Der IWF verlangt nicht noch mehr Austerität von Griechenland

Der IWF verlangt nicht noch mehr Austerität von Griechenland
Von Maurice Obstfeld und Poul M. Thomsen
12. Dezember 2016
Griechenland ist wieder in den Schlagzeilen, während die Gespräche zur zweiten Überprüfung
seines Programms zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Fahrt aufnehmen. Leider
führten diese Diskussionen auch zu einigen Fehlinformationen über die Rolle und Ansichten
des IWF. Der IWF wird vor allem wegen seiner Forderung nach einer strengeren Sparpolitik
kritisiert, die angeblich eine Grundbedingung für dringend notwendige Schuldenentlastung sein
soll. Das ist nicht der Fall und muss richtig gestellt werden.
Der IWF verlangt nicht noch mehr Austerität. Im Gegenteil. Wir warnten die griechische
Regierung, als sie im Rahmen des ESM-Programms mit ihren europäischen Partnern
vereinbarte, die griechische Volkswirtschaft bis 2018 auf Primärhaushaltersparnisse von 3,5 zu
pushen. Unserer Auffassung nach würde dies zu einem Grad von Austerität führen, mit der die
beginnende Erholung nur schwer Fuß fassen könnte. Wir projizierten, dass die Maßnahmen im
ESM-Programm zu Ersparnissen von nur 1,5 Prozent des BIP führen würden, und sagten, dass
dies für Unterstützung von unserer Seite ausreichend sei. Wir forderten keine weiteren
Maßnahmen für höhere Ersparnisse. Entgegen unserem Rat vereinbarte die griechische
Regierung jedoch mit den europäischen Institutionen, die Ausgaben vorübergehend noch weiter
zu senken, wenn damit Haushaltsersparnisse von 3,5 Prozent des BIP herbeigeführt werden
könnten.
Wir sind bei unserer Ansicht geblieben, dass Griechenland zurzeit nicht noch mehr Austerität
braucht. Die Behauptung, dass der IWF diese Forderung erhebt, stellt die Tatsachen auf den
Kopf.
Den griechischen Haushalt wachstumsfreundlicher und gerechter gestalten
Das bedeutet allerdings nicht, dass es für die griechische Haushaltspolitik nichts mehr zu tun
gibt. Griechenland muss nach wie vor seine Steuer- und Ausgabenstrukturen ändern – wie der
Staat sein Geld bekommt und wofür er es ausgibt – weil beide große Hürden auf dem Weg zu
Wachstum und Gerechtigkeit darstellen. Wir fordern jedoch keine Maßnahmen, die auf mehr
Austerität und höhere Haushaltsersparnisse abzielen. Im Gegenteil, die Gewinne dieser
Reformen sollten gänzlich für mehr Ausgaben oder Steuersenkungen zur Stützung des
Wachstums eingesetzt werden. Nach unserer Ansicht sind Reformen im Sinne unserer
Vorschläge unerlässlich. Ohne eine radikale Neugestaltung des öffentlichen Sektors wird es
Griechenland unserer Einschätzung nach nicht gelingen, selbst bescheidene Ersparnisse
durchzuhalten und sein ehrgeiziges Wachstumsziel langfristig zu verwirklichen. Das sollte –
und kann – nicht über Nacht geschehen, aber der Zeitpunkt für die Umsetzung eines Plans zur
Schaffung einer wachstumsfreundlicheren und gerechteren Struktur der öffentlichen Finanzen
über einen mittelfristigen Zeithorizont ist jetzt.
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Warum ist der aktuell verabschiedete Haushalt ein Wachstumshindernis? Griechenland nahm
zwar gewaltige Haushaltsanpassungen vor, überging dabei aber zwei grundlegende Probleme:
ein Einkommensteuersystem, das mehr als die Hälfte aller Haushalte von jeglichen
Steuerpflichten befreit (der Durchschnitt im übrigen Euroraum beträgt 8 Prozent), und eine
äußerst großzügige Rentenregelung, die den Haushalt jährlich mit annähernd 11 Prozent des
BIP belastet (gegenüber einem Durchschnitt von 2¼ Prozent des BIP im übrigen Euroraum).
Statt diese schwierigen Probleme anzugehen, entschied sich Griechenland für eine massive
Drosselung von Investitionen und sogenannten Ermessensausgaben. Das Ausmaß dieser
Drosselung führte dazu, dass die bröckelnde Infrastruktur das Wachstum behindert und die
Erbringung grundlegender öffentlicher Dienstleistungen wie Transport und Gesundheit
gefährdet ist.
Unserer Einschätzung nach gehen diese Einschnitte bereits zu weit, aber das ESM-Programm
will noch mehr davon, soll der Anstieg der Haushaltsersparnisse auf 3,5 Prozent des BIP doch
mit weiteren Kürzungen bei Investitionen und Ermessensausgaben erreicht werden.
Griechenland könnte vielleicht mit einem Kraftakt die Ausgabenkürzungen bewältigen, die für
die kurzfristige Verwirklichung eines 3,5-prozentigen BIP-Defizits notwendig sind. Die
Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass so etwas nicht von Dauer ist und auch nicht dem ehrgeizigen
langfristigen Wachstumsziel Griechenlands entspricht.
Die griechische Volkswirtschaft bedarf einer weitreichenden Modernisierung. Insbesondere
bietet Griechenland nicht das Arbeitslosengeld und andere gezielte Sozialleistungen, die
andernorts in Europa selbstverständlich und in einer modernen, marktorientierten
Volkswirtschaft entscheidend für breite soziale Unterstützung sind. Ein Paradebeispiel hierfür
ist die zögerliche Haltung der Regierung, wenn es darum geht, die Beschränkung von
Massenentlassungen aufzuheben – ein überholtes Genehmigungsgebot, das in den meisten
anderen Ländern Europas nicht existiert. Griechenland zögert nicht, weil die Beschränkung von
Entlassungen selbst eine so gute Idee ist, sondern weil Griechenland keine angemessene
Arbeitslosenunterstützung zahlt. Statt Arbeitslose zu unterstützen, schränkt die Regierung die
Möglichkeit der Unternehmen ein, Entlassungen vorzunehmen. Einfach gesagt: Griechenland
kann seine Wirtschaft nicht durch mehr Mittel für Infrastruktur und gezielte Sozialprogramme
ankurbeln und gleichzeitig mehr als die Hälfte der Haushalte von der Einkommensteuer
befreien und staatliche Renten auf dem Niveau der reichsten Länder Europas zahlen.
Ein gangbarer Weg nach vorn
Welche Folgen ergeben sich aus der Schuldenerleichterung? Griechenlands Verschuldung ist in
hohem Maße untragbar, und ohne Schuldenerleichterung werden selbst noch so umfangreiche
Strukturreformen nicht in der Lage sein, die Verschuldung wieder auf ein tragfähiges Niveau
zurückzuführen. Desgleichen wird selbst der größte Schuldenerlass kein robustes Wachstum
ermöglichen, wenn er nicht mit Reformen einhergeht. Je höher die Haushaltsersparnisse, die
Griechenland durchhält, um so niedriger ist jedoch auch die Schuldenerleichterung, die eine
tragfähige Schuldenlast sicherstellt. Deshalb lautet die Frage jetzt, wie die Last zwischen
Griechenland und seinen Partnern aufzuteilen ist. Unser Vorschlag lautete,
Primärhaushaltsersparnisse von 1,5 Prozent des BIP zur Kalibrierung der
Schuldenerleichterung anzusetzen. Wir wissen allerdings, dass die Abneigung der
Mitgliedstaaten dagegen (und der daraus resultierende zusätzliche Bedarf an
Schuldenerleichterung) in der Tatsache verwurzelt ist, dass einige von ihnen höhere
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Primärhaushaltsersparnisse erbringen müssen als für Griechenland vorgeschlagen wurde,
während andere weniger großzügige Renten und Steuerbefreiungen bieten als Griechenland.
Der Euroraum ist keine vollständige politische Union, und so wissen wir auch, dass eine
Lösung für die 19 souveränen Mitgliedstaaten politisch akzeptabel sein muss. Ein Kompromiss
zwischen den Griechen und ihren Partnern in Europa muss deshalb vermutlich über eine
gewisse Zeit höhere Ersparnisse im Primärhaushalt vorsehen, obwohl dies nicht unser
bevorzugter Ansatz wäre.
Wir können zwar kurzfristig flexibel in Bezug auf die Lastenverteilung zwischen den Griechen
und ihren Partnern in Europa sein, aber die Lösung muss in der Summe glaubwürdig ausfallen.
Wir argumentierten bereits, dass selbst Haushaltsersparnisse von 1,5 Prozent des BIP ohne
Renten- und Steuerreformen, die den Haushalt wesentlich wachstumsfreundlicher und gerecht
gestalten, nicht zu starkem Wachstum führen werden. Es dürfte deshalb offensichtlich sein,
dass das Erzwingen von Ersparnissen in Höhe von 3,5 Prozent des BIP zu einem noch stärkeren
Druck auf das Wachstum führen wird. Es wird die Nachfrage kurzfristig senken – und deshalb
würden wir eine Anhebung der Haushaltsersparnisse auf über 1,5 Prozent des BIP sowieso erst
dann empfehlen, wenn die Erholung besser Fuß gefasst hat. Und es wird das mittelfristige
Wachstum hemmen, weil erst später mit der notwendigen Umsetzung eines
wachstumsfreundlicheren Haushalts begonnen werden kann. Eine langfristige Festlegung auf
sehr hohe Ersparnisse mit offenem Ende ist folglich einfach nicht glaubhaft. Sollten
Griechenland und seine europäischen Partner sich jedoch auf ein kurzfristiges Ersparnisziel von
3,5 Prozent des BIP einigen, dann sind für den IWF zwei Aspekte relevant. Erstens braucht es
einen glaubwürdigen Plan, wie die Ersparnisse auf mehr als 1,5 Prozent des BIP angehoben
werden können. Dazu sind gewaltige zusätzliche Maßnahmen notwendig, die aber noch nicht
verabschiedet wurden. Und zweitens müssen im Sinne der Glaubwürdigkeit diese
Zusatzmaßnahmen von vornherein gesetzlich verankert werden. Denn nur so können Zweifel
an der politischen Entschlossenheit Griechenlands ausgeräumt werden, dass es den Widerstand
von Eigeninteressen wirklich überwinden will, die die Programmumsetzung in der
Vergangenheit behindert hatten.
Letzten Endes ist es nicht der IWF, der mehr Austerität verlangt, weder jetzt noch als Mittel,
um die Notwendigkeit der Schuldenerleichterung mittelfristig zu senken. Direkter ausgedrückt:
Wenn Griechenland mit seinen europäischen Partnern ehrgeizige Haushaltsziele aufstellt, sollte
man nicht den IWF für Forderungen nach Austerität kritisieren, wenn wir Maßnahmen sehen
wollen, ohne die diese Ziele ihrer Glaubhaftigkeit entbehren.
Dieser Hinweis enthält eine ausführlichere Erläuterung, warum der aktuelle Haushalt
Griechenlands Wachstum und Gerechtigkeit behindert und warum zur Lösung dieses Problems
Steuer- und Rentenreformen notwendig sind. Fragen und Antworten zu den Daten, die unserer
Analyse zugrunde liegen, finden sich in dieser technischen Notiz.
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Maurice Obstfeld ist derzeit von der University of California, Berkeley,
freigestellt und dient als wirtschaftswissenschaftlicher Berater und Leiter der
Forschungsabteilung des IWF. In Berkeley ist er Inhaber des
wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstuhls Class of 1958 und ehemaliger
Vorsitzender der Wirtschaftsfakultät (1998-2001). Nach unbefristeten
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Anstellungen an der Columbia University (1979-1986) und der University of Pennsylvania
(1986-1989) sowie einer Gastprofessur in Harvard (1989-1990) kam er 1991 als Professor nach
Berkeley. Er promovierte 1979 am MIT in Wirtschaftswissenschaften, nachdem er an der
University of Pennsylvania (B.A., 1973) und am King’s College, Cambridge University (M.A.,
1975) studiert hatte.
Von Juli 2014 bis August 2015 diente Dr. Obstfeld im wirtschaftswissenschaftlichen
Beraterstab von Präsident Obama. Zuvor (2002-2004) war er ehrenamtlicher Berater des
Institute of Monetary and Economic Studies der Bank of Japan. Er gehört der Econometric
Society und der American Academy of Arts and Sciences an. Dr. Obstfeld erhielt für seine
Tätigkeit unter anderem folgende Ehrungen: Tjalling Koopmans Asset Award der Universität
Tilburg, John-von-Neumann-Preis des Rajk Laszlo College of Advanced Studies (Budapest)
sowie den Bernhard-Harms-Preis des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Er hielt eine Anzahl
renommierter Vorträge, darunter den jährlichen Richard T. Ely Lecture der American
Economic Association, L. K. Jha Memorial Lecture der Reserve Bank of India sowie Frank
Graham Memorial Lecture in Princeton. Dr. Obstfeld diente im Exekutivausschuss und als Vice
President der American Economic Association. Er war als Berater und Referent am IWF und
zahlreichen Zentralbanken in aller Welt tätig.
Er ist zudem Mitverfasser von zwei führenden Lehrbüchern zu internationaler Wirtschaft,
International Economics (10. Ausgabe, 2014, mit Paul Krugman und Marc Melitz) und
Foundations of International Macroeconomics (1996, mit Kenneth Rogoff), sowie von mehr als
100 Forschungsbeiträgen zu Wechselkursen, internationalen Finanzkrisen, globalen
Kapitalmärkten und Geldpolitik.
Poul M. Thomsen ist Direktor der Abteilung Europa des IWF. Er betreut derzeit
die IWF-Programme mit Griechenland und Portugal und leitet die Arbeit anderer
Länderteams, darunter Island, Rumänien und die Ukraine.
In den 1990er und frühen 2000er Jahren befasste sich Thomsen im Rahmen
zahlreicher Aufgaben in der Region intensiv mit den wirtschaftlichen und
sozialen Problemen in den Ländern Mittel- und Osteuropas, so auch als
Leitender Vorort-Vertreter des IWF und Leiter des IWF-Büros in Moskau.
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