
Menschlichkeit in der jüngeren Geschichte – wo
wüsste man das besser als in Deutschland? Aber
es ist der erste, der sich auf YouTube, Twitter
und Whats­App live verfolgen ließ. Oppositio‑
nelle Syrer haben in Echtzeit die Zerstörung ih‑
rer Städte, die Bombardierung von Hospitälern,
Märkten und Schulen, den Einsatz von Giftgas
und Fassbomben und ihr Warten auf den Tod
dokumentiert. Anfangs taten sie das in dem
Glauben, ihre Zeugenschaft würde die Welt zum
Handeln bewegen, aber nichts geschah. Statt‑
dessen ernteten sie zahllose Emoticons und­
Likes, aber auch jede Menge Beschimpfungen als
»Lügner«, »Fälscher« oder »Handlanger von Ter‑
roristen«.
Weiterhin werden Orte mit mehr als
einer Million Menschen belagert
Nur wenige Jahre nach Ruanda und Srebrenica
und all den »Nie wieder«-Schwüren steht fest: Es
ist wieder passiert – und dieses Mal haben wir
nicht nur davon gewusst, wir haben auch genau
hingesehen. Ost-Aleppo ist verloren. Das Min‑
deste ist, zu benennen, was da vor den Augen der
Welt zerstört worden ist: zuallererst ein Sinnbild
für den Beginn der Arabellionen, an den sich
heute kaum einer mehr erinnern mag. Denn im
Ostteil Aleppos war zunächst genau das entstan‑
den, worauf die Menschen im Nahen Osten so
sehr gehofft und was die Autokraten der Region
so gefürchtet hatten: Die Bewohner einer halben
Großstadt zeigten eine politische Alternative zur
Diktatur auf, geschützt von moderaten Rebellen,
die sich zudem als schlagkräftige Truppe gegen
den »Islamischen Staat« erwiesen.
Zerstöre Ost-Aleppo, und du zerstörst den
Kern des Aufstands. Nach diesem Motto hat das
Regime zusammen mit seinen Verbündeten
Russland, Iran und der libanesischen HisbollahMiliz so ziemlich jede Waffe eingesetzt, die völker­
rechtlich geächtet ist. Nichts davon entschuldigt
Verbrechen der Rebellen gegenüber Zivilisten im
Westteil durch Artilleriebeschuss.
Aber das Arsenal der Assad-Allianz – die Fass‑
bomben, Brandbomben und vor allem der Ein‑
satz von Hunger als Waffe – hat nicht nur Aber‑
tausende getötet und den bewaffneten Wider‑
stand radikalisiert und islamisiert. Es hat auch
ein verheerendes Zeichen für die Diktatoren in
anderen Ländern gesetzt: Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit lohnen
sich wieder. Solange sie als »Kampf gegen den
Terror« verpackt wird, ist (fast) jede Gewalt ge‑
gen die eigene Bevölkerung erlaubt. Die westlichen
Staaten werden Betroffenheit zeigen, aber sie
werden nichts tun.
Ost-Aleppo ist verloren – und damit auch die
letzte Chance auf einen Verhandlungsprozess.
Die politische Opposition gegen Assad ist erle‑
digt und sieht sich von all ihren internationalen
Sponsoren – den USA, der EU, der Türkei und
den Golfstaaten – verraten und verkauft.
Der Name Aleppo wird, so steht zu befürch‑
ten, zum Fanal für radikalisierte Sunniten wer‑
den, die in der Zerstörung dieser sunnitischen
Hochburg eine weitere Kriegserklärung der Schi‑
iten sehen. Der Fall von Ost-Aleppo markiert
somit nicht den Anfang vom Ende des Krieges,
sondern den Beginn eines neuen Stadiums.
Nicht wenige westliche Politiker würden
über Syrien jetzt am liebsten den Sargdeckel zu‑
schlagen und »Wir konnten leider nichts tun«
auf den Grabstein schreiben. Aber so einfach
kommen Europa und Deutschland nicht davon.
Noch sind in Syrien größere Gebiete in den
Händen der Opposition. Weiterhin werden 36
Orte mit rund einer Million Menschen belagert,
fallen auch anderswo Fassbomben. All die Op‑
tionen, die bislang aus schierer Feigheit nicht ge‑
nutzt worden sind, liegen immer noch auf dem
Tisch: Luftbrücken für Hilfsgüter, Sanktionen
gegen syrische und russische Verantwortliche für
Kriegsverbrechen und, ja, die Drohung, militä‑
risch gegen die Bombardierung der Zivilbevöl‑
kerung einzuschreiten.
Diese Revolution mag verloren sein. Aber
Hunderttausende Menschen sind noch zu retten.
www.zeit.de/audio
Erst Donald Trump, dann Angela Merkel: Kann der Kreml
wirklich die Wahlen im Westen manipulieren? VON ALICE BOTA
W
ladimir Putin muss der mäch‑
tigste Mann der Welt sein.
Wie sonst sollte er in der Lage
sein, in Syrien brutale Fakten
zu schaffen, in Amerika den
Präsidenten zu installieren,
in Deutschland der AfD bei der Bundestagswahl
2017 zu helfen und in Frankreich – abwarten! –
Marine Le Pen an die Staatsspitze zu bringen?
Noch sind es lediglich Indizien, die darauf
hindeuten, dass Russland hinter den Hacker-­
Angriffen in den USA stecken könnte. Warten
wir also die Beweise ab und fragen derweil, wie
Russland, vorgestern noch eine »Regionalmacht«
(Obama), so mächtig werden konnte. In Syrien
ist Putins Macht real, und er setzt sie unmensch‑
lich ein. In Amerika und Europa aber machen ihn
die Ängste des Westens mächtiger, als er ist.
Während Europa die Auflösung der EU fürch‑
tet, ist Putin seiner repressiven Politik treu geblie‑
ben, nach innen wie außen – von Hacks, Handels‑
boykotten und Energieengpässen können nicht
nur die Balten viel erzählen, sondern die meisten
Völker, die in der angeblichen »Einflusssphäre«
Russlands leben. Was hybrider Krieg bedeutet,­
erfahren die Ukrainer noch immer schmerzlich.
Wenn also die deutschen Geheimdienste nun vor
russischer Einmischung warnen, dann erinnert
das vor allem daran, auf welchen Illusionen die
politische Partnerschaft mit Russland lange fußte.
Man kann auch sagen: Wladimir Putin ist
sich treu geblieben, der Westen aber erlebt eine
Zeit tiefster Unsicherheit.
Putin ist nicht der Verursacher der Krise der
liberalen Demokratie. Er ist ihr Nutznießer
Die Zukunft der Europäer steht auf dem Spiel, die
Nationalisten sind auf dem Vormarsch. In Ame‑
rika gefährdet die Wahl Trumps die transatlanti‑
schen Beziehungen, wie wir sie kennen. Etwas geht
zu Ende, aber das Neue hat noch nicht begonnen.
Das macht anfällig. Aus dieser Schwäche erwächst
Putins Stärke. Er ist nicht der Verursacher der Krise
der liberalen Demokratie. Er ist ihr Nutznießer.
Aleppo wurde zerstört, weil sich der Westen
zu keiner Strategie durchringen konnte. Die dem
Kreml hochwillkommenen rechten Parteien in
Europa, von der ungarischen Jobbik bis zum
französischen Front National, sind nicht dank
russischer Hilfe stark (auch wenn Le Pen Kredit
von einer russischen Bank bekam), sondern dank
Bruder Franziskus
zum Achtzigsten
Vier Jesuiten sagen,
was sie an ihrem
Papst schätzen
Glauben & Zweifeln, Seite 58
PROMINENT IGNORIERT
frustrierter Wähler. Trumps Wahlsieg spiegelt zu‑
allererst den Zustand der amerikanischen Gesell‑
schaft wider. Nun riskiert der neu gewählte Prä‑
sident, der unverhohlen seine Geschäftsinteressen
über das Gemeinwohl stellt, über die Russland‑
frage den Bruch mit der eigenen Partei. Mit den
Geheimdiensten überwirft er sich, noch bevor er
sein Amt angetreten hat.
Trumps Berufung von Männern, die sich
durch private Geschäftsinteressen zu Russland
auszeichnen, fällt in eine Zeit, in der zumindest
ein Teil der europäischen Eliten sich von Illusio‑
nen über das russische Machtsystem verabschie‑
det. Deutsche Politiker nehmen die Gefahren
ernst, die von der Desinformationskampagne
russischer Staatsmedien über Flüchtlinge aus­
gehen, und die deutschen Nachrichtendienste
sind alarmiert. Hoffentlich werden daraus die
richtigen Schlüsse gezogen. Das kleine Estland ist
nach den russischen Cyber-Attacken führend bei
Cyber-Sicherheit geworden. Aber deutsche Sze‑
narien über den hybriden Krieg lassen Putin so
mächtig erscheinen, als könnte er glatt zum
Kanzlermacher werden.
Nun lässt sich sagen, dass es nicht weiter
schlimm ist, Putin zu überschätzen. Dann werden
die westlichen Geheimdienste eben vorsichtiger,
die Politiker wachsamer. Holen nach, was sie zu‑
vor versäumt haben. Damit aber tun sie, erstens,
dem Kreml einen enormen Gefallen. Und zwei‑
tens sollte man sich hüten, bei der Verteidigung
der liberalen Demokratie Sprache und Denkweise
des Kremls zu übernehmen. Wer vom Informati‑
onskrieg spricht, in den man ziehen müsse, wie‑
derholt fast wörtlich Putins Doktrin über Infor‑
mationssicherheit. Wer russische Staatsmedien zu
»ausländischen Agenten« erklären will, greift auf
die Instrumente des Kremls zurück. Und wenn
immerzu Putin hinter allem steckt, dann ist die
eigene Verantwortung keine Kategorie mehr.
Doch die Deutschen sind dafür verantwort‑
lich, ob die AfD 20 Prozent bekommen wird,
nicht der Kreml. Die Franzosen sind dafür ver‑
antwortlich, wenn Le Pen Präsidentin wird. Und
die Österreicher sind dafür verantwortlich,­
gerade einen Rechten als Präsidenten verhindert
zu haben. Allen voran die jungen, gut ausgebilde­
ten Frauen haben offenbar eine immunisierende
Waffe gegen den Info-Krieg und die Macht der
Populisten gefunden: den kühlen Verstand.
www.zeit.de/audio
Schaf, Wolf, Esel
Dass in Niedersachsen am Deich
die leckeren Schafe weiden, haben
die Wölfe längst gemerkt. Immer
häufiger fallen sie über die Tiere
her. Da Zäune teuer sind, schaffen
sich manche Landwirte Esel an.
Fürchtet der Wolf den Esel und
seinen Schrei? Einerseits. Anderer‑
seits: Wer das Kinderbuch Pu der
Bär kennt, weiß, dass I-Aah derart
melancholisch ist, dass dem Wolf
die Tränen kommen und ihm der
Appetit vergeht. GRN.
Kleine Bilder (v. o.): Willing-Holtz/plainpicture;
A. Haifisch für DZ; C. Jaspersen/dpa PictureAlliance
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