Tel Aviv – Berlin, ein Kampf in Bildern

Rosa Luxemburg Stiftung Israel
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Tel Aviv – Berlin, ein Kampf in Bildern
Seit dem Jahr 2003 dokumentiere ich israelische linke Aktivist*innen, die gemeinsam mit
Palästinenser*innen gegen die Besatzung und den Bau der Sperranlage kämpfen, an
Demonstrationen gegen Sexismus oder für die Rechte von Tieren teilnehmen und für soziale
Gerechtigkeit eintreten. Neben den Wolken von Tränengas in den besetzten Gebieten und der
polizeilichen Repression habe ich auch das Alltagsleben und die alternative Kultur, die sie zu
schaffen versuchen, fotografiert. Ich habe den Versuch dieser Aktivist*innen begleitet, eine
Community und eine alternative, wenn auch zeitlich begrenzte Realität zu schaffen: Ich war mit
meiner Kamera bei Häuserbesetzungen, Straßenfesten und den Versuchen, eigenständige
Freiräume ohne Rassismus, Homophobie und Sexismus zu schaffen, dabei.
Als ich die Fotos durchgesehen habe, um eine Serie zum Thema „Aktivist*innen in Israel“
zusammenzustellen, habe ich bemerkt, dass viele derer, die ich im Laufe der Jahre fotografiert
habe, Israel in der Zwischenzeit verlassen haben oder dabei sind, dies zu tun. Mir schien, dass die
Geschichte unvollständig bliebe, wenn sich meine Dokumentation nicht auch mit den vielen
befasste, die sich aus verschiedenen Gründen entschlossen haben auszuwandern, zumeist nach
Berlin.
In den israelischen Medien, und auch in den deutschen, ist in den letzten Jahren häufig über den
Trend unter jungen Israelis berichtet worden, nach Berlin zu ziehen. Der Knesset-Abgeordnete Yair
Lapid (Jesch Atid) hat über diese Israelis gesagt, dass sie „bereit sind, das einzige Land, das
Juden haben, wegzuwerfen, weil Berlin angenehmer ist“. Berichte im Fernsehen und in den
Zeitungen sind der Frage nachgegangen, warum diese jungen Leute Israel verlassen und wie sich
das Leben „hier“ vom Leben „dort“ unterscheidet, und haben neben besseren
Studienbedingungen und Arbeitsmöglichkeiten von Migrant*innen in Berlin insbesondere die relativ
hohen Lebensmittelpreise und Mieten in Israel hervorgehoben.
Obwohl die ökonomische Situation und die hohen Lebenshaltungskosten auch für die von mir
dokumentierten Frauen und Männer eine Rolle gespielt haben, haben sie ihre Emigration anders
begründet als auf die vereinfachende Weise, in der das Phänomen der Auswanderung in den
israelischen Medien dargestellt wird. Alle Aktivist*innen, die ich interviewt habe, haben die
Demonstrationen gegen die Sperranlage in den besetzten Gebieten und das Kennenlernen der
Lebensrealität von Palästinenser*innen unter israelischer Besatzung als das sie prägende Erlebnis
beschrieben, infolgedessen sie die israelische Gesellschaft, in die sie nach jeder Demonstration
zurückgekehrt sind, mit anderen Augen gesehen haben. Viele von ihnen haben betont, dass die
unüberbrückbare Diskrepanz zwischen der Gewalt, die die israelische Armee gegen
Demonstrant*innen und gegen Palästinenser*innen im Allgemeinen einsetzt, und der „Normalität“
des Lebens in Tel Aviv einer der Hauptgründe für ihre Entscheidung gewesen ist, das Land zu
verlassen. Darüber hinaus hat auch die intensive Konfrontation mit institutionalisierter Gewalt und
verschiedenen Formen der Unterdrückung in Israel/Palästina bei vielen der Aktivist*innen zu Burnouts und posttraumatischen Stresssymptomen geführt, was zu ihrem Entschluss, die Koffer zu
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packen und das Land zu verlassen, beigetragen hat.
Viele der Frauen und Männer, mit denen ich gesprochen habe, waren während ihrer Zeit in Israel
hauptsächlich mit politischen Aktionen beschäftigt – häufig aus dem Gefühl einer moralischen
Verantwortung heraus, aufgrund von Schuldgefühlen oder der Annahme, dass sie, wenn sie in
einer Region leben, in der so viel Unrecht geschieht, verpflichtet sind, dagegen zu kämpfen.
Deshalb haben sie für sich nur in der Emigration eine Möglichkeit gesehen, sich auf andere Dinge
zu konzentrieren, wie zum Beispiel auf Partnerschaft, Studium, Kunst oder eine andere kreative
Arbeit.
Zunächst habe ich versucht herauszufinden, wie sich das Leben und die Gewohnheiten derer, die
von Israel nach Berlin gezogen sind, verändert haben. Dann habe ich aber entdeckt, dass die
meisten von ihnen nach wie vor genau das gleiche tun, nur auf eine etwas andere Art und Weise.
Deshalb zeigen die Fotos des Projekts die fotografierten Personen bei ähnlichen Aktivitäten, wenn
auch an verschiedenen Orten. Die meisten der dokumentierten Frauen und Männer sind weiterhin
in soziale Kämpfe involviert, arbeiten mit Geflüchteten und MigrantInnen und beschäftigen sich mit
nahöstlichen Themen, insbesondere dem israelisch-palästinensischen Konflikt.
Es ist wichtig zu betonen, dass ich mit allen Interviewpartner*innen lange gesprochen habe. Nur
ein kleiner Teil ihrer Antworten wird hier zitiert. Ich hoffe, dass es der komplexen Collage aus
Bildern und Zitaten gelingt, zumindest in Teilen ein Bild der israelischen politischen Aktivist*innen
zu vermitteln, die sich entschlossen haben auszuwandern.
Amos
Amos verließ Tel Aviv im Jahr 2013, um in Berlin zu leben. In Israel organisierte er eigene
Konzerte und Veranstaltungen, gehörte zu den Initiatoren des jährlichen Punkfestivals und betreute
die Auftritte von israelischen und ausländischen Bands. In Berlin wohnt er in einem Wohnprojekt
und beteiligt sich an der Organisation von Punkkonzerten.
„Außer meinen Freunden habe ich nichts in Israel. Ich hatte das Gefühl, wenn nicht ich oder meine
Freunde etwas organisieren, passiert überhaupt nichts, während die Möglichkeiten hier in Berlin
unbegrenzt sind. In Israel musst du arbeiten, um die Miete zu bezahlen, und läufst ständig den
Problemen hinterher. Hier hetze ich nirgendwo hin. Ich wohne kostenlos in einem Lastwagen und
habe kostenloses Essen. […]
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Als ich hierher nach Berlin gekommen bin, habe ich festgestellt, dass es keine Frage des Alters ist.
In Israel wurde mir immer gesagt: Wenn du 20 wirst, und später: wenn du 30 wirst, wirst du mit
dem Unsinn aufhören. Hier habe ich gesehen, dass es keine Frage des Alters ist. Es gibt
60-jährige Menschen, Menschen, die Familie und Kinder haben, und so leben, wie ich lebe. In
Israel saugt dich das System auf, es gibt keine Alternative. Wenn hier ein Paar Kinder hat, werden
die Kinder ein Teil der Community und gehen in den Kindergarten der Punks.“
Dana
Dana zog im Jahr 2012 von Tel Aviv nach Berlin. In Israel war sie in der „Schwarzen Wäsche“
aktiv („Kwisa Schrora“ – eine Queer-Bewegung gegen die Besatzung), in der Gruppe
„Anarchisten gegen die Mauer“ und bei anderen Kämpfen. In Berlin gehört sie zu den
Gründerinnen einer israelisch-iranischen Gruppe und engagiert sich in Fragen des israelischpalästinensischen Konflikts.
„Ich versuche zu verstehen, wo ich gelernt habe, mich in zivilgesellschaftlichen Fragen zu
engagieren. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich gegen meine Eltern demonstriert, die mir nicht
erlaubt haben, eine Katze oder einen Hund mit nach Hause zu bringen. Für mich ist das wichtigste
Gebot im Judentum: ‚Stehe nicht untätig dabei, wenn das Blut deines Nachbarn vergossen wird.‘
Das verpflichtet, du darfst nicht schweigen, wenn du Unrecht siehst, du musst etwas tun. […]
In der ‚Schwarzen Wäsche‘ habe ich gelernt, was eine Direkte Aktion ist; bis dahin dachte ich,
dass eine Demonstration bedeutet, dass du auf einen großen Platz gehst und ein Plakat
hochhältst. Aber das ist es nicht. Du gehst und öffnest ein Tor in der Sperranlage, das ist eine
Demonstration! Wenn du in die besetzten Gebiete gehst, ist das ein prägendes Erlebnis. Ich habe
immer in der Zeitung gelesen, dass ‚Palästinenser behaupten, dass auf sie geschossen wurde,
obwohl sie nichts gemacht hätten‘ – wer glaubt denen denn überhaupt? Ich habe das gelesen und
mir nicht vorstellen können, dass die israelische Armee lügt und einfach auf Menschen schießt;
und dann war ich, als ich zu den Demonstrationen in den besetzten Gebieten gegangen bin,
geschockt, dass sie lügen. Dieser Augenblick der Erkenntnis ist einfach toll. Eine Grenzpolizistin
hat einmal zu mir gesagt: ‚Ich kann auf euch schießen und mir wird nichts passieren; ich werde
einfach sagen, dass ihr mich angegriffen habt.‘ Und es stimmt, was sie sagt. […]
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Als ich 15 Jahre alt war, habe ich das erste Mal über Auswanderung nachgedacht, weil ich gehört
hatte, dass es homosexuelle Ehen im Ausland gibt. Aber der Grund, warum ich Israel jetzt
verlassen habe, ist Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit, ich war seelisch einfach ausgelaugt. Ich
werde wieder nach Israel zurückkehren. Meine Arbeit in hebräischer Sprache ist mir wichtig, und
es fällt mir schwer, das hier nicht zu haben; und eine ganze Reihe von anderen Aspekten, wie die
Frage, welchen ‚Impact‘ ich hier habe. In Israel hatte ich einen gewissen ‚Impact‘ als einfache
Staatsbürgerin und Aktivistin, hier bin ich eine Migrantin und habe natürlich weniger Einfluss. […]
Ich habe mich entschieden, in Berlin zu leben, weil ich erkannt habe, dass ich, wenn ich in Israel
bleibe, sterben werde: erst der Krieg gegen den Gazastreifen, dann der homophobe Mord in der
Noar Bar in Tel Aviv und dann Sparmaßnahmen in der Zeitung, in der ich arbeitete. Mir wurde klar,
dass ich Israel verlassen muss. Ich habe keine zweite Staatsangehörigkeit. Es wird immer gefragt,
was Israelis an Berlin finden – sie gehen einfach nach Berlin, weil es möglich ist. Ich konnte
nirgendwo anders hingehen. Hier ist es am leichtesten für Israelis, ein Studentenvisum zu erhalten.
Es ist einfach möglich!“
Edo
Edo zog im Jahr 2010 von Tel Aviv nach Freiburg. In Israel war er aktiv bei den „Anarchisten
gegen die Mauer“. In Freiburg eröffnete er ein Restaurant, in dem Humus und andere Speisen der
nahöstlichen Küche serviert werden.
„Ich hatte das Gefühl, dass ich, wenn ich in Israel leben will, die Besatzung nicht ignorieren kann.
Andererseits ist der Preis, den ich meinte, aus moralischen Gründen dem Frieden zu schulden,
damit ich dort und mit mir selbst leben kann, immer weiter gestiegen.
Ich bin auch ein Mensch, ich habe ein Leben, das ich nur einmal lebe. Ich möchte das Leben
genießen, so wie es jeder und jedem Israeli, PalästinenserIn, Deutschen und jedem Menschen auf
der Welt zusteht, sich selbst zu verwirklichen und das zu machen, was ihm oder ihr wichtig ist und
ihr oder ihm das Gefühl gibt zu leben. In Israel hatte ich das Gefühl, dass ich dort nicht leben darf,
dass mein Leben dort allein auf die Frage hinausläuft: Was hast du heute getan, um die Besatzung
zu beenden? Und das ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. […]
Ich zahle nicht den Preis dafür; ich habe Familie in Israel, Freunde und Menschen, die mir wichtig
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sind, aber ich werde nicht den Preis dafür zahlen, was dort geschieht. Meine Anteilnahme und
Sorge finden ihren Ausdruck nicht darin, dass ich hier in Berlin dafür demonstriere, dass es in
Israel besser wird, sondern darin, dass ich meiner Mutter sage, dass es hier ein Gästezimmer gibt,
dass es hier einen Dachboden gibt, auf dem man sich vor [Mahmud] Ahmadinedschad oder auch
vor Bibi [Benjamin Netanjahu] verstecken kann.“
Kutner
Kutner ist im Jahr 2013 von Tel Aviv nach Berlin gezogen. In Israel gehörte er in den 1990er
Jahren zu den Gründer*innen der anarchistischen Bewegung. Er organisierte und war DJ bei
Straßenfesten und bei einer Reihe von Queer-Partys. In Berlin organisiert und leitet er eine Reihe
von Techno-Partys.
„Ich liebe es, DJ zu sein – das Gefühl, eine Einheit zu schaffen, und sei es nur für ein paar
Stunden, das ist, was ich im Punk und in der Rave-Szene gesucht habe. Trance hat zum Beispiel
verschiedene Gruppen in der israelischen Bevölkerung zusammengebracht, aschkenasische,
Mizrachi, russische und arabische Menschen. Musik und Drogen können Barrieren auflösen. Für
mich war das etwas Revolutionäres. […]
Der Umzug nach Berlin hat mir Dinge zurückgegeben, die mir Israel genommen hatte. So bin ich
wieder dabei, Partys und Aufführungen zu organisieren, und höre sogar wieder Bands, die ich in
meiner Jugend geliebt habe. In Israel hatte ich kein Interesse mehr daran, Veranstaltungen für
Menschen zu organisieren, die langsam ausgehöhlt werden und die Hoffnung verlieren. Hier ist
das ganz anders: Meine Leidenschaft, etwas zu tun, ist wieder da. […]
Ich organisiere Partys, bei denen in musikalischer Hinsicht alles geordnet, interessant und divers
ist, gleichzeitig ist der Inhalt aber politisch. Mit solchen Partys, die weniger als 15 Euro kosten,
erreichen wir Menschen, die sonst nicht zu einer Soliparty für Geflüchtete kommen würden. Einen
Lebensstil bestärken, bei dem man nicht zur SklavIn der Arbeit wird. So wie auch die Hausprojekte
einen guten Input liefern und einen Lebensstil fördern, der auch hier bedroht ist und bei dem die
Leute arbeiten, um zu leben, und nicht leben, um zu arbeiten. Es ist hier viel leichter, sich in einer
nicht kapitalistischen, sondern kollektiven Form zu organisieren, weil es hier eine gute Infrastruktur
gibt, die dich unterstützt.“
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Liad
Liad zog im Jahr 2010 von Tel Aviv nach Berlin. In Israel war sie Mitglied der „Schwarzen
Wäsche“, der „Anarchisten gegen die Mauer“, organisierte Queer-Partys und Aufführungen und
trat als politische Performerin auf. In Berlin studiert sie im Rahmen eines Magisterstudiengangs
Performance, tritt auf, engagiert sich für die Rechte von Prostituierten und beteiligt sich an
Demonstrationen gegen die israelische Besatzung.
„Die Qualität meines Lebens hat sich in dem Moment verbessert, als ich aus dem Flugzeug
gestiegen bin. Ich hatte kein Visum, ich konnte die Sprache nicht, ich war nicht verheiratet, ich
hatte keine Arbeit, im Grunde hatte ich gar nichts, aber es gab sofort eine positive Veränderung.
In der Zeit, in der ich dabei war, Israel zu verlassen, wurde mir klar, dass ich meine ganze Kraft
nach außen abgebe, anstatt sie in mich und in das, was ich will, zu investieren. Hier kann ich mich
auf meine Kunst konzentrieren und eine langfristige Perspektive entwickeln. Als Aktivistin in Israel
war ich viel reaktiver, ich musste immer auf die Dinge, die gerade passierten, reagieren. […]
Die Form, in der ich hier politisch aktiv bin, ist ganz anders. In Israel ist es mir leichtgefallen, als
Hebräisch-Sprechende Forderungen zu stellen und Risiken einzugehen. Hier beschäftige ich mich
mehr mit politischer Kunst, weil sie komplexere Ideen ausdrücken kann und nicht nur
Plakatslogans. […]
In Israel war die ökonomische Situation sehr schwierig. Du lebst mit dem Gefühl, zur Mittelschicht
zu gehören, aber in Wirklichkeit ist deine wirtschaftliche Lage sehr viel schlechter. Auch die
Tatsache, dass ich sehr viel Zeit meiner politischen Tätigkeit gewidmet habe, hat mich ganz
ausgebrannt. Ich bin enttäuscht darüber, dass ich nicht dort leben kann, wo ich mich im Zentrum
des politischen Handelns befand. Aber ich hatte keine andere Wahl.“
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Lola
Lola ist im Jahr 2013 von Jerusalem nach Holland und dann nach Berlin gezogen. In Israel war sie
Mitglied einer Gruppe radikaler Trommlerinnen, gehörte verschiedenen Bands an, organisierte
Partys und Veranstaltungen und beteiligte sich an der Besetzung des Squats in Tel Aviv. In Berlin
engagiert sie sich im Kampf der Geflüchteten und hat ein Sound-Kollektiv von Frauen mit dem
Namen „Sound Sisters“ gegründet.
„Das was das zweite Mal, dass ich emigriert bin. Meine Emigration von Russland nach Israel ist
etwas, das mir die ganz Zeit präsent ist, und ich habe nicht das Gefühl, dass ich ein Zuhause habe.
In gewisser Hinsicht ist das Haus meiner Großmutter in Russland viel mehr ein Zuhause.
In Israel waren wir eine Art Staatsbürger*innen zweiter Klasse. Meine Schwester und ich haben zu
Hause stundenlang die Aussprache geübt, um so zu sein wie die anderen Israelis, und um nicht als
‚stinkende Hure‘ beschimpft zu werden. Meine Eltern haben keine gute Arbeit gefunden und so
mussten sie täglich zwölf Stunden arbeiten und kamen frustriert und gewaltbereit nach Hause. […]
Es gab verschiedene Phasen, ich war Palästina-Aktivistin, habe gegen die israelische Armee
gekämpft, mich an Hausbesetzungen beteiligt und der Community-Entwicklung gewidmet. Später
habe ich Lautsprecher gebaut und mich mit Tontechnik beschäftigt. Viele ‚Reinkarnationen‘, um
zu verstehen, was und wer ich bin und was ich will. Und dann haben wir begonnen, auf die Straße
zu gehen, Partys zu organisieren und Strom von den Masten der Straßenlaternen zu klauen. Für
mich war das alles mit Palästina verbunden, mit der Freiheit von Menschen und damit, was Freiheit
im Allgemeinen bedeutet und wie wir mit unserer Freiheit umgehen. […]
Ich nenne Berlin die Stadt der Flucht. Jeder, der hier lebt, ist vor etwas geflohen und jeder hat eine
Geschichte: In dem Mix der vielen Kulturen machen Geschichten des Schmerzes und der
Traumata diese Community stark, im Guten wie im Schlechten. In Israel gab es vielleicht auch eine
andere Situation, als ich jünger und optimistischer war und über einige Jahre hinweg sogar den
Eindruck hatte, dass wir etwas verändern könnten, Geschichte machen könnten, aber dann hat die
Unterdrückung immer nur weiter zugenommen. Menschen durch Angst zu beherrschen, das ist der
Mechanismus weltweit. […]
Meine erste Demonstration war in Bil'in. An dieses Erlebnis in den besetzten Gebieten erinnere ich
mich am besten und habe es schon vielen Menschen erzählt.
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Während der Demonstration hat ein Soldat auf mich eingeschlagen. Und ich habe ihn unter seinem
Helm erkannt. Sein Name ist Tom. Als ich in Pardes Hanna wohnte, war er der erste Junge, den
ich geküsst habe. Ich erinnere mich daran, dass ich geschrien habe: ‚Schlag mich nicht, ich
bin’s.‘ Mit blutunterlaufenen Augen hat er mich angesehen und gesagt: ‚Ich kenne dich nicht
mehr!‘“
Tom
Tom hat Tel Aviv im Jahr 2014 verlassen und lebt seitdem in Berlin. In Israel spielte er in
Punkbands, organisierte Raves, trat als DJ auf und nahm an Demonstrationen der „Anarchisten
gegen die Mauer“ in den besetzten Gebieten teil. In Berlin macht er Musik und arbeitet als DJ auf
verschiedenen Partys und Veranstaltungen.
„Wenn ich danach gefragt werde, spreche ich über die Situation in Israel. Es ärgert mich dann
häufig sehr, wie Menschen, die ich treffe und die auf der zwischenmenschlichen Ebene nett sind,
über den Konflikt sprechen. Das Problem ist, dass es sich dabei um ein sehr heikles Thema
sowohl für Israelis als auch für Deutsche handelt, aber es ist meine Pflicht, darüber zusprechen,
insbesondere deshalb, weil meiner Meinung als Israeli mehr Bedeutung zugemessen wird als der
Meinung von Palästinenser*innen oder von Europäer*innen, die gleich mit dem Vorwurf des
Antisemitismus zum Schweigen gebracht werden. Es ist ziemlich abwegig, dass Menschen, die
hier in Berlin aktiv bei der Antifa sind und gegen Pegida kämpfen, nicht merken, dass sie die
Positionen der extremen Rechten in Israel wiederholen, wenn sie über den israelischpalästinensischen Konflikt sprechen. Das macht mir auch deshalb Angst, weil ihre Argumente, die
sie für Israel anführen, sehr rassistisch und islamfeindlich sind. […]
Im Winter bin ich mit einem Freund nach Dresden zu einer Soliparty für Geflüchtete gefahren. Ich
trug eine Kefije[1], und sie wollten mich nicht in den Club lassen, obwohl ich der DJ war, und das
bei einer Party zum Wohl von Geflüchteten. Zum Schluss wurde ich hineingelassen, aber ich habe
die ganze Party damit verbracht, mit Leuten zu sprechen und ihnen zu erklären, warum ich darauf
bestehe, eine Kefije zu tragen. […]
Was mich dazu bewegt hat, Israel zu verlassen, war eine abgrundtiefe Frustration über den
Aufstieg der extremen Rechten, der in jedem Aspekt des Lebens spürbar ist, aber auch über meine
persönliche Situation: Als der, der ich bin und wofür ich stehe, war ich in Tel Aviv in einem Käfig
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gefangen. Ich bin nur aus einem Schuldgefühl heraus in die besetzten Gebiete gegangen, nicht
aus einem positiven Beweggrund oder aus Solidarität mit der anderen Seite. Es hat mich immer
völlig deprimiert. Jeden Freitag bist du nach der Demonstration nach Tel Aviv zurückgekehrt, hast
zu viel getrunken und dir gesagt, dass du dich nicht schlecht fühlen darfst, weil du es nicht bist, der
unter Besatzung lebt oder auf den heute geschossen wurde. Ich hatte das Gefühl, dass ich als
Aktivist ohne Grund und ohne Kontrolle weitermache – so wie ein Drogenabhängiger.“
Yossi
Yossi zog im Jahr 2006 von Jerusalem nach Berlin. In Israel war er aktiv bei den „Anarchisten
gegen die Mauer“ und anderen Kämpfen. In Berlin engagiert er sich gegen Rassismus, für
Geflüchtete und gegen die israelische Besatzung.
„Ich bin im Jahr 2004 zum ersten Mal nach Berlin gekommen, im Rahmen einer Tour der
‚Anarchisten gegen die Mauer‘, und ich habe mich in die Stadt verliebt: viele Homosexuelle und
Linke und alles ist sehr billig. Meine Entscheidung, Israel zu verlassen, hing damit zusammen,
dass ich erschöpft war von unseren Aktionen und unserer politischen Arbeit. Als wir den Kampf
gegen die Sperranlage aufgenommen haben, bin ich mehrmals in der Woche zu Demonstrationen
gegangen, manchmal gleich nach der Schule. Aber im Jahr 2006 war schon klar, dass es eine Art
Routine geworden ist, fast eine Art Ritual, dass wir bei den Demonstrationen Risiken eingehen,
ohne dabei ein klares politisches Ziel zu verfolgen. […]
Ich war mir bereits länger darüber im Klaren, dass ich Israel verlassen würde. Ich habe die
Atmosphäre in den Straßen von Jerusalem und Tel Aviv gehasst, aber auch in Palästina hätte ich
nicht leben können. Jeder, der oder die an den Demonstrationen teilgenommen hat, hat eine
grundlegende Ablehnung gegenüber unserer Gesellschaft entwickelt. Selbst die Communities, in
denen ich mich hätte zu Hause fühlen sollen, wie zum Beispiel die LGBTI-Community, sind immer
rechter und militaristischer geworden. Der Libanonkrieg im Jahr 2006 war der Tropfen, der das
Fass zum Überlaufen gebracht hat, und so entschied ich mich, Israel zu verlassen. […]
Die politische Arbeit hat mich nach Deutschland gebracht, und dank der politischen Arbeit habe ich
Deutsch gelernt, denn du willst ja die Zeitung lesen und verstehen, was geschieht. Deshalb war der
Übergang relativ einfach. Der erste Winter war natürlich schwer und ich habe überlegt, nach Israel
zurückzukehren. Aber nach dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen im Jahr 2009 stellte sich
diese Frage nicht mehr. Gerade weil ich zu diesem Zeitpunkt nicht in Israel war, ist mir klar
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geworden, dass ich nicht Teil einer Gesellschaft sein will, die mit einer solchen Begeisterung die
massive Bombardierung einer Zivilbevölkerung unterstützt. […]
Ich bin im Allgemeinen kein ruhiger Mensch und ich dachte, für diese fehlende Ruhe und mein
Bedürfnis, politisch aktiv zu sein, sei die politische Situation in Israel verantwortlich. Auch in Berlin
bin ich in vielen Bereichen aktiv, aber das ist etwas, das sich weniger am Rande der Apokalypse
bewegt. Hier habe ich mehr Zeit zum Schreiben, Lernen und Genießen.“
Oren Ziv ist Mitbegründer des Activestills Kollektivs und dokumentiert seit 2005 sozial-politische
Themen in Israel und den palästinensischen Gebieten. Seit 2011 arbeitet er als Fotograf für +972
Magazine und freiberuflich für Ha'aretz, AFP und Getty Images. Seine Arbeiten wurden u.a. in New
York Times Lens Blog, Al Jazeera, Vice, Tablet Magazine und Electronic Intifada veröffentlicht.
(Übersetzt von Ursula Wokoeck Wollin)
Anmerkungen
[1] Kefije ist ein zum Schutz vor der Sonne getragenes Kopftuch in der arabischen Welt. Durch den
Nahostkonflikt in Palästina kam das Tuch zur Bezeichnung „Palästinensertuch“. Siehe hierzu
einen Artikel von Yossi:
"Das falsche Tuch. Geschichte über ein - meist gemustertes - Kleidungsstück und sein Fortleben
als politisches Symbol."
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